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Zitate zur Debatte um den Geburtenrückgang
Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20.
Jahrhundert
"In der
öffentlichen und wissenschaftlichen
Diskussion über den Geburtenrückgang, die
Ende der 1960er Jahre begann und seit den
frühen 1970er Jahren verstärkt fortgeführt
worden ist, schien sich in weitem Maße die
Diskussion zu wiederholen, die schon
anläßlich der seit der Jahrhundertwende
sinkenden Geburtenzahl geführt worden war.
Eine Reihe der alten Theorien des
Geburtenrückgangs wurde - häufig
unverändert übernommen oder 'neu erfunden':
Mit dem Schlagwort 'Pillenknicks' kam die
Präventivmitteltheorie wieder zu
publizistischen Ehren; Frauenemanzipation und
weibliche Erwerbstätigkeit wurden in der
gleichen Weise für den Rückgang der
Kinderzahlen wieder verantwortlich gemacht
wie zur Zeit des säkularen
Geburtenrückgangs; sogar die
Wohlstandstheorie - nun erweitert durch die
Einbeziehung von Urlaubs- und
Freizeitargumenten - fand neue Fürsprecher.
Aber wie schon fünfzig Jahre früher konnten
diese - meist einen oder nur wenige
Einflußfaktoren in Betracht ziehenden -
Erklärungsversuche nicht recht überzeugen,
weil nicht zu vermuten ist, daß
Veränderungen des generativen Verhaltens zu
allen Zeiten immer auf dieselben Ursachen
zurückzuführen sind. Zudem haben diese
singulären Einflußfaktoren überwiegend die
störende Eigenschaft, sowohl eine Ursache
als auch eine Folge des zu erklärenden
Phänomens sein zu können: Die Tatsache
etwa, daß erwerbstätige Frauen weniger
Kinder haben als nicht-erwerbstätige und die
weibliche Erwerbstätigkeit in der Zeit des
Geburtenrückgangs zugenommen hat, wirft die
Frage auf, ob diese Frauen weniger Kinder
haben, weil sie erwerbstätig sein wollten,
oder ob sie erwerbstätig sein konnten, weil
sie weniger Kinder haben wollten.
Das gilt besonders für den Einfluß der
Heiratshäufigkeit auf die Fruchtbarkeit: Ob
weniger Ehen geschlossen wurden, weil weniger
Kinder gewünscht wurden, oder ob weniger
Kinder zur Welt kamen, weil weniger Ehen
geschlossen wurden, ist mit Hilfe von
massenstatistischem Datenmaterial nicht zu
entscheiden, möchlicherweise nicht einmal
aufgrund von Individualbefragungen. (...)
Als mit dem Beginn des Geburtenrückgangs die
Stabilitätserwartungen der
Bevölkerungswissenschaftler und -statistiker
nachhaltig erschüttert wurden, begann die
Ursachendiskussion. Als zehn Jahre später
(1975) zum ersten Mal die Bevölkerungszahl
zurückging, setzte eine zweite Debatte über
den Geburtenrückgang ein, die insbesondere
den Folgen der demographischen Veränderung
für die soziale und ökonomische Entwicklung
galt."
(Peter Marschalck, 1984)
Bevölkerungssoziologie
"Der Anteil
kinderlos bleibender Frauen in Deutschland
war schon in früheren Generationen
beträchtlich. So blieb von den 1901/1905
geborenen Frauen fast jede vierte Frau
kinderlos (was mit zur damals vergleichsweise
geringen Geburtenhäufigkeit beitrug): Eine
Reduktion der Kinderlosigkeit ergab sich
primär bei den Frauengenerationen, die
während den ersten Nachkriegsjahrzehnten -
den Jahren des Wirtschaftswunders - ins
gebärfähige Alter eintraten. Der
'Baby-Boom' der Nachkriegsjahre war im
wesentlichen darauf zurückzuführen, dass
mehr Frauen überhaupt eine Familie
gründeten und Kinder zur Welt brachten; eine
Beobachtung, die auch für andere
europäische Länder gilt (Festy 1979). Bei
den jüngsten Frauengenerationen - d.h.
Frauen, die in den 1970er und 1980er Jahren
ins 'gebärfähige Alter' kamen - stieg der
Anteil der Kinderlosen erneut an. Bei der
jüngsten Frauengeneration dürfte wiederum
rund jede vierte Frau ganz auf Kinder
verzichten.
(...)
In bezug auf Kinderlosigkeit scheint
(West)- Deutschland so etwas wie eine
europäische 'Sondersituation' einzunehmen,
was sich z.B. auch in ausgeprägten
öffentlichen Diskussionen um
Individualisierung und Kinderfeindlichkeit
widerspiegelt."
(François Höpflinger, 1997, S.55) |
Deutschland
ohne den "Pillenknick"
Eine breit
angelegte Medienkampagne macht derzeit auf den demografischen
Wandel aufmerksam (z.B. die Financial Times Deutschland-Serie Die
Minus-Gesellschaft,
das
Zeit-Dossier Land ohne Leute,
der
Stern-Beitrag Volk ohne Zukunft).
