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Herbstthema

 
       
   

Die netten Jahre sind vorbei, Teil 1 (Fortsetzung)

 
       
   

Formiert sich eine neue politische Generation? Droht ein Generationenkrieg wegen den Babyboomern? Die Generation Leistungsträger erobert den Buchmarkt

 
       
     
       
   
     
 

Generation als Argument: Die Debatte um die Wohlfahrtsgenerationen in den Sozialwissenschaften

In ihrem hervorragendem Buch Generation als Argument (2010) hat die Politikwissenschaftlerin Christina MAY die Konflikte um die Rentenversicherung in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden untersucht. In der Diskussion um so genannte Wohlfahrtsgenerationen geht es um die "Idee eines Kampfes verschiedener Geburtskohorten um knappe Ressourcen". Erfunden hat diese Idee eines Generationenkrieges um Sozialleistungssysteme, die Verlierer- und Gewinnergenerationen erzeugen, der neuseeländische Historiker David THOMSON im historischen Jahr 1989. Wohlfahrtsgenerationen sind dann in den 1990er Jahren zu einem schlagkräftigen Argument in der öffentlichen Debatte geworden. MAY kritisiert u. a. dass in der Debatte nicht zwischen Kohorten, Generationen und Altersgruppen unterschieden wird.

Generation als Argument

"Das einfachste Konzept ist das der Kohorte, das eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die im selben Jahr oder in wenigen aufeinander folgenden Jahren geboren wurden. Eine Generation basiert auf dem Kohortenbegriff und geht über ihn hinaus, indem sie ebenso das Erleben derselben historischen Ereignisse voraussetzt, das ein kollektives Bewusstsein der jeweiligen Gruppe zur Folge haben kann. Während man in eine Kohorte oder Generation hineingeboren wird und ein Leben lang in ihr verbleibt, ist das Konzept der Altersgruppe darauf ausgelegt, dass die jeweils zu ihr gehörigen Individuen im Laufe der Zeit wechseln. Jeder gehört einmal zu den »Jungen« und später höchstwahrscheinlich auch zu den »Alten« - und zu jeder weiteren Gruppe, die dazwischen hinzudefiniert wird."
(2010, S.20)

In einem Aufsatz aus dem Jahr 2007 beschreibt MAY dass, die Aufstellung von Generationenbilanzen, wie sie von Generationengerechtigkeitsvertretern wie Bernd RAFFELHÜSCHEN als Problemlösung angesehen werden, bereits an einem Datenproblem scheitern. Für die Rentenversicherung zeigt MAY die Unmöglichkeit einer objektiven Beurteilung auf.

Generation(en) 1957? - Die Rentenreform als Ausgangspunkt einer Kohortenprägung im Nachkriegsdeutschland

"Bezogen auf die gesamte Entwicklung der Rentenversicherung seit der Reform bis zum heutigen Tag müsste man sämtliche Kohorten, die 1957 und seither gelebt haben, unterschiedlichen Generationslagerungen zuordnen können. Genau an diesem Problem der Abgrenzung generationeller Einheiten aber ist die bestehende Forschung zu Generationen immer wieder gescheitert (...).
Um eine umfassende Analyse der Auswirkungen der gesetzlichen Rente seit 1957 im Sinne der vorgestellten Annahmen zur generationellen Prägung anzufertigen, würde man Lebenslaufdaten von gesamten Kohorten, schätzungsweise seit dem Geburtsjahrgang 1850, benötigen. Diese Daten müssten dann für alle Verrentungskohorten bis zum heutigen Zeitpunkt in Zeitreihenanalysen verglichen werden. Abgesehen davon, dass dies, selbst für eine Stichprobenziehung von nur einem Prozent, eine unglaubliche Menge an zu bewältigenden Daten bedeuten würde, ist das erste und vordringlichste Problem darin zu sehen, dass diese Daten überhaupt nicht existieren (...)."
(Deutsche Rentenversicherung, Heft 2-3, 2007, S.151f.)

In der Debatte herrschen allein schon deshalb grobe Vereinfachungen vor. Da die objektive Betroffenheit also nicht ermittelbar ist, geht man in den Sozialwissenschaften ersatzweise vom gesellschaftlichen und demografischen Wandel und vom Erleben einzelner Kohorten aus. Auch MAY sieht darin einen sinnvollen Ausgangspunkt.

Generation(en) 1957? - Die Rentenreform als Ausgangspunkt einer Kohortenprägung im Nachkriegsdeutschland

Überzeugender ist es "den Wandel in der Rentengesetzgebung, die historischen Bedingungen für das Erleben einzelner Kohorten sowie weitere Indikatoren wie den Wandel der Arbeitszeit, das Arbeitslosigkeitsrisiko, die demografische Entwicklung usw. herauszuarbeiten, um von dieser Warte aus einen Wandel in der Lebenswirklichkeit und die Erfahrung sozialer Sicherheit durch verschiedene Generationen feststellen zu können. Dies gilt nicht nur für den Fokus auf Rentnergenerationen, sondern wahrscheinlich für alle auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu untersuchende generationelle Lagerungen. Durch die Beschreibung dieses Wandels erhält man ein wertneutraleres und vor allem differenzierteres Bild wohlfahrtsstaatlicher Einflüsse auf Kohorten."
(Deutsche Rentenversicherung, Heft 2-3, 2007, S.152)

In der öffentlichen Debatte nehmen immer wieder Sozialwissenschaftler Stellung. Vor allem der Soziologe Heinz BUDE (Generation Berlin) als auch der Historiker Paul NOLTE (Generation Reform) greifen aktiv in die Konstruktion von politischen bzw. ökonomischen Generationen ein. Ausführlich hat sich single-generation.de bereits 2003 mit den Sozialstaatsgenerationen, die bei MAY Wohlfahrtsgenerationen genannt werden, in der Sicht von Heinz BUDE befasst .

