Guten Morgen Herr Soziologe, auch schon aufgewacht!
Im Jahr 1995 erschien das Buch Die
»Single-Gesellschaft« von dem Lebensstilforscher Stefan
Hradil. Es ging darin um eine Bestandsaufnahme. HRADIL sah die Gesellschaft zwar nicht auf
dem Weg zur Single-Gesellschaft wie Ulrich BECK, aber er sah in
den Singles immer noch die Pioniere der Moderne,
die vorgeben wohin die Gesellschaft sich entwickelt:
Die "Single-Gesellschaft"
"Singles stellen Leitfiguren dar. Sie
können daher eine erhebliche indirekte Außenwirkung entfalten,
indem sie »atmosphärische« Verschiebungen der kulturellen
und politischen Wertvorstellungen bewirken. So vertreten dann
auch andere Gruppierungen die Belange von Singles als die
eigenen".
(195, S.158) |
Die Zukunft der Singles sieht HRADIL
geradezu rosig:
Die "Single-Gesellschaft"
"die Bevölkerungsgruppe der Singles
(wird sich) normalisieren (...). Normalisieren heißt, daß
Singles allmählich auch jenen Bevölkerungsgruppen,
Werthaltungen und Lebensstile angehören werden, in denen sie
bislang wenig vertreten sind. Überspitzt ausgedrückt: Singles
werden, außer der Tatsache, daß sie allein leben, immer
weniger an sich haben, das sie von anderen unterscheidet.
Singles werden genau so unterschiedlich sein, wie heute
beispielsweise Ehepaare. Das würde bedeuten, daß sich auch
ansteigende Zahlen von Singles in ihrer Bedeutung entscheidend
relativieren. Wenn Singles in vieler Hinsicht »garz normale«
Mitbürger sind, werden manche Befürchtungen ebenso
gegenstandslos wie großangelegte Befürchtungen".
(1995, S.136) |
HRADIL sieht Singles als »Speerspitze«
des Wertewandels:
Die "Single-Gesellschaft"
"Alle Untersuchungen stimmen darin
überein, daß Singles zu einem signifikant höheren Anteil
»postmaterialistische« Werthaltungen als die Bevölkerung im
ganzen und auch als die gleichaltrige Bevölkerung
vertreten."
(1995, S.55) |
Der Wandel des Wertewandels
In seinem neuen Beitrag Die Suche
nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten
Gesellschaft (2003) revidiert HRADIL die Sicht vom Single
als gesellschaftlichem Leitbild :
Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der
individualisierten Gesellschaft
"Singles
(...) gelten nicht länger als Helden der Autonomie, sondern als
einsame Defizitwesen, die auf Partnersuche sind. Ehe, Treue und
Harmonie sind »angesagt«"
(2003, S.112) |
Die
soziologische Empirie als Nachhut gesellschaftlicher
Entwicklungen
Alltagsbeobachtungen sensibler
Beobachter, Mediendarstellungen, Literatur und Kunst gelten
HRADIL nun als Seismografen. 1998 waren Singles noch Die
Seismografen der Moderne (so ein Beitrag von HRADIL
).
Der empirischen Sozialforschung, die HRADIL
selber betreibt, attestiert er ein schlechtes Zeugnis. Sie sei
notwendigerweise schwerfällig und registriere Entwicklungen erst
, wenn sie zu "unübersehbaren Massenerscheinungen geworden
sind". Die neu ernannten Seismografen haben nach HRADIL ein neues
Bild der Singles entworfen:
Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der
individualisierten Gesellschaft
"Singles werden nicht als Helden der
Autonomie und als Speerspitze der Individualisierung
dargestellt, sondern als einsame Gestalten bedauert. Die
Einsamkeit, die Entsolidarisierung, die Orientierungslosigkeit
der Einzelnen wird beklagt. Harmonie und das Glück in der
Familie werden gefeiert."
