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Zitate: Von der Neuen
Linken zur Neuen Mitte und der Beitrag der
Individualisierungsdebatte
Jenseits
von Stand und Klasse?
"Die
»(früh)bürgerliche
Individualisierung«,
die im wesentlichen auf Kapitalbesitz und -vermehrung
beruhte (...), ist (...) historisch-systematisch klar zu
unterscheiden von jener in der Bundesrepublik verstärkt
hervortretenden
»Arbeitsmarkt-Individualisierung«,
die die Bedingungen staatlich regulierter Lohnarbeit
voraussetzt".
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(Ulrich Beck 1983, S.45)
Risikogesellschaft
"Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen
Dimensionen der Lebensführung. (...). Individualisierungen
liefern die Menschen an eine Außensteuerung und -standardisierung
aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen
noch nicht kannten.
Diese institutionellen Prägungen des Lebenslauf bedeuten, daß Regelungen im Bildungssystem (...), im Berufssystem
(...) und im System sozialer Sicherungen direkt verzahnt
sind mit Phasen im Lebenslauf der Menschen.
(...).
Mit der Herabsetzung der Pensionsgrenze wird für eine ganze
Generation per Erlaß das
»soziale Alter« erhöht (mit allen damit verbundenen
Problemen und Chancen). Zugleich wird eine Umverteilung von
Arbeitsanteilen auf die nachwachsenden, jungen Generationen
vorgenommen. Gerade Individualisierung bedeutet also:
Institutionalisierung, institutionelle Prägung, und
damit: politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen und
Lebenslagen.
(...).
Der Schlüssel der Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt.
(...). Das Bereitstellen und Vorenthalten von Lehrstellen
wird so zur Frage des Einstiegs oder Ausstiegs in die oder
aus der Gesellschaft. Zugleich können durch konjunkturelle
oder demographische
»Hochs« und »Tiefs« ganze Generationen ins existentielle
Abseits driften. D.h.: institutionenabhängige
Individuallagen lassen gerade entlang von Wirtschafts- und
Arbeitsmarkt-Konjunkturen generationsspezifische
Benachteiligungen bzw. Bevorzugungen in entsprechenden
»Kohortenlagen« entstehen. Diese erscheinen allerdings immer
auch als mangelnde Fürsorge- und Versorgungsleistungen
staatlicher Institutionen, die auf diese Weise unter Druck
geraten, die institutionell vorprogrammierte
Chancenlosigkeit ganzer Generationen, Lebensphasen und
Altersstufen durch rechtliche Regelungen und
sozialstaatliche Umverteilungen zu verhindern bzw. zu
kompensieren."
(Ulrich Beck
1986, S.212ff.)
Die Erfindung des Politischen
"Unter
den wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen des Westens ist (...)
eine »Vollkasko-Individualisierung« entstanden, die hohe
Standards von Wohlstand voraussetzt. Sie beruht im
wesentlichen auf sozialer und beruflicher Sicherheit, setzt
also Erwerbsbeteiligung, Erwerbsarbeit und für diese
wiederum das Durchlaufen von Ausbildungen, Mobilität und
Mobilitätsbereitschaft voraus."
(Ulrich Beck 1993, S.70)
"Es gibt
auch im Individualisierungsprozeß Verlierer und Gewinner,
also Gruppen, die besser, schlechter oder gar nicht in der
Lage sind, Individualisierungen zu verkraften und zu
bewältigen. Im Taxi heult es sich leichter als unter der
Brücke. Geld macht also auch hier den kleinen Unterschied
aus, aber auch sprachliche Kompetenzen, Fähigkeiten, mit
Zweifeln und Widersprüchen umzugehen. M.a.W.: benachteiligte
Gruppen werden durch die Anforderungen, die
Individualisierungsprozesse stellen, noch mehr
benachteiligt. Individualisierung verschärft, mehr noch:
erzeugt selbst eine Dimension sozialer Ungleichheit.
Mit der Individualisierung wächst die Suche und Sucht nach
dem Gegenteil: das neue Wir, Familie, Religiosität, Esoterik
(...). Und doch gilt (...): Es gibt kein Zurück".
(Ulrich Beck 1993, S.74)
"Es ist
sinnvoll, zwischen verschiedenen Kontexten und Formen der
Individualisierung zu unterscheiden. Wir haben es - in
einigen Staaten des Westens, insbesondere in Schweden, der
Schweiz und West-Deutschland - mit einer »Vollkasko-Individualisierung«
zu tun; d.h., hier entstehen Individualisierungsprozesse aus
und im Milieu von Wohlstand und sozialer Sicherheit (nicht
für alle, aber für viele). Dagegen heben sich die
Bedingungen der »Armuts-Individualisierung« ab, die
teilweise schon im Osten Deutschlands, aber vor allem in
ex-kommunistischen Ländern und den Ländern der Dritten Welt
zu Unruhen ganz anderen Ausmaßes führen."
(Ulrich Beck 1993, S.160)
Gehversuche der Toskana-Generation
"Gesucht
wird ein Politikstil, der einem Generationsgefühl des
»Jenseits von« Ausdruck verleiht. Alle Stilvarianten sind
besetzt, erscheinen ausgeleiert - es sei denn, es gelingt
das Vereinen des Unvereinbaren: Lust mit Politik, Spaß mit
Rationalität, Kritik mit Ironie. Politiklust könnte
das Codewort einer Generation werden, für die Konsumismus,
Hedonismus und Auflehnung, Protest sich nicht mehr
ausschließen (...) - was im konventionellen
Politikverständnis als Vermischen und Verwischen der Sphären
des Privaten und Öffentlichen erscheint, könnte sich als die
Geburtswehen eines politischen Hedonismus entpuppen".
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung
vom 09.02.1994)
Eigenes Leben - eigene Armut
"Leben
wir nicht in einem allgemeinen Verteidigungszustand?
