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Thema des Monats

 
       
   

Die Familie als letztes Bollwerk gegen den Kapitalismus?

 
       
   

Oder: Der Mythos vom Single als Pionier des flexiblen Kapitalismus
Ein Essay anlässlich des  Artikels "Das »Ende der Familie« - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit" von Thomas Meyer (2002)

 
       
   

Die Themen des Essays

 
       
   
     
 

Zitate: Singles als Pioniere der Moderne - Eltern als Widerstandskämpfer?

Demian

"während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit - welche sie liebten wie wir - etwas Fertiges, das erhalten und geschützt werden mußte. Für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen.
(...).
Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: Daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.
Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gefühl deutlich, daß eine Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar sei. Demian sagte mir manchmal: » (...). Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet - wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gefährliche Weiten zu treiben«".
(Hermann Hesse, 1919, zitiert nach 1974)  

Das halbierte Leben

"Die Berufsarbeit ist nicht so sehr zugeschnitten auf den »familienfreien Mann«, sondern genauer auf den »familienfreien Ehemann«. Idealtypisch gefordert ist eine Ehebeziehung, in der keinerlei Anforderungen und Ansprüche an den Mann herangetragen werden, im Gegenteil möglichst nur Entlastung und Befreiung von allen Alltagssorgen erfolgt. Dies freilich scheint eine sehr einseitige und eingeschränkte Ehebeziehung, und die Versuchung liegt nahe, sie als andere, perfektere Version von Junggesellendasein zu bezeichnen".
(Elisabeth Beck-Gernsheim, 1980, S.72)

Die "Single"-Gesellschaft

"Vieles spricht dafür, daß zeitweiliges Leben als Single manche Vorteile für die Gesellschaft mit sich bringt: Denn moderne Gesellschaften beruhen darauf, daß ihre Mitglieder sich auch noch im Erwachsenenalter raschen Wandlungsvorgängen anpassen (oder Wandlungsvorgänge in die Wege leiten). Die geforderten Umorientierungen gehen zum Teil psychisch sehr weit. Tiefsitzende Einstellungen, die in jahrelangen Gewöhnungsprozessen vermittelt und praktisch verfestigt wurden, lassen sich jedoch nur durch krisenhafte Milieu- und Kontaktwechsel unter Abbruch von Bindungen verändern. Zeitweilige Phasen des Alleinlebens stellen solche Gelegenheiten und Anstöße zur Umorientierung dar. Sie tragen daher individuelle und gesellschaftliche Chancen in sich."
(Stefan Hradil, 1995, S.147)

Die beschleunigte Gesellschaft

"Nun gibt es in der europäischen Tradition ja durchaus den »unternehmerischen Einzelnen«. Der große Ökonom Joseph Schumpeter hat ihn beschworen, als er den Begriff der »kreativen Zerstörung« prägte. Die kreative Zerstörung - die Schumpeter für den Industriekapitalismus bechrieb und die sich im digitalen Kapitalismus radikal beschleunigt - verlangt »unternehmerische Einzelne«, die sich vor den Folgen der Veränderung nicht fürchten und die nicht ständig fragen, was hinter der nächsten Ecke kommt."
(Peter Glotz, 2001, S.109)

"Die zeitliche Begrenzung (oder Teilung) von Core-Jobs ist eine hochherzige, gut begründbare, aber undurchführbare Idee. In der oberen Etage der Zweidrittelgesellschaft gibt es im digitalen Kapitalismus keinerlei Chance für die schöne Vorstellung vom jeweils halbtags arbeitenden Ehepaar, das sich zärtlich und zugewandt in Kindererziehung und »reproduktive Arbeit« teilt."
(Peter Glotz, 2001, S.129)

