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Thema des Monats

 
       
   

Der Morgen danach

 
       
   

Das Liebesmodell im Übergang: Von der romantischen Liebe zum Erfahrungshunger der Partnerwahl

 
       
     
       
   
     
 

Der Morgen danach

"Die Troubadoure des Mittelalters erzählten die Geschichte des Beginns einer Liebe mit drei typischen Figuren: den beiden Liebenden und dem Wächter der Morgenröte (...). Der aufgehende Morgen markierte das Ende der Zeit der lodernden Liebe und die Rückkehr zu den Realitäten des profanen Lebens, das voller Gefahren ist. Der Wächter warnte die Liebenden, damit sie fliehen und die überirdische Reinheit ihrer Idylle bewahren konnten. Heute ist die sexuelle Freiheit größer, aber die Gefahren der Morgenröte sind - wenn auch vielleicht diffuser - nicht geringer geworden. Und da ist kein Wächter, um rechtzeitig zu warnen."
(2004, S.70)

Ein neuer Blick auf die Paarbildung

Das Buch Der Morgen danach von Jean-Claude KAUFMANN hat etwas scheinbar Unzeitgemäßes, aber das war bereits bei Schmutzige Wäsche (1992) der Fall . Seit letztem Jahr propagieren die Medien marktschreierisch die Rückkehr der Romantik in Deutschland. Manieren und Rituale sollen die unerwünschte Orientierungslosigkeit eindämmen. Entgegen diesem scheinbaren Trend setzt KAUFMANN auf die "Tugend der Orientierungslosigkeit". Der Morgen danach - so eine Hauptthese - ermöglicht gerade durch die Offenheit der Situation, durch die Einzigartigkeit der Identitätsneuerfindung die Überwindung der Fremdheit zweier mehr oder weniger Unbekannten.

Dauerhaft ist nur die Trennung hieß Anfang der 1990er Jahre eine beliebte Klage (Spiegel Nr.2/1991). Dagegen heißt es bei KAUFMANN: "Zu einer Beziehung kommt es, weil man nicht Schluss macht" (2004, S.238). Dieses Kontinuitätsmodell der Liebesbeziehung widerspricht der gerne gepflegten sozialpopulistischen Single-Rhetorik. Im Nachfolgenden soll gezeigt werden, warum KAUFMANNs Sicht der Dinge auf die Logik der modernen Liebesbeziehung unseren Blick auf das Phänomen der Paarbeziehung revolutionieren könnte.

Paarforschung in Deutschland

Zwei Jahrzehnte Single-Rhetorik haben es nicht vermocht das Thema Partnerschaft ins Zentrum der wissenschaftlichen Forschung zu rücken.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

Die Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
        
Das Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik.

Die Soziologie, die als Wissenschaft von der Gesellschaft prädestiniert dazu wäre, den sozialen Wandel zu untersuchen, weigert sich hartnäckig die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt der Soziologie steht weiterhin fast ausschließlich die Familie, in letzter Zeit auch der Übergang vom Paar zur Familie. Dagegen ist der Übergang vom Solo-Leben zum Paar, also der Prozess der Paarbildung, weitgehend unerforscht. In Deutschland haben sich im Hinblick auf eine Soziologie der Paarbeziehung besonders Karl LENZ ("Soziologie der Zweierbeziehung") und Günter BURKART ("Lebensphasen - Liebesphasen") verdient gemacht.

Ersterer hat mit seiner Soziologie der Zweierbeziehung das Paar ins Visier genommen, während letzterer mit Lebensphasen - Liebesphasen den Mythos Single - also das Alleinleben als lebenslange Alternative zum Paar und zur Familie - demontiert hat. Der französische Soziologe Jean-Claude KAUFMANN ist mit seinen Untersuchungen über die Schmutzige Wäsche und über den Morgen danach ein weiterer Pionier dieser  Paarforschung. Sein originärer Gegenstand ist das Zusammenprallen der Gewohnheiten. KAUFMANN beschreibt in seinen Studien akribisch den Einfluss individueller Gewohnheiten auf den Prozess der Paarbildung.

Der Mensch als Gewohnheitstier

Im Volksmund wird der Mensch gerne als Gewohnheitstier bezeichnet. In der Wissenschaft dagegen spielt das System der Gewohnheiten selten eine zentrale Rolle für die Erklärung des sozialen Verhaltens. Flexibilität ist eines der Zauberwörter der New Economy gewesen. Und auch heutzutage ist der Ruf nach mehr Flexibilität längst nicht verschollen. Biografische Brüche gelten seit der Debatte um Joschka FISCHERs Lebenslauf nicht nur als Normalität, sondern gar als vorbildhaft. Das ging so weit, dass politische Gegner wie Friedrich MERZ Kontinuitäten zu verbergen trachteten und biografische Brüche in Szene setzten. Jean-Claude KAUFMANN hat sich in seiner neuesten Untersuchung von 12 Frauen und 11 Männern ihre Erlebnisse am Morgen danach erzählen lassen. Im Gegensatz zur "großen Politik" betonen die Erzählungen nicht mehrheitlich den biografischen Bruch, sondern die Kontinuitäten. Das Erleben von biografischen Brüchen hängt in erster Linie davon ab, in welcher Form sich der Morgen danach abspielt. Unsere Gewohnheiten spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle.