Entspricht und entspringt die Rede vom eigenen Leben
vielleicht der Sprache und Sicht der Gewinner, während die
Verlierer noch stumm, gleichwohl mit Gewalt zeugender
Ungeduld unter die Räder geraten? Sind die Gewinner von
heute vielleicht die Verlierer von morgen? Und ist es nicht
diese Angst vor dem Abrutschen, Abstürzen, die selbst die
scheinbaren Gewinner heute schon klammern und zittern läßt?
(...).
Tatsächlich haben wir in der alten Bundesrepublik eine Art
»Vollkasko-Individualisierung« (hoher Wohlstand, hohe
soziale Sicherheit) erfahren, die nun in die Turbolenzen
einer »Zusammenbruchs-Individualisierung«, wie sie die
kollektive Freisetzung aus der staatlich verordneten
Normalbiographie der DDR darstellt, und zu einer
»Armuts-Individualisierung« gerät, die aus der Talfahrt der
Wirtschaft entsteht."
(Ulrich Beck in der taz vom 30.04.1994)
Solidarischer Individualismus
"»Individualisierung« ist zu einem Schlüsselwort der
politischen Auseinandersetzung geworden. An ihm scheiden
sich die Geister. Dies deutet darauf hin, daß sich das
Konfliktgefüge verschiebt. In den Hintergrund treten die
Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital, die Gegensätze
zwischen Klassen allgemein: und quer dazu bildet sich eine
Konfliktlinie heraus: Die Autonomie einer Gesellschaft der
Individuen trifft auf den Widerstand einer in Teilen durch
das Gespenst der Normauflösung verunsicherten und
radikalisierten Mitte."
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung
vom 02.03.1995)
Kinder der Freiheit
"Im Kern
haben wir es nicht mit einem Werte-Verfall, sondern mit
einem Werte-Konflikt zu tun, mit zwei in Stil und Inhalt
verschiedenen Gesellschafts-, Politik- und
Demokratiebildern.
(...).
Die Verantwortlichen müssen sich einen Ruck geben: den
Individualismus nicht länger verteufeln, sondern als ein
wünschenswertes und unvermeidliches Produkt der
demokratischen Entwicklung in Deutschland erkennen.
(...).
Das alte und scheinbar ewige Schema
»mehr Einkommen, mehr Karriere, mehr demonstrativer Konsum«
zerbricht und an seine Stelle tritt eine neue Gewichtung von
Prioritäten, die oft schwer zu enträtseln ist, in der aber
gerade immaterielle Gesichtspunkte der Lebensqualität eine
herausragende Rolle spielen. (...).
Das heißt: der materielle Verteilungskampf, der die
öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit
monopolisiert, wird längst unterlaufen von einem
immateriellen Verteilungskampf um (...) Güter wie Ruhe,
Muße, selbstbestimmtes Engagement, Abenteuerlust, Austausch
mit anderen usw. (...).
Im Zeitalter des eigenen Lebens verändert sich die soziale
Wahrnehmung dessen, was als »Reichtum« gilt und was als
»Armut«, und zwar so radikal, daß unter Umständen weniger
Einkommen und Status, die einhergehen mit mehr
Selbstentfaltungs- und Selbstgestaltungsangeboten, nicht als
Ab-, sondern als Aufstieg erlebt, also gesucht
werden.
Man sollte dies nicht nur bejubeln, denn sicherlich ist dies
der kulturelle Wahrnehmungshintergrund dafür, daß die
dramatische Radikalisierung materieller sozialer
Ungleichheiten - bislang! - ohne einen politischen Aufschrei
hingenommen wird."
(Ulrich Beck 1998, S.16ff.)
Die »Zweite Moderne« - ein Markenartikel?
"In den
Augen Becks war die fordistische Erstmoderne eine
»formierte« und »normierte Gesellschaft«, in der der »fordistische
Arbeitsbürger« für das Linsengericht »steigender Wohlstand«
(...) seine Interessenwahrnehmung an die Großorganisationen
Gewerkschaften und Parteien delegierte, die stellvertretend
für ihn für sichere Arbeitsplätze, höhere Löhne und
sozialstaatlich verbürgte Sicherheit sorgten. »In der alten
Arbeitsgesellschaft« mußte Freiheit gegen Sicherheit
eingetauscht werden (...).
Ein derartiger Blick auf die Nachkriegsgesellschaft mag für
die Restaurationsphase bis Anfang der 60er Jahre zutreffen.
Aber ganz gewiß gilt er nicht mehr für den Mitte der 60er
Jahre öffentlich werdenden kulturellen und politischen
Aufbruch (...). Ohne die seinerzeitige soziale Sicherheit,
die zum ersten Mal in der Geschichte es auch den
lohnabhängigen Jugendlichen erlaubte, andere Lebensformen
auszuprobieren, also reale Freiheit zu praktizieren, was bis
dahin ein Privileg des Bürgertums war, wäre der Aufbruch
überhaupt nicht möglich gewesen. Ausgerechnet dieses
»Goldene Zeitalter« (Hobsbawm 1995), als welches es bis
heute ungebrochen im kollektiven Gedächtnis lebendig ist,
malt Beck in den Grautönen einer autoritären Gesellschaft.
Das Zerbrechen kollektiver Erinnerungen ist der Zweck seines
Gemäldes.
(...).
Beck lokalisiert den autoritären Charakter der Erstmoderne
in ihrer sozialstaatlichen Demokratie. Sie pervertiere (...)
mit ihrer staatlichen Redistribution des gesellschaftlichen
Reichtums die Gleichheit vor dem Gesetz. (...). Sein
Freiheitsbegriff gründet auf allseitiger Unsicherheit und
Vereinzelung. Für ihn beginnt Freiheit, wenn der
Arbeitsplatz unsicher ist, sich zwischen den Einkommen eine
Schere auftut, sozialstaatliche Sicherung von individueller
Vorsorge abgelöst wird, die kollektiven Organisationen
ohnmächtig sind. Für die Herstellung eines derart
atomisierten Individuums müssen in letzter Konsequenz alle
Institutionen des Sozialstaates (...) entweder abgeschafft
oder entmachtet werden. (...). Der vereinzelte Einzelne und
nur er soll für sein gesellschaftliches Schicksal
verantwortlich sein."