"Deutschland hat einen unschätzbaren Vorteil: ein bis in die letzten Winkel reichendes, solides (...) Bildungswesen. Mag also sein, daß hungrige, flexible, arbeitswütige und gewinnsüchtige junge Leute mit Computer- und Media-Literacy die starren, von Seilschaften organisierten traditionsreichen und kompliziert verästelten Superstrukturen einfach unterlaufen und jenen Kulturwandel erzwingen. Sie werden dazu das System in die Krise stürzen. Das nächste Dutzend Jahre dürfte deshalb kontrovers werden."
(Peter Glotz, 2001, S.153)

Private Lebenssituation und Karriereentwicklung in männlichen Biographien

"Eine hohe berufliche Plazierung bzw. beruflicher Erfolg gehen bis in die 1980er Jahre noch mit der institutionalisierten Lebensform der Ehe einher (...). Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Lebensbereichen löst sich innerhalb von nur zehn Jahren auf. Mit der Zunahme anderer privater Lebensformen, vor allem der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sind diese nicht mehr mit beruflichen Nachteilen gekoppelt. Die Einschätzung, die in den 1990er Jahren sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in den Medien häufig zum Ausdruck kam, daß »Singles« aufgrund der Arbeitsmarktanforderungen in ihren Berufskarrieren im Vorteil seien, trifft jedoch nicht zu - sie haben nur aufgeholt."
(Angelika Tölke, Männlichkeitsentwürfe 2000)

Die Tyrannei der Lust

"In stabilen Gesellschaften, in denen ein autoritärer und holistischer Konformismus herrscht, ist die Familie als Ort der Weitergabe und sozialen »Erneuerung« in der Tat ein Instrument im Dienst der bestehenden Ordnung. Natürlich ist sie die Instanz, die uns Gehorsam beibringt, und infolgedessen auch der Ort der Anpassung und der Tradition. Vollkommen anders ist die Lage hingegen in Zeiten des Umbruchs, in denen Entropie, Chaos und soziale Zersplitterung vorherrschen, das heißt, in denen sich im Extremfall sogar die Fähigkeit zur Weitergabe von Werten auflöst. Nun wird die Familie zum Hort der Menschlichkeit, der Sozialisierung und des Widerstands gegen die solipsistische Barbarei (...). Sie repräsentiert eine Instanz der »fortschrittsorientierten« Verweigerung gegenüber der »Bedeutungslosigkeit einer Gegenwart ohne Bindungen«, wie Irène Théry es formuliert."
(Jean-Claude Guillebaud, 2001, S.386f.)

Schuld hat, wen es trifft

"Wer jugendlich ist, überschreitet permanent die Grenze zwischen Berufsleben und Privatleben und damit auch das Modell der Kleinfamilie als Ort der Regeneration. Diese Jugend ist daher dem Phänomen des Outburn ausgesetzt. Niemand hält einem mehr den Rücken frei. Im Gegenteil, die Patchwork-Familie verlangt mindestens genauso viel Management wie die eigene Karriere. Beziehungen, Ehen, Familien und Freundschaften gehören längst der gleichen Innovationslogik an und bilden keineswegs mehr den lebensweltlichen Gegenpol zur Teilnahme am Markt als Person." [mehr]
(Leander Scholz im Freitag Nr.3 vom 10.01.2003)

Das Ende der Familie als soziologischer Krisendiskurs

Thomas MEYER unterscheidet im Artikel Das »Ende der Familie« - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit im Sammelband Soziologische Gegenwartsdiagnosen II: Vergleichende Sekundäranalyse, herausgegeben von Ute VOLKMANN & Uwe SCHIMANK, beim gegenwärtigen soziologischen Krisendiskurs drei Krisenszenarien: Erstens eine Wertkrise, zweitens eine Erziehungskrise und drittens eine Bindungskrise.  Diese Krisenrhetorik ist keineswegs historisch einzigartig, sondern sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der deutschen Familiensoziologie. Claus MÜHLFELD ("Krisenattribuierungen in der Familiensoziologie",1995) hat diesen Krisendiskurs von Wilhelm Heinrich RIEHL (1856) bis zu Ulrich BECK nachgezeichnet. Thomas MEYER geht es dagegen um die aktuelle Krisendebatte, die er vor allem anhand der amerikanischen Kulturkritik aufzeigt.

