"Kein Ehevertrag! Mehrere Kinder"
"Kein Ehevertrag! Kein
Zögern! Geht für den anderen erkennbar ein Risiko ein, damit er
sieht, dass man sich aufeinander verlassen kann. Zeugt mehrere
Kinder! Investiert in gemeinsames Eigentum! Startet gemeinsame
Projekte! Verbringt viel Zeit miteinander! Am besten im »Rahmen«
vieler gemeinsamer Freunde!"
(Der Soziologe Hartmut Esser im
Focus-Gespräch) |
Frühlingserwachen
beim Focus!
War letztes Jahr das Single-Leid
Thema der Frühjahrs-Coverstory (25.03.2002), so ist es dieses
Jahr das Ehe-Leid.
Angesichts hoher Scheidungszahlen und schlechter
Wirtschaftsprognosen steht das Thema Stabilität auf der
Tagesordnung.
Behaupten
auch die Eliten in Wirtschaft und Politik, dass die Deutschen
veränderungsbereit seien, so hat der Focus doch lieber darauf
gesetzt, dass die Deutschen nie so änderungsunwillig waren wie
heutzutage.
Die gelösten Rätsel um die
Scheidungspersönlichkeit und was davon zu halten ist
Vollmundig verkündet
Frank GERBERT, dass die Soziologie nun dank neuer Methoden die
Rätsel um die Scheidungspersönlichkeit weitgehend gelöst
hat. Man wird also neugierig. Und was muss man feststellen?
Die neuen Methoden sind die alten!
Der Soziologe Hartmut
ESSER, der in Deutschland das Erbe des Kritischen Rationalismus
eines Karl POPPER angetreten hat, steht für die quantitative
Scheidungsforschung der "Mannheimer Schule".
Die Scheidung in austauschtheoretischer
Sicht
"Sind die »Kosten« einer
Ehe höher als ihr »Nutzen«, kommt es zur Scheidung." Diese
austauschtheoretische Aussage ist erstens ein alter Hut aus
den 1970er Jahren und zweitens eine zwar richtige, aber praktisch
nutzlose Aussage. Jeder Mensch, der sich seinen gesunden
Menschenverstand bewahrt hat, könnte darauf selber kommen und
bräuchte dazu keinen teuren wissenschaftlichen Apparat.
Da
unsere Infoelite ungern liest, gibt es auch ein schönes,
buntes Schaubild. Lässt man den ganzen Schnickschnack weg,
dann handelt es sich um eine simple Vierfelder-Typologie mit
rein heuristischem Wert.
Peter J. STEIN als geistiger Vater der
Focus-Typologie
Mitte der
1970er Jahre hat
der US-amerikanische Singleforscher
Peter J. STEIN ein Push
und Pull-Modell entwickelt. Es sollte die Faktoren
enthalten, die die (fehlende) Attraktivität der Ehe und des
Single-Daseins enthalten.
Das
Modell enthält 4 Faktoren-Gruppen: zum einen Gründe für eine Ehe
und Gründe gegen eine Ehe und zum anderen Gründe für das
Single-Dasein und dagegen. Das Modell entwickelte STEIN anhand
einer qualitativen Untersuchung mit amerikanischen Studenten.
Im
Focus-Schaubild werden unter den Stichwörtern "Alternativen",
"Barrieren" und "Ehezufriedenheit" jene Gründe abgehandelt,
die sich auch bei STEIN finden lassen.
Der begrenzte Wert solcher Typologien
Da es sich bei STEINs
Untersuchungspersonen um junge Studenten in der Ausbildung
handelte, fehlen Punkte wie Eigentum, Erwerbstätigkeit oder
Eheverträge.
Dafür
finden sich jedoch Punkte, die sich mit dem Alter oder mit den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern können. Solche
Typologien beschreiben also ein Feld, das
lebensphasenspezifischen und zeitgeschichtlichen Einflüssen
unterliegt. Peter STEIN hat das
Pull und Push-Modell deshalb über die Jahre hinweg immer wieder
modifiziert (1975, 1976, 1978, 1981, 1988). Bei
Wolfram DROHT (1983) und Dorothea KRÜGER (1990) finden sich
deutsche Übersetzungen.
Vergleicht
man STEINs Typologie von 1975 mit jener aus dem Jahr 1988, dann
lassen sich gesellschaftliche Veränderungen feststellen.
Der Punkt "Need to leave home", also der Wunsch das Elternhaus
zu verlassen, der 1975 noch als ein Grund zum Heiraten angesehen
wurde, ist 1988 entfallen.
