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Thema des Monats

 
       
   

Feindbild "Single"

 
       
   

Die Funktion des Feindbildes als Identitätsstabilisator für unzufriedene Eltern.
Eine Analyse des Artikels "Warum wollen wir Kinder?" von Ulrich Greiner in der Zeit Nr.47 vom 15.11.2001

 
       
     
       
   
     
 

Am Anfang steht die Bilanz

Ulrich GREINER, Jahrgang 1945, beantwortet in weiten Teilen nicht die Frage, warum wir Kinder wollen, sondern warum Eltern das Feinbild "Single" benötigen.

Warum wollen wir Kinder?

"Was spricht dafür, Kinder zu haben? Es beginnt mit schlaflosen Nächten, weil das Kind im Bett schreit, es endet mit schlaflosen, weil das Kind nicht im Bett liegt. Dazwischen ist man ein Störfaktor, sei es im Restaurant oder in der U-Bahn oder im Kreis der früheren Freunde, die abends spontan ins Kino gehen und danach noch ein bisschen beim Italiener hocken. Kommt ihr mit? Danke sehr, bitte sehr.
Und während besagte Freunde ihre Kate am Kanal oder ihr Landhaus am Lago restaurieren, sitzt der Vater über der Steuererklärung und wundert sich, dass trotz der Freibeträge und des Kindergeldes das früher reichliche Gehalt immer knapper wird (...). Da fängt er an, bitterlich zu klagen. Diese Ungerechtigkeit, diese kinderfeindliche Gesellschaft! Dieses Schweinesystem, das die Raffer und Egoisten belohnt!
Aber während er sich beschwert (bei wem?), fallen ihm Studienkollegen ein, bei denen sie kürzlich zu Gast waren. Die Wohnung ein Traum, der Teppichboden (creme), die Ledersessel (aubergine) eine Delikatesse! Je länger der Abend - sehr gepflegt, Prosecco, Carpaccio, Espresso und all der Quark - voranschritt, umso mehr bedauerte er das kinderlose Paar. Diese sterile Wohnkultur, diese latente Aggressivität, dieser traurige Narzissmus waren geradezu beklagenswert. Ein einziges Schokoladeneis der Kinder, dachte er fröhlich, und der Teppich ist ein für alle Mal im Eimer. Sie brachen als Erste auf, weil die Babysitterin früh zur Schule musste."
(Ulrich Greiner in der Zeit vom 15.11.2001)

Formen des sozialen Vergleichs

Am Anfang steht der soziale Vergleich im Bekanntenkreis und danach der Vergleich mit der eigenen, früheren Lebensphase und am Ende die Phantasie, dass sich das Kind für seine Eltern rächt. Die eigene Lebensform wird nicht als Gewinn, sondern als Verlust bilanziert. Der Vater vergleicht sich nicht mit einem Single, sondern mit einem kinderlosen Paar - am ärgerlichsten sind deshalb die verheirateten Paare ohne Kinder. Das dürfte auch der Normalfall sein, denn man vergleicht sich mit Menschen in einer ähnlichen Lebenssituation. In der sozialpolitischen Debatte ist dagegen nicht das kinderlose Paar der Hauptgegner, sondern der Single, d.h. diejenige Gruppe, die den Eltern am Unähnlichsten ist.

Entscheidender ist jedoch der Vergleich mit seiner früheren Lebensphase. Der Vater erlebt seinen Lebenslauf nicht als sinnvolle Entwicklung, sondern als Bruchbiografie. Der Vater hat seine Single-Phase oder/und Paarphase genossen und erlebt nun das Elterndasein als Abstieg.

Formen der Identitätsstabilisierung

Die Lösung dieses Dilemmas kann auf mehrere Arten geschehen. Zum einen durch die Abwertung vorangegangener Lebensabschnitte, und zum anderen durch die Aufwertung der jetzigen Lebensphase.

Statt frühere Lebensabschnitte abzuwerten, ist es einfacher jene abzuwerten, die gerade diese Lebensphase leben. Der Mechanismus entspricht im Extremfall dem Konvertiten, wenn aus einem Saulus ein Paulus wird. Dies führt dann im Extremfall zu einem missionarischen Eifer. Jeder Single muss dann bekehrt werden (siehe hierzu Diane MERTENS "Hört auf zu nerven!", Brigitte Nr.15 vom 11.07.2001). Der Selbsthass kann jedoch auch zum Hass auf die unähnlichste Gruppe werden, d.h. Singles sind die idealen Sündenböcke für Eltern. Genauso können eigene, verdrängte Ängste (z.B. nicht allein sein können) zur Abwertung von Singles führen.

Die Rolle der Medien

Die Medien können dies entweder verstärken oder dem entgegenwirken. Derzeitig unterstützen die Medien sozialpsychologische Prozesse, die zur Abwertung und Diskriminierung von Singles führen. Dabei spielen soziale Konstruktionen eine herausragende Rolle. Die soziale Gruppe "Single" existiert nicht, sondern ist eine "Erfindung". Transportmittel sind einerseits Stereotypen wie "Yettie", "Yuppie" oder "Swinging Single" und anderseits die Statistik. Die Sozialforschung ist neben Marketing und Politik ein Produzent von sozialen und statistischen Typen. Menschen, die als Singles wahrgenommen werden, müssen auf diese Klischees reagieren - ob sie wollen oder nicht. Stereotypen können integrieren oder ausgrenzen. Der Singlebegriff dient mittlerweile der Ausgrenzung.

Die Aufwertung der Elternrolle

Warum wollen wir Kinder?