Die Wertkrise

Von Christopher LASCHs The Culture of Narcissism (1979) bis zu den Bestsellern der Kommunitaristen Amitai ETZIONI (The Spirit of Community, 1993) und Francis FUKUYAMA (The Great Disruption, 1999) findet sich die Klage über den Wertewandel, der von der 68er Bewegung hin zum egoistischen Individualismus geführt hat, das Thomas MEYER folgendermaßen zusammenfasst:

Das "Ende der Familie" - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit

"Während die Kernfamilie in der wohlgeordneten Gesellschaft der fünfziger Jahre noch intakt gewesen sei, so das typische Lamento, sei sie nunmehr zu einer bloßen »Lifestyle-Option« und einem Experimentierfeld für neue Formen des privaten Zusammenlebens verkommen. Singles, unverheiratete Paare, kinderlose Ehen, berufstätige Mütter, Eineltern- und Karrierefamilien gelten als die offenkundigen Beweise eines exzessiven und uferlosen Individualismus, der sich allen längerfristigen Verpflichtungen und Verantwortungen zu entziehen weiß."
(aus: Soziologische Gegenwartsdiagnosen II 2002, S.201)

Richard SENNETT hat dagegen in seinem Buch The Corrosion of Charakter (1998) den "flexiblen Menschen" als Konsequenz des problematischen Wertewandels hin zu einem flexiblen Kapitalismus angeprangert .

Die Erziehungskrise

Die Erziehungskrise wird vor allem von den amerikanischen Kommunitaristen beklagt. MEYER zitiert hier Amitai ETZIONIs Kritik an der Elternabwesenheit, die auch in Deutschland im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte steht. Bücher wie Susanne GASCHKEs Die Erziehungskatastrophe stehen in dieser Tradition. ETZIONIs Leitbild der "kommunitären Familie" orientiert sich am Familienideal der 50er Jahre . Richard SENNETT zeigt im Buch Der flexible Mensch dagegen die Ängste der Väter im flexiblen Kapitalismus auf:

Der flexible Mensch

"Nun da er selber Vater ist, verfolgen ihn modernere Schrecken des Kontrollverlustes, besonders die Furch, seine Kinder könnten »Mall-Ratten« werden, die nachmittags ziellos auf den Parkplätzen von Einkaufszentren herumhängen, während die Eltern unerreichbar in ihren Büros sitzen."
(1998, S.24)

Die Bindungskrise

Unter dem Stichpunkt "Bindungskrise" handelt MEYER die Freisetzungsdimension der populären Individualisierungsthese von Ulrich BECK ab. Während manche Vertreter die positiven Seiten von Bastelbiografien hervorheben, steht hier jedoch der negative Aspekt der Vereinzelung bzw. Atomisierung im Vordergrund . Der Soziologe Hans-Joachim HOFFMANN-NOWOTNY hat dieses Szenario in besonders düsteren Tönen gemalt. Nach einem Blick in die amtliche Statistik kommt er zum Ergebnis,

Auf dem Wege zu einer Gesellschaft von Einzelgängern?

"dass nicht nur ein wachsender Teil unserer Bevölkerung als Einzelgänger lebt, sondern zudem ein nennenswerter Teil in Bindungen, die zumindest ohne grosse formale Probleme schnell aufgelöst werden können. Und schliesslich begründet auch die formelle Eheschliessung in zunehmend geringerem Masse eine dauerhafte Bindung an einen anderen Menschen. Ich meine deshalb, es sei nicht abwegig, die These zu vertreten, dass wir uns auf dem Wege zu einer Gesellschaft von Einzelgängern befinden, von Menschen also, die entweder unfähig oder unwillig sind, sich zu binden." [mehr]
(Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny in der Neuen Zürcher Zeitung vom 07.07.1984)

Im Gegensatz zu Ulrich BECK sieht HOFFMANN-NOWOTNY jedoch nicht den Single als Pionier der Moderne, sondern einen Familientyp, den er als "Living apart together" bezeichnet. Dessen Kennzeichen ist, dass die Mitglieder in zwei Haushalten "getrennt zusammenleben".  Solche Spagatfamilien stellen aber auch fast 20 Jahre später nur eine Minderheit der Familien dar.