(Volker Stork 2001, S.62ff.)
Gemeinsam sind wir umwerfend
"Nachdem
die Arbeiterklasse Anfang der Siebziger unseren Aufrufen
nicht gefolgt war und die Revolution deswegen erst mal
verschoben werden musste, betraten wir einen selbst
gemachten - quasi dritten Weg zwischen Pest- und Rostzone.
(...)
Manches löste sich in Rausch auf. (...). Manche zogen in die
Parlamente und wirkten auf die da ansässigen Räuber zunächst
noch schockierend. Heute bestrafen sie die Arbeiter, die uns
nicht gefolgt sind, mit der Kürzung von Sozialleistung und
Sterbegeld. Ätsch!"
(Arnulf Rating in der Welt vom 19.09.2003)
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Der Terror der Individualisierungsthese
Der Soziologe Ulrich BECK
hat mit der Individualisierungsthese das mittlerweile
erfolgreichste Enttäuschungsprodukt der Neuen Linke bereits
Anfang der 1980er Jahre auf den Markt der Theorien geworfen.
Damals musste sich
die Linke erklären, warum die Arbeiterschaft an den Ideen der
Alt-Linken keinerlei Interesse hatte. Der Wandel der
Arbeitswelt, die Auflösung der traditionellen Milieus der
Arbeiterschaft, der geringere Stellenwert der Arbeit in der
Freizeitgesellschaft sind nur einige Aspekte dieser Sichtweise,
die inzwischen zum unhinterfragten Selbstverständnis der Neuen
Mitte geworden ist.
Die Erfindung der Problemdefinition
Mit dem Schlagwort
"Individualisierung" erfand sich die Neue Linke eine
Problemdefinition, die sich im Laufe der Zeit als
ausgesprochen ausbaufähig erwies:
Jenseits
von Stand und Klasse?
"Je nachhaltiger durch
eine kollektive Anhebung des Lebensstandards, durch
gewerkschaftliche Interessenvertretung, durch sozialstaatliche
Sicherungen, Verrechtlichungen usw. einer Klassenformierung
durch Verelendung entgegengewirkt wird, und je nachhaltiger
die Menschen aus den traditionalen Bindungen, Orientierungen
und Verkehrsformen ihres Herkunftsmilieus durch
verschiedenartige Mobilitätsprozesse, durch Vermehrung von
Bildungschancen, durch die Ausdehnung von
Konkurrenzbeziehungen usw. herausgelöst werden, desto
deutlicher können Individualisierungstendenzen ihre
Wirksamkeit entfalten - und umgekehrt: überall dort, wo sich
neue Ansatzpunkt für Klassenformierungen bilden
(Arbeitslosigkeit etc.), wo »ständisch« eingefärbte
Traditionen sich eher durchhalten können (z.B. im ländlichen
und kleinstädtischen Milieu) oder neue ungleichheitsrelevante
soziokulturelle Gemeinsamkeiten entstehen, werden
Individualisierungstendenzen relativiert bzw. treten von
vornherein gar nicht erst in Erscheinung."
(Ulrich Beck 1983, S.52)
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Die Individualisierung
erscheint in der Sicht von Ulrich BECK als sehr ambivalent,
worauf er am Schluss des Aufsatzes von 1983 verweist:
Jenseits
von Stand und Klasse?
"Gelingt es, an die
Ansprüche und Verheißungen des in Gang gekommenen
Individualisierungsprozesses anzuknüpfen und jenseits von
Stand und Klasse Individuen und Gruppe in neuer Weise als
selbstbewußte Subjekte ihrer persönlichen, sozialen und
politischen Angelegenheiten zusammenzufassen? Oder werden im
Zuge von Individualisierungsprozessen die letzten Bastionen
sozialen und politischen Handelns weggeschmolzen, und die sich
individualisierende Gesellschaft versinkt an der Grenze
zwischen Krise und Krankheit in politische Apathie, die nichts
ausschließt (...)?"
(Ulrich Beck 1983, S.70)
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Der Führungsanspruch der Neuen Linke und
ihre Aufgabe
In einem fast
gleichlautenden Artikel (nur das Fragezeichen fehlt!) in der
Zeitschrift Merkur
(1984) führt BECK die Konsequenzen der Individualisierung anhand
dreier zukünftiger Szenarien auf. Das Szenario der
Entstehung nichtständiger Klassensolidaritäten kann als
positive Utopie gelesen werden. Ganz im Sinne von BECK lautet
diese, dass die Herauslösung der Klassen aus ständischen
Fixierungen der Anfang einer neuen Form der Klassenbildung ist.
Die Generalisierung
der Klassensolidarität auf alle gesellschaftliche Gruppen unter
Führung der Neuen Linken wäre dann als Programm der
gesellschaftlichen Veränderung anzusehen. Im Szenario Vom
familialen zum politischen Privatismus beschreibt BECK den
Wandel des Wertesystems und seine Folgen:
Jenseits
von Stand und Klasse
"Die politische Macht
der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung beruht auf dem im
Streik organisierten Vorenthalten der Arbeitsleistung. Das
politische Potential der sich entfaltenden Privatsphäre liegt
demgegenüber in der Wahrnehmung von
Selbstgestaltungsmöglichkeiten, darin, tiefsitzende kulturelle
Selbstverständlichkeiten durch die direkte Tat des
Andersmachens zu verletzen und zu überwinden."