"Warum Kinder? Darum. Jedes einzelne Kind erübrigt die Frage. Dass Dumme ist nur, dass heute ein jeder für sich die Frage vorher beantworten muss. Hinterher fragt er nicht mehr, denn das Glück der Kinder und das Glück, Kinder zu haben, ist evident"
(Ulrich Greiner in der Zeit vom 15.11.2001)

Ich bin Vater, also muss ich glücklich sein! Nur durch diese Aufwertung der Vaterrolle lässt sich die wahrgenommene finanzielle Einbuße im Lebenslauf ausgleichen.

Glücklich ohne Kind?

"Das letzte Tabu, das man brechen kann, hat nichts mit Sex zu tun. Sondern mit dem eigenen Kind, den damit verknüpften Glückserwartungen".
(Brigitte-Dossier vom 11.07.2001)

Diese Erkenntnis stammt deshalb auch nicht von GREINER, sondern aus dem Brigitte-Dossier Glücklich ohne Kind?

Die Funktion von Generationenerzählungen

Die Generationenerzählung ist eine weitere Möglichkeit der Identitätsstabilisierung. GREINER ist ein Angehöriger der 68er-Generation und seine Erzählung handelt vom Erwachsenwerden dieser Generation. Das wäre nicht schlimm, wenn GREINER sie nicht als Gesellschaftsdiagnose verstehen, sondern als generationentypische Sicht kenntlich machen würde. GREINERs Beitrag enthält die 3 typischen Mythen der 68er:

1) Es hat eine sexuelle Befreiung stattgefunden, die die Gesamtgesellschaft grundlegend verändert hat.
2) Die Pille war das Herzstück dieser Veränderung.
3) Mit den 68ern hat die Wahlfreiheit das Licht der Welt erblickt.

Dahinter verbirgt sich erstens eine grandiose Selbstüberschätzung der 68er und zweitens die Verschleierung der Tatsache, dass die Reichweite der Veränderungen auf bestimmte Milieus begrenzt blieb, die man heutzutage abkürzend Neue Mitte nennt. Aber selbst dort waren die Veränderungen nur scheinbar tiefer gehend, denn die unbarmherzigste Gegenbewegung zu 68 entspringt den gleichen Milieus.

Der Mythos der sexuellen Befreiung und das Erbe der seriellen Monogamie

Die sexuelle Befreiung fand stattdessen in erster Linie in den Medien und in zweiter Linie im Verstand statt, während das Herz entweder gar nicht erreicht wurde oder dagegen revoltierte. Sinnbild der sexuellen Befreiung war der "Swinging Single", der zwischen 1965 und 1975 die Medien beherrschte. Eine Geschichtsschreibung, die den "Swinging Single" in den Mittelpunkt stellt, steht jedoch bis heute noch aus. In der gegenwärtigen Debatte dominiert dagegen die Kritik an der seriellen Monogamie als Erbe der Single-Kultur.

Die Gegenbewegung zu 1968 als Generationenkonflikt

Die Speerspitze der Gegenbewegung zu 1968 wurde von den 78ern (Reinhard MOHR) der Spätphase der Studentenbewegung bzw. der Alternativbewegung gebildet. Diese Single-Generation musste die "sexuelle Befreiung" nicht selbst erkämpfen, sondern sie fiel ihr zu, aber sie war gleichzeitig die erste Generation, die vor dem Scherbenhaufen der neuen Ansprüche stand.

Dokumente dieser Gegenbewegung sind Jochen SCHIMMANGs "Der schöne Vogel Phönix" und Svende MERIANs "Der Tod des Märchenprinzen". Später speiste sich die Punkbewegung teilweise aus diesen Motiven . Erst mit Michel HOUELLEBECQ kam diese Gegenbewegung im Mainstream der Popliteratur an .

In den Erzählungen der 68er wird dieser Generationenkonflikt als Umschlag von der Politisierung zur Selbstverwirklichung diskreditiert . GREINER erzählt dies als Kontroverse zwischen jenen, die für den Jugendkult der Selbstverwirklichung verantwortlich sind (Er nennt hier die Pazifistin Jutta DITFURTH, die als Befürworterin der Abtreibung erwähnt wird) und jenen, die - wie GREINER - erwachsen geworden sind. Dieses Thema findet sich wieder in der Kontroverse zwischen der Generation Golf, die den Hedonismus der Selbstverwirklicher verkörpert, und der Generation Berlin, die für den Bruch und das Erwachsenwerden steht.

Die Individualisierungsthese als Beschreibungsfolie

Die Folie für die Beschreibung des Umschlagspunktes ist in beiden Fällen die Individualisierungsthese von Ulrich BECK. Sie ist das soziologische Spiegelbild zum polit-ökonomischen Neoliberalismus. Was dieser Neoliberalismus fordert, das erscheint in der Individualisierungsthese als Pflicht des Individuums. BECK beschreibt die freiwillige Unterwerfung der Menschen unter das neoliberale Regime.

Der Single wird in der kulturpessimistischen Variante der Individualisierungsthese zum Sinnbild dieser freiwilligen Unterwerfung, während die Familie zur letzten Bastion gegen den Kapitalismus (HOUELLEBECQ) werden kann . Der Familienmensch wird dadurch zu einem modernen Widerstandskämpfer erhöht, während der Single zum angepassten Widerling avanciert. In dieser populistischen Fassung kann die Individualisierungsthese zu einem Manifest der Anti-Single-Gesellschaft werden.

 
     
 
       
   

weiterführender Link

 
       
     
       
   
 
   

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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 20. November 2001
Update: 24. November 2018