Einwände gegen die Untergangsszenarien

Thomas MEYER bringt vier Einwände gegen die Untergangspropheten vor.

Monopolverlust der Normalfamilie statt Pluralisierung der Lebensformen

Im Gegensatz zu Vorstellungen, dass die Normalfamilie von nicht-familiären Lebensformen abgelöst wird, geht MEYER von einem Monopolverlust der Normalfamilie aus:

Das "Ende der Familie" - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit

"Bei dem derzeitig zu beobachtenden Strukturwandel der Familie geht es weniger um die Entstehung neuer privater Lebensformen als darum, dass neben der »Normalfamilie« andere Privatheitsmuster an Gewicht gewonnen haben".
(
aus: Soziologische Gegenwartsdiagnosen II 2002, S.209)

MEYER unterscheidet drei Privatheitstypen, die den modernen Gesellschaftsverhältnissen besser angepasst sind als die "starre, auf Dauer angelegte Normalfamilie mit ihrem traditionellen Rollengefüge". Neben die kindzentrierte Privatheitsform treten deshalb die partnerschafts- und die individualistischen Privatheitstypen. MEYER geht wie BURKART & KOHLI davon aus, dass die Individualisierung zum einen nur auf bestimmte Milieus beschränkt ist und zum anderen nur für bestimmte Altersgruppen attraktiv ist. MEYER geht jedoch darüber hinaus von einer Veränderung der gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen aus:

Das "Ende der Familie" - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit

"Die Vorstellungen dessen, was als normal anzusehen ist, haben sich - schicht, milieu- und altersspezifisch gebrochen - erheblich geweitet, und die Vorstellungen darüber, was als abweichend zu gelten hat, sind entsprechend permissiver geworden."
(
aus: Soziologische Gegenwartsdiagnosen II 2002, S.209)

Dessen ungeachtet bleibt jedoch das Kleinfamilienmodell für die große Mehrheit der Bevölkerung weiterhin das unumstrittene Leitbild. 

Zunehmende Bindungsorientierung trotz höherer Ledigenquote und Zunahme der Einpersonenhaushalte

Kulturpessimisten sehen in dem steigenden Heiratsalter und der Zunahme der lebenslang Ledigen einen Trend zur Bindungslosigkeit. Die Soziologen Paul B. HILL & Johannes KOPP (1997) haben dagegen zwischen den postmodernen Lebensformen und den Lebensformen in der Weimarer Republik eine große Ähnlichkeit festgestellt. Entgegen der Zunahme der Einpersonenhaushalte, die als zunehmende Bindungslosigkeit fehlinterpretiert wird, hat nach einer Untersuchung von Thomas KLEIN die "Bindungsquote über die Generationen hinweg eher zu- als abgenommen" (MEYER, 2002, S.210). Wir sind also nicht auf dem Weg zur "Single"-Gesellschaft, sondern es dominiert die Paargesellschaft .

Hohe Scheidungszahlen und "neue Kinderlosigkeit" als Konsequenz der hohen Wertschätzung von Ehe und Elternschaft

Die hohen Scheidungszahlen und die "neue Kinderlosigkeit" sieht MEYER nicht als Konsequenz von Egoismus, Hedonismus oder Bindungsunfähigkeit, sondern als Ergebnis der hohen Wertschätzung von Ehe und Elternschaft. Die "neue Kinderlosigkeit" ist für MEYER weniger eine finanzielle Frage, sondern die Folge des "Prinzips verantworteter Elternschaft" . Dies hat nicht nur zu mehr lebenslang Kinderlosen geführt, sondern auch zum Rückgang kinderreicher Familien:

Das "Ende der Familie" - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit

"Dieser Normenkomplex beinhaltet, sich nur dann für Kinder zu entscheiden, wenn man meint, die ökonomische und psychische Verantwortung für eine intensive und anspruchsvolle Erziehung übernehmen zu können".
(
aus: Soziologische Gegenwartsdiagnosen II 2002, S.214)

Hohe Generationensolidarität der modernen Familie

Im Gegensatz zur Auflösungsperspektive der Individualisierungs- und Desintegrationsthesen, betont MEYER die hohe Generationensolidarität der multilokalen Mehrgenerationenfamilie. "Intimität auf Abstand" (ROSENMAYR) ermöglicht einen harmonischeren Umgang zwischen den Familienmitgliedern. Was MEYER nicht erwähnt: Der Generationenkonflikt, der frühere Familienformen gekennzeichnet hat, ist außerdem durch die sozialstaatliche Sicherungssysteme entschärft worden (SZYDLIK).

Die alte und die neue Sicht auf das Bollwerk Familie

Bei seinen Betrachtungen zum Verhältnis von Gesellschaft und Familie bezieht sich MEYER auf Jürgen HABERMAS, der zwischen System und Lebenswelt unterscheidet. Die Familie ist in dieser Sichtweise ursprünglich Teil der Lebenswelt, während Politik und Wirtschaft Teil des Systems sind. Mit der These von der "Kolonialisierung der Lebenswelt" wird dann das Eindringen der Systemimperative von Politik und Ökonomie in die Lebenswelt Familie behauptet. Diese Sichtweise ist z.B. prägend für die konservative Sozialstaatskritik von Konrad ADAM, die Kritik am flexiblen Kapitalismus von Richard SENNETT oder die Modernisierungsthese der Zweiten Moderne von Ulrich BECK und Anthony GIDDENS. Thomas MEYER lenkt damit den Blick auf "das Problem einer durch äußere Mächte bestimmten Familie". Er sieht darin eine Abkehr von alten Vorstellungen, die seit Wilhelm Heinrich RIEHL die Familiensoziologie dominiert haben:

Das "Ende der Familie" - Szenarien zwischen Mythos und Wirklichkeit

"Die klassische Vorstellung, der zufolge Lebenswelt und System bzw. Familiensystem und Umweltsysteme durch ihre unterschiedlichen Funktionslogiken klar und eindeutig voneinander getrennte Handlungsbereiche darstellen, die jeweils füreinander und für die Gesellschaft insgesamt verschiedenartige Aufgaben unabhängig voneinander erfüllen, ist offenkundig einer Revision zu unterziehen."
(
aus: Soziologische Gegenwartsdiagnosen II 2002, S.221)

Was Thomas MEYER hier als neue Sichtweise propagiert, ist längst ein Gemeinplatz der modernen Interessenpolitik der Neuen Mitte geworden. Es geht selbst in der konservativen Krisendebatte nicht darum, dass die Familie ein Bollwerk ist, sondern es geht stattdessen darum, dass die Familie wieder zum neuen Bollwerk werden soll. Der Familienvater wird in dieser Sichtweise zum Widerstandskämpfer. Dies ist gleichzeitig die identitätspolitische Basis für einen neuen Familialismus, der seit Ende der 1980er Jahre die politische Arena bestimmt. In Frankreich hat Jean-Jacques GILLEBAUD mit seinem Buch Die Tyrannei der Intimität diese Position der "Neuen Reaktionäre" (LINDENBERG) popularisiert .

Der Single als Pionier des flexiblen Kapitalismus?

Die Welt der Sozialpopulisten ist schlicht. Familien sind gegenüber Singles grundsätzlich benachteiligt. Im flexiblen Kapitalismus sind Eltern die Verlierer und Singles die Gewinner, ist ihre mantrahaft vorgetragene Rede. Diese Sichtweise unterschlägt die Tatsache, dass männliche Singles - speziell partnerlose Alleinwohnende - im mittleren Lebensalter  Individualisierungsverlierer sind, während weibliche Singles bislang zu den Gewinnern der Modernisierung gehören.

