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Die Bewertung des Erfolgs lokaler
bevölkerungspolitischer Maßnahmen
RADEMACHER nutzt für
seinen interkommunalen Vergleich lokaler bevölkerungspolitischer
Maßnahmen Daten der privaten Bertelsmann Stiftung, die
politisch-ideologisch dem neoliberalen Demographismus zuzuordnen
ist, was jedoch nicht thematisiert wird. Das war notwendig, weil nach
Darstellung von RADEMACHER derzeit keine alternative Datenquelle
existiert und zudem dies eine gängige Praxis solcher
Evaluationsstudien im Bereich kommunalen Handelns ist. Dabei wird gleich in zweifacher Weise
auf Daten der Bertelsmann-Stiftung zurückgegriffen: zum einen
auf eine Bürgermeisterbefragung aus dem Jahr 2005 und zum
anderen auf den "Wegweiser Kommune". Zu Letzterem heißt es:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Momentan
existiert kein anderer, genauso umfangreicher, bundesweit
vergleichender Datensatz zum Umgang mit Demographischem
Wandel in deutschen Städten und Gemeinden (...).
Sekundäranalysen dieses Datenmaterials sind daher für
interkommunale demographische Vergleiche üblich geworden
(...). Der »Wegweiser Kommune« umfasst sowohl Daten
der Kommunalstatistik als auch Kennziffern, die daraus
gebildet werden. Er bildet eine zentrale Referenz für die
Bürgermeisterbefragung, weil ihre Informationen nur bei
der Bertelsmann Stiftung (2005 und Esche et al. 2005)
verfügbar sind, konnte sie nur mit ihrer Zustimmung und in
ihrem Auftrag mit den von ihren Projektpartnern
gesammelten Aggregatdaten ergänzt werden."
(2013, S.164)
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RADEMACHER sieht das
durchaus kritisch, weshalb die Untersuchung auch dem Zweck dient die
Ungenügsamkeit der Datenlage im Bereich kommunalen Handelns
aufzuzeigen.
Probleme
der Datenlage machen repräsentative deutschlandweite Vergleiche
zwischen Kommunen unmöglich
In Deutschland gab es im
Jahr 2009 fast 12.000 Kommunen. Eine Vollerhebung schließt sich
daher aus, weshalb in der Studie von RADEMACHER für das Jahr
2005 nur Kommunen über 10.000 Einwohner betrachtet werden.
Gerade kleinere Kommunen könnten jedoch darüber Aufschluss
geben, welche Einzelfaktoren Einfluss auf Bevölkerungsentwicklungen
haben, weil die unterschiedliche Struktur kleiner Gemeinden den
Einfluss nicht-demografischer Faktoren wie
Unternehmensschließungen, Unternehmensentwicklungen,
Unternehmensgründungen, konjunkturelle Schwankungen,
Vorhandensein bzw. Fehlen von Dienstleistung und Infrastruktur
usw. stärker hervortreten lässt. Dies hätte natürlich den Rahmen
der Studie gesprengt, wäre aber eine spannende Frage für
weitergehende Studien.
Selbst eine Vollerhebung
der 1.573 Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern war nicht
realisierbar, weil sich lediglich 648 Bürgermeister an der
Befragung beteiligten und 137 Kommunen wegen einem Pre-Test
nicht nochmals befragt wurden. Da lediglich mit vorläufigen und nicht mit
endgültigen Ergebnissen der Gemeindegrößen gearbeitet wurde, gab
es zudem Unstimmigkeiten bei der Zuordnung zu
Gemeindegrößenklassen. Aufgrund der Fragenbogenkonstruktion, die
nur die Antwortkategorie unter 20.000 Einwohner jedoch nicht
unter 10.000 Einwohner enthielt, ergaben sich weitere
Zuordnungsprobleme. Letztlich blieben von den 648 Kommunen nur
515 Kommunen für die Untersuchung von RADEMACHER übrig. Fazit:
Lediglich ca. 1/3 der Kommunen mit 10.000 und mehr Einwohnern
konnten untersucht werden, wobei die Stadtstaaten Berlin,
Hamburg und Bremen nicht berücksichtigt wurden. Es muss also
festgehalten werden, dass Sekundäranalysen aufgrund der
unzureichenden Datenlage mit
großen Restriktionen behaftet sind. Da ein Zweck der Untersuchung
aber gerade dem Nachweis dieser Sachlage dient, sind diese
Restriktionen kein Nachteil, sondern belegen nur um so
dringlicher die Notwendigkeit der Untersuchung von RADEMACHER.
Die
erfolgreiche kommunale Bewältigung des demografischen Wandels
RADEMACHER möchte mit
seiner Untersuchung den Zusammenhang zwischen demografischem
Wandel (Input/Herausforderung) und Bewältigungserfolg (Output)
erfassen. Dazu prüft er 3 Erklärungsmodelle: zum einen das
Reiz-Reaktionsmuster, wonach sich ein Bevölkerungsrückgang
direkt negativ auswirkt. In einem weiteren Modell wird
angenommen, dass das kommunale Bewältigungshandeln zwischen
Bevölkerungsrückgang und der Art der Wirkung vermittelt. Und im
komplexesten Modell, das analog zum individuellen Stressmodell
das Handeln der Kommune modelliert, werden weitere Aspekte wie
die adäquate Problemwahrnehmung, Handlungsroutinen und die
daraus resultierende politische Handeln
berücksichtigt. Wie sieht das aber genauer aus?
Zuerst einmal stellt sich
die Frage, ob eine Bürgermeisterbefragung überhaupt das
kommunale Handeln adäquat repräsentieren kann. Kommunen werden als Black Box aufgefasst,
d.h. die konkrete Akteurskonstellation bleibt unberücksichtigt.
