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Am Anfang
steht die Bilanz
Ulrich GREINER, Jahrgang 1945,
beantwortet in weiten Teilen nicht die Frage,
warum wir Kinder wollen, sondern warum Eltern das
Feinbild "Single" benötigen.
Warum wollen wir Kinder?
"Was spricht dafür, Kinder
zu haben? Es beginnt mit schlaflosen
Nächten, weil das Kind im Bett schreit, es
endet mit schlaflosen, weil das Kind nicht im
Bett liegt. Dazwischen ist man ein
Störfaktor, sei es im Restaurant oder in der
U-Bahn oder im Kreis der früheren Freunde,
die abends spontan ins Kino gehen und danach
noch ein bisschen beim Italiener hocken.
Kommt ihr mit? Danke sehr, bitte sehr.
Und während besagte Freunde ihre Kate am
Kanal oder ihr Landhaus am Lago restaurieren,
sitzt der Vater über der Steuererklärung
und wundert sich, dass trotz der Freibeträge
und des Kindergeldes das früher reichliche
Gehalt immer knapper wird (...). Da fängt er
an, bitterlich zu klagen. Diese
Ungerechtigkeit, diese kinderfeindliche
Gesellschaft! Dieses Schweinesystem, das die
Raffer und Egoisten belohnt!
Aber während er sich beschwert (bei wem?),
fallen ihm Studienkollegen ein, bei denen sie
kürzlich zu Gast waren. Die Wohnung ein
Traum, der Teppichboden (creme), die
Ledersessel (aubergine) eine Delikatesse! Je
länger der Abend - sehr gepflegt, Prosecco,
Carpaccio, Espresso und all der Quark -
voranschritt, umso mehr bedauerte er das
kinderlose Paar. Diese sterile Wohnkultur,
diese latente Aggressivität, dieser traurige
Narzissmus waren geradezu beklagenswert. Ein
einziges Schokoladeneis der Kinder, dachte er
fröhlich, und der Teppich ist ein für alle
Mal im Eimer. Sie brachen als Erste auf, weil
die Babysitterin früh zur Schule
musste."
(Ulrich Greiner in der Zeit vom 15.11.2001) |
Formen des
sozialen Vergleichs
Am Anfang steht der
soziale
Vergleich im Bekanntenkreis und danach
der Vergleich mit der eigenen, früheren
Lebensphase und am Ende die Phantasie, dass sich
das Kind für seine Eltern rächt.
Die
eigene Lebensform wird nicht als Gewinn, sondern
als Verlust bilanziert. Der Vater vergleicht
sich nicht mit einem Single, sondern mit einem
kinderlosen Paar - am ärgerlichsten sind deshalb
die verheirateten Paare ohne Kinder. Das dürfte
auch der Normalfall sein, denn man vergleicht
sich mit Menschen in einer ähnlichen
Lebenssituation. In der
sozialpolitischen Debatte ist dagegen nicht das
kinderlose Paar der Hauptgegner, sondern der
Single, d.h. diejenige Gruppe, die den Eltern am
Unähnlichsten ist.
Entscheidender ist jedoch der
Vergleich
mit seiner früheren Lebensphase. Der
Vater erlebt seinen Lebenslauf nicht als
sinnvolle Entwicklung, sondern als
Bruchbiografie. Der Vater hat seine Single-Phase
oder/und Paarphase genossen und erlebt nun das
Elterndasein als Abstieg.
Formen der
Identitätsstabilisierung
Die Lösung dieses Dilemmas kann auf
mehrere Arten geschehen. Zum einen durch die
Abwertung vorangegangener Lebensabschnitte, und
zum anderen durch die Aufwertung der jetzigen
Lebensphase.
Statt frühere
Lebensabschnitte abzuwerten, ist es einfacher
jene abzuwerten, die gerade diese Lebensphase
leben. Der Mechanismus
entspricht im Extremfall dem Konvertiten, wenn
aus einem Saulus ein Paulus wird. Dies führt
dann im Extremfall zu einem missionarischen
Eifer. Jeder Single muss dann bekehrt werden
(siehe hierzu Diane MERTENS "Hört auf
zu nerven!", Brigitte Nr.15 vom 11.07.2001). Der Selbsthass kann
jedoch auch zum Hass auf die unähnlichste Gruppe
werden, d.h. Singles sind die idealen
Sündenböcke für Eltern. Genauso
können eigene, verdrängte Ängste (z.B. nicht
allein sein können) zur Abwertung von Singles
führen.
Die
Rolle der Medien
Die Medien können dies entweder
verstärken oder dem entgegenwirken. Derzeitig
unterstützen die Medien sozialpsychologische
Prozesse, die zur Abwertung und Diskriminierung
von Singles führen. Dabei spielen
soziale Konstruktionen eine herausragende Rolle.
Die
soziale Gruppe "Single" existiert
nicht, sondern ist eine "Erfindung". Transportmittel sind
einerseits Stereotypen wie
"Yettie", "Yuppie" oder
"Swinging Single" und anderseits die
Statistik. Die Sozialforschung
ist neben Marketing und Politik ein Produzent von
sozialen und statistischen Typen. Menschen, die
als Singles wahrgenommen werden, müssen auf
diese Klischees reagieren - ob sie wollen oder
nicht. Stereotypen können integrieren oder
ausgrenzen. Der Singlebegriff dient
mittlerweile der Ausgrenzung.
Die
Aufwertung der Elternrolle
Warum wollen wir Kinder?
"Warum Kinder? Darum. Jedes einzelne
Kind erübrigt die Frage. Dass Dumme ist nur, dass heute
ein jeder für sich die Frage vorher beantworten muss.
