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Brennpunkte der Single-Debatte

 
       
   

Dienstleistungsmetropole Berlin

 
       
   

Die Hauptstadt der Singles? Von der 68er Generation über die Generation Berlin zur Generation Angst

 
       
     
       
   
     
 

Berlin in Zitaten

1927

"Als das Statistische Reichsamt im Jahre 1927 eine reichsweite Wohnungszählung durchführte, betrug der Anteil der von Ledigen bewohnten Einpersonenhaushalte in den Großstädten bereits 37,5 %, in Berlin sogar 41,2 %. Damit erreichte die Reichshauptstadt schon in der Zwischenkriegszeit  Werte, die in der Bundesrepublik in den 90er Jahren Gültigkeit hat. Rund 70 % dieser Ledigen-Haushalte entfielen auf Frauen."
(aus: Peter Borscheid "Von Jungfern, Hagestolzen und Singles", 1994, S.46f.)

1968

"Ich erfuhr und lebte, indem ich las, gleichzeitig ein ganz anderes Jahr 1968 als das, in das ich täglich eingespannt war. Es war ein Jahr, das sich in demselben Staat ereignete, der mich zum Militärdienst eingezogen hatte, und doch waren die Wellen, die diese Ereignisse schlugen, immer schon lange verebbt, ehe sie den Jadebusen erreicht hatten. Nur Zeitungen und Bücher berichteten davon und die Briefe, die mir der Pinguin aus Berlin schrieb. Die Identität, die das Lesen war, war eine unruhige Identität. Ich war dabei, bei dem was passierte, aber ich konnte nicht teilnehmen. Ich war dabei, aber man sah mich nicht, und darunter, daß ich dabei war und doch nicht dabei sein konnte, litt ich."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel Phönix", 1979)

1969

"Ich fuhr meinem Traum entgegen: Berlin.
Zugleich entfernte ich mich während dieser Fahrt von einem anderen Traum (...).
Der Zug fuhr (...) bis Bahnhof Zoo, und zum erstenmal hatte ich während dieser Strecke jenes hochgradig beunruhigende, flaue Gefühl im Magen, das mich künftig bei jeder Einfahrt nach Westberlin begleiten sollte, »jenes leichte Ekelgefühl vor der Zukunft, das man Unruhe nennt«. Das Gefühl verließ mich auch in der U-Bahn nicht (...).
Ich war müde, aber ich hatte Angst, gleich jetzt mein möbliertes Zimmer in Steglitz aufzusuchen, mich allein wiederzufinden in dieser Stadt, in der ich außer dem Pinguin und Pappler noch niemanden kannte."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel Phönix", 1979)

1974

"Als ich vor über fünf Jahren nach Berlin kam, war ich noch gewissermaßen Teil eines Aufbruchs, einer Bewegung, die aber schon beinahe das Stadium ihrer Ebbe erreicht hatte. Woran ich aktiv teilnahm, zum Teil unter großer Kraftanstrengung und unter Aufbietung aller verfügbaren Irrtümer, war allein die Ebbe, auch wenn ich sie lange Zeit für die Flut hielt. Es ist nicht gesagt, daß noch einmal eine neue Flut kommt. Natürlich hoffen wir alle darauf, und mancher sieht in jedem kleinen Aufflackern gleich den Beginn einer neuen Bewegung (...). Aber in Wahrheit versuchen wir vor allem zu überwintern und der Winter kann ewig dauern. (Noch immer) Berlin, im September 1974."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel Phönix", 1979)

1981

"Frühjahr 1981 (...) Ein Mythos war geboren, zu dem drei heiße Sommer lang tout Berlin hinpilgerte (...) Es ist die Zeit, von der Bodo Morshäuser in seinem Roman »Berliner Simulation« seinen Helden sagen läßt: »In diesen Tagen Schöneberg zu verlassen, das wäre, wie nach Oldenburg zu fahren«."
(aus: Sighard Neckel "Die Macht der Unterscheidung", 2000, S.148f.)

