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Kritik

 
       
   

Stefan Hradil
Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft.
In: Karl-Heinz Hillmann & Georg W. Oesterdiekhoff (Hg) Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. Eine Herausforderung für die Soziologie, Opladen: Leske + Budrich, S.111-125

 
       
     
       
   
     
 

Guten Morgen Herr Soziologe, auch schon aufgewacht!

Im Jahr 1995 erschien das Buch Die »Single-Gesellschaft« von dem Lebensstilforscher Stefan Hradil. Es ging darin um eine Bestandsaufnahme. HRADIL sah die Gesellschaft zwar nicht auf dem Weg zur Single-Gesellschaft wie Ulrich BECK, aber er sah in den Singles immer noch die Pioniere der Moderne, die vorgeben wohin die Gesellschaft sich entwickelt:

Die "Single-Gesellschaft"

"Singles stellen Leitfiguren dar. Sie können daher eine erhebliche indirekte Außenwirkung entfalten, indem sie »atmosphärische« Verschiebungen der kulturellen und politischen Wertvorstellungen bewirken. So vertreten dann auch andere Gruppierungen die Belange von Singles als die eigenen".
(195, S.158)

Die Zukunft der Singles sieht HRADIL geradezu rosig:

Die "Single-Gesellschaft"

"die Bevölkerungsgruppe der Singles (wird sich) normalisieren (...). Normalisieren heißt, daß Singles allmählich auch jenen Bevölkerungsgruppen, Werthaltungen und Lebensstile angehören werden, in denen sie bislang wenig vertreten sind. Überspitzt ausgedrückt: Singles werden, außer der Tatsache, daß sie allein leben, immer weniger an sich haben, das sie von anderen unterscheidet. Singles werden genau so unterschiedlich sein, wie heute beispielsweise Ehepaare. Das würde bedeuten, daß sich auch ansteigende Zahlen von Singles in ihrer Bedeutung entscheidend relativieren. Wenn Singles in vieler Hinsicht »garz normale« Mitbürger sind, werden manche Befürchtungen ebenso gegenstandslos wie großangelegte Befürchtungen".
(1995, S.136)

HRADIL sieht Singles als »Speerspitze« des Wertewandels:

Die "Single-Gesellschaft"

"Alle Untersuchungen stimmen darin überein, daß Singles zu einem signifikant höheren Anteil »postmaterialistische« Werthaltungen als die Bevölkerung im ganzen und auch als die gleichaltrige Bevölkerung vertreten."
(1995, S.55)

Der Wandel des Wertewandels

In seinem neuen Beitrag Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft (2003) revidiert HRADIL die Sicht vom Single als gesellschaftlichem Leitbild :

Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft

"Singles (...) gelten nicht länger als Helden der Autonomie, sondern als einsame Defizitwesen, die auf Partnersuche sind. Ehe, Treue und Harmonie sind »angesagt«"
(2003, S.112)

Die soziologische Empirie als Nachhut gesellschaftlicher Entwicklungen

Alltagsbeobachtungen sensibler Beobachter, Mediendarstellungen, Literatur und Kunst gelten HRADIL nun als Seismografen. 1998 waren Singles noch Die Seismografen der Moderne (so ein Beitrag von HRADIL ). Der empirischen Sozialforschung, die HRADIL selber betreibt, attestiert er ein schlechtes Zeugnis. Sie sei notwendigerweise schwerfällig und registriere Entwicklungen erst , wenn sie zu "unübersehbaren Massenerscheinungen geworden sind". Die neu ernannten Seismografen haben nach HRADIL ein neues Bild der Singles entworfen:

Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft

"Singles werden nicht als Helden der Autonomie und als Speerspitze der Individualisierung dargestellt, sondern als einsame Gestalten bedauert. Die Einsamkeit, die Entsolidarisierung, die Orientierungslosigkeit der Einzelnen wird beklagt. Harmonie und das Glück in der Familie werden gefeiert."
(2003, S.116)

