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Zeit der
Pflichten
"Der
Staat ist kein Ersatz, wie an unzähligen
Biografien von Heimkindern leicht abzulesen
ist"
(Christine Brinck im Tagesspiegel vom
13.05.2001) |
Dieser Satz zeigt
das ganze Dilemma und die Verlogenheit der familienpolitischen
Debatte.
Heimkinder sind kein Beispiel für
das Versagen des Staates, sondern ein Beispiel
für das Versagen der Zivilgesellschaft.
Das
schwerwiegendste Tabu unserer Gesellschaft ist,
dass Kinder ohne eigene Eltern die einzigste
Gruppe sind, die wirklich diskriminiert wird,
wenn es um die Kontroverse "Familien
contra Singles" geht. Die
Verfassungsrichter
Jürgen BORCHERT und Paul
KIRCHHOF wollen die Familie stärken, aber wenn
das heißt dass die biologische und
soziale Elternschaft als untrennbar angesehen
wird, dann werden alle Kinder
ausgegrenzt, die keine biologischen Eltern
vorweisen können.
Es ist
typisch, dass Heimkinder in der
familienpolitischen Debatte totgeschwiegen werden
oder nur als Negativbeispiel für die
Verwahrlosung der Gesellschaft dienen. Kinder ohne
biologische Eltern sind ein Beispiel dafür, dass Mutterschaft und Egoismus kein Gegensatz
ist, sondern zusammengehören (siehe
hierzu den Artikel Mütter werden durch die
Gesellschaft ersetzt in der Süddeutschen Zeitung vom
12.05.2001).
Der
Egoismus der Gene ist die Grundlage eines Verständnisses von Mutterschaft, das soziale
Elternschaft als minderwertig einstuft. Wenn es
eine Gruppe in dieser Gesellschaft gibt, die das
Recht hätte auf die Barrikaden zu gehen, so sind
es die Kinder ohne eigene Eltern. Sie sind in
einer Gesellschaft, die biologische Elternschaft
als zentralen Wert ansieht, doppelt
diskriminiert. Sie werden zu Sozialschmarotzern
ohne eigenes Verschulden und müssen in
dem Gefühl aufwachsen, der Gesellschaft zur Last
zu fallen.
Während
Unfruchtbarkeit DAS Thema dieser Gesellschaft
ist, ist der vorzeitige Tod von
Eltern ein Tabuthema. Wenn es aber ein Thema
gibt, das aufgrund der Erhöhung der
Lebenserwartung und der Zunahme kinderarmer
Familien an Bedeutung gewinnt, dann ist es der
vorzeitige Tod. Die Rhetorik
des Aussterbens legt dagegen eine andere
Fragestellung nahe:
Mütter werden durch die
Gesellschaft ersetzt
"Was aber geschieht
nun, da wir immer weniger Kinder, also immer
weniger genetisch Nächste produzieren, denen wir
unsere Fürsorge widmen können? (...) Denkbar
wäre, dass (genetisch betrachtet) die
Nächstenliebe nun sukzessive durch eine Art
Übernächstenliebe ersetzt wird. Will heißen,
dass wir unsere Fürsorge verstärkt Menschen
widmen, mit denen wir nicht verwandt, die aber in
irgendeiner Weise hilfsbedürftig sind (...). Das
setzt allerdings die Annahme eines humanen
Fürsorgepotenzials voraus, das unabhängig von
genetischen Zuordnungen aktivierbar ist. Wer
daran nicht glauben mag, der sei auf Hobbes
verwiesen: Die Grundlage seines leviathanischen
Gesellschaftsvertrags bildet das Verlangen, sich selbst zu
erhalten und ein bequemeres Leben zu führen. So gesehen werden
die kinderlosen Seniorenpfleger bei allem Altruismus vermutlich
darauf hoffen, dass sich auch irgendeiner um sie kümmert, wenn
sie alt sind.
(SZ vom 12.05.2001) |
Während
das Aussterben der Deutschen kein
wahrscheinliches Szenario ist. Zumindest nicht in
dem Sinne wie die Rhetorik des Aussterbens dies
nahe legt, ist der vorzeitige Tod ein Thema das
unsere Gesellschaft im Kern betrifft. Denn auch
wenn insgesamt mehr genetisch Nächste produziert
werden, wird der vorzeitige Tod in einer
Gesellschaft
der Langlebigen das Schicksal sein, das
am meisten schmerzt.
Wenn
BORCHERT argumentiert, dass die
Pflegeversicherung
Eltern dazu zwingt fremde Kinder - also andere
Kinder als biologische - zu pflegen, oder deren
Pflege zumindest mitzufinanzieren, so heißt dies
nichts anderes als dass er das Problem des
vorzeitigen Todes ignoriert.
Lebenslange
Kinderlosigkeit, auf die BORCHERT eigentlich anspielt
und die hochgespielt wird, ist in Zukunft jedoch nicht das
Problem, sondern der vorzeitige Tod und die Tatsache, dass der
Familienhaushalt durch die
multilokale Mehrgenerationen-Familie
abgelöst worden ist. |
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