Auf
single-generation.de wurde schon häufig auf die fatale Rolle
der Demografiediskussion im Rahmen der gegenwärtigen
"Systemveränderung" eingegangen, dient doch die seit über drei
Jahrzehnten niedrige Geburtenrate den unterschiedlichsten
politischen Gruppierungen als argumentativer Passepartout zur
Durchsetzung ihrer politischen und materiellen Interessen, wobei
die Umfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme von
"öffentlich" auf "privat", von "solidarisch" auf "individuell",
ganz oben auf der "Agenda" steht.
Die
"Rente mit 67", die groteske Umgestaltung des solidarischen
Krankenversicherungssystems, die "Riesterrente", die massiven
Rentenabschläge seit 1996, die (wahrscheinlich) bevorstehende
Umwandlung der Pflegeversicherung in eine Kapitalversicherung,
all dies sind nicht nur katastrophale Niederlagen der
gewerkschaftlichen Bewegung, die tief in die individuelle
Lebensgestaltung von Millionen Menschen eingreifen, sie sind -
das ist ihr entscheidendes Merkmal - nicht zuletzt mit nicht
selten obskuren Argumenten aus einer längst vulgarisierten
Demografiediskussion ("zu wenig Kinder - zu viele alte
Menschen!") als zwingend notwendig begründet worden.
Insofern ist es schon
erstaunlich, wenn ausgerechnet die Gewerkschaften in ihrer
wichtigsten wissenschaftlichen Publikation, den
WSI-Mitteilungen, einem der militantesten Demografieideologen
unserer Zeit, Franz-Xaver Kaufmann, Professor für Sozialpolitik
und Soziologie in Bielefeld, der sich vor kurzem in der
Süddeutschen Zeitung dazu hinreißen ließ, die
bevölkerungspolitische Situation in Deutschland mit der nach dem
dreißigjährigen Krieg (!!!) zu vergleichen, in ihrem neuesten
Heft (3/ 2007) eine Plattform für die Ausbreitung seiner Thesen
bieten.
Das
Katastrophenszenario des Franz-Xaver Kaufmann
Unter der Überschrift
Bevölkerungsrückgang als Problemgenerator alternder
Gesellschaften bietet uns Kaufmann nach einem zunächst
erstaunlich realistischen Rückblick auf die segensreiche Wirkung
von reduzierter Geburtenhäufigkeit ("Hätte sich dieser säkulare
Sterblichkeitsrückgang bei unverminderter Fertilität vollzogen,
so wäre es im 20 Jahrhundert zu einem explosiven
Bevölkerungswachstum in Europa gekommen. Deshalb war die
Beschränkung der Geburten..... eine notwendige
Anpassungsreaktion, die zwangsläufig zu einem Altern der
Bevölkerung führte", S.108) die auch von anderen Autoren längst
bekannte Palette an Katastrophenszenarien, deren Zeithorizont
sage und schreibe bis 2100 reicht und damit die des
Statistischen Bundesamt noch um eine halbes Jahrhundert
übertrifft.
Aus dem fehlenden Nachwuchs
folgert er drastische Produktivitätsrückgänge, mangelnde
Innovationskraft und eine auf Dauer nicht mehr zu tragende
Belastung der "erwerbstätigen" Generation, denn " je mehr Alte
zu versorgen sind, desto mehr Nachwuchs ist erforderlich" (S.
112) - eine angesichts der chinesischen Situation mit ihren
"Ein-Kind-Familien" schon fast kabarettistisch anmutende These:
Permanentes Bevölkerungswachstum als zwingendes Resultat
gestiegener Lebenserwartung!
Was von den
Lösungsvorschlägen zu halten ist
Da ein plötzlicher Anstieg
der Geburtenhäufigkeit aber nicht zu erwarten ist, empfiehlt
Kaufmann die bekannten Rezepte: Die "Kapitalfundierung der
Renten" (wofür es nach seiner Auffassung an sich schon zu spät
ist), eine "massive Umverteilung öffentlicher Mittel zugunsten
der nachwachsenden Generation", eine Reduzierung der Renten von
Kinderlosen "zugunsten von Eltern mit mehr als zwei Kindern"
ähnlich wie Sinn (!), und generell "einen Abbau der Prämien für
Kinderlosigkeit" (alle Zitate S. 112).