Nun möchte selbst HRADIL diesem "neuen" Bild des Singles in nichts nachstehen und behauptet, dass auch die Soziologie neuerdings empirische Belege dafür gefunden hat. So überrunden z.B. nach einer Wertewandelstudie aus dem Jahr 1999 bereits seit 1991 Materialisten die Postmaterialisten. Im Einklang mit seinem Buch über die Single-Gesellschaft legt HRADIL den Wertewandel jedoch auf Mitte der 1990er Jahre. Erst Ende der 1990er Jahre sollen dann Gemeinschaft und Sicherheit wieder dominante Werte sein.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Gesellschaftsdiagnosen wie jene von HRADIL haben den Nachteil, dass sie Entwicklungen erst sichtbar machen, wenn sie den Höhepunkt bereits erreicht haben. Single-dasein.de bzw. single-generation.de dagegen hat jene Entwicklungen, die HRADIL erst jetzt "entdeckt" hat, bereits viel früher diagnostiziert. Zeitgeistmagazine für die Generation Golf wie Tempo oder Wiener waren Ende der 1980er Jahre - noch vor dem Mauerfall - Trendsetter der neuen Gemeinschafts- und Sicherheitswerte. Es ist kein Zufall, dass die Popliteraten und Popjournalisten der Generation Golf damals dort sozialisiert wurden.

Die Dürftigkeit der Erklärungen

Die Erklärungen von HRADIL für den "Wandel des Wertewandels" sind mehr als dürftig, weil er die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausblendet. Die größte gesellschaftliche Gruppe sind nicht die Postmaterialisten und auch nicht die Materialisten, sondern Mischtypen, die beide Wertetypen kombinieren. HRADIL erklärt den Wertewandel dagegen als simples lineares Phänomen. Jugendliche seien mit den "Schattenseiten der praktizierten Selbstverwirklichung und Individualisierung" konfrontiert worden. Dazu zählt er "Anomiegefahren, Orientierungsprobleme, Konflikte und Risiken", denn:

Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft

"Im Zweifelsfalle boten die Scheidung der eigenen Eltern und die quälend schwierige Wahl von Beruf und Lebensform den Heranwachsenden genügend abschreckendes Anschauungsmaterial".
(2003, S.121)

Daneben nennt HRADIL die ökonomischen Rahmenbedingungen, speziell die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Anders als bei den 68ern wurde jedoch der Rückzug ins Private angetreten: Trautes Heim, Glück allein statt Street Fighting Man.

Die Generation Golf als Träger des Wertewandels

Im Gegensatz zu HRADIL versucht Markus KLEIN in dem Beitrag Gibt es die Generation Golf? (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, März 2003) zu beweisen, dass die Generation Golf der Träger des Wertewandels vom Postmaterialismus zum Materialismus ist. Markus KLEIN stellt zwar fest, dass es die Generation Golf (1965 - 1975 Geborene) gibt, aber der Wertewandel stellt sich komplizierter dar, als er es gerne hätte:

Gibt es die Generation Golf?

"Der Prozess der Umkehr des Wertewandels in den jüngeren Geburtskohorten stellt sich vor dem Hintergrund dieser Befunde (...) sehr komplex dar. Die Generation Golf besaß demnach die größte Prädisposition für postmaterialistische Wertorientierungen, die zudem nicht länger durch die formale Bildung moderiert wurde. Gleichzeitig aber kam es in dieser Generation im Lebensverlauf zu einer drastischen Abwendung von postmaterialistischen Wertorientierungen. Die Umkehr des Wertewandels scheint demnach ein Prozess zu sein, der primär von der Generation Golf vollzogen und gelebt wurde." (2003, S.113)

Nach KLEIN sind die Angehörigen der Generation Golf nicht als Materialisten auf die Welt gekommen, sondern als Postmaterialisten. Irgendwann sind sie konvertiert. Darüber lässt sich KLEIN jedoch nicht genauer aus. Die Erforschung dieses Sachverhaltes müssen andere leisten. KLEIN vergisst auf alle Fälle darauf hinzuweisen, dass die Generation Golf zwar der Träger, nicht aber der Initiator des Wertewandels ist. Die Initiatoren des Wertewandels sind Symbolanalytiker, die anschlussfähige Deutungsmuster bereitstellten. Die Single-Generation wird hier künftig eine zentrale Rolle spielen. 