(2003, S.116) |
Nun möchte selbst HRADIL diesem "neuen"
Bild des Singles in nichts nachstehen und behauptet, dass auch
die Soziologie neuerdings empirische Belege dafür gefunden hat. So überrunden z.B. nach einer Wertewandelstudie
aus dem Jahr 1999 bereits seit 1991 Materialisten die
Postmaterialisten. Im Einklang mit seinem Buch über die
Single-Gesellschaft legt HRADIL den Wertewandel jedoch auf Mitte
der 1990er Jahre.
Erst Ende der 1990er Jahre sollen dann
Gemeinschaft und Sicherheit wieder dominante Werte sein.
Die Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen
Gesellschaftsdiagnosen wie jene von
HRADIL haben den Nachteil, dass sie Entwicklungen erst sichtbar
machen, wenn sie den Höhepunkt bereits erreicht haben. Single-dasein.de bzw. single-generation.de
dagegen hat jene Entwicklungen, die HRADIL erst jetzt "entdeckt"
hat, bereits viel früher diagnostiziert. Zeitgeistmagazine für die Generation Golf
wie Tempo oder Wiener waren Ende der 1980er Jahre - noch vor dem
Mauerfall - Trendsetter der neuen Gemeinschafts- und
Sicherheitswerte. Es ist kein Zufall, dass die Popliteraten und
Popjournalisten der Generation Golf damals dort sozialisiert
wurden.
Die Dürftigkeit der Erklärungen
Die Erklärungen von HRADIL für den
"Wandel des Wertewandels" sind mehr als dürftig, weil er die
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausblendet.
Die größte gesellschaftliche Gruppe sind nicht
die Postmaterialisten und auch nicht die Materialisten, sondern
Mischtypen, die beide Wertetypen kombinieren.
HRADIL erklärt den Wertewandel dagegen
als simples lineares Phänomen. Jugendliche seien mit den "Schattenseiten der
praktizierten Selbstverwirklichung und Individualisierung"
konfrontiert worden. Dazu zählt er "Anomiegefahren,
Orientierungsprobleme, Konflikte und Risiken", denn:
Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der
individualisierten Gesellschaft
"Im Zweifelsfalle boten die
Scheidung der eigenen Eltern und die quälend schwierige Wahl
von Beruf und Lebensform den Heranwachsenden genügend
abschreckendes Anschauungsmaterial".
(2003, S.121) |
Daneben nennt HRADIL die ökonomischen
Rahmenbedingungen, speziell die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Anders als bei den
68ern wurde jedoch der
Rückzug ins Private angetreten: Trautes Heim, Glück allein statt
Street Fighting Man.
Die
Generation Golf als Träger des Wertewandels
Im Gegensatz zu HRADIL versucht Markus
KLEIN in dem Beitrag Gibt es die Generation Golf? (Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, März 2003) zu
beweisen, dass die Generation Golf der Träger des Wertewandels
vom Postmaterialismus zum Materialismus ist.
Markus KLEIN stellt zwar fest, dass es die
Generation Golf (1965 - 1975 Geborene) gibt, aber der
Wertewandel stellt sich komplizierter dar, als er es gerne
hätte:
Gibt es die
Generation Golf?
"Der Prozess der Umkehr des
Wertewandels in den jüngeren Geburtskohorten stellt sich vor
dem Hintergrund dieser Befunde (...) sehr komplex dar. Die
Generation Golf besaß demnach die größte Prädisposition für
postmaterialistische Wertorientierungen, die zudem nicht
länger durch die formale Bildung moderiert wurde. Gleichzeitig
aber kam es in dieser Generation im Lebensverlauf zu einer
drastischen Abwendung von postmaterialistischen
Wertorientierungen. Die Umkehr des Wertewandels scheint
demnach ein Prozess zu sein, der primär von der Generation
Golf vollzogen und gelebt wurde." (2003, S.113) |
Nach KLEIN sind die Angehörigen der
Generation Golf nicht als Materialisten auf die Welt gekommen,
sondern als Postmaterialisten. Irgendwann sind sie konvertiert.
Darüber lässt sich KLEIN jedoch nicht genauer aus. Die
Erforschung dieses Sachverhaltes müssen andere leisten.
KLEIN vergisst auf alle Fälle darauf
hinzuweisen, dass die Generation Golf zwar der Träger, nicht
aber der Initiator des Wertewandels ist.