Das Geschlecht ist für die berufliche Karriere entscheidender als die Lebensform

Die Soziologin und Ungleichheitsforscherin Jutta ALLMENDINGER ("Von der Magd zum Markt", FR 25.02.2003) geht von einer geschlechtsspezifischen Segmentierung des Arbeitsmarktes aus. Es gibt also typische Männer- und Frauenberufe. Die Konsequenz ist, dass hauptsächlich Frauen mit Frauen und Männer mit Männern um die begehrten Berufspositionen konkurrieren. In den Chefetagen ist die Situation noch eindeutiger.

Die Managerehe als Voraussetzung für eine Topkarriere in der Wirtschaft

Das Topmanagement ist die Domäne von Männern. Es ist kaum verwunderlich, dass gerade die Managerehe die letzte Bastion der traditionellen Kernfamilie ist. Elisabeth BECK-GERNSHEIM hat die Notwendigkeit der traditionellen Arbeitsteilung für Führungskräfte Anfang der 1980er Jahre beschrieben:

Das halbierte Leben

"Die Berufsarbeit ist nicht so sehr zugeschnitten auf den »familienfreien Mann«, sondern genauer auf den »familienfreien Ehemann«. Idealtypisch gefordert ist eine Ehebeziehung, in der keinerlei Anforderungen und Ansprüche an den Mann herangetragen werden, im Gegenteil möglichst nur Entlastung und Befreiung von allen Alltagssorgen erfolgt. Dies freilich scheint eine sehr einseitige und eingeschränkte Ehebeziehung, und die Versuchung liegt nahe, sie als andere, perfektere Version von Junggesellendasein zu bezeichnen".
(Elisabeth Beck-Gernsheim, 1980, S.72)

Peter GLOTZ geht davon aus, dass sich das auch im flexiblen - oder wie er es nennt: im Digitalen - Kapitalismus nicht ändert. Er geht vielmehr davon aus, dass sich die Verhältnisse sogar noch verschärfen:

Die beschleunigte Gesellschaft

"Die zeitliche Begrenzung (oder Teilung) von Core-Jobs ist eine hochherzige, gut begründbare, aber undurchführbare Idee. In der oberen Etage der Zweidrittelgesellschaft gibt es im digitalen Kapitalismus keinerlei Chance für die schöne Vorstellung vom jeweils halbtags arbeitenden Ehepaar, das sich zärtlich und zugewandt in Kindererziehung und »reproduktive Arbeit« teilt."
(2001, S.129)

Das Ehegattensplitting zementiert dieses Bollwerk der traditionellen Arbeitsteilung zusätzlich. Die Debatte um die Änderung des Ehegattensplittings nach der Bundestagswahl 2002 hat gezeigt, dass gegen die Interessen der Managerelite keine Politik zu machen ist. Die neue Bundesfamilienministerin Renate SCHMIDT ist mittlerweile dazu übergegangen das Ehegattensplitting in seiner bisherigen Form zu verteidigen ("Auf der Suche nach einer Balance zwischen Familie und Beruf", FR 27.02.2003).

Renate LIEBOLD ("Meine Frau managt das ganze Leben zu Hause...", 2001) nennt das Vereinbarkeitsproblem von Beruf und Familie deshalb für Männer in Führungspositionen ein Verteidigungsproblem. Auch die Tatsache, dass die Scheidungen im Topmanagement zunehmen, ist keine Abkehr von der Norm der Managerehe:

Der Anfang, der ein Ende ist

"Vorbei die Zeit, in der die Ehe der Führungskraft Kontinuität, Belastbarkeit und Stabilität signalisierte. Zwar gilt die Frau an seiner Seite bis heute als Ausweis von Sozialkompetenz und ist seiner Karriere durchaus dienlich. Aber ob sie die erste, die zweite oder gar die dritte ist, spielt immer weniger eine Rolle".
(Susanne Risch im Manager Magazin Nr.9, 1999)

Die Notwendigkeit einer Frau an seiner Seite ist also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern je nach erreichter Karrierestufe wird schon einmal eine passendere Frau für den nächsten Karriereabschnitt gesucht.