"Mal sehn, was im Dschungel läuft,
Musik ist heiß, das Neonlicht strahlt.
Irgendjemand hat mir 'nen Gin bezahlt,
die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene,
ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin!"
(Ideal: "Ich steh auf Berlin")

1989

"Lange bevor Techno durch die Medien geisterte, hatte die Szene begonnen, ihr Selbstbild zu formen. (...). Motor der Selbststilisierung war Frontpage, das 1989 mit einer Auflage von 5000 Exemplaren von Frankfurt aus seine bundesweite Blitzkarriere startete. (...). Schon im August 1989 erschien das Heft monatlich als ein eigenständiges Magazin, die Auflage erhöhte sich rasant, die Redaktion zog nach Berlin. 1995 ging Frontpage mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren an die Kioske, um zwei Jahre später Konkurs anzumelden. Bis dahin aber scheint das Mediengeschäft rund um Techno floriert zu haben."
(aus: Gabriele Klein "electronic vibration", 1999, S.35f.) 

1999

"Am Ende sind wir betrunken und allein
Und nur die stumpfen Sterne leuchten uns heim
Aber wir sind nie sentimental
Es war ok, es war ja unsere Wahl
(Britta: "Ex und Pop", 1999)

"Du lächelst
Ich bin glücklich
Wir haben viel vor
Berlin liebt Dich"
(Surrogat: "Berlin liebt Dich", 2000)

"Ein Jahrzehnt nach dem Hauptstadtbeschluss besteht jedenfalls kein Zweifel, dass Berlin trotz Potsdamer Platz keine Global City mit weltweiten Kommandofunktionen und trotz  »Russendisko« keine Drehscheibe zwischen New York und Riga ist.
(...).
Einzig im Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen, die als Wachstumsindikator einer metropolitanen Dienstleistungsökonomie gelten, erweist sich Berlin gemessen an Köln, München oder Stuttgart als »Hauptstadt der Putzkolonnen und Sicherheitsdienste«."
(Heinz Bude in der Frankfurter Rundschau v. 21.03.2001)

2003

"Im Szenebezirk ist der Babyboom ausgebrochen. Der Eindruck trügt nicht, denn die Statistik verzeichnet für den Stadtteil 22,5 Prozent mehr Kinder unter drei Jahren als noch vor vier Jahren"
(aus: Elisabeth Schwiontek "Abenteuer Kind" in zitty Nr.10 v. 05.05.2003)

Berlin, die Hauptstadt der Singles?

Eine erste Annäherung: Die Veränderungen der Einwohnerzahlen (1950-2002)

Die Einwohnerzahl von Berlin ist heute um ca. 50. 000 Einwohner höher als im Jahr 1950. Die Stabilität dieser beiden Zahlen täuscht jedoch darüber hinweg, dass Berlin innerhalb dieser 50 Jahre eine bewegte Geschichte hatte. Die Teilung der Stadt, die besondere Lage und die Wiedervereinigung hat das Gesicht der Stadt verändert.

Nimmt man Westberlin, dann hat diese Stadt in den 20 Jahren zwischen 1964 und 1984 ca. 350 000 Einwohner (über 15 %) verloren, die es in den 8 Jahren zwischen 1985 und 1993 bis auf 25 000 Einwohner wieder hinzugewonnen hat. Die größten Veränderungen erlebte Westberlin in den 70er und in den 80er Jahren. 1970/71 und 1974/75 verlor Westberlin jeweils 40 000 Einwohner. Dem stehen rasante Zuwächse in den Jahren 1987/88 (+ 56 000) und 1988/89 (+ 62 000) gegenüber.

Betrachtet man Ost- und Westberlin zusammen, dann verlor Berlin von 1974 bis 1976 ca. 60 000 Einwohner, gewann aber allein in den Jahren 1986/87 ca. 158 000 Einwohner hinzu.

Dagegen sieht der Hauptstadtboom der 90er Jahre geradezu läppisch aus. Gerade 23 000 Einwohner gewann Westberlin in den Jahren 1996/97 hinzu. Die New Economy veränderte Berlin noch weniger. Ende 1998 lebten 3 398 822 Menschen in Berlin, Ende 2001 waren es 3 388 434.

