Von der
deutschen Öffentlichkeit bislang eher unbeachtet, aber mit
hohem publizistischem Aufwand vorangetrieben, wird seit
einigen Monaten europaweit das zu hohe Renteneintrittsalter
gegeißelt. Strategisches Ziel ist die Erhöhung der
Lebensarbeitszeit, insbesondere die Erhöhung des faktischen
und gesetzlichen Renteneintrittsalters.
In einem
ersten Schritt der gegenwärtigen Medienkampagne stand dabei
die Veränderung des Bildes der Alten im Vordergrund. Am 17.
November 2010 wurde dazu der
6. Altenbericht mit dem Thema Altersbilder in Deutschland
vorgestellt. Die Vorarbeiten dazu liefen bereits mehrere
Jahre.
"Der Sechste
Altenbericht ist eine umfassende Aufarbeitung der in unserer
Gesellschaft vorhandenen Altersbilder, ihrer Tradition und
ihrer Wirkungen. Die am 17. Juli 2007 berufene,
interdisziplinär zusammengesetzte Sechste
Altenberichtskommission unter Leitung von Professor Andreas
Kruse hatte den Auftrag, sich mit dem Thema Altersbilder
in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. In
Weiterentwicklung der Befunde des Fünften Altenberichts zu
den Potenzialen älterer Menschen wird hier die Frage nach
den vorherrschenden Altersbildern und ihrer
gesellschaftlichen Wirkung aufgegriffen."
(Bundestag-Drucksache 17/3815, S. IV)
Am 7. März 2011
erschien nun das Themenheft Demografischer Wandel der
Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ). In
sechs Beiträgen wird das gesamte Spektrum einer
"demografiepolitischen Strategie" ausgebreitet. Obwohl in
keinem einzigen der Beiträge der 6. Altenbericht erwähnt wird,
werden dessen Ergebnisse implizit vorausgesetzt, denn die
Altersbilder mit den dazu gehörigen Einstellungen in der
Bevölkerung haben Auswirkungen auf die Akzeptanz von
Demografiepolitik, wie heutzutage der unverfänglichere Begriff
für Bevölkerungspolitik (also Biopolitik im Sinne von Michel
FOUCAULT) ist.
"Der Sechste
Altenbericht soll maßgeblich dazu beitragen, realistische
und zukunftsgerichtete Altersbilder herauszuarbeiten und
durch eine öffentliche Debatte in der Gesellschaft zu
verankern. Die Chancen Deutschlands, den demografischen
Wandel aktiv zu gestalten, hängen wesentlich auch davon ab,
wie es gelingt, mehr von den Fähigkeiten, Potenzialen,
Stärken und Erfahrungen der älteren Generation in die
Gesellschaft einzubringen. Es gilt, Altersbilder zu
entwickeln, die ein realistisches und differenziertes Bild
vom Alter in seinen unterschiedlichen Facetten zeichnen."
(Bundestag-Drucksache 17/3815, S. IV)
In der Stellungnahme der
Bundesregierung zum Altenbericht wird ausdrücklich begrüßt,
dass die beteiligten Wissenschaftler die Altersbilder so
differenziert haben, dass sie den Vorgaben der Politik in
jeder Hinsicht entsprechen. Eine solch politikkonforme
wissenschaftliche Rechtfertigung wird von dem
Sozialwissenschaftler Stephan LESSENICH scharf kritisiert. Für
ihn steht hinter der
"grauen Ressource" ein produktivistisches und funktionales
Altersbild, das der Realität des gegenwärtigen Alters nicht
entspricht.
Im
Themenheft Demografischer Wandel wird dagegen das neue
differenzierte Altersbild als Vorlage für politische
Forderungen verstanden, die zur Bewältigung des demografischen
Wandels geeignet sind.
Im Beitrag
von Tilman MAYER, Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Demographie, und damit Sachwalter der
bevölkerungspolitischen Hardliner, die einen
nationalkonservativen Politikkurs unter Flankierung durch die
Europäische Union bevorzugen, werden zwei Demografiestrategien
vorgestellt: Gestaltung und Anpassung. Bereits der Titel
Demografiepolitik - gestalten oder verwalten? macht
klar, dass Anpassung an den demografischen Wandel (als
verwalten diffamiert) nur die drittbeste Wahl, also nach
einer Mischstrategie, darstellt. Zuerst wird als Grundlage des
Beitrags ein Beschluss der Bundesregierung aus dem Jahre 2009
vorgestellt, in dem die Entwicklung einer "Demografiestrategie"
auf der Agenda stand. Für MAYER heißt demografische Strategie
die Beeinflussung (präferiert als "Gestaltung")
demografischer Prozesse der Zu- und Abwanderung, der
Geburtenentwicklung, der Alterung und Schrumpfung der
Gesellschaft bzw. eine Anpassung an diese Prozesse ("verwalten
und kanalisieren").
"Demografische
Strategie bedeutet politisches Handeln mit dem Ziel,
demografische Prozesse a) zu beeinflussen oder zu steuern
und/oder b) zu verwalten und zu kanalisieren. Über eine
Strategie zu verfügen heißt also, ein Ziel zu haben, wohin
man steuernd gelangen will und mitzuteilen, mit welchen
Mitteln und unter welchen Umständen dies geschehen soll.