BUDE hatte in seinem Beitrag Koloss auf tönernen Füßen nicht - wie es seit einigen Jahren üblich ist - die Babyboomer als Gewinnergeneration im Visier, sondern die 68er. Es gibt also beim Thema eine Verschiebung im Fokus. Waren während der Auseinandersetzung um die Agenda 2010 noch die 68er das Feindbild, so sind mit dem Altern der Generationen nun die Nach-68er-Generationen in den Mittelpunkt gerückt. 

Koloss auf tönernen Füßen

"Diese um 1940 geborenen Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs sind die eigentlichen Profiteure des westdeutschen Wohlfahrtsstaates. Die hatten gegenüber der Flakhelfer-Generation den zusätzlichen Vorteil, dass sie in die expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit hineingeboren worden sind, was ihnen enorme berufliche Chancen eröffnet hat. Für sie war der Wohlfahrtsstaat nicht nur ein Sicherungsinstitut, sondern auch gleichzeitig eine Beschäftigungsmaschine."
(Berliner Republik, Heft 5, 2003, S.26)

Die Interessenlagen sind nicht stabil, sondern ständig werden neue Generationenlagerungen auf die politische Agenda gesetzt. Wer sich heute noch als Opfer fühlt, der könnte morgen schon als Täter angeprangert werden.

Im Buch von HARTUNG & SCHMITT muss man sich fragen, welchen Begriff sie überhaupt von einem Generationenkonflikt haben. Mit den Eltern versteht man sich gut, d.h. ein  familialer Generationenkonflikt wie bei den 68ern ist nicht vorgesehen. Dass Eltern zum Pflegefall werden und dies zu familiären oder gar politischen Konflikte führen könnte, das ist noch kein Thema für die effizienten Idealisten . Die Schaffung von infrastrukturellen und institutionellen Voraussetzungen überlassen sie gerne ihren Vorgängern.

MAY wirft angesichts der sozialwissenschaftlichen Konstruktion von Wohlfahrtsgenerationen (z.B. Heinz BUDE und Lutz LEISERING) die Frage auf, ob die Gewinner- und Verlierergenerationen wirklich so homogen sind, wie sie in diesen Analysen erscheinen, oder ob nicht verschiedene soziale Gruppen unterschiedlich betroffen sind bzw. ungleiche Risiken innerhalb von Gewinner- und Verlierergenerationen viel gravierender sind.

Generation als Argument

"Was (...) sowohl Thomson als auch Leisering und Bude vollkommen außer Betracht lassen, sind Differenzierungen innerhalb von Generationen. So ist anzunehmen, dass Frauen und Männer, Geringverdiener und Besserverdiener jeweils unterschiedlich von sozialstaatlichen Maßnahmen betroffen werden, auch wenn sie derselben Kohorte angehören. Es wäre hier zu fragen, ob sich trotzdem verschiedene Wohlfahrtsgenerationen abgrenzen lassen, vielleicht können sogar verschiedene soziale Gruppen unterschiedlich generationell geprägt werden. Man müsste dann vielleicht spezielle Frauengenerationen, Arbeitergenerationen, usw. innerhalb verschiedener Wohlfahrtsgenerationen identifizieren können.
Darüber hinaus sind bestimmte Risiken nicht gleich über eine Kohorte verteilt. Von Arbeitslosigkeit und Armut sind beispielsweise vor allem niedrig gebildete Gruppen betroffen, die ohnehin ein geringes Einkommen beziehen (...). Beachtenswert ist weiter, dass etwa in Deutschland zwischen den neuen und den alten Bundesländern differenziert werden muss (...). Unerforscht ist auch die mögliche sozialpolitische Prägung von Migranten (...).
(2010, S.47)

Während MAY von unterschiedlichen "Generationen innerhalb von Wohlfahrtsgenerationen" spricht, wäre es sinnvoller von Generationeneinheiten zu sprechen. Diese Vorgehensweise  wurde auf dieser Website am Beispiel der Generation Golf angewandt . Die Einwände von MAY zeigen, dass der Kampf um die Rente viel differenzierter betrachtet werden muss als er in populärwissenschaftlichen Sachbüchern oder Generationenbüchern dargestellt wird. Denn was ist das für ein seltsamer Kampf den HARTUNG suggeriert? Ein 1981Geborener gegen einen 1964 Geborenen. Dazwischen liegen gerade einmal 17 Jahre. An das eigene Altern, das heißt daran dass Generationen auch immer Altersgruppen sind, wird kein Gedanke verschwendet, denn das könnte ja die Sache der Revoluzzer gefährden. Stattdessen soll der Leitbegriff Generationengerechtigkeit für einen Generationenkonflikt herhalten. Aber wie sieht der Kampf um die Rente in der Realität eigentlich aus und welche Bedeutungsverschiebungen gehen mit dem neuen Leitbegriff Generationengerechtigkeit einher?

Der Kampf um die Rente: Oder ein Paradigmenwechsel, den es gar nicht geben durfte

Seit einiger Zeit haben die deutschen Politikwissenschaftler einen Erklärungsnotstand. Wie konnte es zum Abschied von der dynamischen Rente kommen? Riester-Rente (2001) und Nachhaltigkeitsgesetz (2004) führten dazu, dass das Ziel der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgegeben wurde. Wer die dadurch entstandene Sicherungslücke nicht schließt, der ist fortan für die Folgen selbst verantwortlich. Alle gängigen politikwissenschaftlichen Theorien sprachen dagegen und dennoch ist es passiert.

Eine prominente Rolle spielten dabei demografische Argumente und die von der Finanzbranche angestossene "Popularisierung eines renditeorientierten Verständnisses der Altersvorsorge". Ohne die Wertidee Generationengerechtigkeit wäre dies jedoch nach Ansicht von Hans Günter HOCKERTS erfolglos geblieben. Diese hatte ab 1996 Hochkonjunktur. HOCKERTS schildert u. a. wie die Finanzbranche ihre Interessen durch so genannte "Thinktanks" wahrte und die Medienkampagne beeinflusste.