Eine zweite Annäherung: Die Veränderungen unterhalb der Einwohnerzahlen

Natürlich sagt die Größe einer Stadt nicht alles aus über ihren Wandel aus. Ziehen 100 000 Menschen weg und kommen im gleichen Zeitraum 100 000 Menschen hinzu, dann hat sich in der Einwohnerstatistik nichts getan, aber die Stadt hat sich durch diesen Austausch verändert. Im Jahr 2000 sind so z.B. 123 154 Menschen nach Berlin zugezogen, aber 124 012 Menschen weggezogen. Einzig im Jahr 2001 war der Wanderungssaldo seit 1995 wieder positiv. Es kamen ca. 10 500 Menschen mehr als wegzogen.  Aber auch der Wanderungssaldo sagt nicht alles aus. Kommen die Menschen von weit her, oder nur aus dem Umland, ziehen sie ganz weg, oder nur in den Speckgürtel des Umlands?

Betrachtet man die Zuzüge im Zeitraum 1991 bis 2001, dann hat Berlin seine Attraktivität für Ausländer drastisch verringert. Zogen 1993 noch 71 109 direkt aus dem Ausland zu, so sind es im Jahr 2001 nur noch 45 782. Auch auf die alten Bundesländer war die Attraktivität Berlins nicht besonders groß. Zogen 1993 32 539 Menschen zu, so waren es 2001 mit 44 334 zwar ca. 40 % mehr, aber aus den neuen Bundesländer kamen 2001 fast doppelt so viele Menschen wie im Jahr 1993. Betrachtet man die Fortzüge, dann waren 1997/98 die schlechtesten Jahre für Berlin. Jeweils über 139 000 Menschen kehrten der Stadt den Rücken. Zirka 50 000 Menschen zogen ins Ausland, ca. 35 000 verließen Berlin Richtung alte Bundesländer und ca. 40 000 zogen in die Speckgürtel in den neuen Bundesländern.

Auch hier lässt sich also weder von einem Hauptstadt-Boom, noch von einem New-Economy-Boom viel spüren. Die viel beschworene Neue Mitte ist quantitativ gesehen eine unsichtbare Kategorie, die sich wohl am ehesten an den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. 

Eine dritte Annäherung: Die Veränderung der Haushaltszahlen

Die Frage nach der Hauptstadt der Singles wird in den Medien gewöhnlich mit einem Verweis auf den Anstieg und die hohe Zahl der Einpersonenhaushalte begonnen. Das sagt zwar viel über diejenigen aus, die dies tun, aber es hilft jenen wenig, die etwas über so unterschiedliche Personengruppen wie Partnerlose, Partnersuchende, Einsame, Alleinwohnende, Alleinesser, Kinderlose, Unglückliche, Bindungsunfähige, Hedonisten usw. erfahren möchten . Noch weniger hilft diese Annäherung den Betroffenen selbst. Die einzigen Profiteure dieser Verwendungsweise sind die Sozialpopulisten. Nachdem die Unbrauchbarkeit dieser Kategorie geklärt ist, soll dennoch kurz auf diesen Indikator eingegangen werden, denn Politik und Wissenschaft haben bisher verhindert, dass brauchbarere Indikatoren bei amtlichen Statistiken verfügbar sind.

Berlin ist nicht einmal die Hauptstadt der Singles, wenn man die Einpersonenhaushalte in Deutschland als Maßstab verwendet. Der Focus hat am 25. März 2002 die Top-Ten der "Single"-Städte veröffentlicht. An der Spitze liegt demnach München mit 51,8 % Einpersonenhaushalte. Danach folgt Hannover (51,2 %) und Frankfurt mit 50,6 %. Berlin hat nur ca. 49 % Einpersonenhaushalte. Der Anteil der "Singles" liegt jedoch bei nicht einmal 27 %, wenn man den Anteil von Alleinlebenden an der Einwohnerzahl von Berlin misst.