Wenn
den deutschen Frauen heute ihre
Gebärunwilligkeit und den Männern inzwischen
auch Zeugungsverweigerung vorgeworfen wird, dann
ist es an der Zeit zu fragen, was die Alternative
zur gegenwärtigen Situation gewesen wäre.
Wie
sähe Deutschland heute bzw. in 50 Jahren aus,
wenn es in den 60er Jahren den sog.
"Pillenknick" nicht gegeben hätte und
sich deshalb das damalige generative Verhalten
bis heute unverändert erhalten hätte?
Anhaltspunkte
hierfür liefert eine Vorausberechnung des
renommierten Bevölkerungswissenschaftler Karl
SCHWARZ, die im Jahr 1963 in der Fachzeitschrift
Wirtschaft und Statistik
veröffentlicht worden ist (vgl. "Vorausschätzung der Bevölkerung
des Bundesgebietes bis zum Jahr 2000", Heft 12, S.729-735). In dieser Berechnung
wird die Bevölkerung des Jahres 1963 bis zum
Jahr 2000 fortgeschrieben. Schwarz bezieht sich
zwar nur auf die alten Bundesländer ohne Berlin,
aber die Tendenzen lassen sich auf das heutige
Deutschland hochrechnen. Das
Szenario "rasches
Bevölkerungswachstum" kommt dabei den
tatsächlichen Geburtenzahlen Mitte der 1960er
Jahre noch am nächsten. Im Jahr 2000 wären
demnach in den alten Bundesländern ohne Berlin
ca. 1,2 Millionen Kinder geboren worden und
jährlich käme dann eine weitere
"Millionenstadt" hinzu.
Für das
Jahr 1998 hat SCHWARZ eine Sterbeziffer von 11,9
angenommen. Tatsächlich sind in den alten
Bundesländern nur 10,3 Menschen pro 1000
Einwohner gestorben. Die Differenz dieser beiden
Zahlen würde umgerechnet auf das heutige
Deutschland bedeuten, dass jährlich eine
Stadt in der Größenordnung von Heidelberg
weiterexistieren würde. Die Sterblichkeit in den
neuen Bundesländern ist sogar noch geringer als
in den alten Bundesländern. Auch wenn man
Abstriche machen muss, weil die Sterblichkeit
auch von einer veränderten Altersstruktur
abhängt, so ändert das insgesamt nichts daran,
dass die Lebenserwartung in Deutschland stärker
gestiegen ist als in den 1960er Jahren
vorherzusehen war.
SCHWARZ
kommt für das Jahr 2000 auf eine
Bevölkerungszahl, die annähernd der heute
tatsächlich hier lebenden Bevölkerung
entspricht. Die Bevölkerung Deutschlands würde
aber in den nächsten Jahren jährlich um die
Einwohnerzahl einer Großstadt wie Frankfurt
steigen. Stellen Sie sich das vor! Jedes Jahr ein
Zuwachs in der Größenordnung einer Großstadt.
Diese Zuwächse würden von Jahr zu Jahr größer
werden. Und es hätte kein einziger Einwanderer
hinzukommen dürfen und auch keine
Bürgerkriegsflüchtlinge wie aus Ex-Jugoslawien. Die
Alterstruktur wäre dann zwar optimaler als
heute, aber SCHWARZ schreibt bereits 1964, dass
auf lange Sicht "mit einer erheblich
höheren Belastung der Personen im
Alter der Arbeitsfähigkeit (...) gerechnet
werden muss." Der stärkere Anstieg der
Lebenserwartung ist in dieser Aussage noch gar
nicht mitgedacht, d.h. die Probleme wären
dadurch nochmals verschärft worden.
Die Schweiz hat es besser: Eine Projektion
versachtlicht die Debatte über den Geburtenrückgang
Das
Statistische
Bundesamt der Schweiz hat eine
Projektion erstellt, wonach in der Schweiz heute
ohne "Pillenknick" über 20 % mehr
Menschen leben müssten. Stellen Sie sich einmal
diese schweizerischen Verhältnisse in
Deutschland vor! Es müssten nach dieser
Berechnung heute in Deutschland 100 Millionen
Menschen leben. Dabei gehört Deutschland auch
unter den derzeitigen Verhältnissen zu den
dicht besiedelsten Gebieten in Europa. Wir hätten
dann zwar keine Probleme mit
"gebärfaulen" Frauen und
"zeugungsverweigernden" Männern, aber
dafür müssten wir uns angesichts der
Überbevölkerung
mit "gebärwilligen" Frauen und
"zeugungswilligen" Männern
herumschlagen. Stellen Sie sich diese
Überzeugungsarbeit vor! Die
Bevölkerungswissenschaftler sprechen ja gerne
von den trägen Bevölkerungsprozessen. Das
gälte natürlich auch für diese Situation. Mehr
Stress, mehr Kampf um knappen Wohnraum, ein
erhöhtes Arbeitslosenproblem und möglicherweise
sähe Berlin Mitte des Jahrhunderts so aus wie
heutzutage Kairo oder noch schlimmer. Slums in
Berlin! Das Regierungsviertel umgeben von
Armutsvierteln. Die Loveparade müsste ausfallen,
weil bettelnde Kinder und Jugendliche ihre
Familien ernähren müssten. Wäre dies
wünschenswert?