Abschied von der dynamischen Rente - Über den Einzug der Demografie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung

"Symptomatisch ist eine Titelgeschichte des »Spiegel« von Februar 1997. Unter der Schlagzeile »Wie die Alten die Jungen ausplündern« sah man eine auf die Spitze gedrehte Alterspyramide, die den demografisch programmierten Einsturz der herkömmlichen Solidaritätsbeziehungen suggestiv vor Augen führte. Der »Spiegel« machte sich auch die Botschaft zu eigen, dass die staatliche Rente künftig nicht mehr ausreichen werde, sondern »der Ergänzung durch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge« bedürfe. Statistische Daten bezog das Blatt vom »Deutschen Institut für Altersvorsorge« - einem 1997 gegründeten Thinktank, der sich bei näherem Hinsehen als »100%ige Tochter der Deutschen Bank« erwies."
(in: Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, herausgegeben von Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde, Bonn: Dietz Verlag, 2010, S.272)

Wenn HARTUNG also Generationengerechtigkeit als Kampfbegriff entdeckt und meint, dass seine Generation die "Revolution mit Worten" beherrsche, dann übersieht er, dass die Zeiten, in denen Generationengerechtigkeit eine Deutungsinnovation war, zu Ende gehen. Inzwischen werden dadurch die Interessenlagen sichtbarer. Auch hat der Begriff der Generationengerechtigkeit unter der Finanzkrise gelitten.

HARTUNG setzt seine Hoffnungen nicht auf Utopien, sondern auf Dystopien. Es zeigt sich jedoch, dass inzwischen nicht mehr jede Dystopie erwünscht ist. So hat z.B. in der aktuellen Debatte um Thilo SARRAZIN das Statistische Bundesamt erstmals den üblichen medialen Gebrauch von Bevölkerungsvorausberechnungen im Rahmen von Dystopien in Misskredit gebracht. Es handelte damit im Sinne des Kritikers Gerd BOSBACH. Der demografische Wandel verliert dadurch etwas von seinem bisherigen Sachzwangcharakter.

Seit Jahrzehnten war in den deutschen Nachrichtenmagazinen das Schlagwort vom Reformstau zu lesen. Seit kurzem gibt es in den Politikwissenschaften einen Konsens darüber, dass die Rentenreformen der letzten Jahrzehnte zu einem Paradigmenwechsel geführt haben, die selbst im internationalen Vergleich ihresgleichen suchen. Das angeblich unreformierbare Rentensystem hat sich als reformfähiger erwiesen als alle Theorien erwartet hatten.

Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat. Deutschland im internationalen Vergleich

"Die Rentenreformen seit den frühen 1980er Jahren haben, so kann (...) zusammengefasst werden, in ihrer Dynamik letztlich einen bedeutsamen Pfadwechsel bewirkt. Dies zeichnet die bundesdeutsche Reformpolitik auch im internationalen Vergleich aus. (...). Somit kann nicht nur die These eines Reformstaus zurückgewiesen werden, es muss zudem attestiert werden, dass trotz unverändert (hoher) Ausgabedaten eine programmatische Zäsur erreicht wurde."
(Sven Jochem 2009, 272)

Abschied von der dynamischen Rente - Über den Einzug der Demografie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung

"Mit der Riester-Reform 2001 und dem Nachhaltigkeitsgesetz 2004 hat die Politik der Alterssicherung sich von den beiden Kernelementen der dynamischen Rente verabschiedet. Denn die gesetzliche Rentenversicherung hat das Ziel der Lebensstandardsicherung aufgegeben, ebenso das Prinzip der gleichwertigen Entwicklung von Löhnen und Renten. Das Rentenniveau wird daher langfristig deutlich sinken. Kritiker rechnen vor, dass Durchschnittsverdiener im Jahr 2030 nicht weniger als 37 Beitragsjahre benötigen werden, um im Alter von 65 Jahren eine Rente zu erhalten, die zur Armutsvermeidung ausreicht. (...).
Zum erstaunlichen dieses Kurswechsels zählt, dass er mehrere altvertraute Annahmen der Sozialstaatsforschung infrage stellt. (...) Bemerkenswert ist auch, dass die Umsteuerung einem demoskopischen Befund zuwiderlief: In der deutschen Bevölkerung gab es eine breite Zustimmung für die Beibehaltung des Rentenniveaus, auch wenn dafür die Steuern oder Beiträge erhöht werden müssten."
(in: Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, herausgegeben von Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde, Bonn: Dietz Verlag, 2010, S.257f.)

Dennoch reichen den Kritikern die Veränderungen bei weitem nicht . Man kann deshalb davon ausgehen, dass das Alterssicherungssystem weiterhin reformiert wird. Dazu braucht es keinen Generationenkonflikt à la HARTUNG, denn es besteht ein breiter Konsens der gesellschaftlichen Eliten quer durch die Generationen oder anders ausgedrückt: die obere Mittelschicht ist sich einig, nur der Weg wird kontrovers diskutiert. Im Parteiensystem ist einzig die Linkspartei Repräsentant der Reformgegner und gilt deswegen als Sammelbecken für die Ewiggestrigen.

Das Urteil von Christina MAY über die gesamtgesellschaftliche Generationenprägung durch die Rentenversicherung - wie sie z.B. von Heinz BUDE behauptet wurde - ist vernichtend. Sie existiert nicht, weshalb MAY zum Schluss kommt, dass es sich bei den Wohlfahrtsgenerationen um ein reines Diskurskonstrukt handelt. Deshalb hat MAY die Medienberichte zu den Gewinner- und Verlierergenerationen in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten untersucht, denn auch reine Diskursphänomene können die Realität verändern. MAY hat die Mediendebatten zu 4 Umbruchszeiten in Deutschland, Großbritannien und Niederlande verglichen. Für Deutschland wurden die Medienberichte der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Große Rentenreform 1957, die Rentenreform 1972, 1992 und die Riesterreform 2001 ausgewählt. Bei allen deutschen Reformen war demnach die Rede von Generationen und vom Generationenvertrag von großer Bedeutung. HOCKERTS, der auch noch die Reform 2004 in seine Betrachtungen einbezieht, weist darauf hin, dass in den 1990er Jahren der Begriff Generationengerechtigkeit den Begriff Generationenvertrag als Schlüsselbegriff zu verdrängen beginnt.