(aus: Merkur 1984, S.495)
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Mit der Individualisierung
soll also eine Stärkung der Neuen Sozialen Bewegungen (NSG) und
eine Schwächung der alten Arbeiterbewegung einhergehen.
Die Gefährdungen des Führungsanspruchs der
Neuen Linke in der individualisierten Gesellschaft
Im letzten Szenario der
»Gesellschaft der Unselbständigen« werden dagegen die Gefahren
beschrieben, denen sich die Neuen Sozialen Bewegungen
gegenübersehen:
Jenseits
von Stand und Klasse
"Ungleichheiten werden
keineswegs beseitigt, sondern nur umdefiniert in eine
Individualisierung sozialer Risiken. In der Konsequenz
schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar um in
psychische Dispositionen: in persönliches Ungenügen,
Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht -
paradox genug - eine neue Unmittelbarkeit von
Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und
Krankheit in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als
individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr
vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.
(aus: Merkur 1984, S.496)
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Hier wird bereits der
zentrale Konflikt zwischen den sich politisch verstehenden NSB
und der privatistischen, hedonistischen Linke und der
unpolitischen Generation Golf deutlich:
Jenseits
von Stand und Klasse
"Lohnarbeiterrisiken
schaffen (...) aus sich heraus keine Gemeinsamkeiten. Sie
erfordern zu ihrer Bewältigung sozialpolitische und rechtliche
Maßnahmen, die ihrerseits Individualisierungen sozialer
Ansprüche bewirken, und müssen in ihrer Kollektivität
überhaupt erst erkennbar gemacht werden - und zwar im Gegenzug
gegen individuelle-therapeutische Behandlungsformen. So
geraten (...) politische Wahrnehmungs- und Bearbeitungsformen in
Konkurrenz zu individualisierenden rechtlichen, medizinischen
und psychotherapeutischen Betreuungen und Kompensationen, die
unter Umständen sehr viel konkreter und für die Betroffenen
evidenter die entstandenen Zerstörungen und Belastungen zu
bewältigen vermögen."
(aus: Merkur 1984, S.493)
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Den Primat der Politik
sieht BECK also gefährdet durch die Konkurrenz nicht-politischer
Strategien. Um die Individualisierungsthese versammelte sich
während der Ära Kohl jene Linke, die als Neue Mitte an die Macht
kommen sollte.
Das Wissenschaftliche ist politisch: die
allseitige Anschlussfähigkeit der Individualisierungsthese
Das Private ist politisch
war das Credo der Neuen Sozialen Bewegungen und in der
Individualisierungsthese wurde das Wissenschaftliche politisch. Ulrich BECKs Ansatz
ist jedoch nicht nur bei der Neuen Linke anschlussfähig gewesen,
sondern bediente auch die Ressentiments konservativer
Kulturpessimisten. Individualisierung wurde hier als Tendenz zu
Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Narzissmus usw. kritisiert. Individualisierung
war außerdem die exakte Beschreibung dessen, was der
Neoliberalismus von den Menschen erwartete.
Der unaufhaltsame Aufstieg der
Individualisierungsthese in der Sozial- und Familienpolitik
Der enorme Erfolg verdankt
sich ausgerechnet den familien- und sozialpolitischen Aussagen,
die im Laufe der 1980er Jahre in den Vordergrund rückten. Den Durchbruch
erzielte Ulrich BECK zum einen mit dem Bestseller Das ganz
normale Chaos der Liebe (1990)
und andererseits mit seinem provokanten Auftritt auf dem
Deutschen Soziologentag 1990:
Der
Konflikt der zwei Modernen
"Da gibt es
schockierende Entwicklungen: Wilde Ehen, Ehen ohne Trauschein,
Zunahme der Einpersonenhaushalte im Quadrat, alleinerziehende,
alleinnachziehende, alleinherumirrende Elternteile.
(...).
Was muß denn noch geschehen, damit die empirische Soziologie
überhaupt die Möglichkeit einer Begriffsreform ihres
Forschungsfeldes auch nur in Erwägung zieht? Ich bin sicher,
daß auch dann, wenn 70 % der Haushalte in Großstädten
Einpersonenhaushalte sind (und das ist nicht mehr lange hin),
unsere tapfere Familiensoziologie mit Millionen Daten beweisen
wird, daß diese 70 % nur deshalb allein leben, weil sie vorher
und nachher in Kleinfamilien leben."
[mehr]
(Ulrich Beck 1991)
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Während BECKS
Dramatisierungen in Fachkreisen anfangs heftig widersprochen
wurde und im Laufe der Zeit die Individualisierungsthese in
wesentlichen Teilen empirisch widerlegt wurde, erfreute sich der
Ansatz in der politischen Öffentlichkeit weiterhin zunehmender
Beliebtheit.
Familienrhetorik und der Kulturkampf
um die Familie
BECKs Thesen dienten in
der politischen Öffentlichkeit einerseits zur Rechtfertigung
familienpolitischer Maßnahmen und andererseits zur
Rechtfertigung des "familienfreundlichen" Umbaus des Sozialstaats. 1994 spielte die
Familienpolitik bereits eine große Rolle im
Bundestagswahlkampf. Vorbild war der Präsidentenwahlkampf von
Bill CLINTON, dessen familienpolitischen Offensive zu seinem Wahlsieg
im Jahr 1992 beitrug.
In Arlene SKOLNICKs
Buch The embattled Paradise (1991) wird der amerikanische
Kulturkampf um die amerikanische Familie ausführlich
beschrieben
.