RADEMACHER rechtfertigt das damit, dass hierzu genügend
Einzelfallstudien vorliegen würden. Wir können also festhalten:
Unterschiedliche Akteurskonstellationen und Machtverhältnisse
als nicht-demografische Einflussfaktoren auf die Entwicklung von
Kommunen bleiben in der Untersuchung
unberücksichtigt, würden aber auch den Rahmen der Untersuchung
bei weitem sprengen.
Von RADEMACHER wird ein direkter
Zusammenhang zwischen mangelhafter Leistungserbringung einer
Kommune und dem Rückgang der Bevölkerung angenommen. Die Unzufriedenheit mit
kommunalen Leistungen wird also auf die Exit-Option (Wegzug) reduziert.
Die Voice-Option (z.B. Wahlen oder Bürgerentscheide) wird zwar
erwähnt, bleibt aber aufgrund des Studiendesigns
unberücksichtigt:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Nach
aktuellem
Gemeindeverzeichnis (Statistisches Bundesamt
2010a) gibt es in Deutschland 11.9993 Städte und
Gemeinden. Die systematische Berücksichtigung aller
Akteurskonstellationen, politischer Prozesse,
Entscheidungen und Handlungen in all diesen Kommunen würde
jedes Forschungsvorhaben sprengen. Daher wird die einzelne
Kommune (...) vereinfachend als Black-Box konzipiert
(...). Die Fokussierung auf lokalen Demographischen Wandel
verengt dabei den Raum möglicher Umwelteinflüsse. Die
Bevölkerungsentwicklung bildet somit einen relevanten
Umweltzustand, auf den das System, die Kommune reagiert.
Die Rückkopplungsschleife wird als exit- oder voice-Option
(Hirschman 1974, 1970) konzipiert. Es wird angenommen,
dass ein Wohnortwechsel bei kleinen Leistungsmissständen
kaum in Betracht kommt".
(2013, S.143f.)
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Die Nicht-Berücksichtigung
der Voice-Option wird folgendermaßen mit der damaligen
historischen Ausgangslage begründet:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Abwanderung
oder Widerspruch (Hirschman 1974, 1970) gelten (...) als
legitime menschliche Reaktionen auf die Unzufriedenheit
mit einer Firma, Organisation oder einem Staat. Auch Nullmeier (2004: 51) sieht unter Rekurs auf Hirschman
(1974, 1970) einen prinzipiellen Zusammenhang zwischen
Demographie und kommunaler Performanz-(messung). Letztere
macht für Nullmeier nur dann wettbewerbspolitisch Sinn,
wenn für die Betroffenen exit- oder voice-Optionen (...)
verfügbar wären (Nullmeier 2004: 51). Im Anschluß an
Bogumil und Kißler (1995) überschätzt er jedoch die
voice-Option, exit-Optionen seien hingegen nur
eingeschränkt verfügbar. Wohnortwechsel kämen bei
kleineren Ärgernissen und Leistungsmissständen kaum in
Betracht (...). Nullmeier vertrat diese These, bevor die Demographisierung ihren Höhepunkt erreichte (um etwa 2005;
vgl.
Barlösius
2007: 15). Massenhafte Abwanderungen aus
Ostdeutschland und strukturschwachen westdeutschen
Regionen lassen vermuten, dass diesen individuellen exit-Strategien eine starke Unzufriedenheit mit der
Leistungsfähigkeit des jeweiligen Wohnortes zugrunde
liegt."
(2013, S.40)
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Wie eingangs bereits
dargelegt, hat sich die Ausgangslage seit 3 Jahren wieder
geändert. Wie lange dies der Fall ist, lässt sich kaum
abschätzen. Der Zuzug nach Deutschland könnte sich wieder
abschwächen, genauso gut könnte aber auch die Geburtenrate
ansteigen. Es lässt sich also weiter festhalten: Die Reaktionen
der Bewohner auf kommunale Leistungen werden lediglich aufgrund
von Plausibilitätsannahmen vermutet, während empirische Belege
des Zusammenhangs für den Gegenstandsbereich fehlen und deshalb
weiteren Forschungen vorbehalten bleiben.
Scheinbar gravierend ist die
Einschränkung, die RADEMACHER bei der Definition des Begriffs "kommunaler Bewältigung des
Demographischen Wandels" vornimmt, der sich ausschließlich auf die
politischen Felder Familien- und Seniorenpolitik bezieht, wobei
genau genommen nur die "freiwillige" Familien- und
Seniorenpolitik betrachtet wird. Die lokale Wirtschaftspolitik
(z.B. Ansiedlung von Unternehmen) als Bewältigung des
demografischen Wandels kommt als Mittel der
Beeinflussung lokaler Bevölkerungsbewegung damit nicht in den Blick.
Eine solche definitorische Beschränkung ist nur im Hinblick auf
den Zweck der Untersuchung, die auf die Widerlegung einer
solchen verengenden Sichtweise abzielt, gerechtfertigt.
Ansonsten müsste der Begriff alle Maßnahmen der Kommunen
beinhalten, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch
andere Maßnahmen die kommunale Entwicklung positiv beeinflussen,
die durch die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme
ausgeblendet werden. So könnten auch andere -
nicht-demografische Faktoren Auswirkungen haben:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Die
lokale Performanz beeinflusst (...) die rationalen
Entscheidungen möglicher Eltern (Nauck 2007, 2001).
Einschränkung von Hilfen zum Lebensunterhalt oder des
Wohngeldes können dabei einem Kinderwunsch genauso
entgegenstehen, wie eine mangelnde Vereinbarkeit von
Familie und Beruf oder auch die grundsätzliche
gesellschaftliche Forderung nach Bereitschaft zu
Arbeitsmobilität und Pendelwanderung (vgl. Staudacher
2005: 362f.)"