MAY kommt zum Schluss, dass sich Generationenkonflikte und die Idee der Generationengerechtigkeit gut für den Rückbau von sozialstaatlichen Leistungen eignen, dass aber Generationenkonflikte auch - wie in den Niederlanden - thematisiert werden, ohne dass es um einen Paradigmenwechsel geht. MAY nimmt deshalb mit Frank NULLMEIER & Friedbert W. RÜB an, dass der Generationenkonflikt auch als Deutungsinnovation verstanden werden kann, mit der unangenehme Reformen legitimiert werden können.

MAY hat zudem aufgezeigt, dass Generationenkonstruktionen sehr häufig von Wissenschaftlern in die Debatten eingebracht wurden, die sich selbst als Angehörige der von ihnen prognostizierten Verlierergenerationen fühlen. 

Generation als Argument

"In der Medienanalyse konnte gezeigt werden, dass das Konzept »Wohlfahrtsgeneration« anteilsmäßig sehr häufig von Wissenschaftlern in den Diskurs eingebracht wird. (...). Es gibt (...) durchaus Anhaltspunkte, auch in der wissenschaftlichen Debatte strategische Motive für die Verwendung des Generationenkonzeptes zu identifizieren: Die hier betrachteten federführenden Theoretiker der Wohlfahrtsgenerationen David Thomson, Lutz Leisering und Heinz Bude sind alle Mitte der 1950er Jahre geboren und damit Mitglieder der Kohorte, die von ihnen selbst als »Verlierergeneration« postuliert wird. Sie befürchten offensichtlich, dass sie nicht das bekommen, was ihnen zusteht, dass in ihrem Fall also die Reziprozität des »Generationenvertrags« verletzt wird. Sie weiten diese Befürchtung im Kontext des Wohlfahrtsgenerationenansatzes auf ihre gesamte Kohorte aus, ohne jedoch mitzubedenken, dass andere Mitglieder dieser Gruppe - etwa Geringverdiener - in diesem System mit anderen Problemlagen zu kämpfen haben. Egal, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht - durch die Ausweitung der Problemlage einer Gruppe der Gesellschaft auf eine gesamte Kohorte bekommt diese Thematik ein ganz anderes Gewicht und hat so größere Chancen, öffentlich debattiert zu werden.
(2010, S.282)

MAY sieht aufgrund der Verhältnisse bezüglich der Rentenversicherung Generationen nicht als Kategorie "neuer sozialer Ungleichheiten", sondern als Argumente der Identitätspolitik.

Zum Zusammenhang zwischen Generation und Ungleichheit ist im übrigen der gleichnamige Sammelband von Marc SZYDLIK aufschlußreich. Vor allem der Beitrag von Reinhold SACKMANN zeigt, wie politische Unternehmer in den USA erfolgreich Generationsinteressen organisieren konnten. Dies ist es offenbar, was Manuel J. HARTUNG als Revolution der Worte meint. Das Beispiel zeigt aber auch, dass solche verdeckte Lobbyarbeit auch Gefahren birgt. In Deutschland kam z.B. der Generationengerechtigkeitsbefürworter Daniel DETTLING und sein ThinkTank BerlinPolis vor einiger Zeit in die Schlagzeilen.

Institutionalistische Generationsanalyse sozialer Ungleichheit

"Politische Unternehmer spielen eine wichtige Rolle bei der Organisation von Interessen, die nicht objektiv vorhanden, sondern auch kreativ geschaffen werden können.
(...).
Ein Beispiel für die zunehmende Organisierbarkeit auch von Generationsinteressen bietet die generational equity Debatte in den USA in den 1980er Jahren (...). Es standen sich (...) zwei Generationsverbände mit charakteristischen Problemen und Möglichkeiten gegenüber: AARP, einer der mitgliederstärksten Verbände der USA überhaupt, der die Interessen amerikanischer Rentner vertritt. Ein schlafender Riese, der aufgrund der Heterogenität der Mitgliederinteressen nicht immer kampagnefähig ist. Ihm gegenüber stand AGE, Americans for generational equity, ein kleiner issue-Verband, der von politischen Unternehmern geschaffen und professionell geführt wurde. Dieser Verband versuchte einen neuen frame zu setzen: »Generationengerechtigkeit«. Aus diesem frame konnten polarisierende Aussagen abgeleitet werden, wie die, dass die »Sozial«-Versicherung Rentenversicherung nicht sozial sei, da sie die »junge Generation« benachteilige. Der frame formiert (über eine ideologische Innovation) eine Interessenlage, die durch eine schnelle Medienverbreitung Aufmerksamkeit erregt. Ein issue war geschaffen. AGE zeigt allerdings auch die Grenzen der Macht von issue-Verbänden. Durch Skandale der politischen Unternehmer des Verbandes verlor er rasch an Glaubwürdigkeit ebenso wie durch das Bekanntwerden eines intensiven Sponsoring des Verbandes durch eigeninteressierte Finanzunternehmen.
Diese in Ansätzen auch in Deutschland erkennbare Organisationskonstellation verdeutlicht, dass »schwache Interessen« wie z.B. generationsspezifische Interessenlagen durchaus organisierbar sind."
(aus: Generation und Ungleichheit 2004, S.43)

Die Interessen der Erbengeneration und der Generationenkonflikt

HARTUNG malt ein Szenario aus, das nach allen politikwissenschaftlichen Analysen unhaltbar ist, und fragt, wie das schöne Leben der Rentner in Zukunft finanziert werden soll.