Die Avantgarde der Single-Generation

Im Jahr 1969 fährt der junge Murnau - der Protagonist des Romans Der schöne Vogel Phönix von Jochen SCHIMMANG - nach Berlin. Er hat gerade seinen Wehrdienst im ländlichen Norddeutschland absolviert und möchte nun in Berlin studieren. Die Ereignisse im Jahr 1968 haben die Attraktivität Berlins für junge Gymnasiasten der Bonner Republik erhöht. Als Avantgarde der Single-Generation beschreibt Murnau das damalige Berlin folgendermaßen:

Der schöne Vogel Phönix

"Die Stadt ist eingeschlossen, hört an ihren Grenzen abrupt auf, übergangslos. Sie kann sich nicht mehr ausweiten. Sie sammelt die Schwerkraft in sich und weiß nicht wohin damit.
Ja, und dann die alten Leute, überall, in der U-Bahn, in den Cafés, in den Bussen, in den einzelnen Vierteln, ganz massiert in Friedenau und Steglitz, meiner ersten genaueren Bekanntschaft mit Berlin: die sterbende Stadt und ihre sterbenden Bewohner"
(1979)

Als Murnau Ende der 1960er Jahre nach Berlin kam, da fehlte noch jene Infrastruktur, die heutzutage selbstverständlich ist. Die damaligen, postpubertären Singles waren meist auf das universitäre Ghetto "Schlachtensee" zurückgeworfen:

Der schöne Vogel Phönix

"mir standen zwölf Quadratmeter zur Verfügung.
Den etwa sechshundert anderen Bewohnern dieses Dorfes ging es nicht anders. Unter ihnen waren auch Liebespaare, die sich diese zwölf Quadratmeter teilten. Immerhin gab es in jedem Stockwerk der einzelnen Häuser Duschen und eine Gemeinschaftsküche. All diese Höhlenbewohner kamen kaum umhin, Kontakt miteinander aufzunehmen, sich kennenzulernen, und genau das war es, was ich wollte.
Schließlich gab es zwischen den Häusern auch einige Rasenflächen, auf denen man den Spätsommer des Jahre 1969 genießen konnte, dazu eine deprimierende Kneipe namens »Club«, in der sich abends der harte Kern des Ghettos traf, der es nicht mehr schaffte, in die Stadt zu fahren: Berlin war sehr weit weg. (Es gab gerade noch Zehlendorf mit dem Bali-Kino und den Spätvorstellungen mit Eddie Constantine und später den Italowestern.)".
(1979)

Die Vorform der Single-Party nannte sich damals Fete:

Der schöne Vogel Phönix

"Mit dem Frühjahr begann die Zeit der Fêten. Es genügte, am Samstagmorgen in der Wohngemeinschaft (...) anzurufen, um zu erfahren, welche Fêten für den Abend in Betracht kamen. (...). Die sich kannten, klammerten sich am Anfang aneinander, bis sie genug Sicherheit gewonnen hatten, den vertrauten Kreis zu verlassen und sich an neue Personen heranzumachen. (...).
Denn selbstverständlich waren diese Feste vor allem Menschenmärkte. Konnte zum Beispiel Murnau nirgends auf dem Fest einen Ruhepunkt finden, kein Gespräch, in dem er sich verankern konnte, und verließ er die Fête bald wieder (...), so war es ein erfolgloser Abend gewesen; blieb er länger, konnte er Fuß fassen, lernte er Menschen kennen, die bis dahin in seinem Gesichtsfeld noch nicht aufgetaucht waren, so war ein relativer Erfolg zu verzeichnen; kam es zu einem Flirt oder zu einer kleinen Knutscherei, unmittelbar folgenlos, aber doch in einigen Wochen, bei einem zufälligen Wiedersehen auf einem anderen Fest, wiederaufzunehmen, so war schon Anlaß gegeben, mit dem Gefühl eines größeren Erfolges, der den eigenen Marktwert ( um den es letztlich auf all diesen Festen ging) erhöhte, nach Hause zu gehen. Der Gipfel des Erfolges war es natürlich, die Nacht (oder was als Rest davon verblieb) nicht allein verbringen zu müssen. Dies galt jedenfalls für Murnau und seinesgleichen, für alle, die wie er sich suchend durch diese Berliner Abende und Nächte tasteten, ohne deutlich zu wissen, was sie suchten."
(1979)

Die Entstehung der Single-Infrastruktur

Gehörte Murnau Ende der 1960er Jahre noch zur überschaubaren "Scene", der ein informelles Informationssystem reichte, so entstand in den 1970er Jahren im Zuge der Studentenbewegung mit den Stadtmagazinen ein neuartiges Publikationsorgan, das über Veranstaltungen informierte. Im Januar 1972 wurde in Berlin der Tip gegründet. Diese "Stadtzeitung" des Kunststudenten Klaus STEMMLER war zu Beginn eine "sechsseitige Blattsammlung mit Off-Kino-Programm" (SZ v. 22.06.2002). Bald gab es auch das Konkurrenzblatt Zitty.