(2013, S.40)
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Die
Intransparenz der Demographietypen der Bertelsmann Stiftung
RADEMACHER beansprucht mit
seiner Studie die Zusammenhänge aufzudecken, die sich hinter den
Demographietypen der privaten, neoliberalen Bertelsmann Stiftung
verbergen. Kritik wird u.a. an dem Merkmal
Hochqualifiziertenanteil geübt, das gemäß BOSBACH & KORFF für
Tourismusregionen eher wenig aussagekräftig ist. Des Weiteren
wird die Intransparenz der Daten zu Haushalten und Familien
sowie der Clusterverfahren beklagt. Die Problematik von
Handlungsempfehlungen aufgrund der Demographietypen lässt sich
anhand folgender Recherche im Internet erkennen. Im
Wegweiser Kommune werden Kommunen ab 5000 Einwohnern derzeit in 9
Demographietypen (online abgerufen am 31. Mai 2014) eingeteilt:
Typ 1: Kleinere stabile
ländliche Städte und Gemeinden (z.B. Möckmühl, Altenbeken bei
Paderborn)
Typ 2: Sozial heterogene Zentren der Wissensgesellschaft (z.B.
Heidelberg, München oder Berlin)
Typ 3: Prosperierende Kommunen im Umfeld dynamischer
Wirtschaftszentren (z.B. Eppelheim oder Wiesloch)
Typ 4: Stabile Kommunen im weiteren Umland größerer Zentren
(z.B. Hockenheim, Sinsheim, Cloppenburg oder Freudenberg bei
Siegen)
Typ 5: Städte und Gemeinden in strukturschwachen ländlichen
Räumen (z.B. Walldürn im Odenwald)
Typ 6: Mittelgroße Kommunen geringer Dynamik im Umland von
Zentren und im ländlichen Raum (z.B. Plankstadt, Baden-Baden,
Füssen (Allgäu) oder Leer (Ostfriesland))
Typ 7: Urbane Zentren mit heterogener wirtschaftlicher und
sozialer Dynamik (z.B. Mannheim, Paderborn, Münster, Duisburg
oder Hamburg)
Typ 8: Alternde kleinere Kommunen mit Anpassungsdruck (z.B.
Pirmasens, Bad Wildungen, Bad Wörishofen, Cuxhaven oder
Wernigerode im Harz)
Typ 9: Stark schrumpfende Kommunen mit besonderem
Anpassungsdruck (z.B. Lübeck, Wilhelmshaven, Bad Kissingen,
Frankfurt an der Oder, Gera, Quedlinburg im Harz, Hoyerswerda
oder Eisenach)
Am besten man gibt eine
bekannte Stadt ein, deren Verhältnisse man kennt. Auf einer
Landkarte werden dann alle Kommunen eingeblendet, die dem
gleichen Demographietyp angehören. Cloppenburg, das in den
Medien als geburtenstärkste Kommune gepriesen wird, ist dem
Demographietyp 4 zugeordnet, die mit "stabil" beschrieben wird -
man könnte auch stagnierend dazu sagen. Der Demographietyp 5 hat
dagegen schon von der Bezeichnung her nichts mit
Bevölkerungsentwicklungen zu tun, sondern wird durch seine
Strukturschwäche gekennzeichnet. Lediglich die Typen 8 und 9
deuten auf den Einfluss der Bevölkerungsentwicklung hin. Von
daher verbietet sich eine verallgemeinernde Sicht auf Kommunen
im demografischen Wandel von selber. Im
Jahr 2006 beschreiben die Bertelsmann-Mitarbeiter Kerstin
SCHMIDT & Carsten Große STARMANN die Zielsetzung und Umfang des
Wegweiser Kommune folgendermaßen:
Kommunen im
demographischen Wandel
"Der
Wegweiser Demographischer Wandel ist ein Frühwarn- und
Informationssystem für Städte, Gemeinden und Kreise.
Er enthält folgende Bausteine:
•52 Indikatoren für die Politikfelder Soziale Lage,
Wohnen, Wirtschaft und Arbeit und Demographische
Entwicklung;
•eine kleinräumige Bevölkerungsprognose für alle
Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnern;
•individuelle Demographieberichte für Bürgerinnen und
Bürger, die Arbeit in Ausschüssen und öffentliche
Veranstaltungen;
•die Beschreibung von insgesamt 15 Demographietypen
- inklusive spezifischer Empfehlungen für jeden Typ;
•Karten, Graphiken und Tabellen zum Download;
•konkrete Handlungsempfehlungen für ausgewählte
Politikfelder"
(Aus: Politik und Zeitgeschichte Nr.21-22 v.
22.06.2006, S.11) |
Inzwischen gibt es also
nur noch 9 statt 15 Demographietypen, deren Sinn sich dem
Internet-Benutzer nicht unbedingt erschließen dürfte. Im Jahr 2008
beinhaltet der Regionalreport, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen 8 Demographietypen. Typus 4 beinhaltet
Schrumpfende und alternde Städte und Gemeinden mit hoher
Abwanderung. Es stellt sich also die Frage, inwiefern
Handlungsempfehlungen, die sich aufgrund ständiger
aktualisierter Demografietypen innerhalb kürzester Zeit ändern, überhaupt kommunales Handeln leiten können.