Die netten Jahre sind vorbei

"Für unsere Generation ist es gefährlich. Denn wie soll das finanziert werden? Durch einen Generationen-Soli der werktätigen Bevölkerung? Durch eine höhere Einkommenssteuer? Durch eine Extra-Erbschaftssteuer, sodass das Vermögen unserer Eltern über diesen Weg in die Taschen der Babyboomer wandert? Durch einen rapiden Anstieg unserer Beiträge zur Rentenversicherung, sodass wir von unserm Brutto 60, 70 Prozent abgeben müssen? Durch Extraneuverschuldung, die dazu führt, dass die Schulden des Staates unser Leben und das Leben unserer Kinder abschnüren? Die Rentensysteme sind nicht gemacht für so viele Menschen, die Geld bekommen und so wenige, die Geld einbezahlen. Sie sind nicht gemacht für so viele Menschen, die so alt werden. Sie sind nicht gemacht für eine Entscheidung, die nur zwei Extreme kennt: Entweder kollabiert das System. Oder die künftigen Generationen werden erdrückt."
(2010, S.182)

Zwischen der jahrzehntelangen medialen Inszenierung der Rentenkrise und den tatsächlich erwartbaren Entwicklungen klaffen himmelweite Unterschiede. Wie oben gezeigt, sind US-amerikanische Verhältnisse nicht zu erwarten, weil die Babyboomer gar nicht das Ausmaß besitzen, um die Gesellschaft in einen Ausnahmezustand zu versetzen.

Ganz eindeutig werden in der Öffentlichkeit die Wirkungen der vergangenen Rentenreformen unterschätzt. Dies ist der neueren politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre zu entnehmen. Daran ändert auch die im Mai 2009 verabschiedete Rentengarantie nichts Grundsätzliches und selbst ein Aufschub der Rente mit 67 wäre nicht die entscheidende Wegmarke. Dies liegt vor allem auch daran, weil die jüngere Generation mächtige Verbündete hat, die keine Generation vor ihnen hatte: die Elterngeneration der 68er und die nachrückende Generation Berlin, die mit Heinz BUDE, Paul NOLTE oder Bernd RAFFELHÜSCHEN - um nur die prominentesten Wissenschaftler zu nennen - die Debatten entscheidend prägen.

In der Erbengeneration sind die Vermögen sehr ungleich verteilt, weswegen die Debatte um die Erbschaftssteuer kommen wird. Es ist jedoch kaum zu befürchten, dass die Debatte mehr als symbolische Politik bringen wird. Mit der Peter SLOTERDIJK-Debatte und der "Mehr Netto vom Brutto"-Bewegung war bereits ein Vorgeschmack auf die kommenden Klassenkonflikte zu spüren. Ein kritisches Buch zur Debatte mit dem Titel Angriff der Leistungsträger? ist verglichen mit den Auflagen von Generationenkriegbüchern ein Ladenhüter.

Generationenbilanzen lassen u. a. die privaten Transferströme völlig außer acht, weswegen sie zu falschen Einschätzungen kommen. Welche Vorteile die junge Generation im Vergleich zu den kinderreicheren Vorgängergenerationen hat, das zeigt z. B. Hans Günter HOCKERTS.

Abschied von der dynamischen Rente - Über den Einzug der Demografie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung

"Die Älteren als Zechpreller der Jüngeren - in diesem Bild blieben wichtige Zusammenhänge ausgeblendet, insbesondere der durch öffentliche Investitionen für die Zukunft gestiftete Nutzen und die privaten Transferströme, die als Schenkung oder Erbschaft ganz überwiegend von den Älteren zu den Jüngeren verlaufen. Für den erbenden Nachwuchs wirkt sich der Bevölkerungsrückgang sogar sehr vorteilhaft aus, denn die sinkende Geburtenrate erhöht das pro Kopf zu vererbende Vermögen. Das privat vererbbare Nettovermögen erreichte 1999 das 1,25-Fache des Bruttoinlandsprodukts - eine gewaltige, freilich extrem ungleich verteilte Erbschaft."
(in: Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, herausgegeben von Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde, Bonn: Dietz Verlag, 2010, S.257f.)

Generationengenossen von HARTUNG wie z.B. der Politikwissenschaftler Wolfgang GRÜNDINGER ("Aufstand der Jungen"), Jahrgang 1984, haben inzwischen - durch die Finanzkrise sensibilisiert - die Vorteile der gesetzlichen Rente schätzen gelernt.

"Die Jungen werden verschaukelt"

"Yvonne Globert: Sie haben an Ihrem Buch vor Einbruch der Finanzkrise gearbeitet. Hätten Sie es mit dem Wissen von heute anders geschrieben?
Wolfgang Gründinger: Im Prinzip hätte ich es etwa genauso geschrieben, aber wohl noch stärker die Kapitaldeckung bei der Rentenversicherung kritisiert - ich möchte nicht wissen, wie viele Leute darauf gebaut haben, über den Kapitalmarkt ihre Altersvorsorge zu sichern, und wie viele jetzt mit leeren Taschen dastehen."
(Frankfurter Rundschau vom 14.04.2009)

In dem 2009 von Harald KÜHNEMUND & Marc SZYDLIK herausgegebenen Sammelband Generationenforschung werden - im Gegensatz zur üblichen Betrachtungsweise in der öffentliche Debatte - öffentliche und private Transfers zwischen den Generationen betrachtet, sodass sich ein differenzierteres Bild der Generationensolidarität ergibt .

Der Fall Thilo SARRAZIN, den aktuell sowohl Spiegel als auch Focus auf dem Titel haben, zeigt, dass in nächster Zeit die Einwanderungspolitik als weitere Form qualitativer Bevölkerungspolitik auf der politischen Agenda steht. HARTUNG & SCHMITT gehören zur Generation Elterngeld, jenes Instrument, das 2006 den Einstieg in die qualitative Bevölkerungspolitik brachte.

Generation Elterngeld: Oder der neue Feminismus

Die Hausfrauenehe ist für die 20 - 35Jährigen kein Thema mehr. Lebensmodelle, die in den vorangegangenen Generationen noch kontrovers diskutiert wurden - in Form von Kind oder Karriere - haben den Spielraum erweitert.

