Sehr
geehrter Herr Schulte,
ich habe
Ihren Essay (wörtlich übersetzt: Versuch vom frz: essayer)
aufmerksam gelesen.
Man könnte
dieses Konglomerat neoliberalen Mainstreamunsinns (zu wenig
Kinder, zu viele alte Leute), ohnehin geschrieben in einer Flut
von Irrationalität, die wir in diesen Tagen anläßlich einer ganz
sachlichen Pressemeldung des Stat. Bundesamtes über uns ergehen
lassen müssen, mit der typischen "Was soll' s? - Geste abtun.
Man könnte diesen "Essay" für Sozialhistoriker künftiger Epochen
aber auch aufbewahren, damit diese später mal aufzeigen können,
wie stark die Manipulationsgewalt kapitalgesteuerter Medien im
beginnenden 21 Jahrhundert, wie ausgeprägt der Opportunismus der
Journalisten und wie gering der sozialpolitische Sachverstand
derer war, die glaubten, über einen solchen zu verfügen.
Die demografische Situation ist günstiger als die Medien
behaupten
Zu den
Fakten: Deutschland hat 82,5 Mio. Einwohner, ist das
zwölftgrößte Volk der Welt, hat mit 235 Einwohner pro qkm eine
der höchsten Bevölkerungsdichten und ist seit über 50 Jahren
fast ununterbrochen (durch Zuwanderung) gewachsen, in den
letzten 15 Jahren allein um drei Mio. Es hat in den letzten 20
Jahren die höchste Zuwanderung aller OECD-Länder, es hat bei
weitem nicht die niedrigste Geburtenrate und das Verhältnis
zwischen Erwerbsfähigen und den Menschen über 65 ist eins der
besten der Welt - gleichzeitig auch ein Beweis ,dass es darauf
gar nicht ankommt - von 53 Mio. im erwerbsfähigen Alter zu
gerade mal 15 Mio. über 65.
Wir waren
zu viel, nicht zu wenig
Letztere
Relation ist das Resultat von zwölf geburtenstarken Jahrgängen,
deren (bittere) Ernte wir zur Zeit einfahren; eine Ernte mit
katastrophalen sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen
Ergebnissen, allgemein und erst recht individuell für die
Betroffenen selbst. Der sog. Youthbulge der sechziger Jahre
durchläuft gerade die mittlere Phase seines Parcours des
Schreckens - nach der Lehrstellenmisere in den frühen achtziger
Jahren nunmehr die Massenarbeitslosigkeit oder die schreckliche
Angst davor in der Erwerbsphase, die nicht weniger als 45 Jahre
dauert und die dann abgelöst wird von einer mindestens ebenso
schrecklichen Altersarmut für Millionen aus diesen Jahrgängen,
weil ausreichende Ansprüche auf Rente und vor allem auf die viel
gepriesene private Altersvorsorge nicht entstehen konnten. Dies
alles hat mit (fehlenden) Kindern nichts zu tun, mit zu vielen
Kindern (in den sechziger Jahren) - so lächerlich sich das
angesichts der momentanen Debatte auch anhören mag - dagegen
eine ganze Menge.
Nicht einmal für die geburtenschwache Generation Praktikum
gibt es genügend Arbeitsplätze
Ihnen folgt
eine geburtenschwache Generation, der es aber auch nicht viel
besser geht. Von ihr schieben wir (von 700 - 750tsd) in jedem
Jahr zwischen 220 und 250tsd. junge Menschen (30%) in die
lebenslange Erwerbslosigkeit (zunächst heißt das euphemistisch
"Maßnahmen"), von den sog. Migranten sind es sogar 75%. Selbst
bestausgebildete junge Leute hangeln sich von einem Praktikum
zum anderen. Zu wenig Menschen für zu viel Arbeit? Genau das
Gegenteil ist der Fall. Hätten die Demographiemythologen recht,
müßte in der Altersklasse 20 - 35 Vollbeschäftigung herrschen.
Die ausgefallene Generation ist ein Glück!
Nun kommen
Herr Raffelhüschen, Herr Schirrmacher (mit einem ohnehin
eigentümlichen Zahlenverständnis, aber sehr gutem Verlegerzugang
für seinen Humbug), Herr Miegel und leider auch Herr Schulte von
der WAZ und sagen uns, die jetzige (geburtenstarke) Generation
ist selbst schuld an Ihrem Dilemma, denn sie hat ja keine Kinder
gezeugt. Welch ein Blödsinn, mehr noch: welch eine zynische
Frechheit von Leuten, die selbst im warmen Bettchen sitzen.
Jeder, der
sich mit der Materie ideologiefrei beschäftigt hat und nicht
(wie Herr Raffelhüschen von der Provinzial geschmiert ist),
denkt da anders.
Wie Deutschland heute ohne die ausgefallene Generation aussähe
Gut, dass die
geburtenstarken Jahrgänge nicht weitergegangen sind, denn
dann
hätte Deutschland
(Geburtsjahrgang 1965 hochgerechnet) heute 21 Mio. Einwohner
mehr, also 103 - 104 Mio.;
hätten wir pro Jahr 1,4
Mio. Menschen mit Lehrstellen bzw. weiterführenden
Bildungsgängen zu versorgen, also doppelt so viele wie heute
(die Ausbildungsplätze hätten wir garantiert!);
würde das ohnehin
aufgeblähte Erwerbspersonenpotential nicht 53 Millionen
sondern (Mehrgeburten der Geburtsjahrgänge 1970 - 1986
hinzugerechnet) 62,6 Mio. Personen umfassen (Für sie stünde
dann sicherlich die entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen
bereit!!);
hätte - nehmen wir mal das
Ruhrgebiet: - Essen heute über 830.000 Einwohner (bei
konstanten Geburtenzahlen von 1965 - 11.000 Geburten - heute
noch 4.880), Oberhausen bei konstanten Geburtenzahlen 328.000
Einwohner.
Selbstverständlich wäre dann auch keine einzige Zeche
stillgelegt und kein einziger Hochofen geschleift worden; das
Verarbeitende Gewerbe würde immer noch den Löwenanteil
existenzsichernder Beschäftigungen bieten und Beckenbauer wäre
heute Papst.
Die Sozialsysteme sind trotz
Geburtenrückgang funktionsfähig
In einer
Welt, in der pro Tag 200.000 Menschen hinzukommen, soll
ausgerechnet einem der größten Völker der Erde auf Gedeih und
Verderb ununterbrochenes Wachstum verordnet werden, damit die
Sozialsysteme funktionieren? Deren Funktion hängt von der
Produktivität der Wirtschaft und der Verteilung des BIP sowie
der Zahl der (sozialversicherungspflichtig) Beschäftigten (nicht
der Erwerbsfähigen) ab und erst recht nicht von der Zahl
der Kinder. Denn dann wären die Renten in Marokko am höchsten.
Sehr einfache Überlegungen, die wohl offensichtlich nicht in die
Zeit passen. Man will ja mit der Angst der Menschen schließlich
gute Geschäfte machen oder einen von Moralin durchtränkten Essay
schreiben, mit dem man so schön offene Türen einrennen und sich
selbst zum wissenden Gutmenschen erheben kann.