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Zitate zur Diktatur
der Coolness
Die einsame
Masse
"Amerikaner (sehen) ihre
Gesellschaftsstruktur noch immer von der
Warte der älteren Gesellschaftsordnung aus
(...), deren Rangskala auf Reichtum, Beruf
und einer gesellschaftlichen Stellung im
Sinne der 'Gesellschaftschronik' der
Zeitungen beruht. Ich bin (...) der
Auffassung, daß sich unterhalb dieser alten
Wertmaßstäbe eine lockere, nicht ganz so
klare und komplizierte Schichtung bildet, in
der sich in immer steigendem Maße der
Geschmack eine führende Stellung (taste-leadership)
erobern wird und eine Hierarchie der 'Kenner'
neben die Wirtschafts- und
Produktionshierarchien treten und mit diesen
um Anerkennung konkurrieren wird."
(David Riesman, 1958)
Sexualreife und
Sozialstruktur der Jugend
"Der junge Mensch ist (...)
in jedem Augenblick bereit, sein jeweils
gelebtes Leben um der bloßen Lebenserhöhung
und Lebensfülle willen zu übersteigen. Er
möchte seinen 'Lebenshunger' befriedigen und
ihn - sei es auch nur vorübergehend -
absättigen.
(...)
Oft bildet sich (...) ein süchtiger Drang
nach Spannung des Lebensgefühls, der in den
Ordnungen der Familie, der Schule und der
Berufslehre keine Erfüllungen findet. Der
Jugendliche tritt den Weg in die
'Katakomben', in die Jazzkeller an (...). In
die 'Mysterien' der 'Galerie Vierzwo' oder
des 'Nassen Handtuchs' eingeweiht zu werden,
scheint Erfüllung der Sehnsucht nach einem
intensiveren Leben zu bieten und scheint den
Lebenshunger stillen zu können. Doch sind
diese Besucher der Jazzkeller nicht
eigentlich Jazzfans, sondern parasitäre
Existenzen"
(Hans Heinrich Muchow, 1959)
Beim Sex mit
Babystimme reden
"Listen fordern Zustimmung
ein und heftigen Widerspruch heraus,
markieren Einschlüsse und Ausschlüsse. Nur
wenige Begriffe genügen, um ein soziales und
ästhetisches Milieu zu konturieren, dem man
sich zugehörig fühlen kann oder nicht. Die
parataktische Textordnung, die die Dinge
nebeneinander stellt, statt sie hypotaktisch
zueinander ins Verhältnis zu setzen, ist die
Regierungsform von Generationen, die kein
Woodstock hatten, aber hundert Discos und die
tausend Kekssorten probieren mussten und
dabei viel erlebten."
(Heike Runge in der Jungle
World Nr.18 v. 25.04.2001)
Rebellion in
der Geschmacksdiktatur
"Was
soll es denn derzeit Besseres geben als
wütende Totalopposition? Doch offenbar ist
es in der Populärkultur - und überhaupt der
Kultur - mittlerweile unmöglich geworden,
einen Einwand zu formulieren, der nicht
wiederum als Differenzangebot aufgefasst
werden kann. Auch der Einspruch gegen die
konsumistische Differenzkultur ist - eine
Differenzgeste. Vor allem dann, wenn dem
'Ihr', von dem sich der Kulturschaffende
abwendet, kein soziales 'Wir' mehr
gegenübersteht, sondern zunächst bloß ein
Individuum."
(Mark Terkessidis im
Tagesspiegel v. 23.06.2001)
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Regentschaft der Coolness
Was
die Ratgeberliteratur und
In-&-Out-Listen für den
orientierungslosen Konsumenten sind, das ist die
Trendforschung
für die orientierungslosen Unternehmer der
Konsumindustrie und der Dienstleistungsbranche. In beiden
Fällen geht es um das Bedürfnis von
Menschen nach Anerkennung, das
gesellschaftlich durch Produkte oder
Dienstleistungen, d.h. Konsum, kanalisiert werden
soll.
"Was
ist cool?" (Focus Nr.13 v. 26.03.2001) ist die bange Frage derjenigen,
die sich nicht selbst zum Trendsetter berufen
fühlen, sondern dem Trend hinterherhetzen, um
nicht zum gesellschaftlichen Außenseiter zu
werden. Sie versuchen dadurch Isolation
und Einsamkeit zu entkommen. Der Preis
dafür ist Anpassung. Andererseits: wer sich
selbst zum Trendsetter berufen fühlt, der ist
noch lange kein Trendsetter, sondern kann sich
selbst ins Abseits katapultieren. Die
deutsche Jugendforschung hat sich seit den 1950er
Jahren mit dem Phänomen der
Gleichaltrigengruppen beschäftigt. Im
Mittelpunkt standen damals jedoch die negativen
Einflüsse der so genannten "Peers"
(Bezugsgruppen) auf Jugendliche. Besorgte Eltern
fürchteten einen Autoritätsverlust oder gar die
Kriminalisierung durch den Umgang mit
Gleichaltrigen.
Aus den USA waren beunruhigende
Berichte von Jugendgangs bzw. -banden nach Europa
gedrungen und die Halbstarkenkrawalle
waren dann die Initialzündung für die deutsche Jugendforschung.
Das Buch Sexualreife
und Sozialstruktur von Hans Heinrich MUCHOW (1959) war typisch für die damalige
Haltung von Erwachsenen gegenüber jugendlichen
Subkulturen.