Die Stadtmagazine halfen bei der Modernisierung des Partnermarkts mit, indem neben die Heiratsanzeigen die Kontaktanzeige trat. Der Soziologe Jo REICHERTZ und die Kommunikationswissenschaftlerin Sabome POLOTZEK schreiben dazu:

Sex als Objekt der Begierde

"Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre (entwickelte sich) ein damals meist lokales Printmedium, das vor allem von und für die Polit-, Sponti-, Alternativ- oder Frauenszene produziert wurde - das Stadtmagazin.
Es enthielt erstmalig Kontaktanzeigen, also Anzeigen, in denen die Formulierung »spätere Heirat nicht ausgeschlossen« völlig out war. Stattdessen suchten die Inserenten und Inserentinnen in den Siebzigern (alles fanatische Individualisten) mit Hilfe von paradoxer Sprüche, literarischer »Perlen« und authentischer Ich-Botschaften Zeitgenossen, die bereit und willens waren, sich auf zeitlich begrenzte Beziehungsepisoden einzulassen."
(medien + praktisch, Heft4, 1994)

Die bürgerlichen Medien öffneten sich nach POLOTZEK & REICHERTZ erst Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre den Kontaktanzeigen.

Auch die Kneipenkultur wandelte sich. Die Studentenbewegung bzw. die Alternativszene brachte auch die sog. Szenekneipe hervor. War die traditionelle Quartierskneipe der Arbeiterschicht eine Männersache, so zogen mit dem Aufkommen der Szenekneipen die Frauen in die männliche Domäne Kneipe ein. Begriffe wie "Abschleppkneipe" oder "Aufreißkneipe" verweisen darauf, dass kneipenaufsuchende Frauen Anfang der 1970er Jahre noch der Norm widersprachen (DRÖGE & KRÄMER-BADONI "Die Kneipe", 1987).

Die Single-Party jenseits der Ball der einsamen Herzen-Etablissements, hielt erst Anfang der 1990er Jahre Einzug in Deutschland. Vorreiter spielte hier das Frankfurter Journal, während in Berlin das Stadtmagazin Tip erst 1994 die erste Fisch-sucht-Fahrrad-Party veranstaltete. Mittlerweile gibt es in jeder größeren Stadt eine ausdifferenzierte Single-Infrastruktur. Ständig kommen neue Angebote hinzu. Neben den Stadtmagazinen ist mittlerweile das Internet zu einem wichtigen Informations- und Kontaktmedium für Singles geworden.

Die Yuppisierung Berlins

Mit der Punk- und Hausbesetzerszene geriet Kreuzberg Anfang der 1980er Jahre in den Blickpunkt. Im Zuge der Mythologisierung wurde der Stadtteil und speziell SO 36 zur Attraktion postpubertärer Studenten. Susanne MISCHKE beschreibt im Roman Stadtluft mit Eva Lorenzo eine 25jährige Single-Frau, die sich von Berlin angezogen fühlt und deshalb Mitte der 1980er Jahre aus der Rosenheimer Provinz nach Berlin zieht:

Stadtluft

"Elisabeth und ich zogen uns um, dann saßen wir alle in der Küche und studierten den Stadtplan. Ingo bemerkte lapidar, die mir angebotene Wohnung läge am »Arsch der Welt«, im hintersten Kreuzberg, direkt an der Mauer.
»In so'ner Gegend wohnt man nicht. Nur Punks und Türken wohnen da!« Ingo verachtete tief und ausnahmslos jeden, der kein »New Romantic« war, besonders seine Mutter mit ihren Flower-Power-Ansichten und -Klamotten.
»Quatsch, das ist im SO 36, da geht die Post ab, sag ich dir!« Für Elisabeth erstrahlte Kreuzberg noch immer im verklärten Glanz und Gloria der 68er Jahre."
(
1994)