Der Morgen danach - Eine erste Annäherung

Der Morgen danach, das ist "der Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht" (S.11). Dieser Morgen ist geprägt durch typische Szenen. Es beginnt mit dem Erwachen und dem "Refugium Bett". Danach folgt das Aufstehen, die Morgentoilette und das Frühstück. Die typischen Erfahrungen in diesen Situationen werden uns von Jean-Claude KAUFMANN anhand der Schilderungen der Befragten plastisch und prägnant vor Augen geführt. KAUFMANN ist hier ein kleines Kunstwerk gelungen, das von der so genannten "Fliegenbeinzähler"-Soziologie selten gewürdigt wird. Im Gegensatz zur quantitativen Soziologe, deren Heiligtümer Repräsentativität, Transparenz und Wiederholbarkeit heißen, legt KAUFMANN mehr Wert auf die Intensität und Dichtheit der Beschreibungen. Die qualitative Sozialforschung und die verstehende Soziologie sind dort gefordert, wo es um ein neues Forschungsfeld geht. Der Morgen danach ist wahrlich ein solch neues, noch unerschlossenes Gebiet. KAUFMANN betreibt eine Ethnologie des Alltags und er nähert sich mit den Methoden der Grounded Theory (A. STRAUSS) seinem Gegenstand. Er gibt uns einen ersten tiefen Einblick in die Intimitäten eines Morgens danach.

Wie der Morgen danach erlebt wird

Jean-Claude KAUFMANN beschreibt zuerst die beiden Erlebnisextreme: der Morgen danach mit bösem Erwachen wird dem Morgen voller Zauber gegenübergestellt. Das Drehbuch liefert hierfür scheinbar das Kino der großen Gefühle. "Wie im Film" heißt eine jener vielen Überschriften, die einzelne Erfahrungen immer wieder genau auf den Punkt bringen. Es erstaunt vielleicht den einen oder anderen, dass sich nicht so sehr die Literatur, sondern der Film ausgiebig dem Morgen danach gewidmet hat:

Der Morgen danach

"der Morgen danach hat in der Literatur nur einen Nischenplatz. Zwischen den nächtlichen Liebesspielen und den Ereignissen es Tages, die darauf folgen, werden dem Morgen allenfalls einige kurze Übergangszeilen zugestanden. Dies steht in einem verblüffenden Kontrast zum Film, wo sich die Kamera im Gegensatz dazu lange bei dem ungewissen Erwachen, den kleinen Verwechslungen, der nachlässigen Bekleidung und dem improvisierten Frühstück aufhält. Diese unterschiedliche Behandlung des Morgens danach ist keineswegs dem Zufall geschuldet, sondern erklärt sich durch die besonderen Modalitäten, nach denen der Morgen danach abläuft und die sich durch die Dominanz der gefühlsmäßigen gegenüber der reflexiven Intelligenz auszeichnen; die Sinne (und vor allem der Blick) leiten das Denken. Der Morgen danach ist eine sehr visuelle Sinneserfahrung, die sich an die mehrdeutigen Details einer ungewohnten, fremden Normalität heftet - Details, die intuitiv in einem Bild wahrgenommen werden und zu kompliziert sind, um in einem Text wiedergegeben zu werden."
(2004, S.278)

Die Rolle des Films für die Entstehung des neuen Liebesmodells wird von KAUFMANN nicht behandelt, obwohl vieles dafür spricht, dass die Sozialisation des Jugendlichen im Kino (alternativ durch Fernsehen, Video usw.) durchaus unsere Vorstellungen vom Morgen danach geprägt haben könnten.  Während die zeitgeistige Kulturkritik im Anschluss an Michel HOUELLEBECQ die "Bilder vom schönen Sex" für das angebliche Versiegen des sexuellen Begehrens verantwortlich machen möchte, könnten dagegen die Bilder vom Morgen danach gerade unsere Phantasien beflügelt haben. Die 12 Unterkapitel des Buches werden von KAUFMANN durch literarische Zeugnisse eingeleitet, die jeweils einen spezifischen Aspekt des Morgens danach beleuchten. Sowohl Literatur als auch der Film sind Medien der Überzeichnung. Der Morgen danach als modernes Massenphänomen ist dagegen eher ein Nicht-Ereignis, das gerade durch seine Unscheinbarkeit den biografischen Bruch ermöglicht. So lautet zumindest eine weitere Hauptthese des Buches.

Der Morgen danach mit bösem Erwachen

Einfach unwiderstehlich

"Am nächsten Morgen wachte sie auf, früh und aus irgendeinem Grund auf dem Bett, und das Zimmer war kalt und stank nach Erbrochenem, aus dem halbleeren Faß tröpfelte es auf den Boden. In ihrem Kopf hämmerte es (...). Der Film-Student von der N. Y. U. lag neben ihr (...) und er sah viel kleiner aus und sein Haar länger, als sie es in Erinnerung hatte, seine Haarstacheln waren schlaff geworden."
(Bret Easton Ellis 2001, S.12)

Jean-Claude KAUFMANN sieht in Disco- Konzert- bzw. Kneipenbesuchen, Partys, Feten oder zumindest partyähnlichen Anlässen jene Gelegenheiten, bei denen heutzutage mehr oder weniger ungeplant, Paarbeziehungen konkret ihren Ausgang nehmen. Alkohol und andere Drogen spielen dabei häufig eine wichtige Rolle. Katerstimmungen sind am Morgen danach deshalb nicht ungewöhnlich.  Man sollte hier anmerken, dass sich unter den 23 Fallgeschichten, die KAUFMANN erhoben hat 15 Geschichten von jungen Erwachsenen (Postadoleszenten) im Alter zwischen 22 und 28 Jahren stammen. Bei der Art des Kennenlernens muss sowohl das Alter als auch die Generationenzugehörigkeit beachtet werden. KAUFMANN beschreibt sozusagen ein historisch relativ neues Phänomen, das eng mit der Zunahme des Single-Daseins und den Veränderungen der Frauenrolle verbunden ist. Die Verlängerung der Ausbildungszeiten in Schule, Beruf und Universität und die Bildungsexpansion in den 1960er Jahren hat ebenfalls dazu beigetragen, dass heutzutage feste Paarbeziehungen relativ spät eingegangen werden.

Die Logik der Ereignisse: One-Night-Stand oder doch mehr?