Meine
Ausführungen können und sollen eine exakte
Projektion nicht ersetzen, sie sind vielmehr ein
Denkanstoss und zeigen einen Trend auf, der
angesichts der Berichte über unser leeres Land
einen verdrängten Gesichtspunkt vor Augen
führt. Nicht nur der Bevölkerungsrückgang ist
mit unangenehmen Entwicklungen verbunden. Singles
sollten von den deutschen
Bevölkerungswissenschaftler, eine Projektion
einklagen, wie es sie für die Schweiz heute
schon gibt. Dann wäre eine sachlichere Debatte
möglich. In der
Schweiz, wo dieser Tage ebenfalls über
Maßnahmen zur Stabilisierung des
Sozialversicherungssystems entschieden wurde, hat
dieses Alternativszenario eine überharte
Konfrontation zwischen Familien und Singles gar
nicht erst aufkommen lassen. Die Schweiz
ist zwar vom Geburtenrückgang nicht ganz so hart
getroffen wie Deutschland, aber der Verlauf der
Bevölkerungsentwicklung war ähnlich. Ohne eine
Zuwanderung, die die Altersstruktur in der
Schweiz erheblich verbessert hat, wären die
Probleme ebenfalls akuter gewesen. Ein
Alternativszenario könnte die Akzeptanz von
notwendigen sozialpolitischen Maßnahmen in allen
Bevölkerungsgruppen erhöhen, denn die
demografische Entwicklung ist weniger ein Problem
zunehmender lebenslanger Kinderlosigkeit als ein
Problem der steigenden Lebenserwartung.
In der
Berner Zeitung konnte man vor
kurzem lesen, dass der Rückgang der Bevölkerung
einige Jahrzehnte später ohnehin gekommen wäre,
weil es kein unendliches Bevölkerungswachstum
geben kann (vgl. Franz HOPHAN "Die AHV in Finanznöten", Berner
Zeitung 07.05.2001). Die Probleme hätten uns dann auf
einem höheren Bevölkerungsniveau umso härter
getroffen. Diese Einschätzung gilt in gleicher
Weise für Deutschland. Der generative Wandel in
den 1960er Jahren war kein Fluch, sondern eine
Chance. Wir sollten die gegenwärtigen Probleme
ebenfalls als eine solche Chance begreifen.
Ein familienfreundliches Klima ist ohne die
Akzeptanz der Singles nicht zu haben
Die
notwendig werdenden sozialpolitischen Maßnahmen
benötigen eine breite Akzeptanz in allen
Bevölkerungsgruppen und dürfen nicht zur
Diskriminierung einzelner Gruppen führen. Erst
wenn Singles und Familien gemeinsam die
anstehenden Probleme angehen, kann ein
generationenübergreifender Konsens und ein
familienfreundlicheres Gesellschaftsklima
entstehen. Der
Schweizer Familiensoziologe François HÖPFLINGER
spricht von einem deutschen Sonderweg
im europäischen Vergleich und meint damit die
Tatsache,
dass in keinem anderen Land das Thema
Kinderfeindlichkeit so in den Brennpunkt der
Diskussion gerückt wird. In Italien und
Spanien ist der Geburtenrückgang drastischer als
bei uns, aber dennoch stehen in diesen Ländern
die Kinderlosen nicht derart im Kreuzfeuer der
Kritik wie hierzulande. Welche Frau
möchte aber schon gerne Kinder in einem Land zur
Welt bringen, in dem sie zuvor als Kinderlose
angefeindet worden ist und später nach
dem Auszug der eigenen Kinder aus dem Elternhaus
wieder mit Anfeindungen rechnen muss?
Potenzielle Eltern sollten von unserer
Gesellschaft einen Vertrauensvorschuss erhalten.
Die
unfreiwillig
Kinderlosen könnten angesichts des
Zeugungs- und Gebärdrucks zunehmen. Stress ist
in vielen Fällen die Ursache, wenn gewollte
Kinder ausbleiben. Die rationale Geburtenplanung
ist immer noch einer der großen Mythen unserer
Leistungsgesellschaft. Kinderkriegen auf Kommando
geht jedoch meistens schief. Eltern sollen in
unserer Gesellschaft die Rolle von
Leistungsträgern übernehmen. Kinderkriegen als
neuer Hochleistungssport? Diese Sichtweise
scheint wohl kaum angemessen. Mehr Gelassenheit
und Entspanntheit im Miteinander wäre deshalb
ein wichtiger Schritt zur familienfreundlicheren
Gesellschaft.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
Die Rede von der "Single-Gesellschaft"
rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die
zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich
schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die
zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden,
entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige
Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch
leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen
Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen
Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen
Modernisierungsverlierer." |
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