Kennzeichnend für Kaufmann ist
ebenso wie für die anderen Streiter auf dem Feld der Demografie
die augenfällige Ignoranz der ökonomischen und machtpolitischen
Sachverhalte, die ihn und seine Mitstreiter wohl auch blind
dafür machen, wie stark ihre an sich gut gemeinten wenn auch
falschen Aussagen ideologisch mißbraucht werden.
Es ist hier nicht der Platz,
alle bekannten Argumente gegen die teilweise absurden
Demografieszenarien zu wiederholen, wie sie längst etwa von
Christoph Butterwege (Autor in der selben Ausgabe!), Gerd
Bosbach und auch von Claus Schäfer (des häufigeren gerade in den
WSI-Mitteilungen !) dargelegt worden sind: Der Hinweis auf die
rein quantitativ biologische Argumentation, die wir wohl aus der
Zeit der Jäger und Sammler mit uns schleppen; die Ausblendung
der Nachteile eines permanenten Bevölkerungswachstums; die
drastische Unterschätzung des Produktivitätsfortschritts; die
Mißachtung der seit Anfang der neunziger Jahre einseitig
erfolgenden Verteilung der Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts;
die gigantische Solidarleistung, die kinderlose Erwerbstätige
schon seit Jahrzehnten im Rahmen unseres Steuer- und
Abgabenrechts für Familien aufbringen; die stur durchgehaltene
Verwechslung von "erwerbsfähig" mit "erwerbstätig"; die
"20-60-Szenarien" bei einer Altersgrenze von mittlerweile 67(!);
der ständige Rückgang von sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnissen und existenzsichernder Beschäftigung
überhaupt etc..
Aufgrund der
idealen demografischen Situation müssten wir heutzutage
idyllische Zustände haben
Hier soll nur ein einziges
weiteres Argument angesprochen werden, das an sich sehr
naheliegt und es darum um so erstaunlicher ist, wie wenig es in
der aktuellen Diskussion verwendet wird.
Die Bundesrepublik befindet sich
nämlich - was sich zunächst absurd anhört - zur Zeit in einer
demografisch glänzenden Situation: Aufgrund niedriger
Geburtenzahlen seit Beginn der siebziger Jahre und deutlich
reduzierter Altersjahrgänge (so fehlen etwa die geburtenstarken
Männerjahrgänge aus den zwanziger Jahren kriegsbedingt fast
völlig, wie jede Bevölkerungs"pyramide" zeigt; des weiteren
kommen demnächst die geburtenschwachen 40er Jahrgänge ins
Rentenalter) und eines Erwerbspersonenpotentials, das so
zahlreich ist wie noch nie in den letzten 100 Jahren (52,5 Mio.
Menschen) ist - zumindest temporär - eine Idealsituation
vorhanden: Die Gesamtlast "Jugend plus" Alter ist niedriger denn
je. Komisch nur, dass das weder Rentner noch Arbeitnehmer,
geschweige denn Berufsanfänger, zu spüren bekommen. Denn das
Resultat von einem kompletten Jahrzehnt geburtenstarker
Jahrgänge und damit großen Erwerbspersonenpotentials bei
niedriger Gesamtlast ist nicht etwa ein wohlfahrtstaatliches
Paradies mit traumhaften Wachstumsraten sondern
Massenarbeitslosigkeit. Und selbst bei den längst erwerbsfähigen
Jahrgängen 1970 - 1990 - geburtenschwach allesamt - ist die
arbeitsmarktpolitische Situation nicht rosig sondern
perspektivlos. Selbst bestens ausgebildete junge Menschen
befinden sich im "Prekariat".
Ohne
Geburtenrückgang in den letzten 40 Jahren wäre die Gesellschaft
heute völlig überfordert
Hier schließt sich die
logische Frage an, was wäre wohl geschehen, wenn sich die
geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre bis heute
fortgesetzt hätten und unser Erwerbspersonenpotential nicht 52,5
Mio. Menschen sondern vielleicht 62 - 63 Mio. umfassen würde,
bei vielleicht noch 20 Mio. existenzsichernden Vollzeitjobs?
Doch ein solcher Blick zurück,
der sich angesichts der leicht überprüfbaren Fakten ja anböte,
gehört nicht zum wissenschaftlichen Repertoire unserer
Demografiemythologen. Wozu auch?: Das hieße ja auf die Wärmstube
"Mainstream" zu verzichten und von Provinzial, MLP et. al. und
vielleicht sogar von Christiansen nicht mehr eingeladen zu
werden. Mit Horrorzahlen des Jahres 2090 läßt sich ja viel mehr
Aufsehen erregen!