Forschungsdefizit: Der Einfluss der Lebensform auf die Karriere

Studien zum Einfluss der Lebensform auf die männliche oder weibliche Karriere sind Mangelware, obgleich in der Mediendebatte die Gewinner- und Verliererkarten bereits vergeben sind. Als eine der wenigen ForscherInnen auf diesem Gebiet formuliert Angelika TÖLKE das Forschungsdefizit folgendermaßen:

Berufskarrieren von Frauen und Männern - Der Einfluß von Herkunft, Bildung und Lebensform

"Der Verlauf von Berufskarrieren wurde bislang hauptsächlich für Männer untersucht, wobei deren partnerschaftliche und familiale Lebensformen keinen Eingang in die theoretischen und empirischen Analysen gefunden haben. (...). Obwohl vereinzelte Ergebnisse aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung einen Zusammenhang zwischen Lebensform und beruflichem Erfolg vermuten lassen, z.B. gehören ledige Männer zu geringeren Anteilen zu den besser Verdienenden als Verheiratete (Engelbrech 1991; Schömann/Hannan/Blossfeld 1991; Statistisches Jahrbuch 1993), wurde dieser Aspekt bislang in dieser Forschungstradition nicht aufgegriffen."
(aus: Zeitschrift für Frauenforschung, Heft 4, 1996)

In der 1996er Studie unterscheidet TÖLKE nur zwischen Ledigen und Verheirateten. Die Daten stammen aus dem Jahr 1988 und gelten für die 1938 - 1958 geborenen Männer. Wenn TÖLKE von Singles schreibt, dann meint sie also nicht Alleinlebende, sondern Ledige. TÖLKE kommt zu dem Ergebnis:

Berufskarrieren von Frauen und Männern - Der Einfluß von Herkunft, Bildung und Lebensform

"In keinem Fall haben Singles als Gruppe berufliche Vorteile. Auch nicht in der jüngeren Altersgruppe der 30- bis 40jährigen"
(
aus: Zeitschrift für Frauenforschung, Heft 4, 1996, S.173)

Bei einer differenzierteren Betrachtung aus dem Jahr 2000 in dem Aufsatz Private Lebenssituation und Karriereentwicklung in männlichen Biographien beschreibt TÖLKE dann die Veränderungen zwischen 1986 und 1996. Sie stellt zwar eine Annäherung der Lebensformen fest, aber auch zu diesem Zeitpunkt haben männliche Singles keine Vorteile gegenüber verheirateten Männern. Das Karrierenstufenmodell bei TÖLKE ist jedoch etwas irreführend, da es nicht mit Einkommensklassen verknüpft ist. Ein Beamter im höheren Dienst wird in die gleiche Karrierestufe eingeordnet wie ein Topmanager in der Wirtschaft. Dadurch werden die beruflichen Aussichten von Singles zu optimistisch eingeschätzt.

Geringere Chancen auf eine Familiengründung für gering verdienende Männer

In einem anderen Zusammenhang zeigt sich bei TÖLKE jedoch, dass sich die Chancen von Männern mit geringen Verdienst auf die Familiengründung innerhalb von 10 Jahren verschlechtert haben:

