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Soziales Umfeld und Fernbeziehung
Nikola
Richter hat mit dem Buch
Die Lebenspraktikanten die
Generation Praktikum beschrieben. Im Mittelpunkt steht eine
Akademiker-Clique, die sich in der modernen Arbeitswelt
behaupten muss. Wie viel Globalisierung verträgt der Mensch?
Diese Frage stellt sich hier in verschärfter Form, denn die
Protagonisten sind ausgeschlossen vom ersten Arbeitsmarkt.
Da ist z.B. Viktor
und Linn. Viktor bekommt einen Vertretungsjob in einer anderen
Stadt angeboten. Als er jedoch einen aussichtsreichen
Zeitvertrag abschließen soll, entscheidet er sich gegen die
Karriere und für die Liebe.
Die Lebenspraktikanten
"Viktor
hat sich entschieden, er will bei Linn bleiben. Er sagt
den Job ab. Dabei hat er ein sehr schlechtes Gewissen,
besonders all denen gegenüber, die sich diesen Job
wünschen würden. Und auch seinen Eltern gegenüber, die
sich sehr freuen würden, wenn er einmal länger als ein
paar Monate ein gleichmäßiges Einkommen hätte (...). Ihnen
nun zu erklären, warum ihm der Job weniger wichtig ist als
der Ort an dem er eine bestimmte Person täglich sehen
kann, ist nicht einfach."
(2006, S.87) |
Da ist Chris
und Anika. Die beiden führen eine Fernliebe. Chris schlägt sich
von Projekt zu Projekt durch. Weltweit verfügbar, versteht sich.
Die Lebenspraktikanten
"Die
Doktorandin trifft sich ein paar Mal im Jahr mit ihrem
Freund. Beide hangeln sich von Stipendium zu Stipendium
von studentischer Mitarbeit zu wissenschaftlicher
Projektassistenz, benutzen mal diese Rara-Sammlung in
Windhock, dann wieder jenes Handschriften-Archiv in Wien.
Sie haben zusammen studiert, sind seit ihrer
Zwischenprüfung zusammen. Nun promovieren sie - nicht
zusammen. Immerhin fahren sie einmal im Jahr gemeinsam in
Urlaub. Für einige Wochen sind sie ein wirkliches Paar.
Danach trennen sie sich wider. Sie trennen sich, weil es
so abgemacht ist.
Denn beide haben, außer ihrer Arbeit, kein festes Zentrum
im Leben. Um voranzukommen, um sich weiterzuentwickeln,
müssen sie alle Optionen annehmen, auch diejenigen, die
sie immer wieder losreißen von ihrem
Vielleicht-Mittelpunkt. Die Umwelt findet das sogar
richtig. (...). Aber dieser Sprung ist im Grund genommen
für beide ein totaler Beziehungsknick und
Beziehungsabsturz. Weil alles in ihrem Leben sich ständig
ändert (...), muss sich eigentlich auch die Beziehung
verändern. Doch weil Chris und Anika nie wirklich
ankommen, weil sie beide unterwegs sind, bleibt das, was
zwischen ihnen ist, irgendwie länger haltbar, wie in einer
Vakuumverpackung. Sie halten sich aneinander fest, weil
alles andere nicht fest genug ist. Sie halten die
Entfernung aus."
(2006, S.52f.) |
Da ist
Jasmin, die hart an ihrem Aufstieg arbeitet und deshalb auch
einen Job in einem polnischen Altersheim annimmt. Die
Wichtigkeit von sozialen Netzwerken hat sie verinnerlicht.
Die Lebenspraktikanten
"Einmal
im Monat besucht sie ihre alten Freunde in Deutschland, um
nicht den Anschluss zu verlieren, um nicht vergessen zu
werden und um so zu tun, als ob sie immer noch da wäre.
