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Sommerthema I

 
       
   

Deutsche Kommunen im demografischen Wandel

 
       
   

Oder: Wie die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme die deutsche Politik bestimmt. Eine Besprechung des Buches Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel von Christian Rademacher (Teil 1)

 
       
     
   
     
     
 

Der demografische Wandel: Mehr Ideologie als Wissen

Der demografische Wandel ist in aller Munde, aber was wissen wir eigentlich darüber und was ist darunter zu verstehen? Der Politikwissenschaftler Christian RADEMACHER hat in seinem Buch Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel (2013) am Ende seines Buches eine ernüchternde Bilanz gezogen: "Über die sozialen Folgen des lokalen Demographischen Wandels wissen wir (...) deutlich weniger als bevölkerungswissenschaftlich behauptet wird". (S.274)

Im Bereich kommunaler Politik ist die Datenlage zum demografischen Wandel mindestens genauso katastrophal wie in der Debatte um die Kinderlosigkeit in Deutschland Anfang des Jahrtausends. Damals wurde das Niveau der Akademikerinnenkinderlosigkeit weit überschätzt . Demographisierung und Demographismus ersetzen die Empirie des demografischen Wandels in Deutschland.   

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Als »modernes Kollektivsymbol« (...) weist der Begriff in der letzten Dekade eine enorme Eigendynamik auf. Vor dem Jahr 2000 trat er als Schlagwort in auflagenstarken Tages- und Wochenzeitungen und -zeitschriften kaum in Erscheinung. Ab dem Jahr 2000 stieg seine publizistische Verwendung jedoch rapide an und erreichte im Jahr 2003 einen vorläufigen Höhepunkt (...). Anschließend ging die Verwendung wieder leicht zurück, um jedoch auf hohem Niveau zu verharren"
(2013, S.20)

schreibt RADEMACHER zur medialen Themenkonjunktur des Begriffs, der kaum analytisch durchdrungen ist. Zu fragen wäre jedoch, ob die Suche nach dem Oberbegriff "demograf(ph)ischer Wandel" überhaupt aussagekräftig ist, oder ob nicht auch die entsprechenden Begriffe für die damit gemeinten Phänomene in die Suche einbezogen werden müssten, um einen Überblick zur Themenkonjunktur auch der Teilprozesse zu erhalten. Dies hätte jedoch den Rahmen der Studie gesprengt, wäre jedoch ein lohnendes Objekt für eine begriffsgeschichtliche Studie. Die von single-generation.de dokumentierten Medienberichte legen nahe, dass - wenn man alle Aspekte des demografischen Wandel berücksichtigt - das Thema seinen Höhepunkt erst im Jahr 2006 erreichte. Dies fällt zugleich mit einem Wendepunkt der Debatte um den demografischen Wandel zusammen, den der Soziologe Stephan LESSENICH im Hinblick auf die Sichtweise des Alters festgestellt hat: den Paradigmenwechsel vom reinen Alarmismus zur Entdeckung der Chancen des demografischen Wandels.

Demografischer Wandel als ganzheitliche Betrachtung aller bekannten Bevölkerungsentwicklungen

Im Gegensatz zu monokausalen Erklärungsmustern in der öffentlichen Debatte, beinhaltet der demografische Wandel eine Vielzahl von Prozessen, deren Konsequenzen kaum überblickbar sind und die keineswegs alle in die gleiche Richtung weisen müssen, wie das Begriffe wie Abwärtsspirale im Katastrophendiskurs à la Herwig BIRG oder Franz-Xaver KAUFMANN suggerieren. RADEMACHER findet bei unterschiedlichen Autoren verschiedene Phänomene, die unter den Begriff "demografischer Wandel" subsumiert werden: Geburten- und Bevölkerungsrückgang, demographische Alterung, steigende Lebenserwartung, Wanderungsbewegungen und die Pluralisierung der Lebensformen. Bereits diese Auswahl zeigt, dass der Begriff "demografischer Wandel" lediglich eine Worthülse ist, die zu bestimmten historischen Zeitpunkten nur unzureichend in den Blick kommt. Demografischer Wandel ist eben nicht nur Geburtenrückgang, sondern auch Geburtenanstieg, er ist nicht nur Bevölkerungsrückgang, sondern auch Bevölkerungsanstieg, er ist nicht nur steigende Lebenserwartung, sondern auch sinkende Lebenserwartung. Beim Begriff "Pluralisierung der Lebensformen" wird die Sache noch komplexer, denn bereits die Definition des Begriffs "Lebensform" ist strittig . Ob von Pluralisierung überhaupt gesprochen werden kann, setzt zudem einen historischen Bezugspunkt voraus, dessen Setzung durchaus willkürlich ist.