Der Konstanzer
Familienforscher Kurt LÜSCHER hat diesen Kulturkampf um das
Familienbild mit dem Begriff "Familienrhetorik"
bezeichnet. Zum US-Wahlkampf schreiben Karl LENZ und Lothar BÖNISCH:
Zugänge zu
Familien - ein Grundlagentext
"Die Debatte über »Family
values« im amerikanischen Präsidentenwahlkampf 1992 hat
gezeigt, daß Familienbilder für die politische Kontroverse
instrumentalisierbar sind. Familienrhetorik oder
Familienbilder sind überhaupt für den Begründungszusammenhang
von Familienpolitik und Familienrecht von enormer Bedeutung.
Nach wie vor läßt sich feststellen, daß familienpolitische
Maßnahmen (...) weiterhin vielfach am bürgerlichen
Familienideal ausgerichtet sind."
(aus: Karl Lenz & Lothar Bönisch " Familien. Eine
interdisziplinäre Einführung, Weinheim & München: Juventa Velag
1997, S.27)
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Der statistische Ringkampf
um die Familie wird auch in Deutschland hartnäckig geführt, wie
ein Zeitungsartikel von Ulrich BECK beweist:
Phänomen
mit Überlebenschancen
"Gleicht die
Familienstatistik einem Selbstbedienungsladen, in dem jeder
sich nach Wunsch und Laune herausgreifen kann, was ihm in den
Kram paßt? Zunächst: Hier geht eine lang gehegte Auffassung zu
Bruch - Zahlen sind nicht wertneutral. Sie saugen vielmehr wie
Schwämme Wertungen auf. Sie taugen vorzüglich zur Wertung,
gerade weil sie diese in pure Sachlichkeit auflösen. Dann: Der
Konflikt um Familie ist ein Stellvertreterkonflikt. Hier wird
so manches Süppchen mitgekocht."
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom
13.01.1994)
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Demographische Rhetorik
Unter dem Stichwort
Demographische Rhetorik analysiert Kurt LÜSCHER den statistischen Ringkampf um die
Familie in dem Beitrag Was heißt heute Familie? in dem
Sammelband Familie der Zukunft, herausgegeben von
GERHARDT/HRADIL/LUCKE/NAUCK aus dem Jahr 1995:
Was heißt
heute Familie?
"Wichtige Techniken
dieser demographischen (und demoskopischen) Rhetorik, welche
die Argumentation prägen, sind in diesem Zusammenhang:
- Die Wahl der
Bezugsgröße: Wird jede dritte Ehe geschieden - wie dies die
zusammengefaßte Scheidungsziffer nahelegt - oder sind es 80
von 10.000 bestehenden Ehen?
- Der Perspektivwechsel: Sind 34 %, also ein Drittel der
privaten Haushalte Einpersonenhaushalte - oder leben 15 % der
Personen allein?
- Der Schluß vom Querschnitt auf den Lebensverlauf: Wird die
Bundesrepublik zu einem »Land der Einzelkinder«, wie aus den
Angaben des Mikrozensus 1992 geschlossen wird, wonach mehr als
die Hälfte der Kinder ohne Geschwister aufwächst (FR 5.1.94,
S.30) - oder sind es höchstens ein Drittel der Kinder (wie
Schwarz gestützt auf die Kinderzahlen der Frauen
schätzt)."
(aus: Familie der Zukunft 1995, S.58f.)
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Die politische Konstruktion der
Single-Gesellschaft
Die
Individualisierungsthese hat massiv dazu beigetragen, dass
unsere Gesellschaft als
Single-Gesellschaft wahrgenommen wird.
Die Kategorie Single beinhaltet
in dieser Sicht alle Lebensformen jenseits der
Haushaltsfamilie, die damit zum impliziten Ideal erhoben wird.
Alle Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die den
Haushaltskontext überschreiten, werden damit ignoriert bzw. als
irrelevant eingestuft. Zahlreiche empirischen Studien, die
Familien als Netzwerk begreifen, haben dagegen mittlerweile die
haushalts- und generationenübergreifende Solidarität belegt.
Der Familienfundamentalismus als
Folge des Terrors der Individualisierungsthese
Die Reduzierung des
Familienbegriffs auf den Familienhaushalt erzeugt erst jenes Zerrbild der Gegenwartsfamilie,
auf das sowohl rechte und konservative Kulturkritiker als
auch linke Familiengegner und neoliberale Sozialstaatsgegner
verweisen können, um ihre - durchaus unterschiedlichen -
Interessen zu verfolgen (siehe hierzu auch weiterführend die
Ausführungen zum Familiensektor
). Die
Individualisierungsdebatte, die Ulrich BECK angestoßen hat, hat
damit entscheidenden Anteil am wieder entstandenen
Familienfundamentalismus. Singles werden in der entbrannten
Kontroverse Familien contra Singles zu Sündenböcken für eine
unerwünschte gesellschaftliche Entwicklung.
Der Soziologe
Günter BURKART beschreibt die familienfundamentalistische
Perspektive, die er als Familialismus bezeichnet, Anfang der
1990er Jahre folgendermaßen:
Individualismus und Familialismus
"In den
Jahren nach der Niederlage von 1871 gab es in Frankreich
eine regelrechte Hetzkampagne gegen die Unverheirateten, die
Feinde der Familie.
(...).
Seither lassen sich pro- und antifamilialistische Zyklen
erkennen. (...). Typisch in diesem Sinn war auch der
deutsche Familialismus der fünfziger Jahre. Die
antifamilialistische Gegenwelle der sechziger Jahre fiel in
eine Phase wirtschaftlicher Prosperität. Diese
Familienkritik hat, wie wir wissen, noch nicht den
ideologischen Sieg des Individualismus gebracht, da die
Linke damals noch kollektivistische Alternativen vor Augen
hatte. Erst in den achtziger Jahren schaffte er mit der von
Ulrich Beck initiierten Individualisierungsdiskussion den
endgültigen Durchbruch.
(...).