Bei ihren monatlichen Großstadtbesuchen muss sie innerhalb
kürzester Zeit, meist an einem Wochenende, alle Menschen
treffen, die für sie privat und beruflich wichtig sind, um
dann hoffentlich nach ihrer Rückkehr nahtlos an ihr altes
Leben anknüpfen zu können. (...). Das ist anstrengend,
denn eigentlich ist sie ja weg und lebt ihr eigenes, den
anderen recht fremdes Leben. Um dieses detailliert
mitzuteilen, reicht die Zeit kaum. Alles, was sie erzählt,
bleibt in Andeutungen stecken. (...). Und weil sie sich
von allen alten Bekannten entfernt hat, damit sie
irgendwann aufsteigen kann, muss sie nun ganz allein
regelmäßig den Abstand zu den Dagebliebenen verringern.
(...). Dass sich derweil andere Leben auch
weiterentwickeln, dass nicht alle Lücken, die Jasmin als
Lücken wahrnimmt, welche sind, dass Lücken nicht nur eine
Wissens-, sondern auch eine Wahrnehmungssache sind, kommt
Jasmin selten in den Sinn. (...). Sie lebt weder richtig
in Polen noch richtig in Deutschland, sondern in einem
unbestimmbaren Kommunikationstransit."
(2006, S.37) |
Jasmin führt
eigentlich keine Fernbeziehung. Sie hat jedoch vor ihrem Umzug
nach Polen eine Affäre begonnen und auch in Polen beginnt sie
eine Affäre.
Die Lebenspraktikanten
"Sie
hat eine neue Wohnung, einen neuen Job und eine neue
Affäre. Die letzte mit Nils ist gerade erst eine Woche
her. Eigentlich lebt sie in emotionaler Gleichzeitigkeit.
Weil keiner der Männer, die sie mag, vor Ort ist, weil
keiner sich wirklich zu ihr bekennt, weil sie selbst nicht
vor Ort ihrer Männer ist, muss sie die Beziehungen zu
ihnen auf kleiner Flamme weiterköcheln lassen. Die Gefühle
werden nie hochgekocht, sondern parallel gedünstet. So
bleiben die Vitamine und der Schwung erhalten. Das
Springen von Beziehung zu Beziehung - die Beziehungen so
oft wie die Orte und Wohnungen zu wechseln - erschien ihr
noch vor einiger Zeit als Ausweg. (...). Sie weiß, dass
sie eine Nicht-Beziehung führt, von der sie nichts
erwarten kann - außer unregelmäßigen Spaß und regelmäßiges
Leiden. Diese Beziehung wird sich, wie andere vorher auch,
nicht entwickeln, sondern in der Anfangsattraktion stecken
bleiben."
(2006, S.51f) |
Nikola
RICHTER beschreibt in ihrem Buch ein breites Spektrum an
modernen Fernbeziehungen mit ihren Einbettungen in das soziale
Umfeld.
Die traditionelle
Sozialforschung muss an diesen Beziehungsarrangements
zwangsläufig scheitern. Jenseits der Ehe haben sich flexible
Lebensformen herausgebildet, denen weder die Sozialforschung
noch die gegenwärtige Familienpolitik gerecht wird.
Familiengründung und Fernbeziehung
Die Deutschen
sterben aus, lautet eine beliebte Diagnose von Hobbydemografen.
Der Neo-Spießer Sascha LEHNARTZ hat in seinem Buch
Global
Players einen Abgesang auf die Fernbeziehung geschrieben:
Global Players
"Normale
Paare (...) werden von den Fliehkräften des Marktes am
dauerhaften Händchenhalten ebenso gehindert wie an der
erforderlichen Reproduktion. Dabei hatte alles irgendwann
so vielversprechend angefangen, auch für die Demographen:
Im Studium in Kiel kennengelernt, zusammengekommen (...).
Er Jura. Sie BWL. Gemeinsam überstanden sie
Auslandspraktika und seine Wahlstation in Manila. Er bekam
den Job bei einer großen Kanzlei in Hamburg, den er immer
haben wollte. 14-Stunden-Tage. Auch sie hatte erst Glück.