Ein Morgen danach mit bösem Erwachen, läuft - aus der Logik der Ereignisse betrachtet - auf einen Abbruch des Paarbildungsprozesses hinaus. KAUFMANN beschreibt detailliert, wie ein solches Erwachen vonstatten geht. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die zu einem bösen Erwachen führen. Schlechter Sex am Abend zuvor, spielt nicht immer jene zentrale Rolle, die man heutzutage erwarten würde. Der Absturz auf den Boden der Realität findet häufig erst am Morgen danach statt, vor allem wenn Alkohol oder andere Drogen im Spiel waren. Ein tiefer Absturz ist umso wahrscheinlicher, desto weniger ich über den anderen Menschen weiß. Aber selbst wenn ich dem Geliebten vorher schon als Bekannten oder Freund begegnet bin, birgt der Morgen danach noch Überraschendes. Dies beginnt bereits mit dem Erwachen. Wenn ich ein Morgenmuffel bin und der Partner ist ein ausgesprochener Morgenmensch, dann sind Spannungen vorprogrammiert. Die Nähe- und Distanzbedürfnisse können unterschiedlich sein und dadurch zu Missverständnissen führen. Der andere wird plötzlich als distanziert erlebt, obwohl man doch weitere Zärtlichkeiten erwartet. Der morgendliche Gang auf die Toilette kann zum Spießrutenlauf werden, weil man sich nur von seiner besten Seite zeigen möchte. Die Schamgrenzen können individuell sehr unterschiedlich sein. War die Nacht ungeplant oder sie findet nicht zuhause statt, so können möglicherweise die eigenen Hygienestandards nicht eingehalten werden. Morgendlicher Mundgeruch stellt uns vor die Frage, ob ein Kuss jetzt noch angebracht ist. Die morgendliche Abfolge kann uns verwirren. Wir sind es vielleicht gewohnt zuerst die Morgentoilette hinter uns zu bringen, während der Partner gewöhnlich zuerst frühstück. Die Länge der einzelnen Szenen steht zur Debatte. Wann wird es Zeit aufzustehen? Der eine Partner würde gerne länger im Bett bleiben, den anderen drängt es dagegen an den Frühstückstisch. An einem Morgen danach mit bösem Erwachen geraten wir gefühlsmäßig in eine Abwärtsspirale, wenn wir dem nicht entgegenwirken:

Der Morgen danach

"Ein böses Erwachen ist erfüllt von negativen Gefühlen - Ängsten und verschiedenen Formen von Ärger, aber auch Schamgefühlen und Unbehagen vielfältigen Ursprungs: Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des gewünschten Fortgangs der Dinge, Unsicherheiten hinsichtlich der Charakterisierung des Partners, die Schwierigkeit, einen angemessenen Umgang miteinander zu finden, unverständliche Scham, die aggressive Fremdheit des Ortes, die Gegenwart von Zeugen, die weitere Neudefinitionen erforderlich mach oder ein Hin und Her zwischen kaum vereinbaren Rollen auslöst, etc. In diesen Situationen, in denen es an Orientierungspunkten fehlt, um dem Handeln einen klaren Rahmen zu geben, wirkt das Unbehagen häufig anstecken; Unbehagen ruft Unbehagen hervor."
(2004, S.109)

Das entscheidende Problem besteht darin, dass wir nicht sicher sein können, ob der Partner das gleiche fühlt wie wir. Hat der Partner es vielleicht von vorneherein nur auf einen One-Night-Stand abgesehen, oder haben wir die Sache selber vermasselt? Und überhaupt. Wie steht es mit unseren eigenen Gefühlen? KAUFMANN schreibt, dass im Gegensatz zu früher, der Morgen danach kein Passageritus mehr ist. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht gab es nichts zu entscheiden. Ganz anders heute:

Der Morgen danach

"Weitermachen oder nicht? Und der andere, der einem da gegenübersitzt, was denkt er wohl? Das Schweigen und die ausgetauschten Banalitäten geben nur wenig Aufschluss. Für Virginie überhaupt keinen. »Ich wusste nicht einmal, ob er den Morgen überhaupt noch bleiben oder gleich nach dem Frühstück schon gehen würde.« In diesen Momenten entscheidet sich die Zukunft des Paares."
(2004, S. 89)

Im Buch finden sich viele Beispiele für einen Abbruch der Beziehungen, aber auch für Situationen, in denen die Paarvorstellungen unvereinbar sind.

Ungewollt in eine Beziehung hineinschlittern

"Ein böses Erwachen führt nicht automatisch dazu, das es keine gemeinsame Zukunft gibt", schreibt KAUFMANN, weshalb er auch auf jene Situationen eingeht, bei denen es ungewollt zur Paarbildung kommt.  Am Abend zuvor gibt es nur selten klare Abmachungen. Routinierte Singles legen sich deshalb für Trennungen Strategien zu, wenn sie es nicht einfach vorziehen, ohne Worte zu verschwinden. So mancher verschwindet auch mit den Worten, nur mal Brötchen zu holen, um nie wieder zu kommen. Ist man jedoch der Gastgeber, so ist Flucht nicht möglich, sondern man muss dem Anderen klarmachen, dass er unerwünscht ist.  War es für beide eine böses Erwachen, dann ist die Trennung zwar immer noch problematisch, aber es geht im Grunde nur noch um die Modalitäten des Auseinandergehens. Die Gefahr ungewollt in eine Beziehung hinein zu schlittern, ist dann besonders groß,

Der Morgen danach

"wenn es nicht für beide zu einem bösen Erwachen kommt, sondern der andere - im Gegensatz zu einem selbst - auf eine Art und Weise zu handeln und zu reden scheint, die darauf ausgerichtet ist, der Geschichte Dauerhaftigkeit zu verleihen."
(2004, S.103)

Und nicht selten sind sich beide nicht ganz klar darüber, ob es ein nächstes Mal geben soll. Dann entscheiden oft kleine Dinge darüber, ob die Geschichte eine Zukunft hat.