Geschichtskonservativer
Demographismus: Bevölkerungsrückgang und
schrumpfende Städte
Die Gefahr besteht im
Zusammenhang mit dem demografischen Wandel, dass der Blick für komplexe Entwicklungen verloren geht. Bereits die Beschäftigung
mit den Demographietypen zeigt, dass die Kommunen sich stark
unterscheiden und dass sich die Probleme einzelner Kommunen
durchaus schnell verändern können. RADEMACHER kritisiert deshalb
zu Recht, dass der Bevölkerungsrückgang zu monokausal mit dem
Niedergang von Kommunen in Verbindung gebracht wird. Im
geschichtskonservativen Demographismus sieht RADEMACHER eine
Ideologie, die die Debatte um den Stadtumbau insbesondere in Ostdeutschland
beeinflusst hat:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Die Vorstellung, mit
Bevölkerungsrückgang ginge auch für Kommunen ein Verlust
politischer Macht sowie ökonomischer Wachstums- und
Innovationsfähigkeit einher (...), spiegelt ein
monokausales Reiz-Reaktions-Schema wider (...), das auch
als
»naturalisierendes
Deutungsmuster« (...) bezeichnet wird. (...). Geht die
Bevölkerungszahl zurück, schwindet nach naturalisierender
Annahme automatisch die Fähigkeit einer Kommune die
Lebensqualität ihrer Bürger sicherzustellen.
(...).
Für Bartl (2011: 14f.) gibt das dramatisierende,
monokausale Modell ausschließlich den öffentlichen Diskurs
der Massenmedien wieder, während im »themenbezogenen
Fachdiskurs« (...) weniger zugespitzt formuliert würde.
Träfe das zu, dürfte das naturalisierende Modell im
Fachdiskurs kaum in Erscheinung treten. (...).
Das naturalisierende Modell fällt mit der
Tabuisierungsphase im Stadtumbaudiskurs (Großmann 2007:
21f.) zusammen. (...). Ein Wechsel der Perspektive vom
ageing zum shrinking ermöglichte die
Renaissance des Konzeptes der »schrumpfenden Stadt« (Göb
1977) in der Stadtsoziologie, die mit negativen
Entwicklungsprognosen einherging. Von der negativen
Bewertung urbaner Schrumpfung hat sich der stadt- und
regionalsoziologische Diskurs nie befreit (...).
Insbesondere für ostdeutsche Städte werden in
naturalisierender Weise negative Folgen von
Bevölkerungsrückgängen erwartet. Das zeigt auch die
Abwärtsspirale, die für das Förderprogramm »Soziale Stadt«
(Beer 2001: 25) entwickelt und später erneut aufgegriffen
wurde (Hannemann 2003: 20). Entgegen Bartls (2011: 14f.)
ursprünglicher Annahme existieren naturalisierende
Kausallogiken also auch in der Fachöffentlichkeit.
Häufig ist der naturalisierende Zusammenhang auch »intensionaler
Bestandteil« (...) wissenschaftlicher Begriffsbildung.
Auch das aktuelle, international vergleichende Modell
urbaner Schrumpfung des Umweltforschungszentrums Leipzig
(...), kombiniert Schrumpfung als Mix von
Bevölkerungsrückgang und seinen Konsequenzen für die
Stadtentwicklung. Zwar wird nicht mehr behauptet, dass
negative Folgen automatisch auftreten, aber Städte, die
diesem Muster nicht folgen, schrumpfen nicht im Sinne der
Definition."
(2013, S.95ff.)
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Die Stadtforschung
reagiert auf Widersprüche durch Wegdefinieren, statt den
dahinter stehenden Demographismus zu überdenken. Für RADEMACHER
ist die Abwärtsspirale von Kommunen, die Bevölkerungsrückgänge
zu verzeichnen haben, eine empirische Frage, die nicht vorab
beantwortet werden kann:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Städte heißen (...) schrumpfend,
wenn der Bevölkerungsrückgang mit einer Verringerung des
sozialen Zusammenhalts, der Verdichtung, ökonomischem
Niedergang sowie mangelnder Infrastrukturauslastung
einhergeht (Rink/Haase/Bernt 2009). Weltweit erfüllen
viele Städte diese Kriterien, wie das Projekt Shrink Smart
(Arndt 2011) zeigt. Allerdings wurde für ostdeutsche
Städte, denen ein größeres Schrumpfungspotential
unterstellt wird (...), nachgewiesen, dass zwischen 1994
und 1996 ein Zusammenhang von demographischer und
ökonomischer Entwicklung kaum und von 1998 bis 2000 nur
bei einer Minderheit von Städten nachzuweisen war (...).
Die vorliegende Studie nimmt daher an, dass das
naturalisierende Modell, bei der der Demographische Wandel
eine entmutigende Herausforderung (...) darstellt, nur
einer unter verschiedenen Entwicklungspfaden ist.
Der Entwicklungspfad der Abwärtsspirale wird damit nicht a
priori ausgeschlossen (wie z.B. bei Bartl 2011), ob es
sich jedoch um einen Sonderfall (Franz 2004, 2003) oder
den Normalfall der Stadtentwicklung (Gesellensetter 2009,
Birg
2006 und
Hannemann 2003) in Deutschland handelt, ist
eine empirische Frage, die nicht ad hoc beantwortet werden
kann."
(2013, S.97f.)
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Die Institutionalisierung
demographischer Beobachtung
Die Studie von RADEMACHER
will prüfen inwiefern Bevölkerungsrückgänge die Entwicklung von
Kommunen beeinflussen. In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche
Hypothesen geprüft. Eine zentrale Hypothese bezieht sich
auf die Institutionalisierung bevölkerungsrelevanter
Datenerhebung:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Weil demographische Daten über
lokale Bevölkerungsfortschreibungen von
»Standesämtern
(Geburten, Sterbefälle, Eheschließungen),
Familiengerichten (Scheidungen) und Meldebehörden
(Wanderungen)« (Statistisches Bundesamt 2008: 4) ermittelt
werden und in hohem Maße institutionalisiert sind, lassen
sich aus der SPF (Anmerkung d. Verf.: Soziale Produktionsfunktion)
zwei Hypothesen ableiten:
1. Kommunen können ihre
Bevölkerungsentwicklung falsch einschätzen (Irrtumsthese).