Mein Hauptargument gegen den Universalitätsanspruch der
Individualisierungstheorie ist: Diese Theorie gilt nur für
bestimmte Milieus. In anderen Milieus ist der Familiensinn
noch weitgehend stabil. (...). Aber selbst in den
individualisierten Milieus gibt es noch heftige Kämpfe
zwischen Familialismus und Individualismus. Das zeigt sich
besonders dann, wenn es ernst wird: in der Frage der
Elternschaft. Es offenbart sich ein latenter Familialismus
im individualisierten Milieu.
(...).
Neben der »Geräuschkulisse des Geschlechterkonfliktes«
(Beck/Beck-Gernsheim) könnte der Kampf zwischen
Individualismus und Familiensinn die nächsten Jahre
beherrschen. Und dabei, so meine ich, ist noch nicht
ausgemacht, wer dabei David und wer Goliath ist".
(aus: Die Modernisierung moderner Gesellschaften 1991) |
Zehn Jahre später muss
diese Sicht radikal revidiert werden.
Der Individualismus
schaffte nicht mit BECK den Durchbruch, sondern BECK verhalf dem
Familienfundamentalismus in den 1990er Jahren zum Durchbruch.
Die Anfänge des neuen Familienfundamentalismus
Dieser Durchbruch wurde
bereits Ende der 1980er Jahre vorbereitet, wie aus Kurt LÜSCHERs
kurzem Abriss der medialen Debatte hervorgeht:
Was heißt
heute Familie?
"In den 80er Jahren konnte
man dann im Zeit-Magazin (27.5.1988) nachlesen: »Das goldene
Zeitalter der Klein-Familie läuft ab. Und wenn es so weiter
geht, gerät sie auf die rote Liste der Arten... Zunehmen werden,
so die Prognosen, alle Formen von Beziehungsexperimenten, egal
ob es sich um matriarchalische Brutgemeinschaften oder um
Väter-Nistkommunen handelt. Auch das come back des Heiratens und
das Gründen traditioneller Familien gehören dazu - doch sollen
selbst die so wenig von Dauer sein wie die Wohngemeinschaft oder
die wilde Ehe« - Doch ungefähr zur gleichen Zeit bekannte ein
Kommunarde nach seiner Konversion zum »neuen Vater« in der
Alternativzeitschrift »Tempo«: »Man hat uns gesagt, Familie sei
schlecht, man hat uns gesagt, die Familie zerstöre die
Persönlichkeit. Man hat uns belogen. Die Familie ist immer noch
die beste aller möglichen Lebensformen. Sie allein vermittelt
Liebe, Glück und Geborgenheit.« - Zu einem Abdruck im
Informationsbulletin des Familienbundes deutscher Katholiken
(August 1988: 85-88) lautete der redaktionelle Kommentar: »Es
bedarf einer Normsetzung, die eine Orientierung auf das
Wünschenswerte hin bietet. Und die Normsetzung ist stets die
manchmal mit zynischem Unterton so benannte 'Standard-Familie'.«
Damit ist bereits angedeutet, was den Diskurs über Familie
charakterisiert und den Nährboden der aktuellen Familienrhetorik
bildet, nämlich der Gegensatz zwischen der Vorstellung eines
traditionellen, sich letztlich immer wieder durchsetzenden
Familienmodells und jener einer radikalen Offenheit in der
Umschreibung von Familie sowie die Betonung der moralischen und
ethischen Bedeutung der Familie für die Entwicklung des
einzelnen und der Gesellschaft".
(aus: Familie der Zukunft 1995, S.51)
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Das Zeitgeistmagazin
Tempo war in den 1980er Jahren das Publikationsorgan der
späteren Popliteraten und zusammen mit dem Wiener
einflussreichstes Magazin, mit dem die heranwachsende Generation Golf sozialisiert wurde. Was mittlerweile
auch von der Lifestyle-Soziologie à la HRADIL bestätigt und als Wandel des Wertewandels bezeichnet wird, hat dort seinen
Ursprung
.
Die Verlierer im Zeitalter des
Familienfundamentalismus
Verlierer in diesem
Machtspiel sind jene Singles, die in diesem Kulturkampf keinen
Anwalt und keine ausreichenden Ressourcen besitzen: gering
verdienende und nicht-vermögende Elternlose, Partnerlose,
Kinderlose, allein wohnende partnerlose Alleinerziehende sowie
ältere Alleinlebende mit geringen Renten.
Im Kulturkampf
der Eliten um die hegemoniale Familienform stehen sich die
Verfechter der Managerehe und die Befürworter der
Dual-Career-Familie scheinbar unversöhnlich gegenüber. Ein
Bündnis von Alter Mitte und Neuer Mitte könnte jedoch sehr
schnell zu Lasten der übrigen gehen.
Besitzstandwahrung und
Individualisierungsthese
Hinsichtlich des Umbaus
des Sozialstaats ist die Individualisierungsthese mittlerweile
zum Instrument der Besitzstandswahrer aus der 68er-Generation
geworden
.
Die Behauptung
einer Generalisierung der Individualisierung, die von
Ulrich BECK in der griffigen Formel von der vollmobilen
Single-Gesellschaft beschworen wurde, wird dabei als
unausweichliche Zunahme der lebenslang Kinderlosen
fehl interpretiert. Hardliner wie der
Neoliberale Meinhard MIEGEL sehen im Individualisierungsprozess
die Selbstzerstörung des Westens. Aber auch eine
"nationalistische" Linke ist an der Beschleunigung der Debatte
um Bevölkerungspolitik interessiert und malt Untergangszenarien
gemäß dem Motto "Sozialismus oder Barbarei" an die Wand.
Manfred SOHN hat in einer Artikelserie der jungen Welt vom Juni 2001
und Februar 2003 die
Hoffnungen dieser Linken, die an die Demografiedebatte geknüpft
sind, folgendermaßen zusammengefasst:
Immer
tiefer ins demographische Loch
"Das Demographieproblem
(...) öffnet gleichzeitig in aller Schärfe zwei Türen: Eine
zurück in einen reaktionär-religiösen Kapitalismus und eine nach
vorn für einen zweiten großen Anlauf zum Sozialismus, der Leben
und Arbeit vereinbar macht."