Ein Morgen voller Zauber

Für KAUFMANN ist ein Morgen voller Zauber nur möglich, wenn Liebe im Spiel ist:

Der Morgen danach

"Das Wunder resultiert aus dem Eintreten in die Zweisamkeit; und dieses Eintreten beschleunigt sich seinerseits mit dem Erleben des Wunders. (...). Der Preis der Verzauberung ist das Zurücklassen das alten Ichs (...). Erst, wenn man seine Autonomie und die alten Grenzen seiner Identität hinter sich lässt, dringt man voller Glücksgefühl in das ganze Universum »der Person« ein, die so zum geliebten Wesen wird."
(2004, S.120)

Selten klingt wissenschaftliche Forschung derart pathetisch wie hier bei KAUFMANN. Es ist, was es ist, die Liebe. Dabei könnte man es belassen, aber die Wissenschaft möchte es genauer wissen. Liebe ist für KAUFMANN zum einen ein intensives Gefühl und zum anderen der Zusammenbruch unserer alten Identität, die zur Neuerfindung als Paar führt. Die Intensität der Gefühle hängt dabei mit dem Alter und dem Erfahrungsgrad ab. Je jünger und desto unerfahrener, desto intensiver wird ein Morgen voller Zauber erlebt.

Verliebtheit oder Liebe?

Den Übergang von der Verliebtheit zur Liebe macht KAUFMANN an der Identität fest. Der Bindungsunfähige (KAUFMANN) erlebt nur den Rausch der Sinne, schreckt jedoch vor der Aufgabe seines alten Ichs zurück. Die Verschmelzung bzw. die Neuerfindung der Identität bleibt ihm verschlossen. Swinging Singles oder liebschaftsorientierte Singles (Ronald BACHMANN 1992) können es in Affären bzw. Liebschaften bis zur Meisterschaft bringen. In KAUFMANNs Studie finden sich mit Charles-Antoine und Manuel zwei Beispiele dieses Typus. Manuel sammelt

Der Morgen danach

"Nächte ohne ein Danach und ist ein wahrer Liebhaber von Morgen danach.
Doch es handelt sich hier um eine sehr komplexe Kunst, einen delikaten Drahtseilakt, der einer gewissen Erfahrung bedarf. Denn normalerweise führt das Vermeiden einer engeren Bindung zu der logischen Folge, dass der Zauber gebrochen wird. Die Beziehungen (sowohl zu der Person als auch zu den Gegenständen) kühlen sich ab und die Unsicherheit der Situation schafft Unbehagen. Die Erfahrung des Reizes eines touristischen Morgens danach ist nur schwer zu machen, und dieser Reiz bleibt zudem immer begrenzt. Er hat weder die Intensität noch die Qualität der wahren Verzauberung."
(2004, S.130)

KAUFMANN besteht hier also auf einem grundsätzlichen Erfahrungsunterschied.

Bindungsunfähigkeit oder Bindungsdesinteresse?

Ronald BACHMANN spricht im Gegensatz dazu nicht von Bindungsunfähigen, sondern nennt sie Bindungsdesinteressierte. Dieser Begriff ist weniger normativ und beschreibt Partnerlosigkeit nicht von vorneherein als Defizit. BACHMANN hat in seiner Studie zwei unterschiedliche Identitäten des Bindungsdesinteressierten gefunden. Zum einen die sexuell autonomen Singles,

Singles

"die sich nicht in die Handlungssysteme von zwischengeschlechtlicher Liebe, Partnersuche und Partnerwahl einbinden lassen (...) wollen"
(1992, S.140).

Zum anderen ist er auf liebschaftsorientierte Singles gestoßen, die für sich feste Bindungen mit Nachdruck ablehnen.

Singles

"Eigenbestimmte, temporäre Liebschaften erscheinen ihnen vielmehr als eine Loslösung von kulturell »vorgestanzten« Bindungsvorstellungen und der Ausdruck ausgeweiteter persönlicher Handlungsmöglichkeiten".
(1992, S.140)

Manuel wird von KAUFMANN im biografischen Anhang, der etwas sehr dürftig ist, als "alleinstehend mit Freundin" beschrieben. Er ist damit ein typisches Beispiel für liebschaftsorientierte Singles im Sinne von BACHMANN. Dieser schreibt dazu:

Singles

"Auffallend ist dabei die ausgesprochene Dauerhaftigkeit ihrer Sexualverhältnisse. Wir konnten unter diesen Singles keine auf kurze Zeit terminierte, wechselnde Geschlechtskontakte feststellen. Typisch waren vielmehr auf Dauer angelegte Sexualpartnerschaften - gewissermaßen mit einer je eigenen Beziehungsgeschichte."
(1992, S.142)

Der Ansatz von KAUFMANN wird besonders dort fragwürdig, wo er im gemeinsamen Haushalt einen konstitutiven Bestandteil einer Paarbeziehung sieht.

Sind Paare ohne gemeinsamen Haushalt überhaupt richtige Paare?

Für KAUFMANN sind Paare ohne gemeinsamen Haushalt keine richtigen Paare. Bereits in der Besprechung des Buches Schmutzige Wäsche wurde dieses Manko des Ansatzes von KAUFMANN kritisiert. Dort  bezeichnet er solche Paare als Quasi-Paare . Auch im neuen Buch werden diesbezügliche Vorbehalte deutlich. Am Beispiel des 24jährigen Immobilienmaklers Rodolphe beschreibt KAUFMANN diesen Paartypus. Er führt dazu aus:

Der Morgen danach

"Ob man in den Alltag des anderen und in das neue, sich gerade erst herausbildende partnerschaftliche Alltägliche eintaucht oder nicht, ist durchaus keine marginale Frage, nicht einfach das Sahnehäubchen auf dem Kuchen der Liebe. Es handelt sich um ein zentrales Element, das darüber entscheidet, ob es ein gemeinsames Leben wird oder nicht. Im negativen Fall endet die Geschichte hier oder sie konzentriert sich auf den sexuellen Aspekt der Liebe, wobei jeder auf Distanz bleibt und seinen Alltag für sich organisiert (Paare mit getrennten Wohnungen)." (2004, S.134)

KAUFMANN macht also die Unterscheidung zwischen Liebespartnerschaft und Sexualpartnerschaft am Kriterium der gemeinsamen Wohnung fest. Eine solche Sichtweise ist jedoch heutzutage nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht muss man hier darauf hinweisen, dass es zwischen Frankreich und Deutschland erhebliche Unterschiede in der statistischen Erfassung von Haushalten gibt. Doppelte Haushaltsführung ist in Frankreich unbekannt, denn nicht das gemeinsame Haushalten, sondern das gemeinsame Wohnen ist das statistische Kriterium in Frankreich. (siehe hierzu KAUFMANN "Les ménages d'une personne en europe" in der Zeitschrift Population Nr.4-5, 1994, S.935-958). Es gibt hier also durchaus interkulturelle Unterschiede in der Wichtigkeit spezieller Dimensionen.

