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Lied vom Steppenwolf
"Ein Wolf kam aus der
Steppe angelockt vom Trubel der Stadt;
wollte sehn wie man als Haushund lebt und ob
es sich lohnt
die Freiheit und die Weite, die man draußen
hat
zu tauschen gegen die Wärme die in den
Städten wohnt.
(...)
Und er lernte ihre Regeln, lernte so wie sie
zu bellen,
lernte soviel, daß er vergaß woher er kam.
(...)
nur manchmal nachts, wenn draußen in der
Wildnis
ein Wolfsgeheul die Ruhe zerstört,
wühlt eine Sehnsucht tief in ihm die er sich
nicht erklären kann;
nur der Wolf in ihm weiß, daß er nicht
hierher gehört,
daß er zurückgehen muß nach draußen
irgendwann:
Wölfe in der Stadt sind wie Fische auf dem
Land - verloren."
(aus:
Mario Hené "Lied vom
Steppenwolf", 1977)
Entsicherungen. Desintegration und
Gewaltprozesse
"Ich gehe von der These
aus, daß Desintegration einen zentralen
Aspekt zur Klärung von Gewalt darstellt
(...). Desintegration meint dabei vor allem
Auflösungsprozesse in zumindest drei
Dimensionen (...). Sie betreffen
a) die Auflösung von Beziehungen zu anderen
Personen oder Institutionen;
b) die Auflösung der faktischen Teilnahme an
gesellschaftlichen Institutionen;
c) die Auflösung der Verständigung über
gemeinsame Norm- und Wertvorstellungen.
Ein Zusammenhang von solchen
Auflösungsprozessen mit Gewalt wird
allerdings nur dort angenommen, wo
Desintegration als Verlust von
Zugehörigkeit, Teilnahmechancen oder
Übereinstimmung erfahren wird."
(Wilhelm Heitmeyer,1994) |
Landschaft mit Wölfen
Der Roman
Landschaft mit Wölfen von Matthias ALTENBURG erzählt von sieben Tagen im Leben des
Protagonisten Neuhaus. Der kinderlose
Großstadt-Single im mittleren Erwachsenenalter
ist vor kurzem von seiner Freundin verlassen
worden. Seinen Unterhalt verdient er sich durch
Gelegenheitsjobs als Touristenführer, die er von
Zeit zu Zeit vermittelt bekommt. Die Lage von
Neuhaus ist also wenig erfreulich: die Freundin
weg und keine finanzielle Sicherheit. Neuhaus ist
ein typischer Modernisierungsverlierer.
Ein Leben jenseits aller Bindungen
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Willy-Brandt-Platz in Frankfurt, Foto: Bernd Kittlaus
2018 |
Im Laufe der
Erzählung erfährt der Leser, dass Neuhaus ein
Leben
jenseits aller Bindungen führt. Der
Vater ist gestorben als er noch ein Kind war. Die
Mutter lebt zwar im Umland der Großstadt
Frankfurt, in der Neuhaus sein anonymes
Großstadtleben führt, aber seine Besuche sind
nur Pflichtbesuche, die er alle paar Monate
widerwillig absolviert. Zum Bruder, der ganz in
der Nähe wohnt, bestehen gar keine Kontakte
mehr. Freundschaft ist für Neuhaus keine
sinnvolle Beziehungsform seit sich sein bester
Freund umgebracht hat und die Jugendclique
auseinandergedriftet ist. Die
Paarbeziehung wird in dieser Situation zum
letzten Anker, geht sie in die Brüche,
beginnt der Sturz ins Bodenlose.
Die
Geschichte erzählt von den aussichtslosen
Versuchen diesen Sturz aufzuhalten. Der Leser
erlebt die Großstadt Frankfurt durch die Augen von Neuhaus, der
dort ein Fremder geblieben ist. Nachbarn und Bewohner des
Viertels sind Projektionsflächen seiner Ängste und Sehnsüchte.
Selbsthass und Partnersuche
Neuhaus befindet sich auf
der Suche nach einer neuen Beziehung, obwohl er sich bereits im
klaren ist, dass diese genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie
alle anderen Beziehungen:
Landschaft mit Wölfen
"Ich
weiß nicht, was die Frauen an mir finden.
Ich tue nichts. Ich mag sie ebenfalls, vor
allem jene, die nichts von mir wissen wollen.
Vielleicht ist das mein Unglück. Die
anderen, die sich mir an den Hals werfen,
kommen mir wertlos vor".
(1997, S.24) |
Diese
Selbstreflexion bringt auf den Punkt, was Neuhaus
in den nächsten Tagen widerfährt. Ob ihm ein
Hund zuläuft, ob er sich seinem Jugendfreund
Brinkmann wieder anzunähern versucht oder ob er
ein Verhältnis mit der Jurastudentin Milla
beginnt, das destruktive Bindungsverhalten kann
den Sturz nicht mehr bremsen. Aus Selbsthass wird
Misstrauen und Hass auf den Rest der Welt.
Die Wolfsgesellschaft
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Frankfurt, Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
Die
Geschichte kann auch als schleichender
Verlust der Selbstkontrolle gelesen werden: "wenn wir
uns selber nicht in Schacht hielten, würden wir wie die Wölfe
übereinander herfallen." Neuhaus hat Angst vor Keppler, einem
Nachbarn. Er hält ihn für gefährlich. Er sieht so aus, als ob
ihm alles zuzutrauen wäre. Neuhaus sieht nicht so aus, als ob
ihm alles zuzutrauen wäre, aber er weiß, dass der Schein trügt:
Landschaft mit Wölfen
"Manche
meinen, ich sei nicht zu großen Empfindungen fähig, aber
sie täuschen sich. Oftmals ist meine Wut so groß, dass ich
Lust hätte, jemanden zu töten. Manchmal reicht es schon,
wenn mich jemand in der U-Bahn auf besonders unverschämte
Weise anrempelt".
(1997, S.24f.) |
Vom Gedanken bis zur
Ausführung ist es jedoch ein weiter Weg. ALTENBURG beschreibt
das Zusammenwirken verschiedener Faktoren, die bis zum
Gewaltausbruch führen und übt Gesellschaftskritik:
Landschaft mit Wölfen
"Ein
Kind ist von einem Wolf angefallen worden
(...) Dann zeigen sie eine Tierpflegerin, wie
sie mit den Wölfen schmust. Sie (...) sagt,
die Wölfe seien besser als ihr Ruf. Wenn man
mit ihm umzugehen wisse, seien sie sogar
possierlich. Wahrscheinlich wird sie
irgendwann totgebissen, aber auch das wird
ihr keine Lehre sein".
(1997, S.123) |
ALTENBURG zeichnet das Bild einer
Single-Gesellschaft,
wie sie in der Individualisierungsthese des Bielefelder
Erziehungswissenschaftler Wilhelm
HEITMEYER beschworen wird. Ein Leben jenseits
aller Bindungen ist jedoch weder typisch für
unsere Gesellschaft noch für Personen, die einen
Einpersonenhaushalt führen.
Neuhaus ist jedoch
in einer Hinsicht tatsächlich ein typischer
Vertreter: Männer sind für das Überleben als
Singles weniger gut gerüstet als Single-Frauen.
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