Die netten Jahre sind vorbei

"Am liebsten setzen wir auf mehrere Quellen, die uns Glück und Anerkennung sichern. Uns überzeugt weder das Modell Hausfrau noch das Modell kinderloser Single mit Topjob.
(...).
Wenn es sich ergibt, dass wir Hausfrau oder kinderlose Single-Karrierefrau sind, ist das kein Weltuntergang. Wir machen keine Ideologie aus unserem Lebensmodell. Aber wir stellen uns gerne breiter auf."
(2010, S.109f.)

Die Partnerschaft auf Augenhöhe ist das Mittelschichtideal. Das Single-Dasein ist als normale Lebensphase akzeptiert in der paar- und familienorientierten Gesellschaft.

Im Grunde setzt sich bei der jungen Generation nur fort, was sich bereits in den vorangegangenen Generationen angedeutet und immer mehr konkretisiert hatte. Diese gegenwärtige Entideologisierung ist aber auch der erfolgreichen Durchsetzung des Elterngeldes geschuldet. Bis zum Jahr 2006 tobte ein heftiger Kampf um Lebensweisen jenseits der klassischen Hausfrauenehe. Die Generation Kinderlos stand am Pranger .

Diese Zeiten sind gegenwärtig vorbei. Niemand kann mehr die falsche Behauptung aufstellen, dass westdeutsche Akademikerinnen zu 40 % kinderlos seien. Dafür hat auch diese Website gekämpft. Sozusagen über Nacht waren plötzlich nur noch weniger als 30 % Akademikerinnen kinderlos. Nicht wegen eines unerwarteten Babybooms in Deutschland, sondern weil die Statistik endlich auch die Geburten der zunehmenden Zahl unehelicher Kinder richtig zählte. Aber auch auf dem niedrigeren Kinderlosenniveau geht der ideologische Konflikt weiter wie ein Spiegel-Interview von Britta SANDBERT mit Elisabeth BADINTER über ihr aktuelles Buch Der Konflikt zeigt.

"Frauen sind keine Schimpansen"

"Badinter: Ich finde sehr interessant, was gegenwärtig in Deutschland passiert, es sind erste Anzeichen für all das, was kommen wird: Frauen - vor allem solche, die studiert haben, die interessante Berufe haben - bekommen keine Kinder mehr. Sie stellen für sich das deutsche Modell der Mutter in Frage. 28 Prozent der westdeutschen Akademikerinnen entscheiden sich gegen Kinder, das ist ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit. Das bedeutet, zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren kann man nicht mehr sagen: Frau gleich Mutter. (...). Sie definieren damit das Frausein neu und zeigen, dass eine Frau auch so glücklich sein kann. Das ist eine Revolution
SPIEGEL: Eine positive Revolution?
Badinter: Mir wäre es lieber, die Frauen könnten Kinder bekommen, ohne ihr Berufsleben dabei zu opfern. Es ist das gute Recht jeder Frau, sich gegen Kinder zu entscheiden. Es gibt nicht mehr die Einheitsfront der Frauen, heute gibt es verschiedene Lager."
(Spiegel Nr.34 v. 23.08.2010)

Das Schlagwort vom neuen Feminismus - im Jahr 2008 von der ZEIT popularisiert - beherrscht das Kapitel Die erste gleichberechtigte Generation. Wer die Debatten verfolgt hat, wird nichts Neues im Buch von HARTUNG & SCHMITT entdecken. Dieser neue Elitenfeminismus, den Thea DORN in ihrem Buch Die neue F-Klasse beschrieb , nennt sich auch weniger verfänglich Geschlechterdemokratie. Die britische Feministin Angela McROBBIE kritisiert diese Form des Feminismus in ihrem Buch Top Girls (2016 neu aufgelegt) als Beitrag zum Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes.

Die Allianz von Karrierefrau und Karrieremann ist die Norm, die zu neuen Problemen bei der Partnerwahl führt, wie man seit den Forschungen des Soziologen Hans-Peter BLOSSFELD weiß .

Die netten Jahre sind vorbei

"Karrierefrau und Hartz-IV-Empfänger ohne berufliche Ambitionen - das wäre eigentlich eine sinnige Liaison. Er könnte die Kinder umsorgen, und sie müsste nicht hektisch eine Babysitterin herbeitelefonieren, wenn ihre Konferenz mal länger dauert. Aber offenbar sind die Berührungsängste hoch: Männer fühlen sich verunsichert, wenn auf einmal die Partnerin im Restaurant die Rechnung übernimmt und den Familienurlaub bezahlt. Auch manche Frau Doktor findet es nicht standesgemäß, mit dem Ein-Euro-Jobber an ihrer Seite bei der Cocktailparty aufzutreten. Wenn er schon dauern pleite ist, muss er seinen Status wenigstens durch einen Kreativberuf aufpeppen - Maler sein oder Schriftsteller, oder gerade sein schlummerndes Musiktalent wachkitzeln."
(2010, S.112f.)

Im Gegensatz zu den Karrierefrauen der Generation Golf wissen die jüngeren Frauen aber auch um die Widersprüche ihrer neuen Rolle und gehen reflektierter damit um.

Die netten Jahre sind vorbei

"So richtig konsequent ist das nicht. Es ist nicht logisch, die Fixierung der Männer auf die Karriere zu beklagen, selbst aber den ehrgeizigen Karrieristen zum Partner haben zu wollen. Und sich dann zu beschweren, dass er keine einjährige Babypause machen will. Wer das Alphamännchen will, muss damit rechnen, dass sie es mit dessen Chef teilen muss. Wir sollten die gleiche Vielfalt an Lebensformen, die wir für uns selbst einfordern, auch den Männern zubilligen. Wir können nicht lautstark neue Männer einfordern - und dann auf sie herabsehen, wenn ihre Karriere über Vätermonate und Spielplatztage ins Stocken gerät. Wir sind so anspruchsvoll, erstellen so lange Kriterienkataloge, dass wir manchmal vergessen, dass nicht ein Mensch alle auf einmal erfüllen können."
(2010, S.113)

Die neuen Väter sind im Kommen . Nun tatsächlich, aber es fehlt ihnen an Vorbildern. Robert HABECK hat sein 2008 erschienenes Buch Verwirrte Väter genannt. Er gehört zwar der Generation Golf an, aber vieles in dem Buch ist nicht weit von dem entfernt was man bei HARTUNG & SCHMITT liest .