Im Essay Politik der Lebensstile (1990; 2000) beschreibt der Soziologe Sighard NECKEL die Veränderung in Kreuzberg und Schöneberg mit dem Nollendorf- und dem Winterfeldplatz. Kneipen wie die Ruine, der Dschungel, Slumberland, das Café Mitropa sind zu Kristallisationspunkten spezieller Jugendszenen geworden, die sich Mitte der 80er Jahre gegen Neuankömmlinge abgrenzen, die als Yuppies beschimpft werden. NECKEL beschreibt diese Eindringlinge folgendermaßen:

Die Politik der Lebensstile

"Was bedeutet es nun, in Schöneberg ein sogenannter Yuppie zu sein? Wichtigste Voraussetzung ist eigentlich ein anderswo ganz selbstverständlich geltender Tatbestand: eine halbwegs sichere Beschäftigung in den formell geregelten Sektoren des Arbeitsmarktes, die ein festes, kalkulierbares und kreditwürdiges Einkommen mit einem gewissen konsumptiven Überschuß und der Teilhabe an wohlfahrtsstaatlichen Leistungen garantiert. Der staatliche Bereich des tertiären Sektors dominiert eindeutig den oberen Winterfeldplatz, durchmischt mit den modernen Dienstleistern."
(aus: Die Macht der Unterscheidung 2000, S.152)

Andernorts wird Yuppie knapp mit Young Urban Professionals übersetzt. Die Ausführlichkeit von NECKEL ist der Tatsache geschuldet, dass sich hier zwei Lebensstile feindselig gegenüberstehen, was einer längeren Erklärung bedarf. Die entscheidende Charakterisierung der Yuppies, die ihre Ablehnung rechtfertigt, wird von NECKEL so formuliert:

Die Politik der Lebensstile

"Was allerdings auffällt, ist, daß all diese Fraktionen der neuen Mittelschicht ihr leidlich sicheres Einkommen nicht dazu nutzen, es anderen als sich selbst zugute kommen zu lassen. Nach Tiergarten hat Schöneberg mit 58,9 Prozent den zweitgrößten Anteil von Einpersonenhaushalten in ganz Berlin und nach Kreuzberg mit 45,5 Prozent den zweithöchsten Anteil von Personen, die als Familienstand »ledig« angeben. Gleichzeitig ist Schöneberg ebenfalls wieder nach Kreuzberg und Tiergarten derjenige Berliner Bezirk, in der die Gruppe der 20- bis 40jährigen mit einem Anteil von knapp 38 Prozent der bezirklichen Gesamtbevölkerung am stärksten vertreten ist. Alle diese Tendenzen sind in Schöneberg-Nord besonders stark ausgeprägt, wo - zumindest in der deutschen Bevölkerung - die Lebensform der Familie eindeutig in der Minderheit ist."
(
aus: Die Macht der Unterscheidung 2000, S.152f.)

Was hier nicht deutlich wird, das ist die Tatsache, dass sich die beiden feindlichen Lebensstile der postpubertären Quartiersverteidiger und der Yuppies sowohl in der Haushaltsform, der Altersgruppe als auch im Familienstand ähnlich sind, jedoch in den Einkommensverhältnissen unterscheiden. Den Yuppie-Treff Café Sydney bezeichnet NECKEL als "steingewordene Niederlage der Hausbesetzerbewegung". Vor kurzem lief im Kino der Hausbesetzerfilm Was tun, wenn's brennt, der zeigt, dass auch die Hausbesetzerszene mittlerweile ihre Gewinner und Verlierer kennt .

Die Politik der Lebensstile

"Was allerdings auffällt, ist, daß all diese Fraktionen der neuen Mittelschicht ihr leidlich sicheres Einkommen nicht dazu nutzen, es anderen als sich selbst zugute kommen zu lassen. Nach Tiergarten hat Schöneberg mit 58,9 Prozent den zweitgrößten Anteil von Einpersonenhaushalten in ganz Berlin und nach Kreuzberg mit 45,5 Prozent den zweithöchsten Anteil von Personen, die als Familienstand »ledig« angeben. Gleichzeitig ist Schöneberg ebenfalls wieder nach Kreuzberg und Tiergarten derjenige Berliner Bezirk, in der die Gruppe der 20- bis 40jährigen mit einem Anteil von knapp 38 Prozent der bezirklichen Gesamtbevölkerung am stärksten vertreten ist. Alle diese Tendenzen sind in Schöneberg-Nord besonders stark ausgeprägt, wo - zumindest in der deutschen Bevölkerung - die Lebensform der Familie eindeutig in der Minderheit ist."
(
aus: Die Macht der Unterscheidung 2000, S.152f.)