(18.02.2003)
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Die blinden Flecken der
sozialpopulistischen Individualisierungsdebatte
Der Terror der
Individualisierungsthese besteht darin, dass der Anstieg der
Einpersonenhaushalte (Singles) inzwischen auf ein Schlagwort wie
Individualisierung reduziert wird, obwohl der Anstieg auf ganz
unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden muss.
Es wird behauptet,
dass ein familienfreundlicher Umbau des Arbeitsmarkts und des
Sozialstaats, den Trend zur Single-Gesellschaft stoppen würde
und dadurch eine verantwortungsvolle Familiengesellschaft
entsteht.
Dieser Kurzschluss
entsteht dadurch, dass die Single-Gesellschaft als
Mentalitätsproblem beschrieben wird, und nicht als
Strukturproblem erscheint. Dies ist nicht im vollem Unfang
Ulrich BECK anzulasten, aber er hat auch nicht unbedingt
gegengesteuert:
Die
"Individualisierungsdebatte"
"Die
meisten Rechte sind individuelle Rechte. Nicht Familien
können sie in Anspruch nehmen, sondern eben nur Individuen,
genauer: erwerbstätige (oder zur Erwerbsarbeit bereite,
arbeitslose) Individuen. Die Teilnahme an materiellen
Sicherungen und Wohltaten des Sozialstaates setzt in den
allermeisten Fällen Erwerbstätigkeit voraus. Das bestätigt
u.a. den Streit um die Ausnahmen: Hausarbeitslohn,
Hausfrauenrente.
(...).
Der Sozialstaat ist - vielleicht wider Willen - eine
Versuchsanordnung zur Konditionierung ichbezogener
Lebensweisen. Und man mag das Gemeinwohl mit einer
Pflichtimpfung in die Herzen der Menschen spritzen, diese
Litanei der verloren gegangenen Gemeinsamkeit bleibt
doppelzüngig, doppelmoralisch, solange die »Mechanik« der
Individualisierung intakt bleibt, und niemand sie wirklich
in Frage stellt - dies weder will noch kann."
(aus: Soziologie in Deutschland 1995, S.192f)
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Hat Ulrich BECK in den
1980er Jahren noch wertneutral von der
Arbeitsmarkt-Individualisierung (1983) gesprochen, so ist er
in den 1990er Jahren dazu übergegangen, den Sozialstaat als
Ursache der Vollkasko-Individualisierung (1993) zu
diffamieren. Die
Vollkasko-Mentalität ist wiederum ein zentrales Schlagwort
jener Neoliberalen, denen der Sozialstaat schon immer ein Dorn
im Auge war. Selbst die soziologische Arrièregarde der
Lifestyle-Soziologie muss nun bekennen:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Im Unterschied zu manchen
Prognosen ist die »Singlequote« seid Mitte der 90er Jahre in
Westdeutschland nicht mehr gestiegen. So betrug der
Bevölkerungsanteil der allein lebenden 25- bis unter 55-jährigen
in den 80ern und den frühen 90er Jahren stets gut 8 % seither
liegt er bei 7 % (Allbus 1980 - 2000)."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.41)
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HRADIL verweist bei den
Bestimmungsgründen des Anstiegs der Einpersonenhaushalte auf
strukturelle Ursachen wie Bevölkerungsstruktur, Scheidungen,
berufliche Mobilitätszwänge und verbesserte Wohnverhältnisse.
Die Konsequenzen
der Differenz zwischen Fremdwahrnehmung und Single-Alltag
beschreibt HRADIL lapidar:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Der Konflikt zwischen
weitgehend unveränderten Bestimmungsgründen, die in und durch
das Single-Leben führen, auf der einen Seite und veränderten
Bewertungen auf der anderen Seite verschafft Singles in Zukunft
wohl manche (zusätzlichen) Probleme."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.39)
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Zum unverhältnismäßig
hohen Interesse der Öffentlichkeit an den Singles schreibt HRADIL:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Wieso werden Singles so
zwiespältig wahrgenommen und warum kommt ihnen eine so
weitreichende normative Ausstrahlung zu? - Im folgenden Beitrag
wird argumentiert, dass Singles häufig Projektionsfiguren für
die Befürchtungen und Hoffnungen von Nicht-Singles sind. Die
Bewertung von Singles reflektiert so hauptsächlich, wie
Nicht-Singles ihre eigene Situation beurteilen, sei es die
aktuelle oder die künftige. Singles verraten daher viel über die
Werthaltungen anderer und über die durch diese Brille
wahrgenommenen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.39)
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Diese Einschätzung wurde
bereits im Beitrag Feindbild Single als Identitätsstabilisator
für unzufriedene Eltern im November 2001 auf single-generation.de dargelegt
.
Man muss HRADIL
jedoch vorwerfen, dass er weder das Phänomen der
Langlebigkeit noch die sozialpopulistische Debatte im
Zuge der Sozialstaatsreform ausreichend berücksichtigt.
Hinzu kommt, dass
seine empirischen Daten zur Lebenslage der Singles angesichts
der Wirtschaftsentwicklung völlig veraltet erscheinen.
Wer im Jahre 2002
noch mit Daten aus dem New Economy Boom-Jahr 2000/2001 hantiert
und die dramatischen Einbrüche am Arbeitsmarkt
unberücksichtigt lässt, der muss sich sagen lassen, er immer
noch ,eilenweit von der gesellschaftlichen gegenwärtigen
Realität der Singles entfernt ist. Da hilft auch keine Ausrede
wie:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Nun haben
Alltagsbeobachtungen und künstlerische Hervorbringungen zwar
ihre Vorzüge. Sie können uns zum Beispiel früh auf wichtige
Entwicklungen hinweisen. Aber als wissenschaftliche Nachweise
sind sie mit Recht abzulehnen. Sie sind unkontrollierbar."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.417
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Das ist die Rechtfertigung
für den soziologischen Tiefschlaf, der Probleme erst dann
aufgreift, wenn sie partout nicht mehr zu ignorieren sind.