Private Lebenssituation und Karriereentwicklung in männlichen Biographien

"Wenn (...) ein Mann in den 1990er Jahren eine niedrige Position innehat, so geht dies nun gehäuft mit einer nicht familialen Lebensform einher. Männer auf der untersten Karrierestufe hatten in den 1980er Jahren noch eine dem Durchschnitt entsprechende Aussicht, verheiratet in einer Familie zu leben (74 %). In den 1990er Jahren jedoch ist nur jeder zweite beruflich schlecht platzierte Mann verheiratet und hat mindestens ein Kind (54 %), ihr Familienanteil liegt damit 9 % niedriger als im Durchschnitt (63 %). Hat der Anteil verheirateter Väter an allen Männern zwischen den beiden Jahrzehnten um 11 % abgenommen, so ist der Anteil von Familienvätern auf der untersten Karrierestufe um 20 %, von 74 % auf 54 %, überdurchschnittlich gesunden. Es ist zu vermuten, daß die Chancen für Männer auf einer niedrigen Karrierestufe für eine Heirat und Familiengründung schlechter geworden sind."
(aus: Männlichkeitsentwürfe 2000, S.144)

Geschiedene Männer ohne Partnerin als Problemgruppe

Betrachtet man die Tabelle Lebensform und Karrierestufe, dann ist festzustellen, dass 30 - 50jährige, geschiedene Männer ohne Partnerin mit einem Anteil von 2 % die geringste Chance auf die höchste Karrierestufe hatten. Zehn Jahre zuvor waren es noch 11%. Geschiedene Männer haben 1996 mit Abstand die geringsten Karrierechancen. In den 3 höchsten Karrierestufen sind sie nur mit 37 % vertreten, während alle anderen Lebensformen bei Anteilen zwischen 66 und 70 % liegen.

Geringere Lebenszufriedenheit von Unverheirateten

Es wundert deshalb kaum, dass TÖLKE hinsichtlich der allgemeinen Lebenszufriedenheit schreibt: "Ledige und geschiedene Männer haben mit 50 % bzw. 46 % die geringsten Anteile an sehr Zufriedenen". Bezieht man diese Daten auf die Haushaltsformen, dann lebten im Jahr 2000 (Statistisches Jahrbuch 2001) über 40 % der 25-45jährigen Geschiedenen und Ledigen im Einpersonenhaushalt. Aufgrund der unterschiedlichen Zeitpunkte und Altersgruppeneinteilungen in den diversen Statistiken lassen sich nur annähernde Größenverhältnisse angeben. Es zeigt sich jedoch, dass in diesen Altersgruppen mehr Männer als Frauen allein leben .

Partnerlosigkeit als Problem

Die geringere Lebenszufriedenheit der Männer im mittleren Lebensalter hängt nicht unbedingt mit der unbefriedigenden Berufssituation zusammen, sondern auch die Partnerlosigkeit trägt dazu bei. Sozialforscher wie Thomas KLEIN und Bevölkerungswissenschaftler wie Hans J. JÜRGENS (2002) gehen von einem Männerüberschuss bei den Männern im mittleren Lebensalter aus. Im Zusammenhang mit der Zunahme der Bindungsorientierung ergibt sich ein erhöhter sozialer Druck auf partnerlose Männer.

Fazit

Fasst man die Erkenntnisse zusammen, dann sind männliche Alleinlebende im mittleren Lebensalter keineswegs die Pioniere der Moderne, sondern eine Problemgruppe, die bisher noch kaum richtig in den Blick der Medien geraten ist.

Mit Michel HOUELLEBECQ ("Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen") ist zwar der männliche Single zum Thema geworden. Im Mittelpunkt steht damit der beruflich erfolgreiche, aber einsame Mann. Die Realität zeigt jedoch, dass der einsame Mann eher wenig erfolgreich ist. Die Sozialforschung hat es bisher versäumt das männliche Single-Dasein umfassend zu erforschen. Der feministische Blick hat lange Zeit verhindert, dass die Lebensverhältnisse in den Einpersonenhaushalten unverzerrt wahrgenommen worden sind. Die Yuppiefrauen als Pioniere der Moderne sind quantitativ gesehen nur eine kleine Gruppe, den Medien gelten sie jedoch als Sinnbild des Alleinlebenden im mittleren Lebensalter. Es wird Zeit, dass dieses Bild korrigiert wird.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

Die Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
        
Das Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik.

 
     
 
       
   

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© 2002-2018
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 24. Februar 2002
Update: 24. November 2018