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Zitate aus 20 Jahren Debatte:
Der schöne Vogel Phönix
"die Stürme der
vorangegangenen Jahre wurden schwächer oder
blieben ganz aus. So kam es, daß in diesem
Sommer das öffentliche Leben vor allem ein
öffentliches Sterben war. Adorno starb zum
Beispiel in diesem Sommer, im frühen August
(...). Einen Monat vorher, im Juli, starb der
Gitarrist Brian Jones, Mitglied der Rolling
Stones. Die holten sich daraufhin einen
anderen Gitarristen und veranstalteten im
Hyde Park in London ein Konzert zu Ehren
ihres toten, in seinem Swimmingpool
ertrunkenen Gitarristen, und dieses Konzert
wurde von 250 000 Menschen besucht. Zu Beginn
des Konzerts las Mick Jagger ein Gedicht von
Shelley vor, das in etwa mit den Worten
begann »He is not dead, he is just
sleeping«. Danach sagte er noch ein paar
Sätze, die von ihm selbst stammten und in
die Aufforderung mündeten: »Keep it cool.«
Dann begannen die Stones zu spielen und
hörten zwei Stunden lang nicht wieder auf.
Es muß schön gewesen sein.
Aber das Wichtigste war natürlich die
Botschaft: keep it cool. Längst fand ja die
Popmusik auch in die Kulturteile der
sogenannten seriösen Zeitungen Eingang, und
wer also, wie ich, nicht das Glück hatte, in
London selbst dabeizusein, der konnte es in
den Zeitungen nachlesen und in einem kurzen
Bericht im Fernsehen sehen und hören: »Keep
it cool«, sagte Mick Jagger, und der mußte
es eigentlich wissen. Es galt also nur noch,
die Botschaft umzusetzen.
Da war zum Beispiel eine Liebesgeschichte zu
Ende gegangen. Das ist nicht schön, aber man
legt sich eben ein paar Platten auf and keeps
it cool. Versuch nicht zu leiden, und wenn
das schon nicht zu vermeiden ist, versuch
wenigstens, so wenig und so kurz zu leiden
wie möglich. Auch wenn du nicht cool bist,
versuch es zu sein, laß nichts raus, was
dich angreifbar macht; wenn du im Eimer bist,
zeig es niemanden, oder fast niemand, nur
denen vielleicht, die nicht zum Angriff
übergehen, falls es sie geben sollte.
Ich wechselte das Programm. Die Kämpfe waren
zu Ende (...). Ab jetzt war ich cool."
(Jochen
Schimmang, 1979,
S.95f) "Ich
habe so wenig geweint in den letzten Jahren
(außer vielleicht unbeobachtet, bei einigen
sehr sentimentalen und schlechten Filmen,
über die man eigentlich häßlich lachen
müßte, bei denen mir aber peinlicherweise
die Tränen kommen) (...). Jetzt kann ich
wirklich nicht mehr weiterlesen, ich schiebe
das Buch weg und weine unbeschreiblich
wohltuende Tränen, fühle mich immer
leichter werden, federleicht, und mit jedem
Atemzug löst sich etwas, was ich jahrelang
unter Aufbietung fast all meiner Kraft in mir
eingesperrt habe, was ich vernichten wollte
und was doch beinahe mich selber vernichtet
hätte."
(Jochen
Schimmang, 1979,
S.294)
Erfahrungshunger
"aus
der Unwirklichkeit der siebziger Jahre (gibt
es) nur einen Ausweg (...), den in das
Schreiben; (...) um sich daran machen zu
können, (bedarf es) einer Katastrophe, eines
Traumas, das den Schleier zerreißt, der die
Wirklichkeit verhüllt. Die siebziger Jahre
sind eine Zeit des Nebels, nicht eines
kalten, eher eines warmen. Es wird etwas
ersehnt, das ihn vertreibt. Vielleicht sind
es Schrecken oder Schmerz, als der Index der
Wahrheit, genauer: in ihnen erschiene endlich
die Wirklichkeit."
(Michael Rutschky, 1981, S.95)
Der Betroffenheitskult
"Wir
haben Gefühle, aber keine Manieren. Und sind
ehrlich - selbst wenn es nur taktlos ist. Das
große Mißverständnis der späten 60er
Jahre bestand darin, daß man mit der
Entlarvung der verdächtigen bürgerlichen
Gesellschaft auch alle anderen filigranen
Regeln und Riten für verzichtbar erklärte,
die das Zusammenleben von Menschen, die
einander, wie die große Mehrheit, weder
verwandt noch befreundet, noch auch nur
bekannt sind, zuträglich machen
könnten."
(Cora Stephan, 1994, S.60)
Ausweitung der Kampfzone
"Die
folgenden Seiten bilden einen Roman. Ich
verstehe darunter eine Abfolge von kleinen
Geschichten, deren Held ich bin. Es ist
wirklich nicht eine Entscheidung für einen
autobiographischen Stil; so oder so bleibt
mir keine andere Wahl. Wenn ich nicht
aufschreibe, was ich gesehen habe, werde ich
ebenso leiden - vielleicht sogar ein wenig
mehr.