Ganz im Gegensatz
zu Ulrich BECK, der mit massenwirksamen Veröffentlichungen
Fakten schafft, die über den Umweg der Medien auch zwangsweise
die Soziologie beschäftigen müssen, ob sie nun empirisch richtig
oder falsch sind.
Exkurs: Alles nur gelogen?
So mancher wird sich im
Laufe des Essays ungerechtfertigt beschuldigt sehen. Darf der
das? Neue Linke, Neue Soziale Bewegungen, Neue Mitte,
Neoliberale, Konservative usw. alle in einen Sack stecken und
drauflos prügeln? Hat etwa Ulrich BECK das familien- und
sozialpolitische Parteiprogramm von Rot-Grün verfasst?
.
Darauf lässt sich
ganz entschieden antworten. Ulrich BECK muss gar nicht selbst
schreiben. Seine Verschlagwortung des Problemfeldes ist
mittlerweile unhinterfragter Grundkonsens in Deutschland.
Wer sich mit
Singles beschäftigt, der kommt an den Thesen von Ulrich BECK
nicht vorbei. 20 Jahre Individualisierungsthese haben den
öffentlichen Diskurs so verpestet, dass andere Sichtweisen gar
nicht mehr wahrgenommen werden. Dadurch, dass
Ulrich BECK seine Thesen immer tagesaktuell - gewissermaßen ganz
in der Tradition des Situationismus - angepasst hat, ist immer
auch das Gegenteil vom Gesagten wahr.
Im Dunst des
Sowohl-als-auch-Parlando ist Individualisierung allgegenwärtig.
HRADIL schreibt deshalb:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Es gibt Dutzende von
soziologischen Bestimmungen des Begriffs »Single«. Sie
unterscheiden sich krass (...). Auch die alltagssprachlich
vorherrschenden Semantiken des Begriffs »Single« gehen - soweit
sie überhaupt klar erkennbare Inhalte besitzen - weit
auseinander (...). Nach den Ergebnissen des Mikrozensus lebten
2001 in Deutschland 13,5 Mio. Menschen in Einpersonenhaushalten.
Sie alle als »Singles« zu bezeichnen, kann zwar niemandem
verwert werden und geschieht in der Presse zuweilen, entspricht
jedoch weder dem Alltagsgebrauch noch den meisten soziologischen
Zielsetzungen. 78-jährige Witwen und 21-jährige Studenten werden
üblicherweise nicht »Singles« genannt."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.40)
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Fakt ist: wenn Soziologen
ihren Gegenstand nicht benennen können und die Medien die
heterogene Kategorie »Single« demagogisch für politische
Zielsetzungen missbrauchen. Wenn also die Meinungsführer ganz
gezielt zu verzerrenden Vereinfachungen greifen, so ist es
gezwungenermaßen hier auch notwendig, dass diejenigen, die
Singles missbrauchen in einen Topf geworfen werden.
Die Prämissen der
Individualisierungsthese und ihre Konsequenzen sind für Singles
derart folgenreich, dass gewisse Grobheiten durchaus notwendig
sind, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Bei aller
Vereinfachung wurde jedoch nahe am Text argumentiert, d.h. jeder
kann selbst nachforschen.
Fazit: 20 Jahre Individualisierungsdebatte und
die Konsequenzen für Singles
Die
gegenwärtige sozialpopulistische Debatte wäre ohne die
Individualisierungsthese von Ulrich BECK in dieser Form nie
geführt worden.
Das Familienbild
und die damit verbundene Wahrnehmung der Gesellschaft als
Single-Gesellschaft hat einen Familienfundamentalismus
ins Leben gerufen, mit dem sich die Singles konfrontiert sehen.
Zusätzlich zu
ihren alltäglichen Problem, die sich aus ihrer
Lebenssituation ergeben, sind sie gezwungen auf die
Fremdzuschreibungen zu reagieren.
Sie sind - als
Minderheit und ohne politische Vertretung - medialen Stereotypen
und wissenschaftlichen Typenbildungen ausgeliefert:
Vom
Leitbild zum "Leidbild"
"Die
Abwertungen reichen vom Single als mitleiderregender Gestalt bis
hin zum Single als sozial schädlicher Figur. Bestenfalls werden
Singles noch als einsame Defizitwesen bemitleidigt, denen
mindestens der Partner fehlt. Schlimmstenfalls werden sie als
»Sozialschmarotzer« abqualifiziert: zu egoistisch, um Kinder zu
erziehen und sich am Generationenvertrag zu beteiligen, zu
narzisstisch, um beziehungsfähig zu sein, ein schlechtes Vorbild
also."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 1, 2003, S.44f)
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Die
bevorstehenden Reformen sehen einschneidende Verschlechterungen
für Singles vor. In der
Vergangenheit waren Singles nur eine zugeschriebene Kategorie,
die in der Selbstwahrnehmung kein Gemeinschaftsgefühl oder
Verbundenheit mit anderen Singles geschaffen hat. Single waren
immer die anderen.
Dies könnte sich in
Zukunft ändern. Forderungen nach einem Familienwahlrecht,
Rente nach Kinderzahl usw. könnten die politische
Organisation der Singles erfordern.
Andere Länder sind
in der Organisation von Singleinteressen wesentlich
weiter vorangeschritten.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
Die Rede von der "Single-Gesellschaft"
rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die
zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich
schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die
zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden,
entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige
Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch
leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen
Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen
Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen
Modernisierungsverlierer." |
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