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Der Terror der Ökonomie
Die
Streitschrift ist urprünglich im Vorfeld des
Bundestagswahlkampfs 1998 erschienen und die
Taschenbuchausgabe ist nun rechtzeitig zu den
beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und
Nordrhein-Westfalen auf den Markt gekommen. In 10
Kapiteln vertritt der Autor die These von der
totalen Ökonomisierung der Gesellschaft, die im
"Terror der Ökonomie"
zu gipfeln droht, wenn nicht der Staat in seiner
Rolle als Gegenmacht Einhalt gebietet.
Gesellschaftlich
findet die Ökonomisierung ihren Ausdruck im
Erfolg des Nachrichtenmagazins Focus, auf dessen
Titel vor kurzem in Abwandlung des Beststellers
von Dale CARNEGIE der Slogan
Sorge
dich nicht! Werde reich! prangte.
Die vom Focus befriedigte Ideologie bezeichnet ROß als "Vulgärliberalismus".
Der Focus-Bürger ist
Die neuen
Staatsfeinde
"ein typisches Produkt der bundesrepublikanischen
Angestelltenkultur, auf hunderterlei Weise von ebenjenem
Sozialstaat gemästet, dessen Verfettung er lauthals
beklagt, ein Maulheld der Freiheit, des Risikos und des
Abenteuers. Die »Focus«-Ideologie ist ein kleinbürgerlicher
Gratisradikalismus".
(2000) |
Die vielbeschworene
"Neue Mitte" ist für ROß identisch
mit der "Focusrepublik
Deutschland". Diese Mehrheit der
Modernisierungs- bzw. Liberalisierungsgewinner,
deren Forderung sich auf "Weniger
Staat" verkürzen läßt, unterscheidet er
von der starken Minderheit der
Modernisierungsverlierer, zu denen er die
Die neuen
Staatsfeinde
"Verzagten und Verschreckten, Arbeitslose,
Rentner und Beschäftigte der sterbenden
Industriebranchen, die Langsamen in einer Welt
beschleunigter Veränderungen"
(2000) |
zählt und
die Schutz beim Staat suchen. In der
Auseinandersetzung um den Staat steckt deshalb
für ROß das Potential eines neuen
Klassenkampfes.
In den
folgenden Kapiteln beschäftigt sich ROß mit der
politischen Arena, ihren Akteuren und deren
Staatsverständnis. Für ROß ist der Staat das
Mittel, mit dem die Menschheit das
Problem
der Knappheit bewältigt. Es ist der
Staat des Thomas HOBBES - der Leviathan, der den
Bürger vor dem Bürger schützt. Ein Beispiel
für ein knappes Gut ist heute die Bindung:
Die neuen
Staatsfeinde
"Denn statt daß die Gesellschaft Bindungen
wachsen ließe, zerstört sie sie durch die
Dynamik ihres Wirtschaftens, das die
unverwechselbare Person zu einem austauschbaren
Marktsubjekt macht".
(2000) |
Damit sind
wir bei dem Punkt angelangt, wo ROß mit Ulrich BECK einer
Meinung ist:
Risikogesellschaft
"In dem zu Ende
gedachten Marktmodell der Moderne wird die
familien- und ehelose Gesellschaft
unterstellt. Jeder muß selbständig, frei für
die Erfordernisse des Marktes sein, um seine
ökonomische Existenz zu sichern. Das
Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das
alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder
familien'behinderte' Individuum. Entsprechend ist
die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose
Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen
bei mobilen, alleinerziehenden Vätern und
Müttern auf"
(1986), |
schreibt BECK in seinem 1986
erschienen Buch Risikogesellschaft.
Zurück zur Familie
BECK entwirft
anschließend drei Szenarien zukünftiger
Entwicklungen, die den historisch
entstehenden Möglichkeitsraum abdecken sollen:
Risikogesellschaft
"1) Zurück zur Familie in den
traditionalen Formen;
2) Egalisierung
nach dem Vorbild der Männer; und
3) Erprobung
neuer Lebensformen jenseits von Frauen- und
Männerrolle".