(...)
Wirklich, ein mit Lesen ausgefülltes Leben
hätte mir besser gepaßt.
Ein solches Leben war mir nicht
gegönnt."
(Michel
Houellebecq, 1999, S.16)
Tristesse Royale
"Authentizität?
Wir, die wir hier sitzen, sind so
unauthentisch, daß es sich gar nicht lohnen
würde, uns zu re-modeln.
(...)
Was mir die ganze Zeit über als sehr
sinngemäßes Bild für diese ganze
Geschichte aufscheint, ist der Rock; daß der
Rock an sich, den die Rolling Stones
repräsentieren, dieses Re-Modeling gar nicht
kennt. Der Rock muß sich immer treu bleiben.
Der Rock ist stringent, er ist die
Saite."
(1999,
S.137ff)
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Die Debatte um die neue Eigentlichkeit
Hans-Peter KUNISCH
(Süddeutsche Zeitung v. 18.10.2000) zählt
Autoren wie Bret Easton Ellis, François Emannuel, Frédéric Beigbeder, Michel
Houellebecq, Viktor Pelewin und
Georg
M. Oswald zu Vertretern einer
"neuen Eigentlichkeit", denen es darum
geht, die Beliebigkeiten der Postmoderne zu
überwinden und zeigen, "was ist. Emotional,
ökonomisch." Ihnen ist ein
"unideologischer Fundamentalismus" zu
eigen, der im Grunde ein neuer aufklärerischer
Gestus ist. Statt mit
"Gegnerschaft" zur Gesellschaft, die
seit jeher billiger zu behaupten als einzulösen
war, versucht sie ihren Widerstand vorerst mit
Darstellung und Analyse.
1980
erschien Michael RUTSCHKYs Buch Erfahrungshunger.
Darin beschreibt er den deutschen Germanistentag
1968 und die damalige Kritik an der
Literaturwissenschaft und der Literatur:
Erfahrungshunger
"das sind die zentralen Punkte der Kritik: daß die Literaturwissenschaft eine isolierte,
esoterische Beschäftigung einiger weniger ist,
daß das wissenschaftliche Studium der Literatur,
vielleicht die Literatur insgesamt keine
gesellschaftliche Funktion hat."
(1980) |
Die Motive
waren damals andere, aber das Ziel war das
gleiche: Literatur soll die Welt verbessern.
Leben und Literatur sind keine getrennte
Sphären. Das Leben gibt die Literatur vor und
Literatur wirkt wiederum auf das Leben ein. L'Art
pour L'Art ist nicht mehr. Die Frage ist nur
noch, wer ist der Erlöser aus der
"Tristesse Royale" der
Gegenwartsgesellschaft?
Michel HOUELLEBECQ ist einer der Kandidaten auf den
Erlöserposten. Der Autor verbürgt die
Glaubwürdigkeit des Romangeschehens. Der Autor
"macht keinen Hehl daraus, dass er den
größten Teil seiner Geschichten selbst erlebt
hat" schreibt Thomas STEINFELD (FAZ v.
12.10.1999). Er sieht HOUELLEBECQ in der
Tradition von Botho STRAUß:
"Das Geniale
und das Schreckliche an Michel Houellebecq
besteht darin, daß ein großes Publikum solche
Zeugnisse, solche Zumutungen versteht und
aufnimmt. In dieser Wirkung kehrt eine vormoderne
Aufgabe von Dichtung mit großer Kraft zurück:
die Literatur als moralische Anstalt."
STEINFELD, Herausgeber des Sammelbands Das
Phänomen Houellebecq aus dem Jahr 2001, hält Elementarteilchen
für ein Buch, das nach royaletristen 30 Jahren
dem "Leser wie ein Block im Wege steht, und
siehe da: Der Leser muss sich entscheiden. Er
muss den Block zertrümmern oder die
Straßenseite wechseln. Dieses Gefühl scheint
die Literatur lange schuldig geblieben zu
sein."
Literatur
muss zuerst das Gefühl ansprechen, um den
Verstand auszuschalten. In diesem Zustand sind
wir wehrlos gegenüber unseren Idiosynkrasien.
"Idiosynkrasien fordern das
"Wir-Gefühl".
"In der blitzhaften Übereinstimmung, in der
fast reflexhaften Gemeinsamkeit von Sympathien
und vor allem der gemeinsamen Aversionen gegen
etwas oder jemanden feiert die Freundschaft ihre
größten Triumphe" (SCHURY, SZ v. 18.10).