Die Durchsetzung eines neuen kulturellen Deutungsmusters

Während HRADIL vor allem die ökonomische Situation als Ursache nennt, ist für Markus KLEIN auch die Krise des Sozialstaats wesentlich für den Wertewandel. Entscheidend ist dabei folgendes:

Gibt es die Generation Golf?

"natürlich (sind es) nicht die sozio-ökonomischen Verhältnisse an sich, die die nachwachsenden Generationen sozialisieren. Vielmehr existieren in jeder Gesellschaft dominante kulturelle Deutungsmuster, die dem Wandel unterliegen und ihrerseits die sozio-ökonomische Lage reflektieren." (2003, S.104)

Zu einem zentralen kulturellen Deutungsmuster gehört spätestens seit Ende der 1980er Jahre das Schlagwort vom demographischen Wandel. Die Diskreditierung der Singles geht eindeutig vom "sozialpolitischen Komplex" und der dazugehörigen Medienberichterstattung aus.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

Die Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
        
Das Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik.

Im Jahr 1991 berichtet z.B. der Spiegel-Reporter Hans Joachim SCHÖPS in Dauerhaft ist nur die Trennung über den Zerfall stabiler Beziehungen und die demographische Entwicklung: "immer mehr Greise, weniger Kinder". Der Single wird dort bereits als Defizitwesen beschrieben:

Dauerhaft ist nur die Trennung

"Da ist das Heer der Geschiedenen und Beziehungsgeschädigten jeglichen Alters, es sind Kontaktarme und Eigenbrötler, betagte Witwen und verbissene Workaholics, wohl viele, die den Partner einfach nicht finden, und welche, die aus Überzeugung allein bleiben. Und darunter ist mancher mit einer selbstgefertigten Single-Philosophie, weil das Solistenleben dann leichter zu tragen ist. Mit dem lustigen Single-Leben ist es, wie etliche Untersuchungen zutage förderten, nicht so weit her". [mehr]
(Spiegel Nr. 2 v. 07.01.1991)

Der Einpersonenhaushalt als sozialpolitische Sündenbock-Kategorie

Das "neue" Bild der Singles entspricht nicht dem Selbstbild der damit bezeichneten Personen. Würde man eine Befragung von "Single"-Haushalten durchführen, dann würde sich kaum jemand als Single bezeichnen. Die Kategorie Einpersonenhaushalt beschreibt kein einheitliches Lebensgefühl, sondern ist eine sozialpolitische Sündenbock-Kategorie.   Als 1995 das Buch von HRADIL erschien, da war der sozialpolitische Konflikt Familien contra Singles bereits seit 5 Jahren im Gange. Es dauerte jedoch noch einige Zeit bis die Literatur dieses Bild vom Single übernahm. Es ist kein Zufall, dass Michel HOUELLEBECQs Elementarteilchen den Paradigmenwechsel einleitete.

Der französische Autor hat die Grundthematik von Ulrich BECK/Elisabeth BECK-GERNHEIMs soziologischem Bestseller Das ganz normale Chaos der Liebe (1991) in Literatur umgesetzt. Die Zusammenhänge zwischen Soziologie und Literatur sind also nicht so einfach wie HRADIL das glauben macht. HOUELLEBECQ hat mit seinen Romanen an weit verbreitete soziologische Deutungsmuster anknüpfen können.

Single-Dasein und Geschlecht

Was HRADIL - aber auch KLEIN unterschlägt, das ist die Tatsache, dass der Wechsel vom positiven zum negativen Stereotyp mit einem Wechsel des Fokus von der weiblichen Alleinlebenden zum männlichen Alleinlebenden einhergeht. Bereits 1993 schreibt die Singleforscherin Eva JAEGGI:

Ehe auf Zeit - Single auf Zeit?