Das Problem der Unvereinbarkeit von Berufs- und Liebesbiografie

Das Beispiel Rodolphe ist nicht unbedingt typisch für Paare ohne gemeinsame Wohnung. In Deutschland gibt es mittlerweile einige empirische Untersuchungen zu solchen Paaren, die das ganze Spektrum differenzierter abbilden. Der Soziologe Norbert F. SCHNEIDER ("Mobil, flexibel, gebunden", 2002) unterscheidet z.B. Paare, die freiwillig in getrennten Wohnungen leben (Living apart together) und Paare, die mehr oder weniger unfreiwillig getrennt wohnen. Hier spielt die moderne Berufsmobilität eine entscheidende Rolle. Dieses Problem der Vereinbarkeit zweier Berufs- und Liebesbiografien bleibt in KAUFMANNs Denkansatz ausgespart.

Die erste Liebe von Juliette zu Romano zeigt jedoch, dass das Vereinbarkeitsproblem auch im Sample von KAUFMANN existiert. Die 17jährige Juliette erlebt mit Romano einen Morgen voller Zauber. Die Beziehung scheiterte jedoch als Romano zum Militärdienst eingezogen wurde:

Der Morgen danach

"Sie glaubte, ihre ganze Zukunft erfüllt von diesem Glück vor sich zu sehen. Sie waren noch jung und deshalb war es schwierig für sie, sich eine eigene Wohnung zu nehmen, also entscheiden sie sich, eine Beziehung auf Distanz zu führen, jeder wohnte bei sich zu Hause. Einige Monate später musste Romano zum Militärdienst. Ihre jugendliche Sorglosigkeit konnte dieser Entfernung nichts entgegensetzen und die vorübergehende Attraktivität unbedeutender Begegnungen ließ sie (vorübergehend, wie sie dachten) die wunderbare Intensität vergessen, die sie zusammen erlebt hatten. Und heimlich, still und leise brachte der Lauf der Dinge jeden von ihnen auf seinen eigenen Weg."
(2004, S.250f.)

Das Interpretationsinstrumentarium von KAUFMANN versagt angesichts dieser Situation. "Es war ein Fehler, nicht zusammen zu leben" heißt es dazu lapidar. Hier zeigt sich, dass ein Ansatz, der Strukturprobleme nicht berücksichtigt, zu kurz greift. Die Konsequenz ist, dass Beziehungsprobleme auf Mentalitätsprobleme reduziert werden.

Ein unscheinbarer Morgen

Den Morgen danach beschreibt KAUFMANN am Beispiel von Éric und Anna als Flugbahn der Kontinuität und als Nicht-Ereignis. Ihre Geschichte beginnt bereits Jahre vorher als Freundschaft und sie geht ohne große Brüche am Morgen danach in eine Partnerschaft über. Der deutsche Songschreiber Klaus LAGE hat einen solchen Moment des Übergangs mit dem Bild des Und es hat Zoom gemacht besungen.

Der Morgen danach

"In den meisten Fällen entsteht eine Paarbeziehung nicht aufgrund einer Entscheidung, sondern weil es zu keinem Bruch kommt. Die einzige wirkliche Entscheidung ist der Bruch. Um zu einem Paar zu werden, genügt es, dass die Bewegung, die einen mitzieht, diese Bewegung, der Reproduktion von Gewohnheiten niemals abreißt. Es genügt, sich am Abend nach dem Morgen danach wiederzusehen, und schon hat das Leben den Geschmack eines beruhigenden Déja-Vus angenommen. Die ersten Gewohnheiten stellen sich rasch ein, wenn man sie sich nur in aller Ruhe einstellen lässt. Daher das Paradox: Wenn am Morgen danach scheinbar überhaupt nichts passiert, passiert doch etwas."
(2004, S.151)

KAUFMANN kommt es hier darauf an, dass der Morgen danach immer einen Bruch darstellt. Die Beziehung erhält für ihn eine neue Qualität. Die Protagonisten sehen das dagegen nicht immer so, sondern sie betonen oftmals die Kontinuität. Dieses gelingt ihnen umso eher, je unscheinbarer sich der Bruch ergibt.

Der Morgen danach und der Prozess der Paarbildung

KAUFMANN beschreibt den Prozess der Paarbildung als Identitätsrevolution. Die Art und Weise der Identitätsänderung geht dabei je nachdem wie der Morgen danach erlebt wird, unterschiedlich vonstatten. Den Morgen voller Zauber erklärt KAUFMANN mit dem verhaltensbiologischen Konzept der Prägung (Konrad LORENZ), wobei er interindividuelle Unterschiede bezüglich der Prägbarkeit annimmt:

Der Morgen danach

"Natürlich sind angesichts dieser Möglichkeit einer Liebesneugeburt nicht alle Persönlichkeitstypen gleich. Die einen, die fest in ihrem identitären Fundament verankert sind und absolute Herrscher über ihr Schicksal sein wollen, werden bestenfalls ein paar schüchterne Schritte in diese Richtung machen. Die anderen werden bereit sein, sich zu verlieren, in dem neuen Universum zu zerfließen, das mit einem Schlag des Entzückens auslöscht. Und diese Bereitschaft werden sie in der körperlichen wie in der beziehungsmäßigen Liebe haben. Und sie werden auch in der Alltagsliebe dazu bereit sein, die mehr als alles andere Träger dieser Erneuerung der Identität ist, viel mehr als die Liebe der Nacht oder des Refugiums Bett, auch wenn sie viel diskreter ist. Die Macht der Prägung entfaltet sich im wunderbar Gewöhnlichen, zwischen Toast und Kaffeetasse, zwischen schmutziger Wäsche und merkwürdiger Wohnungsausstattung, am Morgen nach dem ersten Mal.
Der Effekt der Prägung ist logischerweise bei der Person größer, die zu Gast ist"
(2004, S.139)

Beim Morgen mit bösem Erwachen muss dagegen das Aufeinanderprallen der Gewohnheiten mittels identitärer Gespaltenheit kleingearbeitet werden. Am Beispiel von Colombine und Franck schildert KAUFMANN wie der Liebeswille quasi Berge versetzen kann:

Der Morgen danach

"Der Wunsch, sich selbst grundlegend zu verändern, um die Beziehung zu retten, kann wahre Wunder wirken. Die Differenzen werden über einen längeren Zeitraum hinweg in einem gemeinsamen Kampf bearbeitet, und jeder liefert sich eine Schlacht gegen sich selbst, gegen sein altes Ich. Wenn der Kampf gegen sich selbst siegreich verläuft und die Oberhand über die Irritation gewinnt, dann gelingt es dem paar, eine atypische Flugbahn einzuschlagen, im Verlauf derer die Nerv tötende Geste tendenziell mit der Zeit aus dem Blickfeld verschwindet."
(2004, S. 177)

Der unscheinbare Morgen ermöglicht dagegen durch seinen Charakter als Nicht-Ereignis eine Kontinuität der ungestörten Paarbildung. Die vorangegangenen Beschreibungen weisen darauf hin, dass KAUFMANN der Liebe im Alltag eine zentrale Rolle zuweist. Der Prozess der Paarbildung vollzieht sich durch das aufeinander bezogene Handeln im Alltag. Gefühle und Gedanken können diesen Prozess stören oder erleichtern, wobei der Reflexion eher die Rolle des Störenfrieds zugedacht wird:

Der Morgen danach

"Die klassische Analyse der Liebe (...) hat die emotionale Entzauberung betont, die mit der Einrichtung auf Dauer und der Institutionalisierung einhergeht. Routine schafft Langeweile und schwächt die Gefühle. (...). Sicher kann es vorkommen, dass Routine ausschließlich Langeweile und die Schwächung der Gefühle hervorbringt. Aber meistens entsteht eine besondere Form der Liebe, die sich stark von den emotionalen Tumulten der sexuellen Liebe unterscheidet, so diskret und diffus, dass sie beinahe unsichtbar ist, und doch ist sie intensiv und zutiefst prägend. Die eheliche Liebe bringt Beruhigung, liebevolle Freundschaft, Komplizenschaft, Unterstützung, gegenseitige Großzügigkeit und Zärtlichkeit (...) Und sie bringt auch die Kunst der kleinen Freuden, eine wahre Kultur des Unscheinbaren, die das Potenzial in sich birgt, wunderschön zu werden und so gut zu tun. Und dieser Parameter der Liebe beginnt sich schon am Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht herauszubilden. Das Paradox des Gewöhnlichen ist vor allem das: ein frühes Entdecken der zweiten Liebesform (die sich in der Folge entfalten kann)."
(2004, S.137f.)

Das Liebesmodell und sein Einfluss auf das Erleben des Morgens danach

Martin HARTMANN hat in seiner Besprechung des Buchs in der Frankfurter Rundschau die historische Abfolge der drei Liebesmodelle knapp und präzise  beschrieben:

Diese tausend Gefühle

"Kaufmann (führt) am Ende seiner Studie, leider reichlich spät, drei Modelle der Liebe ein. Da ist zum einen das »traditionelle« Modell der arrangierten Ehe. Auf der Basis ökonomischer Aspekte entscheiden andere, in der Regel die Eltern, welche Partner füreinander in Frage kommen. Dieses Modell wird durch das »romantische« Modell abgelöst, das gegen das traditionelle Modell rebelliert. Denn hier sind es nicht mehr andere, die den Partner auswählen, es ist vielmehr ein schicksalhaft auftretendes überschwängliches Gefühl, das die Liebenden im besten Fall lebenslang aneinander bindet. Der andere wird dabei bedingungslos idealisiert. Dieses romantische Modell wird nun in der Gegenwart durch ein »pragmatisches« Modell ersetzt."
(FR 24.03.2004)

Die Vernunftehe

Während traditionell die Vernunft bei der Partnerwahl die Oberhand behielt, setzt das romantische Liebesmodell auf das Gefühl der großen Liebe. Das alte Modell ist bei KAUFMANN nur noch eine Folie, die manchmal etwas nostalgisch daherkommt:

Der Morgen danach

"So, wie Beziehungen früher waren, hatten sie mental Erholsames; war es erst einmal zur Initialzündung gekommen, musste man sich nur noch vom logischen Lauf der Liebesdinge treiben lassen. Der Morgen nach dem ersten Mal markierte nur eine neue Etappe. Heute tut sich ein wahrer Abgrund an Fragen auf."
(2004, S.218)

Die 77jährige Georgette und die 52jährige Gabrielle sind bereits Beispiele für die romantische Rebellion gegen die Institution der Ehe. Während Georgette ihren Wunschpartner gegen den Willen der Eltern durchsetzte, verbringt Gabrielle 1968 ihre erste Liebesnacht nicht erst in der Hochzeitsnacht, sondern zwei Wochen zuvor. Davon abgesehen ordnen sie sich jedoch den damaligen Gepflogenheiten ohne weitere Widerstände unter.