(1986) |
Diese Szenarien eignen
sich gut, um die Positionen von ROß und
BECK zu verdeutlichen. ROß
befürwortet die Position "Zurück
zur Kleinfamilie". Der Staat soll
hierfür den Rahmen garantieren, denn er
Die neuen
Staatsfeinde
"stellt Ehe und Familie unter seinen
'besonderen Schutz' (...) und macht den Bürgern
durch unerbittliche Unterhaltspflichten die
Scheidung schwer".
(2000) |
Darüber hinaus soll die Hausfrauenehe aufgewertet werden. So schrieb
ROß
in der ZEIT:
Was ist konservativ?
ein "moderner
Konservatismus hätte zu zeigen, daß die
häusliche Versorgung von Kindern keine
reaktionäre Marotte sein muß, sondern eine
Entscheidung für die Freiheit ist".
(Die ZEIT Nr. 46/1998) |
Darin spiegelt sich eine Überhöhung
der Hausfrauenehe wieder, die inzwischen auf dem
Buchmarkt eine Renaissance erlebt. Das Reich der
Freiheit ist für die Frau wieder im Haushalt und
nicht im Arbeitsleben zu finden, wie es
Feministinnen propagiert haben. Darin
unterscheidet er sich von BECK.
Beide
kritisieren jedoch die Egalisierung im
Sinne der Durchsetzung der
Arbeitsmarktgesellschaft für alle:
Die neuen
Staatsfeinde
"Wer mobile Arbeitskräfte haben will, dem
kann die Zerschlagung der Familienstrukturen nur
recht sein; Wochenendeheleute, Singles und
Geschiedene, auf die zu Hause niemand wartet,
bilden das ideale, stets verfügbare Personal
eines rund um die Uhr und rund um die Welt
aktiven Unternehmens. Kinderlose Doppelverdiener
sind attraktivere, ansprechbarere Nachfrager als
Familien, die in ihren Ausgaben weitgehend
festgelegt sind",
(2000) |
schreibt ROß. In
ähnlicher Form hat dies auch BECK immer wieder
formuliert. Die Durchsetzung der
Arbeitsgesellschaft für alle, also die
Vollerwerbstätigkeit auch für die Frau, schafft
letztlich die "vollmobile
Single-Gesellschaft". BECK grenzt
deshalb seine Position des "Jenseits
von Frauen- und Männerrolle"
folgendermaßen ab:
Risikogesellschaft
"Der Scheinalternative 'Refamilialisierung'
oder 'Durchmarktung' soll hier der
dritte Weg der Eindämmung und Abpufferung
von Marktbeziehungen gegenübergestellt
werden, verbunden mit der gezielten Ermöglichung
sozialer Lebensformen".
(1986) |
Er fordert u.a. die
Institutionalisierung von partnerschaftlichen
Formen der Arbeitsmarktmobilität und mehrere
Familien übergreifende Lebens- und
Unterstützungszusammenhänge. BECK versucht hier
den Spagat der Wiedervereinigung von Arbeit und
Leben. Zu Recht wurde gegen BECK eingewandt, daß
er vor allem Lösungen für Karrierepaare im Auge
hatte. Andererseits ist dieses Problem heute
nicht mehr nur auf diesen Personenkreis begrenzt.
BECKs Vorschläge zielen auf alle Fälle auf die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ab.
Mit
Ulrich Beck gegen Ulrich Beck
Bei ROß werden diese Gemeinsamkeiten und
Differenzen nicht sichtbar. Die
Gemeinsamkeiten der Kritik an der
familienfeindlichen Marktdynamik und die
Übereinstimmung in der Beschreibung einer
individualisierten Gesellschaft, werden von ROß
verschwiegen. Vielmehr wird BECK als der
"führende Lobredner der
Individualisierung" oder als der
"Marktgläubige" bezeichnet. Eine
solche Einschätzung übersieht, daß BECK immer
wieder die Kosten und die Zwänge der
Individualisierung hervorgehoben hat. Auch die
Bezeichnung BECKs als
"Emanzipationsprophet" ist nur die
halbe Wahrheit. BECKs Erkenntnisinteresse dreht
sich nicht um die Frage, wie Emanzipation
möglich ist. Er hat diese Frage im
Forschungsprogramm schlichtweg mit seiner
Definition von Individualisierung ausgeklammert.