Hier
zeigt sich natürlich, dass es STEIN mit seiner Typologie in
erster Linie nicht um die Gründe für Scheidungen ging, sondern
um die Gründe fürs Alleinleben bzw. fürs Heiraten. Andererseits
zeigt dies jedoch, dass sich die Motive in beiden Situationen
doch sehr ähneln.
Die Attraktivität des Single-Daseins als
Scheidungsursache
Bei dem Punkt
"Alternativen" geht es zentral um die Attraktivität des
Single-Daseins gegenüber der Ehe.
Ist
jemand der Meinung, dass er auf dem Partnermarkt keine
Chancen hat, dann erhöht dies die Stabilität der Ehe. Selbst
wenn man mit der Partnersuche keine unüberwindbare Probleme hat,
kann das Single-Leben als so abschreckend empfunden werden, dass
man lieber die Ehe aufrecht erhält.
Fernsehserien
wie Sex and the City oder Ally McBeal, die das
Bild vom Single prägen, gehören zu den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen, die die Attraktivität des Single-Lebens
entweder erhöhen oder mindern.
Auch
die permanente Veröffentlichung von Statistiken und Umfragen
prägen die Vorstellungen vom Single-Leben. Und nicht zuletzt
Literatur, Popmusik oder Kinofilme prägen unser Verständnis
alternativer Lebensformen.
Die
Diskussion der Thesen eines Michel HOUELLEBECQ zum
sexuellen
Kapitalismus haben eine andere Wirkung als z. B. die Swinging
Sixties-Produktionen über das flotte Leben des ungebundenen
Playboys oder des Cosmo-Girls.
Hohe bzw. niedrige Scheidungsbarrieren
Die historische
Beschränktheit wird z.B. daran deutlich, dass der Faktor
Scheidungsgesetze fehlt.
In
Veröffentlichungen über Scheidungsursachen Anfang der 1980er Jahre
hätte der Faktor Änderung der Scheidungsgesetze eine dominante
Rolle gespielt.
Im
Schaubild werden dagegen das Vorhandensein von Kindern, die
Erwerbstätigkeit der Ehefrau, das Abschließen eines Ehevertrags,
das Eheverhalten der Eltern, sozialer Druck der Familie bzw.
Verwandtschaft und die religiöse Einstellung als Barrieren
genannt.
Eheverträge und Scheidungsrisiko
Hatte der Focus am
22. Januar
2001 noch angesichts der Affäre von Boris BECKER den Ehevertrag
in einer Titelgeschichte propagiert, so behauptet nun die
Scheidungsforschung, dass Eheverträge das Scheidungsrisiko
erhöhen. Scheidungspaare sind also häufiger Paare, die
Eheverträge abgeschlossen haben. Was bedeutet dies jedoch?
Hätte
das Nichtabschließen eines Ehevertrages die Scheidung eines
Paares verhindern können? Diese Frage entspringt zwar der Logik des gesunden Menschenverstandes, verkennt jedoch, dass
einzelne Faktoren nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Eheverträge
sind das Merkmal ganz spezifischer Milieus. Gerade bei
wohlhabenden Paaren ist auch die Attraktivität des Single-Lebens
stärker gegeben.
Die Rolle der Ehezufriedenheit
Zu den Faktoren der
Ehezufriedenheit gehören die Zufriedenheit mit dem
Kommunikationsverhalten des Partners, die Zufriedenheit mit der
gelebten Intimität, der Unterstützung durch den Partner und die
Sexualität.
Nach
dem Schaubild lassen sich zufriedene Paare nicht scheiden, sie
sind höchstens gefährdet, wenn das Single-Leben lockt und keine
Barrieren schützen.
Ist
die Ehe alternativlos und die Barrieren hoch, dann sind solche
Ehen nicht nur stabil, sondern auch glücklich.
Andererseits
folgt aus dem Schaubild auch, dass es stabile, aber
unglückliche Ehen gibt. Ist die Ehe alternativlos und
Barrieren (z.B. gemeinsames Eigentum und kleine Kinder
vorhanden) hoch, so können solche Ehen dauerhaft sein.
Eine
Scheidung steht an, wenn weder die Zufriedenheit stimmt, noch
Alternativlosigkeit und sonstige Barrieren den Schritt
verhindern.
Simplify your
Love
Die
KÜSTENMACHERs haben ein zweifelfreies Plädoyer für die Ehe
und die Familie verfasst. Aber sie sind sich dabei
durchaus bewusst, dass weder die Ehe noch Kinder in
unserer Gesellschaft selbstverständlich sind.
Das
Leitbild der Vereinfachung bedeutet, dass Ehe und
Familie als Institution das Vorbild sind. Eine Beziehung
gelingt deshalb umso eher, desto mehr Elemente dieses
Vorbildes beherzigt werden. Wenn der Leser Vorbehalte
gegen die christliche Ehe hat, dann bieten ihm die Autoren
eben eheähnliche Rituale als Ersatz an.