Es wird nun auch deutlich, warum sich die Veränderungen des Stadtbildes nicht auf der Ebene von Einwohnerzahlen, Wanderungssaldos oder stadtweiten Haushaltszahlen sichtbar machen lassen. Die Veränderungen sind auf spezielle kleinräumige Quartiere beschränkt. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die neuen Lebensstile mit den klassischen Kategorien nicht mehr angemessen beschreiben lassen, die NECKEL hier verwendet. Der Strukturbegriff Familienhaushalt, den NECKEL mit Familie gleichsetzt, ist nur eine Familienphase der modernen multilokalen Mehrgenerationen-Familie. Wer in der Statistik als Alleinlebender geführt wird, der ist nicht unbedingt kinderlos und schon gar nicht lebenslang. Die amtliche Haushaltsstatistik reicht zur exakten Erfassung der Kinderlosigkeit nicht aus. Die Verknüpfung von sozialmoralischen Bewertungen mit Haushaltsbegriffen ist deshalb das Kennzeichen von Sozialpopulisten .

Die Yetties der New Economy

In den 90er Jahren haben sich die jugendkulturellen Szenen und die damit verknüpften Lebensstile weiter ausdifferenziert. Mit Techno entstand eine dominierende Jugendkultur, die bald mit dem Hauptstadt-Boom und der Spaßgesellschaft in Verbindung gebracht wird . Die Love Parade wird Symbol des Hedonismus. Nach der Wiedervereinigung greift die Yuppisierung auch auf Ostberliner Wohngebiete wie den Prenzlauer Berg über. Mitte der 90er Jahre wird auch hierzulande die New Economy zum geflügelten Wort. Die Agentur ist einer der Orte dieser schönen neuen Arbeitswelt. Rainer MERKEL hat in dem Roman Das Jahr der Wunder (2001) eine Innenansicht dieser Welt nachgeliefert. Yuppies heißen Ende des Jahrtausends Yetties und verkörpern das Ideal der Generation Berlin:

Was ist die Generation Berlin?

"Was sich in der Vorstellungswelt der »Generation Berlin« herausbildet, ist der Leitbegriff des »unternehmerischen Einzelnen«, der sich nicht an vorgegebene Standards hält, sondern eigene Kombinationen ausprobiert und auf dem Markt anbietet und in die Gesellschaft einbringt. Das Gefühl von Selbständigkeit und Selbstverantwortung ist wichtiger als angestrengte Selbstverwirklichung oder unbekümmerter Selbstgenuss"
(Heinz Bude in der Berliner Republik Nr.1, 1999)

Berliner Firmen wie Pixelpark waren beispielhaft für den Aufstieg und Niedergang der New Economy. Das Aufkommen des Begriffs Yettie im Jahr 2000 kündigt eigentlich schon den Niedergang der New Economy an.

Auf dem Hypeway to Hell

Spätestens im Sommer 2002 ist es auch dem Letzten in der Generation Golf klar, dass es Schluss mit Lustig ist. Jung, erfolgreich, entlassen. Die Arbeitslosigkeit erreicht die Mittelschicht, titelt der Spiegel am 12.08.2002. Der Absturz der New Economy erreicht auch den Printmarkt. Die überregionalen Zeitungen von FAZ bis SZ stellen ihre Hauptstadtseiten ein. Mit den Berliner Seiten der FAZ wird gleichzeitig der Popjournalismus und die dazugehörige Literatur zu Grabe getragen .