Die romantische Liebe

Das Modell der romantischen Liebe, der Morgen voller Zauber und verhaltensbiologische Prägungen hängen bei KAUFMANN augenscheinlich eng miteinander zusammen, werden jedoch im Buch nicht stringent theoretisch miteinander verbunden. Vielmehr wird die romantische Liebe mit der Literatur, speziell dem Roman, oder mit der gleichnamigen politischen Strömung in Zusammenhang gebracht. Hier hätte sich der Leser etwas mehr theoretische Distanz gewünscht. Die romantische Liebe wird von KAUFMANN als eine Institution wie die traditionelle Ehe beschrieben. Während jedoch die Ehe auf sozialen Konventionen beruht, ist in der romantischen Liebe das anfängliche, persönliche Gefühl der Verliebtheit das einzige Kriterium für eine lebenslange Bindung. Dieses Liebesmodell basiert auf einem einmaligen Gründungsakt,

Der Morgen danach

"auf einer anfänglichen Evidenz, die die Gefühle hervorbringt, welche dann zu der Entscheidung führen, eine Bindung einzugehen. Alle folgenden Ereignisse werden auf den Rang von Etappen einer Flugbahn verweisen, welche gefühlsbedingt unausweichlich wird, einer Flugbahn, die von ihrem Ausgangspunkt, dem Sichverlieben, zu einem halb glücklichen, halb entzauberten Ende führt: der etablierten Beziehung."
(2004, S.204)

Dieses Modell gibt es gemäß KAUFMANN immer noch, aber es dominiert nur noch in der Jugend und bei Personen, die sich zu dieser speziellen Lebensethik verpflichtet fühlen. Die romantische Liebe beinhaltet einen "fahrplanmäßigen" Ablauf der Flugbahn, der in seiner unausweichlichen Schicksalhaftigkeit wichtiger ist als die Leidenschaft. Bei der romantischen Liebe wie sie von KAUFMANN beschrieben wird, gibt es keine Partnerwahl, sondern das Zusammentreffen ist Vorhersehung. Wenn ich den EINZIGEN treffe, dann spüre ich das ganz genau. ER oder SIE ist nur für mich auf dieser Welt.  

Die pragmatische Liebe

KAUFMANN plädiert in seinem Buch für ein neues Liebesmodell, das er als pragmatische Liebe bezeichnet. Es hat mit der romantischen Liebe zwar das Ideal der reinen Liebe gemein, aber im Gegensatz dazu gibt es in diesem Modell nicht mehr den EINZIGEN Menschen, der zu mir passt, sondern allein die Partnerwahl und das Ergebnis des Partnertests entscheidet darüber, ob eine Beziehung scheitert oder nicht. In diesem Modell geht es bereits am ersten Morgen danach um nichts weniger als um den zukünftigen Stil der Partnerschaft:

Der Morgen danach

"Am Morgen danach beginnt sich schon von den ersten Sekunden an eine neue Identität zu formen. Je unbeschwerter und kurzlebiger das Ereignis erscheint und je weniger es mit einem selbst zu tun zu haben scheint, desto schneller vollzieht sich paradoxerweise die Neuformulierung der Identität. Man sollte sich vor der Sorglosigkeit eines verliebten Morgens in Acht nehmen"
(2004, S.174),

warnt deshalb KAUFMANN.

Die suboptimale Partnerwahl als Krise des herrschenden Liebesideals

Romantiker werden den Ausführungen KAUFMANNs zur pragmatischen Liebe kaum folgen wollen und auch die Sicht auf den "unerbittlichen Stellungskrieg" zwischen zwei Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten wird am Morgen danach nicht jedermanns Sache sein. Es erstaunt deshalb kaum, dass heutzutage die pragmatische Liebe selten frei von romantischen Vorstellungen praktiziert wird. In seinem Buch Singlefrau und Märchenprinz hat KAUFMANN die Relikte der romantischen Liebe selbst in den Vorstellungen von scheinbar nüchternen Karrierefrauen nachgewiesen. Am Morgen danach ist die Kommunikation immer noch dem idealistischen Modell der romantischen Liebe verpflichtet: "Es ist noch heute eine heikle Angelegenheit, nicht zumindest einigermaßen mit dem romantischen Modell konform zu gehen." (2004, S.265) Nach KAUFMANN verhindert diese romantische Kommunikationsnorm die optimale Partnerwahl:

Der Morgen danach

"Wir haben es heute tatsächlich mit einer Krise der Liebesimagination zu tun, die schleunigst bewältigt erden sollte, will man mühsame Flickarbeit und emotional armselige Rückzugsgefechte vermeiden und statt dessen die neue emotionale Sensibilität befreien und ihr die nötige Legitimität verleihen."
(2004, S.268)

Der Erfahrungshunger der Partnerwahl

KAUFMANN sieht im homo scientific, d.h. im Menschen, der "sein eigenes Leben wie einen Versuchsgegenstand behandelt" den neuen Menschen. Im Sinne von Ulrich BECK und seinen Vorstellungen zur reflexiven Moderne sieht uns KAUFMANN am Beginn einer "Epoche der allgemeinen Reflexivität". Der Morgen danach gerät in dieser Sicht zu einer wichtigen Testphase. Die pragmatische Liebe nimmt ihren Ausgang nicht mehr im abstrakten Ideal, sondern im Konkreten der Situation:

Der Morgen danach

"Gefühlsausbrüche fallen nicht mehr vom Himmel, sondern haben ihren Ausgangspunkt, wie viele Exaltationen des Realen, mitten im Ereignis. Die Exaltation tritt an die Stelle der Idealisierung."
(2004, S.273)

Die Zukunft der Liebe: Von den Leiden der Liebe zum Glück der Liebe

Im Pragmatismus der Liebe sieht KAUFMANN ein Liebesmodell, bei dem sowohl Männer als auch Frauen gewinnen, während die beiden vorangegangenen Liebesideale jeweils immer nur einem Geschlecht Vorteile brachte. Den Unterschied beschreibt er folgendermaßen:

Der Morgen danach

"Die Liebe erlebte ihre Höhen und Tiefen im Warten, im Vermissen und im Leiden - konnten die glücklichen Liebenden so viel Liebesleid aufwiegen? Heute ist Liebe die Suche nach geteilter Freude und gemeinsamem Wohlbefinden. Einfach der Traum vom Glück.
Die Verwandlung der Gefühle bringt eine besonders starke Fixierung auf den Morgen danach mit sich, besonders dann, wenn keine gemeinsame Geschichte vorausgegangen ist. (...). Und unter unseren Augen entwickelt sich eine wahre Kultur der gefühlsmäßigen Erfahrung. Denn das große, einzigartige, beinahe göttliche Gefühl ist unwahrscheinlich geworden, es muss durch tausend kleine Emotionen ersetzt werden, von denen jede so intensiv erlebt wird, dass es ihnen, Stück für Stück aneinandergesetzt, genauso gut gelingt, die Seele zutiefst zu berühren. Dank der Exaltation durch die Liebe kann noch der lächerlichste Augenblick von märchenhaftem Zauber sein. Stroh kann sich zu Gold verwandeln."
(2004, S.274)

Diese schöne neue Welt des Hedonismus, die uns KAUFMANN hier in Aussicht stellt, soll abschließend durch einen Wechsel der Blickrichtung relativiert werden.

Der Morgen danach im gesellschaftlichen Kontext

KAUFMANNs Ansatz konzentriert sich auf eine ganz konkrete Situation. Die Handlungen der Akteure und ihre Beobachtungen am Morgen danach stehen dabei im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. KAUFMANN blendet dadurch viele Aspekte aus, die für den Prozess der Paarbildung genauso wichtig sind. Die Frage, wie sich die Partner kennen lernen, interessiert KAUFMANN nicht. Die Gelegenheitsstrukturen in modernen Gesellschaften führen jedoch nicht x-beliebige Menschen zusammen, sondern es treffe sich vorzugsweise Menschen mit ähnlichem Bildungsgrad. Eine internationale Studie von Hans-Peter BLOSSFELD und seinem Forschungsteam ("Who Marries Whom?", 2003) hat den Einfluss des Bildungssystems auf unser Kontakt- und Heiratsverhalten belegt.

Das Problem der Vereinbarkeit unterschiedlicher Gewohnheiten, das KAUFMANN zum zentralen Problem von Paaren erklärt, vernachlässigt den historischen Wandel vom Alleinverdiener- zum Doppelverdienermodell der Paarbeziehung. Die damit verbundenen Probleme der Abstimmung zweier Berufs- und Liebesbiografien werden von KAUFMANN nicht ausreichend berücksichtigt.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass KAUFMANN Milieuunterschiede vernachlässigt. Die pragmatische Liebe ist möglicherweise nur im individualisierten Milieu so praktizierbar wie es von KAUFMANN angedacht ist. Günter BURKART hat im Buch Lebensphasen - Liebesphasen zudem auf einen Aspekt hingewiesen, der die von KAUFMANN gefundenen Abstimmungsprobleme in einem ganz anderen Lichte erscheinen lassen:

Lebensphasen - Liebesphasen

"Die Kohabitation wurde (...) in den siebziger Jahren als neue Lebensform etabliert, zunächst nicht als Alternative zur Ehe im allgemeinen, sondern als Alternative zur frühen Ehe, zum Alleinleben und zum längeren Verweilen im Elternhaus. Ihre Träger waren die jungen Erwachsenen der Bildungsexpansionsphase.
Hier taucht die Frage auf, ob vielleicht diese Generation der Bildungsexpansion besonders anfällig ist für das Scheitern von Ehe und Familie, nicht nur, weil sie die erste ist, die das Experiment versucht, anders zu leben (erst mal nicht den gesicherten Weg zu Familie und Karriere einzuschlagen, aber dann, später, vielleicht nicht mehr dazu in der Lage zu sein), sondern auch weil es sich dabei häufig um soziale Aufsteiger handelt. Bei ihnen sind Probleme mit der habituellen Übereinstimmung in der Partnerschaft wahrscheinlicher, sind sie doch hin- und hergerissen zwischen dem Herkunftsmilieu (meist Arbeiter- oder kleinbürgerliches »Harmoniemilieu«) und dem durch den Gang ins Bildungsmilieu erworbenen Selbstverwirklichungsdiskurs."
(1997, S.90f.)

Die Fallgeschichten, die KAUFMANN präsentiert, müssen also vor diesem gesellschaftlichen Wandel gesehen werden. Erst dann können die Kommunikationsprobleme und die Probleme der Abstimmung zweier Menschen mit eingespielten Gewohnheiten auch angemessen beurteilt werden.

Fazit: Der Stellenwert des Morgens danach für die moderne Paarbildung

KAUFMANNs Verdienst besteht darin, dass er vor allem jene psycho-biologischen Konzepte relativiert, die dem Ersten Eindruck oder der Liebe auf den ersten Blick das ganze Gewicht der Partnerwahl zuschreiben. Während es heutzutage modern ist, das Flirtverhalten in Kneipen und Discos zu trainieren, die Selbstpräsentation durch Manieren- und Etikettenkurse zu verbessern oder Regeln zum richtigen Anrufen zu konsumieren, verlegt KAUFMANN das Problem dorthin, wo man es am wenigsten sucht. Nicht der schlechte Sex wird zum Problem, sondern das Aushandeln des zukünftigen Beziehungsarrangements am Morgen danach. Dieser Blick auf den Zusammenprall der Gewohnheiten könnte unser Bild von der Anfangsphase eines Paares revolutionieren. KAUFMANN liefert in seinem Buch reichhaltiges Anschauungsmaterial zum Morgen danach. Es könnte dadurch wichtige Debatten anregen. KAUFMANNs Vorstellungen über Paare sind durchaus provokativ, genau dort wo man es nicht vermutet.    

 
     
 
       
   

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