Die Initiatoren des Wertewandels sind
Symbolanalytiker, die anschlussfähige Deutungsmuster
bereitstellten. Die Single-Generation wird hier künftig eine
zentrale Rolle spielen.
Die Durchsetzung eines neuen
kulturellen Deutungsmusters
Während HRADIL vor allem die
ökonomische Situation als Ursache nennt, ist für Markus KLEIN
auch die Krise des Sozialstaats wesentlich für den
Wertewandel. Entscheidend ist dabei folgendes:
Gibt es die
Generation Golf?
"natürlich (sind es) nicht die
sozio-ökonomischen Verhältnisse an sich, die die
nachwachsenden Generationen sozialisieren. Vielmehr existieren
in jeder Gesellschaft dominante kulturelle Deutungsmuster, die
dem Wandel unterliegen und ihrerseits die sozio-ökonomische
Lage reflektieren."
(2003, S.104) |
Zu einem zentralen kulturellen
Deutungsmuster gehört spätestens seit Ende der 1980er Jahre das
Schlagwort vom demographischen Wandel. Die Diskreditierung der Singles geht eindeutig
vom "sozialpolitischen Komplex" und der dazugehörigen
Medienberichterstattung aus.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. |
Im Jahr 1991 berichtet z.B. der Spiegel-Reporter
Hans Joachim SCHÖPS in Dauerhaft ist nur die Trennung
über den Zerfall stabiler Beziehungen und die demographische
Entwicklung: "immer mehr Greise, weniger Kinder". Der Single
wird dort bereits als Defizitwesen beschrieben:
Dauerhaft ist
nur die Trennung
"Da ist das Heer der Geschiedenen und
Beziehungsgeschädigten jeglichen Alters, es sind Kontaktarme
und Eigenbrötler, betagte Witwen und verbissene Workaholics,
wohl viele, die den Partner einfach nicht finden, und welche,
die aus Überzeugung allein bleiben. Und darunter ist mancher
mit einer selbstgefertigten Single-Philosophie, weil das
Solistenleben dann leichter zu tragen ist. Mit dem
lustigen Single-Leben ist es, wie etliche Untersuchungen
zutage förderten, nicht so weit her".
[mehr]
(Spiegel Nr. 2 v. 07.01.1991) |
Der Einpersonenhaushalt als sozialpolitische
Sündenbock-Kategorie
Das "neue" Bild der Singles entspricht
nicht dem Selbstbild der damit bezeichneten Personen. Würde man
eine Befragung von "Single"-Haushalten durchführen, dann würde
sich kaum jemand als Single bezeichnen. Die Kategorie Einpersonenhaushalt beschreibt
kein einheitliches Lebensgefühl, sondern ist eine
sozialpolitische Sündenbock-Kategorie.
Als 1995 das Buch von HRADIL erschien, da war
der sozialpolitische Konflikt Familien contra Singles
bereits seit 5 Jahren im Gange.
Es dauerte jedoch noch einige Zeit bis die
Literatur dieses Bild vom Single übernahm. Es ist kein
Zufall, dass Michel HOUELLEBECQs
Elementarteilchen den
Paradigmenwechsel einleitete.
Der französische Autor hat die
Grundthematik von Ulrich BECK/Elisabeth BECK-GERNHEIMs
soziologischem Bestseller Das ganz normale Chaos der Liebe
(1991) in Literatur umgesetzt. Die Zusammenhänge zwischen Soziologie und
Literatur sind also nicht so einfach wie HRADIL das glauben
macht. HOUELLEBECQ hat mit seinen Romanen an weit verbreitete
soziologische Deutungsmuster anknüpfen können.
Single-Dasein und Geschlecht
Was HRADIL - aber auch KLEIN
unterschlägt, das ist die Tatsache, dass der Wechsel vom
positiven zum negativen Stereotyp mit einem Wechsel des Fokus
von der weiblichen Alleinlebenden zum männlichen Alleinlebenden
einhergeht. Bereits 1993 schreibt die Singleforscherin Eva
JAEGGI:
Ehe auf Zeit -
Single auf Zeit?