Schicke PR-Agentur in der gleichen Stadt. Es lief
eigentlich ganz gut. Sie hatten die dreißig gerade
überschritten und waren fünf Jahre zusammen, als ihre
PR-Agentur Leute entlassen mußte. Sie fand etwas Neues in
Stuttgart. 600 Kilometer, und die Verkehrsanbindung war
ungünstig, aber andere schafften das schließlich auch,
fand er. Man müsse über Grenzen und Distanzen hinweg
handeln, leben und lieben. Sie pinnte sich einen Artikel
aus der Freundin in die Küche. Zwölf »Profi-Tips
für Fernbeziehungen«, Living apart together läge
voll im Trend, stand da. Tip 1: Man solle Verständnis
haben, wenn der Partner am Wochenende »geschafft« sei und
»nichts unternehmen, sondern einfach nur abhängen« wolle.
Zwei Jahre mühten sie sich gegenseitig um Verständnis (...).
Sie telefonierten jeden Abend und erzählten sich, was sie
den Tag über gemacht hatten, um sich nicht
auseinanderzuleben. Sie mochte es nicht, wenn er beim
Telefonieren die Spülmaschine ausräumte. Ihm fiel auf, daß
sie während des Gesprächs immer öfter noch etwas am
Computer tippte. Ausgerechnet im sogenannten
Nachrichtenmagazin Focus las er einen Artikel über
Fernbeziehungen. Der Begriff »Erosion der
Partnerschaftsqualität« blieb ihm im Gedächtnis hängen.
Von der Distanzbeziehung blieb irgendwann nur die Distanz.
Entweder fehlt das Geld zum Kinderkriegen. Oder es geht fürs
Pendeln drauf. Oder am Ende des Pendelns fehlt wieder
einmal der richtige Partner. Und so werden wir halt immer
weniger."
(2005, S.266f.) |
Kinder sind
in der Regel mit einer modernen Fernbeziehung, bei der beide
Partner berufstätig sind, nicht vereinbar. Catrin BARNSTEINER schreibt
dazu in der Zeit:
So fern
und doch so nah
"In
Deutschland leben derzeit etwa acht Prozent der Menschen
zwischen 25 und 55 Jahren in Fernbeziehungen, die meisten
innerhalb Deutschlands. Norbert Schneider, Professor für
Soziologie an der Universität Mainz, hat 2002 für das
Bundesfamilienministerium die Studie Sind berufliche
Modernitätserfordernisse in Zeiten der Globalisierung noch mit
Familie vereinbar? verfasst. Er glaubt, »dass sich die Anzahl
der Fernbeziehungen langfristig stabilisieren wird«. Auch
deshalb, weil die Fernbeziehung eher eine Lebensabschnittsform
ist, zwischen 20 bis 33 Jahren. Danach denken die meisten Paare
über Kinder nach – das schließt eine Fernbeziehung aus.
Wer sie trotzdem
will, die grenzenlose Liebe, kriegt sie nicht ohne fett
aufgedrucktes Haltbarkeitsdatum. »Ich gehe nicht davon aus«,
sagt Schneider, »dass eine Fernbeziehung über eine große
Distanz, die die Partner gezwungenermaßen führen, über Jahre
hält – es sei denn, es ist beiden klar, dass es sich um ein
Übergangsphänomen handelt.«"
(Die Zeit 06.10.2005)
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Moderne
Fernbeziehungen, also Partnerschaften ohne gemeinsamen
Haushalt, werden insbesondere dann problematisch, wenn äußere
Bedingungen wie z.B. die schlechte Arbeitsmarktsituation, ein
gewünschtes Zusammenziehen dauerhaft verhindern.
Bei
traditionellen Fernbeziehungen, das sind in der Regel so
genannte Shuttles sieht es dagegen anders aus, wie Heike
HAARHOFF im taz-Artikel
Hin und weg am Beispiel des bayrischen Philippsreut erläutert:
Hin und
weg
"Die
Geschichte der Von-Lamberg-Straße, benannt nach dem Passauer
Fürstbischof Johann Philipp Graf von Lamberg, der hier im Jahr
1692 zur Sicherung der nahen Grenze sechs Häuser anlegen ließ
und so den Ort Philippsreut gründete, ist eine Geschichte des
Abschieds und der Wiederkehr, der Entfremdung und der
Wiederannäherung, des Aufeinanderwartens und der Enttäuschung.