Verwirrte Väter

"Selbstverwirklichung und Emanzipation auf Kosten der Partner ist eine traurige Geschichte. Gut wäre, wenn es gelingen könnte, beide zu ihrem Recht kommen zu lassen, kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander zu erstreiten. Dafür müssen die Sackgassen des Feminismus klar benannt werden, ohne dass man in eine patriarchale Reaktion verfällt. Die Frauen müssen sich entscheiden, ob sie wie Männer sein wollen, oder ob beide Geschlechter gemeinsam ein auf geteiltem Lebensglück basierendes Gesellschaftsmodell entwerfen und verwirklichen wollen. Denn um nichts Geringeres geht es letztlich."
(2008, S.11)

Die neue Normalität des Single-Daseins als Lebensphase in der paar- und familienorientierten Gesellschaft

Die 68er-Generation kam mit dem Single-Dasein nicht zurecht und erfand deshalb das Klischee von der Single-Gesellschaft . Spätestens die Generation Golf wusste aber, dass das Single-Dasein nicht das neue gesellschaftliche Ideal ist, sondern die Konsequenz eines neuen Liebesideals und der Zwänge der modernen Arbeitswelt (mehr hier und hier).

Die Jüngeren, das zeigt das Buch von HARTUNG & SCHMITT, sehen das Single-Dasein entideologisiert, denn mehrheitlich ist das Alleinleben keine Konsequenz überzeugter Partnerloser, die sich mit Affären begnügen ("Swinging Singles"), sondern ein Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, das vor allem am Anfang des Studenten- und Berufslebens zum neuen Mittelschichtleben dazugehört.

Die netten Jahre sind vorbei

"Wir zögern, unseren Partner nachzuholen in die Stadt, in der wir neuerdings arbeiten - wer weiß schon, ob es unsere Stelle nach der nächsten Krise noch gibt?
(2010, S.31)

"Wir finden es nicht peinlich, mit fünfunddreißig noch unverheiratet zu sein. Wir finden es ganz normal, dass sich Perioden der Zweisamkeit mit dem Singledasein abwechseln oder eben nicht abwechseln. Glücklich liiert zu sein ist zwar schön, aber zweitrangig für unser gesellschaftliches Ansehen."
(2010, S. 111)

"Weder ist das Singledasein Zeichen der Selbstbefreiung von einem Mann, der das Leben für einen regelt, noch Zeichen des Scheiterns - wir gelten deshalb noch längst nicht als alte Jungfer, die unansehnlich oder so wunderlich ist, dass es keiner mit der aushält"
(2010, S.112)

"Wir haben Angst, allein zu bleiben. Wir haben Angst, mit 35 noch Single zu sein. Deshalb machen wir Kompromisse."
(2010, S.136)

"Wer nicht alles in die Liebe investieren muss, um auf 100 Prozent zu kommen, kann sich selbst besser durch ein immer härteres Leben navigieren."
(2010, S.137)

"Eine feste Beziehung ist ein Schutzraum für uns, ein Refugium, wenn um ums herum alles unsicher ist. Es ist unser Weg, in der Dauerkrise schöner zu leben.
Weil eine Beziehung uns Kraft gibt, ist es für uns sehr wichtig, eine zu haben. Das Pärchen ist ein Leitbild; Singles haben es schwer."
(2010, S.139)

"Wir glauben an die eine Beziehung. Warum sonst feiern wir so große, romantische Hochzeiten? Viele von uns haben aber auch ein Lebensmodell, das Forscher »serielle Monogamie« nennen."
(2010, S.140)

Paare ohne gemeinsamen Haushalt werden fälschlicherweise in der amtlichen Statistik als partnerlos geführt, weil dessen Ideal immer noch das verheiratete Paar mit gemeinsamem Haushalt ist. Aber auch die amtliche Statistik ist nicht statisch, sondern passt sich den neuen Verhältnissen an, wie das Beispiel Kinderlosigkeit gezeigt hat - nur es dauert in der Regel viel länger, weil eine neue Generation von Sozialforschern notwendig ist. Die Sichtweise der 68er - für die Ulrich BECK an prominenter Stelle steht - verschwindet zwar nicht gleich mit der Emeritierung, sondern wird modifiziert. Für einen entideologisierten Zugang steht z.B. das Buch Singles von Sonja DEML, die etwa so alt ist wie Cosima SCHMITT und die die Rede von der Single-Gesellschaft kritisch unter die Lupe genommen hat.

Singles: Einsame Herzen oder egoistische Hedonisten?

"Die Behauptung, die Gesellschaft sei unpersönlicher geworden, ist nur bedingt richtig. In Sachen Liebe und deren Vorstellungen darüber gilt das Gegenteil. Die moderne Gesellschaft macht hinsichtlich der Liebe Beziehungen möglich, die sich durch die Wertschätzung der individuellen Eigenschaften der anderen auszeichnen. (...). (Das) Single-Sein darf als Konsequenz des modernen Liebesmodells betrachtet werden, das eine höhere emotionale Komponente im Vergleich zu früheren Zeiten aufweist. Single zu sein kann als ein Kompliment an die Institutionen Paarbeziehung und Familie verstanden werden (...). Singles betrachten ihre Lebenssituation in der Mehrheit nicht als gleichwertige Alternative zu einem partnerschaftlichen Leben, sondern vielmehr als »Übergangsstadium«.
Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist, dass Single zu sein eine temporäre Lebensphase (vor, nach oder zwischen zwei Partnerschaften bzw. Familienphasen) ist und nur sehr selten eine Lebenseinstellung oder einen Gegenentwurf zur Familie darstellt. (...) Und aus jeder gegenwärtigen Paarkonstellation geht irgendwann mindestens ein Single hervor (außer beide sterben zusammen oder finden zur gleichen Zeit einen anderen Partner)."
(2010, S.249)