2. Die Institutionalisierung demographischer Beobachtung
sorgt dafür, dass sie sich dabei nur selten irren (Institutionalisierungsthese)
(2013, S.109)
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Die
Institutionalisierungsthese wird derzeit durch die Ergebnisse
des Zensus 2011 erschüttert, gegen den Städte klagen, die viele
Einwohner und damit Geldzuwendungen durch den vertikalen Finanzausgleich
verloren haben. Man könnte sich deshalb fragen, was wäre
geschehen, wenn die Bürgermeisterbefragung nicht 2005, sondern
2011 durchgeführt worden wäre? Dann hätte man den Mikrozensus
2011 unterstellen müssen. Die Ergebnisse des Zensus 2011 hätten
dann die Repräsentativität nach Größenklassen (S.170), mit der
RADEMACHER arbeitet, beeinträchtigt. Derzeit sind nur vorläufige
Ergebnisse zur Differenz beider Erhebungen verfügbar. Folgende
gravierende Verschiebungen ergeben sich gemäß der
Pressekonferenz zwischen Mikrozensus und Zensus 2011 am
31.12.2011:
Pressekonferenz "Zensus 2011 – Fakten zur Bevölkerung in
Deutschland" am 31. Mai 2013 in Berlin
"Im
Zensus 2011 wurden die Einwohnerzahlen aller 11 339
Gemeinden ermittelt. In 7 013 Gemeinden (62 %) gab es am
9. Mai 2011 weniger Einwohner als bisher ausgewiesen. In
206 Gemeinden gab es keine Unterschiede zum Ergebnis der
bisherigen Bevölkerungsfortschreibung und 4 120 Gemeinden
(36 %) haben nach dem Zensus 2011 höhere Einwohnerzahlen
als bislang angenommen.
Deutschland hat auch nach dem Zensus 2011 vier
Millionenstädte: Berlin, Hamburg, München und Köln. Köln
hat zwar etwas weniger Einwohner (– 3 654), bleibt aber
über der Millionengrenze.
76 Städte hatten am 9. Mai 2011 mindestens 100 000
Einwohner. Im Vergleich mit den Zahlen der bisherigen
Bevölkerungsfortschreibung verloren vier Städte (Siegen,
Hildesheim, Salzgitter und Cottbus) diesen Status.
In 16 Städten lag die Abweichung zur Fortschreibung bei
mindestens 10 000 Einwohnern. In absoluten Zahlen gab es
die größten negativen Abweichungen in Berlin (– 179 391)
und Hamburg (– 82 833). Prozentual betrachtet wurden bei
den Großstädten die größten negativen Differenzen für
Aachen (– 8,5 %), Mannheim (– 7,5 %), Würzburg (– 6,8 %),
Freiburg im Breisgau (– 6,6 %) sowie für Offenbach am Main
und Osnabrück (– 6,4 %) festgestellt. Die größte positive
Abweichung gab es in Bielefeld (+ 3 724 Einwohner).
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Aus der
Pressemeldung geht hervor, dass 4 von 76 Städten die
Größenklasse gewechselt haben. Das betrifft lediglich eine von
sechs Größenklassen, die bei RADEMACHER unterschieden werden. In
der Untersuchung von RADEMACHER werden gerade jene Städte mit
den höchsten Abweichungen (Berlin und Hamburg) ausgeklammert. An
diesem Beispiel zeigt sich, dass die Institutionalisierung
demographischer Beobachtung gerade nicht vor Irrtum schützen
kann, sondern Irrtum ist ein integraler Bestandteil von
demographischer Beobachtung, insbesondere wenn langfristige
Bevölkerungsvorausberechnungen im Mittelpunkt stehen. Die
amtliche Statistik weist eben nicht die tatsächliche
Bevölkerungsentwicklung aus, sondern ist lediglich eine amtlich
beglaubigte Fiktion. Bei Differenzen von bis zu 8,5 % bei den
Einwohnerzahlen von heute auf morgen und das lediglich auf
Stadtebene, während auf Stadtteilebene noch größere Differenzen
aufgetreten sind, lässt sich wohl kaum davon ausgehen, dass die
amtliche Statistik vorab mit richtig und die Einschätzung der
Bürgermeister vorab als falsch betrachtet werden darf.
Solche Fälle
sind durchaus kein Einzelfall. So wurde z.B. lange Zeit davon
ausgegangen, dass die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen bei 40
% liegt, weil der Mikrozensus lediglich Haushalte mit Kindern
erfasste statt nach der Anzahl der eigenen Kinder zu fragen.
Außerdem wurde lange Zeit das Nichtvorhandensein von Kindern bei
Frauen in der Altersklasse 36-40 als lebenslange Kinderlosigkeit
gedeutet. Da jedoch in dieser Altersklasse gerade noch
Akademikerinnen viele Kinder bekommen, wurde die Kinderlosigkeit
weit überschätzt
. Man könnte dies wie RADEMACHER auf das
Vorhandensein von Ideologien, d.h. Demographismen, zurückführen,
oder aber auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die die
Ausbreitung bestimmter Demographismen fördern oder hemmen.