[mehr] |
Die Höhe des Scheidungsrisikos - wie im
Winterschlussverkauf!
Michael WAGNER & Bernd
WEIß ("Bilanz der deutschen Scheidungsforschung", Zeitschrift
für Soziologie, Heft1, 2003) haben deutsche Scheidungsstudien miteinander
verglichen und daraus - sekundäranalytisch - eine eigene
Interpretation des Scheidungsverhaltens vorgelegt.
Eine
Sensation ist das nicht, wie GERBERT das darstellt, sondern
normales wissenschaftliches Arbeiten. Der Focus hat nun in einem
weiteren Schaubild die einzelnen Scheidungsfaktoren mit
Prozentzahlen versehen. Man
fühlt sich wie im Kaufhaus bei einer Rabattaktion und vor lauter
Schnäppchen kann man sich gar nicht entscheiden, wo man
zugreifen soll! Da gibt es manchmal über 1000 %!
Gemäß dem Motto der
Wahlfreiheit könnte man sich also seine ganz individuelle
Scheidungspersönlichkeit aussuchen. Wie hätte ich mich gerne?
Man
könnte auch ein Ehespiel daraus machen. Wie hoch ist unser
gemeinsames Scheidungsrisiko?
Einen
praktischen Nutzen hat das zwar nicht, aber es gibt wieder etwas
zum Erzählen. Die Redezeit in Ehen könnte das enorm erhöhen und
das wäre ja schon mal was.
Die Vorteile der Ehe als Gefängnis
Im Interview mit Hartmut
ESSER kommt dann das staatstragende Element hinzu.
Angesichts
des Faktorensalats fragt GERBERT, ob ungläubige,
modern-individualistische Großstädter das Heiraten nicht
gleich bleiben lassen sollten.
Oder
anders gefragt, wenn es stabile Ehen gibt, die nicht glücklich
sind, reicht nicht auch das?
Oder
noch besser: Fehlende Alternativen zur Ehe erhöhen die
Zufriedenheit mit der eigenen Ehe und somit erhöhen sie die
Dauerhaftigkeit der Ehe.
Aber
sind die 1970er Jahre wirklich so weit weg, dass man heute wieder
glaubt, dass die Ehe als Gefängnis zu denken wäre,
ohne dass gleich der Ausbruch mitgedacht werden kann?
In
der Logik der Fragen von GERBERT liegt - zu Ende gedacht - die
Konsequenz, dass unsere Gefängnisinsassen die glücklichsten
Eheleute sein müssten. Die Unfähigkeit zur Freiheit soll
also grassieren.
Die Ehedauer und ihre Bedeutung
Zum Abschluss des
Interviews gibt es dann noch einen staatstragenden Appell von
ESSER, zu dem GERBERT den Steilpass liefert. Auf die Frage,
welchen Rat er Menschen geben würde, die eine Langzeitehe
planen, antwortet ESSER:
"Kein Ehevertrag! Mehrere Kinder"
"Kein Ehevertrag! Kein
Zögern! Geht für den anderen erkennbar ein Risiko ein, damit er
sieht, dass man sich aufeinander verlassen kann. Zeugt mehrere
Kinder! Investiert in gemeinsames Eigentum! Startet gemeinsame
Projekte! Verbringt viel Zeit miteinander! Am besten im »Rahmen«
vieler gemeinsamer Freunde!"
(Der Soziologe Hartmut Esser im
Focus-Gespräch) |
Die
Bevölkerungswissenschaftler werden zufrieden sein (viele
Kinder), die Rentenversicherer auch, die Baubranche kommt aus
dem Konjunkturtief. Notare und Juristen werden Sturm laufen
(weniger Honorare). Man wird noch viele andere finden, denen
dieser Appell gefallen wird.
Fazit: Planwirtschaft und was davon zu halten
ist
Ob die Scheidungsrate
in den nächsten Jahren fällt, das hängt jedoch von
anderen Faktoren ab. Hätten sich etwa Joschka FISCHER oder
Gerhard SCHRÖDER nur mit einer einzigen Ehefrau begnügt? Selbst
Hartmut ESSER ist mit seiner zweiten Frau verheiratet. Man
sollte den Appell also nicht so ernst nehmen. Jeder Planer weiß,
dass die Vorgabe selten so umgesetzt wird, wie sie geplant war.
Und
vielleicht gilt ja auch, was die Rolling Stones einst gesungen
haben:
"You can't
always get what you want
But if you try sometimes you just might find
You get what you need"
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