Jung, erfolgreich, entlassen

"Innerhalb eines Jahres, von Juni 2001 bis Juni 2002, stieg die Zahl der arbeitslosen Werbefachleute in Berlin von gut 10 000 auf über 15 000, die der Unternehmensberater ohne Job von gut 7000 auf fast 11 000 und die der arbeitslosen Publizisten und Journalisten um fast 2000 auf etwa 7300.
Schon verfassen frisch entlassene Redakteure ergreifende Sozialreportagen über ihresgleichen
(...).
Schluss mit lustig, die Tristesse allemande hat uns wieder. Berlin, das kulturelle Großlabor, macht dicht."
(Reinhard Mohr & Silja Schiller im Spiegel v. 12.08.2002)

Zeit für Korrekturen am Berlin- und Singlebild

Jetzt, da der Berlin-Hype zu Ende ist, und die Provinzler, die diesen Hype verursacht haben, wieder in die Provinz zurückkehren, darf Berlin auch wieder zu jener Normalität zurückfinden, die der Entwicklung der Einwohnerzahlen eigentlich schon die ganze Zeit angemessen gewesen wäre. Als Murnau 1969 nach Berlin kam, da erlebte er Berlin als sterbende Stadt. Tatsächlich jedoch war Murnau Teil jener, sich ständig erneuernden Jugendbewegung, die Berlin bis ins neue Jahrtausend das Image einer jungen Stadt verlieh, das der Bevölkerungswissenschaftler Rainer MÜNZ in einem Interview der Berliner Zeitung nur zum Teil bestätigt:

"Die Jungen werden weniger"

"Das Durchschnittsalter ist etwa so hoch wie im Rest Deutschlands. Vor der Wende war das mal anders. Ins alte West-Berlin zogen junge Männer, die sich die Wehrpflicht ersparen wollten, andere kamen wegen des Lebensgefühls. Und in Ost-Berlin lebten gerade in Marzahn und Hellersdorf fast nur junge Familien, die oft aus anderen Teilen der DDR herzogen. Inzwischen wandern viele Jüngere aus Berlin ab".
(Berliner Zeitung vom 20.01.2003)

Berlin muss sich nun den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft genauso stellen wie die ganze Berliner Republik, denn die meisten Single-Haushalte haben in all den Jahren die alleinlebenden Witwen geführt . Nun ist es endlich Zeit, dies auch zu registrieren. Und noch etwas wird bislang nicht ausreichend registriert. Murnau kam nicht als Partnerloser nach Berlin. Er ließ seine große Liebe hinter sich. Die Liebe auf Distanz funktionierte jedoch nicht. Murnau wurde zum Partnerlosen wider Willen. Wenn der Begriff Individualisierung überhaupt eine Berechtigung hat, dann ist Murnau das Urbild jenes Singles, der den Alt-68ern von links bis rechts als Feindbild gilt. Den einen ist er zu unpolitisch, den anderen zu ungebunden.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Unsere Single-Generation ist gezwungen im statistischen Untergrund zu leben. Die 68er-Generation vermisst uns weiterhin nach den Koordinaten der 1950er Jahre. Unsere Lebensweise wird in Begriffen von Familienstand und Haushalt eingeordnet, aber damit fallen wir durch alle Raster.
        
Diese verkalkte Republik verweigert uns eine faire Behandlung! Sie will uns nicht zur Kenntnis nehmen, weil wir ihren Normen nicht entsprechen. Wir leben in haushaltsübergreifenen Beziehungen und sind mobil wie keine Generation zuvor." (2006, S. 113)

Die Generation Golf konnte sich die Errungenschaften, die die Single-Generation mit der Single-Infrastruktur in den 1970er und 1980er Jahren  aufgebaut hat, zu eigen machen. Dies hat das Leben vor der Familiengründung für viele erleichtert, die Ursache für den Aufschub der Familiengründung kann jedoch nicht Singles wie Murnau angelastet werden, denn bereits Murnau ist das Opfer einer Akademikerkrise geworden, damals in den 1970er Jahren.

Der ungebundene Single ist - jenseits der amtlichen Statistik - oftmals mobil, flexibel und gebunden . Diesem Tatbestand sollte in Zukunft stärker Rechnung getragen werden. Der "Babyboom" im Szenebezirk Prenzlauer Berg ist ein anderes Berliner Kapitel, das noch geschrieben werden muss.

 
     
 
       
   

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Update: 24. November 2018