RADEMACHER beschreibt das Problem folgendermaßen:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Für
die Theoriebildung erwies sich die massenmediale, von
politischen Meinungen und Interessen durchsetzte
Aufmerksamkeit (...) als nachteilig. In Anlehnung an ein
Argument, das zum Thema
Generationengerechtigkeit entwickelt wurde (...), wird
hier die These vertreten, dass vor allem die emotionale,
ideologisch ausgetragene öffentliche Debatte erklärt,
warum es keine nennenswerte Theoriebildung zu den sozialen
Folgen des Demographischen Wandels gibt (vgl. dazu auch
Birg 2005: 199f.). Anstelle von Theorien beherrschen
Weltanschauungen die Arena. (...). Offenbar wird die
ethisch-moralische Frage (Was ist gut und richtig?) und
damit die Bewertung von Bevölkerungsprozessen über- und
das soziologische Erkenntnisprogramm des deutenden
Verstehens und kausalen Erklärens (...) der
Bevölkerungsentwicklung und ihrer sozialen Folgen eher
unterbewertet." (2013, S.62)
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Der
öffentliche Diskurs scheint keineswegs die Ursache für mangelnde
Theoriebildung zu sein wie RADEMACHER glaubt, sondern ist eher ein Symptom der
gesellschaftlichen Machtverhältnisse, wie die Debatte um die
Kinderlosigkeit der Akademikerinnen und den Geburtenrückgang
nahe legt. Der wissenssoziologische
Zugang, den RADEMACHER wählt, blendet die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen aus, die die Forschung in Deutschland
bestimmen. Typisch dafür ist, dass RADEMACHER zwar darauf
hinweist, dass eine eigene Datenerhebung geplant war, die jedoch
nicht durchgeführt werden konnte, weil das zugrunde liegende
Forschungsprojekt vorzeitig beendet wurde. Man könnte also
fragen, warum das Forschungsprojekt nicht weiter finanziert
wurde. Hier spielen also wissenschaftspolitische Entscheidungen
eine Rolle. Eine andere Frage wäre, warum dominiert eine private
Stiftung bei der Datenbeschaffung über kommunales Handeln? Bei
allen diesen Fragen lässt uns RADEMACHER im Stich.
Die Beschreibung der demografischen
Situation und Entwicklung von Kommunen
RADEMACHER
will - wie bereits weiter oben erwähnt - die Demographietypen
der Bertelsmann Stiftung überprüfen, weshalb die folgenden acht
Variablen, die konstitutiv für die Demographietypen sind, den
Ausgangspunkt der Untersuchung bilden:
1)
Bevölkerungsentwicklung 2003-2020
2) Medianalter 2020
3) Arbeitsplatzzentralität 2003
4) Arbeitsplatzentwicklung 1998-2003
5) Arbeitslosenquote 2003
6) kommunale Steuereinnahmen gemittelt über vier Jahre
(2000-2003) je Einwohner
7) Anteil Hochqualifizierter an allen abhängig Beschäftigten
2003
8) Anteil der Haushalte mit Kindern
Die Variablen
7 und 8 werden wegen Intransparenz und berechtigter Kritik an
der Brauchbarkeit von vorneherein verworfen. RADEMACHER
beschreibt die demografische Situation von Kommunen mit Hilfe
zweier Variablen: zum einen wird die Bevölkerungsentwicklung
(zusammengesetzt aus Geburten, Sterbefällen und Wanderungen) der
Kommunen von 1996 - 2003 betrachtet. Dabei wird zwischen
absoluter und relativer Bevölkerungsentwicklung unterschieden.
Zum anderen wird die Alterung der lokalen Bevölkerung anhand des
Altersmedian überprüft.
Die Variable
"Bevölkerungsentwicklung 2003-2020" wird als problematisch zur
Beschreibung der demografischen Situation verworfen. Stattdessen
wird die Übereinstimmung zwischen subjektiver Einschätzung und
der objektiven demographischen Entwicklung einer Kommune anhand
der linearen Fortschreibung der vergangenen Entwicklung
ermittelt. RADEMACHER schreibt dazu:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Die
Bürgermeister sollten einschätzen (...), ob die
Einwohnerzahl ihrer Kommune in den nächsten Jahren
vermutlich eher zunehmen (1), eher abnehmen (2) oder eher
gleich bleiben (3) wird (...). Zum Abgleich mit der
objektiven Situation wurde die Bevölkerungsentwicklung der
letzten sieben Jahre (...) in drei ähnliche Kategorien
eingeteilt, wobei ein Bereich von 5 % (+/- 2,5 %) um den
Nullpunkt als stagnierende Entwicklung, größere Rückgänge
(...) als Schrumpfung und höhere Zuwächse (...) als
Wachstum eingestuft wurden. Es wird angenommen, dass die
künftige Bevölkerungsentwicklung (...) als lineare
Trend-Exploration aus der zurückliegenden demographischen
Entwicklung abgeleitet wird.
(...).
337 Fälle (...) rahmen die Situation ihrer Kommune
entsprechend der gruppierten, objektiven
Bevölkerungsentwicklung. (...) Die übrigen 175 Fälle weisen
hingegen einen demographischen Mismatch auf. Der
Demographisierungshypothese entsprechend überwiegen
die Abweichungen nach unten. Während drei Bürgermeister
einer bisher gewachsenen Kommune zukünftig von Schrumpfung
ausgehen, erwartet keine bisher geschrumpfte Gemeinde
zukünftig ein lokales Bevölkerungswachstum, was zugleich
ein Indiz gegen die alternative
Unterschätzungshypothese darstellt.
(2013, S.203)
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Angesichts
der Präsenz von Bevölkerungsprognosen im öffentlichen Diskurs
ist das Ergebnis kaum verwunderlich. Die Wahrnehmung wird durch
die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme geprägt. Aber
was folgt aus dieser Erkenntnis?