"Der Single männlichen und weiblichen
Geschlechts ist nicht unbedingt auf Dauer Single, aber er
wartet auch nicht darauf, nun »um jeden Preis« wieder als Paar
zu leben. Dies betrifft noch mehr die Frauen als die Männer:
Geschiedene Frauen heiraten seltener wieder als geschiedene
Männer - vorausgesetzt, sie haben einen qualifizierten Beruf.
Sind sie berufslos oder unqualifiziert, dann allerdings
versuchen sie möglichst schnell, wieder in einer Ehe
»unterzuschlüpfen«. Obwohl uns die Statistiken darüber nichts
sagen können, ist man versucht zu interpretieren: Sie
versuchen, in einer Ehe »unterzuschlüpfen«, auch wenn's
beileibe nicht der Traumprinz ist, sondern der alte Rentner,
der die Versorgung sicherstellt. Männer, so sagt wiederum die
Statistik, sind in der Altersgruppe der Dreißig- bis
Fünfzigjährigen etwas öfter Singles als Frauen; sie sind aber
beruflich oft nicht ganz so qualifiziert wie die Frauen, und
einige von ihnen kommen mit dem Single-Leben gar nicht so gut
zurecht: Sie sind öfter krank, haben eine geringere
Lebenserwartung, verfallen öfter dem Alkohol. Für Frauen gilt
dies nicht."
(1993) |
Das Klischee vom Single als Pionier
der Moderne ließ sich zu keinem Zeitpunkt quantitativ begründen,
denn Männer stellten bereits Anfang der 1990er Jahre die Mehrheit
der Singles im mittleren Lebensalter.
Auch eine Veränderung der alltäglichen
Lebenssituation von Singles lässt sich in diesem Zeitraum nicht
beweisen. Der Wandel des Single-Klischees ist den Singles von
außen aufgezwungen worden.
Hatten Ende der 1980er Jahre noch die
Feministinnen die Deutungshoheit über das Singlebild, so
ist im Laufe der 1990er Jahre diese Deutungshoheit abgelöst worden
durch die Dominanz der bevölkerungs- und familienpolitischen
Forschung zum Single-Dasein.
Der
Mythos vom klassenlosen Single
Ein weiterer Punkt sind die Bildungs-
und Einkommensverhältnisse. Fast alle Single-Studie beziehen
sich auf gut gebildete, besser verdienende
Mittelschichtangehörige.
Die Spaltung der Single-Haushalte in
Geringverdiener und Besserverdiener ist kein Thema. Während
Frauen im Mittel- und Spitzenfeld rangieren, sind
Geringverdiener vorwiegend Männer.
In der Literatur dominieren dagegen die
gut verdienenden Männer. Einer der wenigen Autoren, der das
Elend des gering verdienenden, männlichen Alleinlebenden
beschrieben hat, ist Wilhelm GENAZINO. Dessen Romantrilogie um
den kleinen Angestellten Abschaffel stammt jedoch aus den 1970er
Jahren.
Abschaffel
"Was heutzutage an
diesem Text irritiert, das sind GENAZINOs
Verallgemeinerungen, wonach solches Verhalten typisch sein
soll für »ständig Alleinlebende«.
Als GENAZINO die
Abschaffel-Trilogie verfasste, da war der Begriff »Single« für
Alleinlebende noch nicht üblich und das Alleinleben galt
als durchweg defizitäre Lebensweise.
Heutzutage muss man die
Geschichte von Abschaffel als Geschichte eines
überängstlichen und sozial isolierten Alleinlebenden
lesen."
[mehr]
(aus: Bernd Kittlaus "Singles und ihre
Ängste", April 2003) |
Fazit
Auch der Wandel des Wertewandels
kann die Situation der Alleinlebenden nicht angemessen erfassen.
Die Kategorie "Generation" übersieht
sowohl alterstypische Wertepräferenzen als auch geschlechts- und
schichtspezifische Unterschiede.
Die Lebensstilforschung beansprucht zwar
die soziale Ungleichheit besser als die alte
Ungleichheitsforschung zu beschreiben. Sie bleibt jedoch weit
hinter diesem Anspruch zurück.