"Singles sind eine heterogene Gruppe, schon aufgrund der geschlechtsspezifischen Eigenheiten."
(2010, S.250)

"Der Trend zu Partnerschaft und Familie ist (...) ungebrochen und eine Entwicklung hin zur »Single-Gesellschaft« kann nicht erkannt werden. Vielmehr kann der Single-Zustand als Resultat ungünstiger Lebensumstände verstanden werden"
(2010, S.252)

Selbst unter den Jüngeren gibt es aber eine unterschiedliche geschlechterspezifische Bewertung. Der Konflikt zwischen männlicher und weiblicher Sichtweise auf das Single-Dasein wird in dem Buch von HARTUNG & SCHMITT durch einen E-Mail-Schriftwechsel deutlich gemacht. Während die ältere Cosima SCHMITT das Single-Dasein auch in den Dreißigern positiv sieht, ist Manuel J. HARTUNG der Meinung, dass mit dem 30. Geburtstag mit dem Single-Dasein Schluss sein sollte, weil dann prinzipiell lebenslange Partnerschaft, Heirat und Familie auf dem Programm steht.

Die Heirat hat für Männer immer noch mehr Vorteile als für Frauen. Hendrik ANKENBRAND schreibt deshalb im Wirtschaftsteil der aktuellen FAS: Heiraten lohnt sich - aber vor allem für Männer: "Die Institution der Ehe entpuppt sich als Männergenesungswerk - auch im 21. Jahrhundert". Es ist auch nicht zufällig, dass das Buch Das Ende der Liebe von Sven HILLENKAMP auf viel Zustimmung traf. HILLLENKAMP, ein Angehöriger der Generation Golf, der aus der Bewegungsforschung kommt und den viel mit Ulrich BECK verbindet (weshalb auf dieser Website auch - in Abwandlung eines alten 68er-Spruchs - von den Kindern von Ulrich Beck und VW Golf gesprochen wurde ). HILLENKAMP ist ein Verfechter der Vernunftehe oder der 85 %-Beziehung wie es im Buch von HARTUNG & SCHMITT heißt. Sowohl die rauer gewordene Arbeitswelt als auch die Tatsache, dass in der neuen Mittelschicht in nächster Zukunft viel zu vererben ist, spricht für die Wiederkehr der Vernunftehe. Von überraschendem Befund, so der Klappentext, kann also keine Rede sein, das wissen die Jüngeren ganz genau.

Im Gegensatz zu den Generationen vor ihnen, haben die jüngeren Mittelschichtler kaum mehr Aufsteigereltern, sondern bereits Eltern, die aufgrund der Bildungsexpansion zur neuen Mittelschicht gehören. Aufstieg und Single-Dasein waren in der Vergangenheit sozusagen zwei Geschwister - auch ein Grund, warum das Single-Dasein umkämpft war. Dies wird nur selten angesprochen, z.B. von dem Soziologen Günter BURKART .

Dieser massenhafte Aufstieg ist in unserer mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaft weggefallen. Auch deshalb werden in Zukunft die netten Jahre vorbei sein. Wie der Fall um den neuen Volkshelden Thilo SARRAZIN zeigt, ist die Ethnisierung von Klassenkonflikten denkbarer geworden.       

Fazit: Die netten Jahre sind vorbei, aber ob ein Generationenkonflikt oder ein Klassenkonflikt Deutschland spalten wird, oder unvorhersehbare Ereignisse unsere Zukunft prägen werden, das bleibt abzuwarten

Die netten Jahre sind vorbei, aber ob intragenerationelle oder intergenerationelle Konflikte die politische Großwetterlage in Deutschland bestimmen werden, das hängt von vielen Faktoren ab, z.B. auch von internationalen Entwicklungen, die wir noch gar nicht auf dem Radar haben oder vom "Platzen der Deutungsblase" Generationengerechtigkeit. Nicht erst die Finanzkrise hat gezeigt, dass nicht vorhersehbare, sondern unvorhersehbare Ereignisse die Welt viel stärker erschüttern können.

Die Jüngeren leben in einer anderen Welt als noch die 68er, aber ihre Welt ist nicht so verschieden von derjenigen der anderen Nach-68er-Generationen. Generationenbücher besitzen den Zwang zur Profilierung, weshalb die Gemeinsamkeiten unterbelichtet bleiben. "Effizienter Idealismus" ist solch ein Etikett, das eher der Profilierung und Abgrenzung dient und somit Gemeinsamkeiten leugnet. Die Autoren lehnen zwar die Etikettisierungswut der Älteren ab, bedienen sich aber selber Etiketten, weshalb tiefer gehende Analysen fehlen. Das Buch Die netten Jahre sind vorbei verharrt oftmals an der Oberfläche, weil es nur die Feuilletondebatten der letzten Jahre einzuordnen versucht.

Hier wurde vor allem der Aspekt des Generationenkonflikts, das Feindbild Babyboomer und der Kampf um die Rente ausführlich diskutiert. Dabei zeigen sich die groben Vereinfachungen, mit denen die Autoren arbeiten besonders deutlich. Trotz der Vereinfachungen, auch Diskursphänomene haben Wirkungskraft auf die Realitäten und können deshalb nicht einfach ignoriert werden, sondern es müssen die dahinter verborgenen Interessenlagen dieser jüngeren Mittelschichtler herausgearbeitet werden, damit man sich auf die Kämpfe der Zukunft rechtzeitig einstellen kann. Dies wurde hier versucht.

Die netten Jahre sind in der Tat vorbei, aber wie die Entwicklung in der Zukunft verläuft, das ist noch lange nicht ausgemacht. Wer wissen will wie die jüngeren Mittelschichtler ticken, der findet in dem Buch reichlich Anschauungsmaterial. Wer die Feuilletondebatten der letzten Jahre verfolgt hat, der wird das Buch eher banal finden. Hier wurden deshalb die Feuilletondebatten im gesellschaftlichen Kontext eingeordnet, um den verengten Mittelschichthorizont der beiden Journalisten zu erweitern.       

 
     
 
       
   

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Update: 20. November 2018