Das geht zur
Frage über, inwiefern kommunale Probleme für gestaltbar erachtet
werden. Den Kommunen gelten insbesondere die Stadtentwicklung
und Stadtplanung gestaltbar. Das bürgerliche Engagement liegt im
Mittelfeld. Wenig beeinflussbar erscheint dagegen die
Arbeitsmarktpolitik (Fachkräftemangel und das Altern der
Arbeitnehmer spielen hier als demographisierende Deutungen eine
Rolle) sowie das sozialpolitische Problem der Armutsbekämpfung.
Die
Entwicklung der lokalen Steuereinnahmen und der lokalen
Arbeitslosigkeit als Bewertungsgröße sowie die
Handlungsalternativen von Kommunen
Inwiefern ein
enger Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und
kommunaler Situation besteht, kann anhand unterschiedlicher
Indikatoren gemessen werden. RADEMACHER wählt hierfür zum einen
die kommunalen Steuereinnahmen aus, die den eigenständigen
Handlungsspielraum von Kommunen kennzeichnen sollen. Die
Steuereinnahmen setzen sich aus Grundsteuer, der Gewerbesteuer,
der Umsatzsteuer und aus den gemeindespezifischen
Einkommensteueranteilen zusammen. RADEMACHER kontrolliert zudem
den Einfluss des kommunalen Finanzausgleichs
("Einwohnerveredelungen"), die sich von Bundesland zu Bundesland
unterschiedlich darstellen und von der jeweiligen Einstufung in
Gemeindegrößenklassen abhängig ist. Zum anderen wird die lokale
Arbeitslosigkeit betrachtet, die lediglich geschätzt werden
kann, weil dafür keine Zahlen der Bundesagentur für Arbeit
vorhanden sind.
Als
Handlungsalternativen beschreibt RADEMACHER die lokalen
Politikfelder Familien- und Altenpolitik, die mittels der
Bürgermeisterbefragung ermittelt wurden. Zum Bereich
freiwilliger Familienpolitik werden so unterschiedliche
Maßnahmen wie das Begrüßungsgeld für Zugezogene, Prämien für
zweite oder dritte Kinder, Bauprämien für kinderreiche Familien,
Ferienprogramme oder Kinderfeste gezählt. Bereits die Aufzählung
zeigt, dass eine Variable, die alle diese Maßnahmen gleichrangig
behandelt, kaum in der Lage ist den Einfluss von Familienpolitik
angemessen zu berücksichtigen, jedoch sollten zumindest Trends
sichtbar werden. Bei diesen Maßnahmen handelt es
sich um eine "vollständige Demographisierung", d.h. nicht
nur das Problem wird als demografisch erzeugt wahrgenommen,
sondern auch die Lösung ist im weiteren Sinne
bevölkerungspolitisch motiviert.
Bei der
Altenpolitik hat sich erst Mitte des Jahrtausends ein
Sinneswandel vollzogen, der bei RADEMACHER insofern zum Ausdruck
kommt, dass Kommunen im Jahr 2005 kaum freiwillige kommunale
Altenpolitik betrieben. RADEMACHER kommt zum Schluss, dass sich
Altenpolitik auszahlt, weil damit eine steigende Steuerkraft
verbunden ist. Dies steht im Einklang mit dem Ideal der
alterslosen Gesellschaft (Stephan LESSENICH) und dem damit
verbundenen neuen Bild des Alters. RADEMACHER führt dazu aus:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Kommunale
Seniorenpolitik bedeutet nicht nur, die Stadt für ältere
Mitbürger, die die Steuerkraft beeinflussen können, falls
sie im Lebensverlauf Kapital akkumulieren konnten (vgl.
Falken 2009: 76), attraktiver zu machen, sondern auch der
steigende Bedarf an sozialen Infrastrukturleistungen
scheint wichtig zu sein. Immer mehr Menschen sind bereit,
immer mehr Geld für ihre Gesundheit und Pflege auszugeben.
Im Kontext des Demographischen Wandels werden immer
häufiger positive Effekte einer Seniorenwirtschaft (Heinze
2011: 182f. und Berg 2009) und im Bereich der
Alterssoziologie eine beträchtliche Altersproduktivität (Naegele/Heinze
Schneiders 2010 ...) diskutiert. Pflege- und soziale
Dienstleistungen bilden einen stabilen Wachstumsmarkt
(...). Eine aktive Seniorenpolitik beeinflusst die
kommunalen Steuereinnahmen positiv, wenn diese
Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotentiale ausgeschöpft
werden. Kommunen, die dafür sorgen, dass die wachsenden
Bedürfnissen nach haushaltsnahen, personenbezogenen
sozialen Dienstleistungen (...) befriedigt werden, können
neben Kosten- auch Einnahmeeffekte erwartet werden.
Fraglich bleibt jedoch, ob die erzielten Einnahmen
kostendeckend sind. Um dies zu ermitteln, wären weitere
Analysen notwendig. Es steht jedoch fest, dass die Effekte
eines proaktiven Umgangs mit lokaler Alterung im
Schrumpfungsdiskurs bisher kaum reflektiert werden."
(2013, S.239f.)
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Es lässt sich
also festhalten, dass Altenpolitik durchaus positive Effekte
zeitigen könnte. Inwiefern dies der Fall ist, muss jedoch
weiteren empirischen Untersuchungen überlassen werden.