"Der Single männlichen und weiblichen Geschlechts ist nicht unbedingt auf Dauer Single, aber er wartet auch nicht darauf, nun »um jeden Preis« wieder als Paar zu leben. Dies betrifft noch mehr die Frauen als die Männer: Geschiedene Frauen heiraten seltener wieder als geschiedene Männer - vorausgesetzt, sie haben einen qualifizierten Beruf. Sind sie berufslos oder unqualifiziert, dann allerdings versuchen sie möglichst schnell, wieder in einer Ehe »unterzuschlüpfen«. Obwohl uns die Statistiken darüber nichts sagen können, ist man versucht zu interpretieren: Sie versuchen, in einer Ehe »unterzuschlüpfen«, auch wenn's beileibe nicht der Traumprinz ist, sondern der alte Rentner, der die Versorgung sicherstellt. Männer, so sagt wiederum die Statistik, sind in der Altersgruppe der Dreißig- bis Fünfzigjährigen etwas öfter Singles als Frauen; sie sind aber beruflich oft nicht ganz so qualifiziert wie die Frauen, und einige von ihnen kommen mit dem Single-Leben gar nicht so gut zurecht: Sie sind öfter krank, haben eine geringere Lebenserwartung, verfallen öfter dem Alkohol. Für Frauen gilt dies nicht." (1993)

Das Klischee vom Single als Pionier der Moderne ließ sich zu keinem Zeitpunkt quantitativ begründen, denn Männer stellten bereits Anfang der 1990er Jahre die Mehrheit der Singles im mittleren Lebensalter. Auch eine Veränderung der alltäglichen Lebenssituation von Singles lässt sich in diesem Zeitraum nicht beweisen. Der Wandel des Single-Klischees ist den Singles von außen aufgezwungen worden. Hatten Ende der 1980er Jahre noch die Feministinnen die Deutungshoheit über das Singlebild, so ist im Laufe der 1990er Jahre diese Deutungshoheit abgelöst worden durch die Dominanz der bevölkerungs- und familienpolitischen Forschung zum Single-Dasein.

Der Mythos vom klassenlosen Single

Ein weiterer Punkt sind die Bildungs- und Einkommensverhältnisse. Fast alle Single-Studie beziehen sich auf gut gebildete, besser verdienende Mittelschichtangehörige. Die Spaltung der Single-Haushalte in Geringverdiener und Besserverdiener ist kein Thema. Während Frauen im Mittel- und Spitzenfeld rangieren, sind Geringverdiener vorwiegend Männer. In der Literatur dominieren dagegen die  gut verdienenden Männer. Einer der wenigen Autoren, der das Elend des gering verdienenden, männlichen Alleinlebenden beschrieben hat, ist Wilhelm GENAZINO. Dessen Romantrilogie um den kleinen Angestellten Abschaffel stammt jedoch aus den 1970er Jahren.

Abschaffel

"Was heutzutage an diesem Text irritiert, das sind GENAZINOs Verallgemeinerungen, wonach solches Verhalten typisch sein soll für »ständig Alleinlebende«.
      
  Als GENAZINO die Abschaffel-Trilogie verfasste, da war der Begriff »Single« für Alleinlebende noch nicht üblich und das Alleinleben galt als durchweg defizitäre Lebensweise.
      
  Heutzutage muss man die Geschichte von Abschaffel als Geschichte eines überängstlichen und sozial isolierten Alleinlebenden lesen."
[mehr]
(aus: Bernd Kittlaus "Singles und ihre Ängste", April 2003)

Fazit

Auch der Wandel des Wertewandels kann die Situation der Alleinlebenden nicht angemessen erfassen. Die Kategorie "Generation" übersieht sowohl alterstypische Wertepräferenzen als auch geschlechts- und schichtspezifische Unterschiede. Die Lebensstilforschung beansprucht zwar die soziale Ungleichheit besser als die alte Ungleichheitsforschung zu beschreiben. Sie bleibt jedoch weit hinter diesem Anspruch zurück.

 
     
 
       
   

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© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 29. April 2003
Stand: 02. Februar 2019