Der außengeleitete
Mensch in der Nachkriegsgesellschaft
Der
amerikanische Soziologe David RIESMAN versuchte
dagegen die Herstellung von
Verhaltenskonformität in Abhängigkeit von
verschiedenen Bevölkerungsweisen und
Gesellschaftsformen zu beschreiben. In Deutschland ist
1958 das Buch Die
einsame Masse erschienen. RIESMAN
ging davon aus, dass die modernen
Industriegesellschaften einen neuen
"Charaktertypus" hervorbringen, den er
als außengeleiteten Menschen
bezeichnete:
Die einsame
Masse
"Das gemeinsame Merkmal
der außengeleiteten Menschen besteht darin,
daß das Verhalten des einzelnen durch seine
Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von
denjenigen, die er persönlich kennt, oder
von jenen anderen, mit denen er indirekt
durch Freunde oder durch die
Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese
Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch
hier 'verinnerlicht' und zwar insofern, als
das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind
frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem
außen-geleiteten Menschen angestrebten
Ziele verändern sich jeweils mit der sich
verändernden Steuerung durch die von außen
empfangenen Signale. Unverändert bleibt
lediglich diese Einstellung selbst und die
genaue Beobachtung, die den von den anderen
abgegebenen Signalen gezollt wird. Indem
der Mensch auf diese Weise ständig in engem
Kontakt mit anderen verbleibt, entwickelt er
seine weitgehende Verhaltenskonformität,
aber nicht wie der traditions-geleitete
Mensch durch Zucht und vorgeschriebene
Verhaltensregeln, sondern durch die
außergewöhnliche Empfangs- und
Folgebereitschaft, die er für die Handlungen
und Wünsche der anderen aufbringt."
(David Riesman, 1958) |
Dieser
außengeleitete Mensch setzt einen Erziehungsstil
der Eltern voraus, der im Vergehen gegen innere
Wertsetzungen einen geringeren Fehler sieht,
"als wenn das Kind unbeliebt oder nicht in
der Lage ist, mit anderen Kindern gut
auszukommen." RIESMAN
beschreibt hier in erster Linie die Formen der
Identifizierung (Beobachtung, der von anderen
abgegebenen Signale) und vernachlässigt dagegen
die Tatsache, dass sich die Formen der Einbindung
selbst ändern können.
Vom Konformismus
zur Pluralität der Lebensstile
In
den letzten Jahrzehnten hat sich die Form der
gesellschaftlichen Einbindung gewandelt.
Nicht mehr der Konformismus der 1950er Jahre - wie
ihn RIESMAN beschrieben hat - ist angesagt,
sondern die Pluralität der Lebensstile.
Bei der
Analyse von Identitätsproblemen sind zwei
Dimensionen der Identitätsstruktur zu
unterscheiden: die personale und die soziale
Identität. Im ersten Fall geht es um das
Problem
von "Authentizität" versus
"Opportunismus", im letzten
Fall muss zwischen dem In-Group-Verhalten
(Einbindung in eine Clique bzw. Szene) und dem
Out-Group-Verhalten
("Distinktion"; Sighard NECKEL spricht hier von der "Macht der
Unterscheidung", 2001) unterschieden werden. Im
Zeitalter der Massenmedien sind Jugendliche
jedoch nicht nur in reale Gruppen eingebunden,
sondern auch mit Vorbildern aus den
Medien (z.B. Michel HOUELLEBECQ oder
MADONNA) konfrontiert, die für die
Subkulturbildung eine prägende Rolle spielen
können. Die Ausdifferenzierung der
Medienlandschaft steht in einem engen
Zusammenhang mit der Pluralisierung der Szenen.
Von der Pluralisierung zur Polarisierung
In letzter
Zeit verdichten sich die Anzeichen für
einen neuen Kulturkampf innerhalb der
Kulturindustrie, der die zunehmende
Pluralisierung durch eine Polarisierung zu
überwinden versucht. Die zentrale Konfliktlinie
verläuft zwischen den Ironikern und den
Befürwortern eines neuen Ernstes, die das
Ende
der Ironie fordern. Eine
zentrale Figur in diesem Kulturkampf ist der
französische Popliterat Michel HOUELLEBECQ, den
sein Freund Frédéric BEIGBEDER zu den
Mächtigsten der Welt zählt (siehe "Die
Machtfrage" im österreichischen
Nachrichtenmagazin Profil Nr.29 vom 16.07.2001).
Die Debatte um die neue Eigentlichkeit in
der Kulturindustrie
muss deshalb auch im
engen Zusammenhang mit der Kontroverse
"Familien contra Singles"
gesehen werden. In der sozialpolitischen Debatte
sind diese gesellschaftlichen
Polarisierungstendenzen bereits seit Ende der
1980er Jahre zu beobachten. Es hat also ein
Jahrzehnt gedauert bis diese Tendenzen nun in der
Kulturindustrie ihren Ausdruck finden.
Kulturkampf: Gemeinschaft contra
innovative Gesellschaft
Welche
Konsequenzen mit den veränderten
Bedingungen der Identitätsbildung
in der "Single-Gesellschaft"
verbunden sind, das wird von Befürwortern und
Gegnern kontrovers bewertet. Die Gegner
einer pluralistischen Gesellschaft sehen in der
Pluralisierung
eine Gefahr für den Zusammenhalt der
Gesellschaft. Damit soll eine zunehmende
Orientierungslosigkeit einhergehen. Die
Befürworter verweisen dagegen auf die Vorteile
für die Gesamtgesellschaft, die mit der besseren
Integration von Minderheiten verbunden sind.
Homogene Gemeinschaften neigen dazu, das
Kreativitäts-
und Innovationspotenzial ihrer
Mitglieder nicht voll auszuschöpfen. Ein Ende
dieses Kulturkampfes, der unter dem Stichwort
"Individualisierung"
begonnen worden ist und unter Stichworten wie
"Globalisierung" und
"Digitaler Kapitalismus"
weitergeführt wird, ist zur Zeit nicht
abzusehen.
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