Die
Folgen lokaler Demographisierung
Das Ziel
seiner Untersuchung ist gemäß RADEMACHER die Aufklärung der
Wirkungszusammenhänge im Bereich der ökonomischen und der
demografischen Rahmenbedingungen. Dazu verwendet er nicht die
üblichen Ranking- , Cluster- oder Varianzanalysen, sondern
unterschiedliche Regressionsmodelle. RADEMACHER überprüft anhand
der Steuerkraft der Kommunen, ob Bevölkerungsentwicklungen ("Populationismusthese")
und Altersstrukturveränderungen (Alterungsthese) tatsächlich zum
ökonomischen Niedergang führen. RADEMACHER kann keinen
systematischen Zusammenhang entdecken. Er vermutet, dass durch
den vertikalen Finanzausgleich die Zusammenhänge überlagert
werden. Insofern hätte die absolute Gemeindegröße einen größeren
Einfluss als relative Bevölkerungsentwicklungen. RADEMACHER
weist darauf hin, dass bereits Vorschläge für Anpassungen des
kommunalen Finanzausgleichs existieren, kritisiert aber, dass
zuerst einmal eine solide Datengrundlage geschaffen werden
müsste:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Wie
groß die Steuereinnahmen einer Kommune sind, scheint kaum
von kurzfristigen Bevölkerungsentwicklungen und noch
weniger von der Altersstruktur der Kommunen abzuhängen.
Dass Kommunen mit einer älteren Bevölkerung grundsätzlich
geringere Steuereinnahmen haben, lässt sich entgegen der
Alterungsthese nicht eindeutig nachweisen. Solange der
kommunale Finanzausgleich sich vor allem an
Einwohnerzahlen und nicht an der Altersstruktur und damit
verbundenen Kostenprofilen (Freigang/Kempkes 2008,
Seitz/Kempes 2007, Seitz 2006, 2004) orientiert, gehen
interkommunale Ausgleichsysteme von einer Bedarfsstruktur
aus, die möglicherweise gar nicht (mehr) besteht. In
diesem Zusammenhang wird eine zielgerichtete, dynamische
Anpassung des Finanzausgleichs, an sich verändernde
Alterstrukturen diskutiert (vgl. Falken 2009: 74).
Für die Berücksichtigung langfristiger demographischer
Entwicklungen müsste aber erst eine Datengrundlage
geschaffen werden. Es besteht nach wie vor eher ein Mangel
an validen Daten für interkommunale Vergleiche, deshalb
befürwortet ein aktuelles Fachgutachten (Gerlach/Hehl/Juncke
2010: 86, 196f.) die Schaffung einer Datenbank, die
Konzepte kommunaler Familienpolitik und ihre Evaluationen
zusammenführt (vgl. Kreyenfeld 2004). Außerdem wird ein
bundesweit einheitliches Monitoring mit klaren Indikatoren
nach dem Beispiel des kommunalen Audits in
Nordrhein-Westfalen gefordert (Gerlach/Hehl/Juncke 2010:
102)."
(2013, S.235)
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Eine Gefahr
könnte sein, dass statt einer Verbesserung der Datengrundlage
die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme zu einer
Änderung des kommunalen Finanzausgleichs im Sinne des
vorherrschenden Demographismus führt.
Fazit:
Das Buch dient der Versachlichung in der Debatte um den
demografischen Wandel
Die
Untersuchung von RADEMACHER ist im Zusammenhang mit dem
Perspektivenwechsel hinsichtlich des demografischen Wandels zu
sehen. Seit Mitte
der Nuller Jahre wird der "reine Alarmismus" abgelöst von einer
Sichtweise, die eher die Chancen als die Gefahren sieht, wobei
RADEMACHER eine Mittelposition vertritt, die im demografischen
Wandel ein Risiko sieht. Mit
seiner Überprüfung der Demografietypen der privaten,
neoliberalen Bertelsmann Stiftung hat RADEMACHER gezeigt, dass
die Zusammenhänge zwischen der Bevölkerungsentwicklung und der
kommunalen Entwicklung keineswegs so eng sind, wie sie in der
öffentlichen oder auch fachlichen Debatte beschrieben werden.
Dieser Nachweis ist ein wichtiger Schritt zur weiteren
Versachlichung der Debatte um den demografischen Wandel. Die Demographietypen beschreiben
gemäß RADEMACHER weniger die Handlungsfähigkeit von Kommunen im
Umgang mit dem demografischen Wandel als die Ungenügsamkeiten
des vertikalen Finanzausgleichs und der gegenwärtigen Datenlage.
Ein anderes Untersuchungsdesign hätte jedoch auch einen
Zusammenhang zwischen Demographisierung und Lebensqualität
der Bürger herstellen können, dann wären die sozialen Folgen der
Demographisierung für die Bewohner von Kommunen besser in den
Blick geraten. Kritisch einzuwenden ist deshalb, dass RADEMACHERs Untersuchung letztlich nicht frei von
Demographisierungen ist, d.h. die Kritik an der
Demographisierung gesellschaftlicher Probleme geht nicht weit
genug. Der wissenssoziologische Zugang lässt die
gesellschaftlichen Machtverhältnisse unberücksichtigt, die zur
Verbreitung des vorherrschenden Demographismus geführt haben. Die politischen Machtkämpfe, z.B. die
Debatte um den Länder- bzw. kommunalen Finanzausgleich, die auch
zu Klagen gegen den Zensus 2011 führen, müssen als
gesellschaftliche Rahmenbedingungen solcher Forschungen immer
mitreflektiert werden. Lässt man diesen Kontext außer Acht,
bleiben die Leerstellen, auf die hier hingewiesen werden,
unsichtbar und führen zu Verkürzungen der Problematik. Alles in
allem ist die Untersuchung jedoch ein wichtiger Beitrag zur
Versachlichung, da sichtbar wird, inwiefern eine private
Stiftung wie die Bertelsmann Stiftung Einfluss nicht nur auf die
öffentliche Meinung hat, sondern bis hinein in die
wissenschaftliche Durchdringung des Gegenstands "demografischer
Wandel" reicht. Es ist deshalb zu wünschen, dass das Buch viele
Leser findet und dadurch eine längst überfällige Debatte um die
Demographisierung gesellschaftlicher Probleme in den Fokus des
öffentlichen Diskurses und der Wissenschaft rückt.
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