Das ist Wahrheit. Die einzige. Dann ist es
jedoch zum Umschlagen ins Vorurteil
nicht sehr weit. Das Ende aller Idiosynkrasie,
wie es Silvia BOVENSCHEN (SEZGIN, FR v. 18.10.)
nennt. Singles contra Familien -
Freund oder Feind - 68er versus 89er & Co.
Ein solches Buch wünschen sich diejenigen, die
Auseinandersetzungen mit einem Erstschlag für
sich entscheiden möchten.
Aber
möglicherweise ist alles ganz anders.
HOUELLEBECQ ist der Coole im Gewand des
Uncoolen. Eine perfekte Inszenierung der
Verwahrlosung und Verzweifelung. Der Inbegriff
dessen, was uns die Zeitungen als Elend der
modernen Welt täglich ins Haus liefern.
HOUELLEBECQ ein MICK JAGGER der Jahrtausendwende. Manchmal
passieren Patzer bei der Inszenierung, so im
SZ-Magazin v. 29.09.2000, wenn beschrieben werden
muss, was man auf dem Bild zu sehen hat und das
Bild nicht für sich selbst spricht, weil der
Autor ein Insignum der Coolness (schwarze Brille)
trägt und der Blick vergeblich die Wohnung auf
Verwahrlosung absucht. Man hätte sich Anleihen
bei Roman POLANSKIs Film Ekel
holen sollen. Zwischen Romaninhalt und Autor darf
kein Unterschied mehr sein. Das ist
neue
Eigentlichkeit. Ein Insiderroman wie von
Frédéric BEIGBEDER, das ist genial. Wer ist der
nächste im Umfeld von HOUELLEBECQ. Müssen wir
bis zum nächsten Herbst warten?
Wo
bleibt der deutsche Houellebecq? fragt
Jan KURSKO verzweifelt in den Blättern für deutsche und
internationale Politik Nr. 11/1999. Das Fehlen
erklärt er folgendermaßen:
Wo
bleibt der deutsche Houellebecq?
"Houellebecq hat auch in
Frankreich etwas Singuläres, seine radikale
Wut und Ernsthaftigkeit heben ihn aus der
Masse seiner postmodernen Jahrgangsgenossen
heraus. Houellebecq, Geburtsjahr 1958, steht
für die Jahrgänge, die es aufgrund der
Dominanz ihrer Vorgänger, der 68er, nie zu
einer intellektuellen Generationseinheit
gebracht haben."
(aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft
11, 1999) |
Die
78er sind also gefordert. Oder die Generation
Golf? Oder wer könnte zu einer moralischen
Anstalt werden? Mit dem
78er Michael KUMPFMÜLLER hat die FAZ eine
Leerstelle mit einem Erlöser besetzen wollen.
Die Suche nach dem "großen deutschen
Wenderoman" schien damit an ihr Ende
gekommen zu sein. Aber kann jemand glaubwürdig
über etwas schreiben, was er nicht selbst erlebt
hat? Die
Leerstelle von HOUELLEBECQ ist weiterhin vakant.
Es gibt viele Sucher, aber wenige geeignete
Kandidaten.
Volker WEIDERMANN (taz v. 26.08.2000) hat mit Georg
M. OSWALD einen Kandidaten zur Begutachtung präsentiert, der
sich zumindest selbst als geeignet ansieht. Ein
Houellebecq aus Bayern? fragt er
schüchtern im Untertitel. Als Rechtsanwalt hat
OSWALD gewisses Insiderwissen bezüglich der
dunklen Seiten der Gesellschaft und gegen die
tristen Royalisten hat er sich vorher ausreichend
abgegrenzt. Die Dandys
von der Popfraktion als Gegner zu haben, das ist
die Mindestvoraussetzung für einen Kandidaten,
der als moralische Anstalt in Deutschland gelten
will. Würde es das Popkulturelle
Quintett nicht geben, man hätte es
erfinden müssen. Yuppie, das
ist die Steigerungsform von Single. Und die
Steigerungsform von Yuppie? Richtig!
Popkulturelles Quintett. Das nennt man die
Dialektik
der Neidgesellschaft. Und der
Spezialist für die Neidgesellschaft, das ist der
Soziologe Sighard NECKEL:
Neid
"Im Neid drücken sich
trotz aller Gegensätze auch gemeinsame
Wertsetzungen aus, die gleichermaßen den
Neider wie seinen Kontrahenten antreiben.
Neid gehört damit typischerweise noch zur
Gefühlskultur des Konkurrenzkapitalismus, in
dem die sozialen Klassen konflikthaft um die
Anerkennung ihrer Bedürfnisse ringen. Die
Wut hingegen verdeutlicht, dass für viele
das Rennen um knappe Güter gelaufen ist und
damit auch das bisherige Sozialmodell der
Industriegesellschaft an ein Ende
gelangt."
(Sighard Neckel in der Zeit Nr.28 v. 08.07.1999) |
Von
der Neidgesellschaft zur Wutgesellschaft? Keep it
cool.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. |
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