Unter demografischen
Prozessen subsumiert man die Zu- und Abwanderung, die
Geburtenentwicklung, die Alterung und Schrumpfung der
Gesellschaft." (APUZ 2011, S.12)
Eine Gestaltungstrategie
müsste nach seiner Auffassung sowohl eher "periphere"
Politikfelder wie Gesundheits-, Bildungs-, Wirtschafts- und
Sozialpolitik als auch zentrale Politikfelder wie Familien-,
Frauen- und Migrationspolitik umfassen. Bevorzugt wird die
Einrichtung eines Demografieministeriums, während
Demografiepolitik als Querschnittsaufgabe
(Anpassungsstrategie) als unzureichend angesehen wird.
Die von
MAYER präferierte Gestaltungsstrategie entspricht weitgehend
dem konservativen Wohlfahrtsregime (ESPING-ANDERSEN), wobei
ihm die französische Variante in Bezug auf die Geburtenraten
vorbildlich erscheint. Bezogen auf die Alterung der
Gesellschaft würde eine Gestaltungsstrategie z.B. auf eine
Rente nach Kinderzahl hinauslaufen, während die
Anpassungsstrategie eine Beschäftigungspolitik bevorzugen
würde, die z.B. auf die Erhöhung des Renteneintrittsalters
oder umfassender auf eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit
abzielt.
"Leistungsgerecht muss
auch eine Alterssicherungspolitik angelegt sein. Eine
Generation, die durch Nachwuchsbeschränkung das bestehende
Umverteilungssystem belastet, muss generationengerecht an
den Lasten beteiligt werden. In der öffentlichen Meinung
stößt auf strikte Ablehnung, was systematisch richtig wäre:
die Alterssicherung – auch – kinderspezifisch auszurichten.
Vergleichsweise einfacher ist es dann schon, die
Verlängerung der Lebenserwerbsarbeitszeit zu organisieren,
so dass die viel kleinere nachwachsende Generation nicht
auch noch die längere Ruhestandsphase der älteren Generation
zu finanzieren hat." (APUZ 2011, S.17)
Die Anpassungsstrategie
umfasst nach MAYER verschiedene beschäftigungspolitische
Aspekte, die im Großen und Ganzen in Einklang mit den jetzigen
OECD-Vorschlägen stehen.
"Demnach stehen
folgende Punkte auf der politischen Agenda:
• die Erhöhung der Lebensarbeitszeit;
• die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit bzw. die noch
bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie;
• gezielte Mütterförderung;
• Migrationspolitik, die besonders Qualifizierte anzieht;
• Alterungsprozesse der Bevölkerung zu begleiten, sowohl was
die Aktivierung "junger altersgemischte Belegschaften
betrifft;
• in jeder Hinsicht das Eintreten der
"Babyboomer"-Generation
in sehr hohe Altersklassen vorzubereiten." (APUZ 2011, S.18)
Im Einführungsbeitrag
Eine neue Kultur des Wandels von Björn SCHWENTKER & James
W. VAUPEL werden die "jungen Alten" als unsere graue Ressouce
eingeführt und die diversen Szenarien zur Erhöhung der
Lebensarbeitszeit vorgestellt, die sich auch auch in den
OECD-Vorschlägen wiederfinden.
Axel
BÖRSCH-SUPAN behandelt dann
Ökonomische Auswirkungen des
demografischen Wandels, um die Möglichkeit der Erhöhung
der Lebensarbeitszeit auszuloten. Ausgangspunkt ist die
Produktivitätsreserve Alter, die eine Gestaltung (Anpassung
aus Sicht von MAYER) des demografischen Wandels möglich macht.
"Leider hat sich in
Deutschland eine eher pessimistische Sicht eingestellt. Der
demografische Wandel wird von den meisten als Bedrohung, die
gesetzliche Rente als Auslaufmodell und das deutsche
Gesundheitssystem nur als Kostenfaktor gesehen. Ich halte
dies für eine Fehleinschätzung. Ich sehe in unserer
steigenden Lebenserwartung und der stetig besser werdenden
Gesundheit eine Ressource, die eine längere Erwerbstätigkeit
ohne größere Einbußen an Lebensqualität ermöglicht und das
Bedrohungspotenzial des demografischen Wandels in eine große
Chance für Jung und Alt wendet." (APUZ 2011, S.19)
Norbert F. SCHNEIDER &
Jürgen DORBRITZ widmen sich in ihrem Beitrag Wo bleiben die
Kinder? dem Geburtenrückgang. Hans Dietrich von
LOEFFELHOLZ beschäftigt sich mit dem Megatrend Migration und
Thomas BRYANT verzeichnet einen Fortschritt in der Debatte um
Alterungs- und Todesgefahr im deutschen Demografie-Diskurs
1911 - 2011.
Das Demografie-Thema wird gegenwärtig mit Macht auf die politische
Agenda gesetzt, wenngleich derzeit in der Öffentlichkeit noch andere
Probleme im Vordergrund stehen. Die momentane Ruhe an der
öffentlichen Demografiefront ist jedoch trügerisch, wie diese
Ausführungen zeigen: Im Hintergrund werden weitere drastische
Reformen vorbereitet, die viele Menschen in Deutschland massiv
treffen werden und die mit dem demografischen Wandel gerechtfertigt
werden.