Sie ist, banal gesprochen, die Geschichte der Wochenendpendler
in Deutschland. Deren Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren um
12 Prozent gestiegen, so stark wie keine andere Gruppe innerhalb
der Berufspendler.
(...).
Philippsreut ist malerisch, das macht sesshaft. Und Philippsreut
ist arm, das macht mobil. Bernhard Krems erkennt früh, was
dieser Zusammenhang bewirkt: Der Vater schickt Geld nach Hause,
viel Geld, die materielle Not daheim ist überwunden. Aber den
Kindern, der eigenen Frau bleibt der Vater fremd. (...).
Knapp 800 Menschen leben in Philippsreut. Jeder zweite Haushalt
hat mindestens einen Pendler in der Familie. Wenn man die
Von-Lamberg-Straße auf und ab geht, diese schöne verschneite
Dorfstraße am Hang, dann gleichen sich die Lebensentwürfe hinter
den Hauseingängen sehr."
(taz 10.01.2006)
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Die
klassische Hausfrauenfamilie verträgt sich eher mit den
Mobilitätsanforderungen als eine Doppel-Karriere-Familie. Der
Soziologe Ulrich BECK forderte deshalb, dass Firmen sich auch um
einen Arbeitsplatz für den Partner bemühen sollten.
Dort wo
Spitzenkräfte Mangelware sind, gehen Firmen inzwischen sensibler
mit diesem Thema um. Nicht ohne meinen Lebensgefährten
hieß ein entsprechender Artikel von Christian SCHWÄGERL, der
sich für die Bedürfnisse von Spitzenmüttern stark macht.
Die gelingende Fernbeziehung
Der Theologe und
Kommunikationsberater Peter WENDL ("Gelingende
Fern-Beziehung") hat seine Erkenntnisse über
das Gelingen von Fernbeziehungen hauptsächlich an Soldaten
gewonnen.
Der Soziologe
Norbert F. SCHNEIDER hat diese Gruppe als Variomobile
bezeichnet. Extremer als bei anderen Formen der Fernbeziehung
werden bei dieser Gruppe die Probleme und Chancen sichtbar.
Gelingende Fern-Beziehung
"Sowohl
die Entwicklungschancen als auch die Belastungen und
Herausforderungen sind an diesen Personenkreis (mit
zunehmenden Auslandseinsätzen und Wochenendbeziehungen) in
besonderer Weise signifikant, weil konzentriert und
geballt, wenn auch unter ganz eigenen Voraussetzungen.
(...).
Soldaten gehören zu jener Berufsgruppe, bei denen
ursprünglich bei der Wahl des Berufes der erwartete
Mobilitätsanspruch mitgewählt wird"
(2005, S.56) |
Peter WENDL betont die
Wichtigkeit von Investitionen in die Partnerschaft und die
Stärke, die aus gemeinsamen Ritualen erwächst.
Fazit
Wer
heutzutage mehr Kinder fordert, der macht gerne die Singles
dafür verantwortlich. Die gängige Politik setzt am Problem der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. Die Folge ist: Singles
sollen für ihren Lebensstil bestraft werden. Das ist allemal
billiger. Diese Politik
verkennt jedoch, dass Familiengründung nicht erst mit der Geburt
beginnt, sondern bereits mit der Paarbildung. Nicht erst die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern bereits die
Vereinbarkeit von Partnerschaft und Beruf muss auf die
politische Agenda.
Dies nicht nur in
Branchen, in denen Arbeitskräftemangel herrscht, sondern gerade
auch dort wo Arbeitskräfte eher abgebaut werden. Die
Gewerkschaften schmücken sich neuerdings gerne mit dem Etikett
Familienfreundlichkeit. Dahinter verbirgt sich jedoch meist nur
Partnerschaftsfeindlichkeit.
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