Hinterher fragt er nicht mehr, denn das Glück der Kinder
und das Glück, Kinder zu haben, ist evident"
(Ulrich Greiner in der Zeit vom 15.11.2001) |
Ich bin Vater, also muss ich
glücklich sein! Nur durch diese Aufwertung der
Vaterrolle lässt sich die wahrgenommene
finanzielle Einbuße im Lebenslauf ausgleichen.
Glücklich ohne Kind?
"Das letzte Tabu, das man
brechen kann, hat nichts mit Sex zu tun.
Sondern mit dem eigenen Kind, den damit
verknüpften Glückserwartungen".
(Brigitte-Dossier vom 11.07.2001) |
Diese Erkenntnis stammt deshalb auch
nicht von GREINER, sondern aus dem
Brigitte-Dossier Glücklich ohne
Kind?
Die Funktion
von Generationenerzählungen
Die Generationenerzählung ist eine
weitere Möglichkeit der
Identitätsstabilisierung. GREINER ist ein
Angehöriger der 68er-Generation und seine
Erzählung handelt vom Erwachsenwerden dieser
Generation. Das wäre nicht schlimm, wenn GREINER
sie nicht als Gesellschaftsdiagnose verstehen,
sondern als generationentypische Sicht kenntlich
machen würde. GREINERs Beitrag
enthält die 3 typischen Mythen der
68er:
1) Es hat eine sexuelle Befreiung stattgefunden,
die die Gesamtgesellschaft grundlegend verändert
hat.
2) Die Pille war das Herzstück dieser
Veränderung.
3) Mit den 68ern hat die Wahlfreiheit das Licht
der Welt erblickt.
Dahinter verbirgt
sich erstens eine grandiose Selbstüberschätzung
der 68er und zweitens die Verschleierung der
Tatsache, dass die Reichweite der Veränderungen
auf bestimmte Milieus begrenzt blieb, die man
heutzutage abkürzend Neue Mitte nennt. Aber selbst dort
waren die Veränderungen nur scheinbar
tiefer gehend, denn die unbarmherzigste
Gegenbewegung zu 68 entspringt den gleichen
Milieus.
Der Mythos
der sexuellen Befreiung und das Erbe der
seriellen Monogamie
Die sexuelle Befreiung fand
stattdessen in erster Linie in den Medien und in
zweiter Linie im Verstand statt, während das
Herz entweder gar nicht erreicht wurde oder
dagegen revoltierte. Sinnbild der
sexuellen Befreiung war der "Swinging
Single", der zwischen 1965 und 1975
die Medien beherrschte. Eine
Geschichtsschreibung, die den "Swinging
Single" in den Mittelpunkt stellt, steht
jedoch bis heute noch aus. In der gegenwärtigen
Debatte dominiert dagegen die Kritik an
der seriellen Monogamie als Erbe der
Single-Kultur.
Die
Gegenbewegung zu 1968 als Generationenkonflikt
Die Speerspitze der
Gegenbewegung
zu 1968 wurde von den 78ern (Reinhard MOHR) der
Spätphase der Studentenbewegung bzw. der Alternativbewegung
gebildet. Diese
Single-Generation
musste die "sexuelle Befreiung" nicht
selbst erkämpfen, sondern sie fiel ihr zu, aber
sie war gleichzeitig die erste Generation, die
vor dem Scherbenhaufen der neuen Ansprüche
stand.
Dokumente dieser
Gegenbewegung sind Jochen SCHIMMANGs
"Der
schöne Vogel Phönix" und Svende
MERIANs "Der Tod des Märchenprinzen". Später speiste sich die Punkbewegung teilweise
aus diesen Motiven
. Erst mit Michel HOUELLEBECQ
kam diese Gegenbewegung im Mainstream der
Popliteratur
an
.
In den Erzählungen der 68er wird
dieser Generationenkonflikt als Umschlag
von der Politisierung zur Selbstverwirklichung
diskreditiert
. GREINER erzählt
dies als Kontroverse zwischen jenen, die für den
Jugendkult der Selbstverwirklichung
verantwortlich sind (Er nennt hier die Pazifistin
Jutta DITFURTH, die als Befürworterin der
Abtreibung erwähnt wird) und jenen, die - wie
GREINER - erwachsen geworden sind. Dieses Thema findet
sich wieder in der Kontroverse zwischen der
Generation
Golf, die den Hedonismus der
Selbstverwirklicher verkörpert, und der
Generation
Berlin, die für den Bruch und das
Erwachsenwerden steht.
Die
Individualisierungsthese als Beschreibungsfolie
Die Folie für die
Beschreibung des Umschlagspunktes ist in beiden
Fällen die Individualisierungsthese
von Ulrich BECK. Sie ist das
soziologische Spiegelbild zum polit-ökonomischen
Neoliberalismus. Was dieser Neoliberalismus
fordert, das erscheint in der
Individualisierungsthese als Pflicht des
Individuums. BECK beschreibt die
freiwillige
Unterwerfung der Menschen unter das
neoliberale Regime.
Der Single wird in der
kulturpessimistischen
Variante der Individualisierungsthese
zum Sinnbild dieser freiwilligen Unterwerfung,
während die Familie zur letzten Bastion gegen
den Kapitalismus (HOUELLEBECQ) werden kann
. Der
Familienmensch wird dadurch zu einem modernen
Widerstandskämpfer erhöht, während der Single
zum angepassten Widerling avanciert. In dieser
populistischen Fassung kann die
Individualisierungsthese zu einem
Manifest
der Anti-Single-Gesellschaft werden.
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