An einigen Stellen geht er dennoch darauf ein.
Indem er die Institutionalisierung von
Biographiemustern als Standardisierung
beschreibt, steht er der Möglichkeit von
Emanzipationsprozessen eher skeptisch gegenüber.
Der Mensch wird bei BECK eher zum "Spielball
von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und
Märkten". BECK hat seit seinem Buch
Risikogesellschaft viele Werke
publiziert und er hat sich auch in der
Öffentlichkeit häufig zu aktuellen Problemen zu
Wort gemeldet. Vor allem in öffentlichen
Äußerungen hat er manche Dinge einseitig
zugespitzt, weswegen solche Attribute wie
"Emanzipationsprophet" durchaus ein
Körnchen Wahrheit beinhalten, aber auch das
Gegenteil ist wahr, würde BECK wohl sagen. Die
Differenzen zwischen BECK und ROß ergeben sich
dagegen eher aus unterschiedlichen
Zielvorstellungen bezüglich gesellschaftlicher
Modernisierungsprozesse. Deshalb spreche ich von
einem "Feldzug gegen BECK".
Der Umbau des
Sozialstaats und der Mythos Single
Im 5. Kapitel Zangengriff von links
und rechts geht ROß differenzierter auf
das Staatsverständnis der politischen Akteure
ein. Demnach wollen die "Rechten" den
Staat als Ordnungs- und Sicherheitsmacht,
während die "Linken" den Sozial- und
Steuerstaat im Sinn haben. Die Kritik speist sich
deshalb nicht aus einer grundsätzlichen
Staatskritik, sondern entzündet sich an
unterschiedlichen Staatsvorstellungen:
Die neuen
Staatsfeinde
"Eine
generelle Staatsfeindlichkeit konnte es unter
diesen Umständen nicht geben, nur Streit über
die richtige Akzentsetzung. Aber diese stabile
Konstellation löst sich auf"
(2000),
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schreibt ROß. Auf den Sozialstaat bezogen kann man sogar
sagen, sie hat sich aufgelöst. Im Nachwort zur
Taschenbuchausgabe heißt es, die große
Modernierungskoalition ist "ein typisches
Produkt der Jahre nach 1989". Dies trifft
in besonderem Maße für die Debatte um die
Modernisierung des Sozialstaates zu.
1990
erschien das Buch Das ganz normale Chaos der
Liebe von BECK/BECK-GERNSHEIM. Obwohl die
These
von der "vollmobilen
Single-Gesellschaft" bereits 1986
formuliert wurde, erlebte sie erst nach 1990 ihre
breite öffentliche Diskussion. Die Aufarbeitung
dieser Geschichte der Funktionalisierung
der gesellschaftlichen Minderheit
"Single" im Kontext der
sozialpolitischen Debatte wäre ein
spannendes Thema, denn wer in seiner Freizeit
verzweifelt einen Partner sucht, dem muß der
Satz von ROß
Die neuen
Staatsfeinde
"Singles und Geschiedene, auf
die zu Hause niemand wartet, bilden das ideale,
stets verfügbare Personal eines (...) Unternehmens".
(2000)
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wie blanker Hohn erscheinen.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dieses
Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. In einer funktional-differenzierten
Gesellschaft sollten Kinderlose genauso selbstverständlich
sein wie Kinderreiche. Warum sollten sich unterschiedliche
Lebensformen, mit ihren jeweils spezifischen Potenzialen
nicht sinnvoll ergänzen können? Solange jedoch in Singles
nur eine Bedrohung und nicht auch eine Chance gesehen
wird, leben wir in einer blockierten Gesellschaft, in der
wichtige Energien gebunden sind, die bei den anstehenden
Herausforderungen fehlen werden."
(2006, S.254) |
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