Bezeichnend für die Kurzatmigkeit von Themenkonjunkturen hinsichtlich des demografischen Wandels ist das Szenario, das RADEMACHER skizziert, um das Thema demografischer Wandel auf Bevölkerungsrückgang und Schrumpfungsprozesse zu fokussieren:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Schrumpfung wird als das größte demographische Problem der neuen und Heterogenisierung als größtes Problem der alten Bundesländer angesehen (...). Erst für den Zeitraum zwischen 2015 und 2020 wurde erwartet, dass auch Westdeutschland von Schrumpfung betroffen sein würde (...). Eine aktuelle Studie zeigt jedoch, dass sich der Bevölkerungsrückgang bereits seit 2004 auf große Teile der alten Länder ausgedehnt hat (Herfert/Osterhage 2011). Gleichzeitig ist die Bedeutung des Wanderungssaldos für die Bevölkerungsentwicklung zurückgegangen, während die der natürlichen Bevölkerungsentwicklung zugenommen hat (Gatzweiler/Milbert 2009: 444). Eine Konkurrenz um Einwohner bildet ein Negativsummenspiel, bei dem eine deutliche Abnahme der Gesamtbevölkerung prognostiziert wird (vgl. v.a. Birg 2006, 2005)."
(2013, S.265)

Seit 2011 wächst die Bevölkerung in Deutschland - gegen jegliche Prognose - und es ist ausgerechnet der Wanderungssaldo und nicht die Geburtenentwicklung, die dafür verantwortlich ist. Der Wissenschaftsjournalist Björn SCHWENTKER schreibt deshalb in seinem Demografieblog:

Da waren's plötzlich noch mehr

"Wieder nichts: Deutschland will einfach nicht schrumpfen – obwohl das doch immer wieder vorausgesagt wird. Gerade hat das Statistische Bundesamt (Destatis) neue Schätzungen bekannt gegeben: 2013 sind wir wieder 300.000 mehr geworden. Damit lägen wir bei 80,8 Millionen Einwohnern.

Und damit hätte die Wirklichkeit die letzte Bevölkerungsprognose der amtlichen Statistiker nach nur fünf Jahren um mehr als 1,2 Millionen Einwohner übertroffen. (...)(Die) Daten (...) werfen die Frage auf: Sind Bevölkerungsprognosen angesichts solcher Fehler überhaupt noch sinnvoll?"
(demografieblog.de 14.01.2014)

Und es wird noch komplizierter! Der Zensus 2011 hat ergeben, dass wir die ganze Zeit eigentlich viel weniger waren als wir aufgrund der Bevölkerungsfortschreibung glaubten: 1,5 Millionen Menschen. Niemandem ist es aufgefallen, dass sie fehlen. Oder fehlen sie gar nicht? Etliche Städte, z.B. Berlin und Hamburg, wollen gegen die korrigierten Einwohnerzahlen klagen.

Dies zeigt, dass im Hinblick auf den demografischen Wandel Skepsis geboten ist. Aus dieser Sicht ist es lobenswert, dass RADEMACHER in seiner Dissertation den demografischen Wandel als Ideologie untersucht. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Demografietypen der privaten Bertelsmann-Stiftung, die mit Handlungsempfehlungen für Kommunen verknüpft sind, auf ihre Tauglichkeit überprüft werden. Dazu jedoch später.

Was heißt Demographisierung und Demographismus?

Kurz gefasst kann man Demographisierung als Umdeutung gesellschaftlicher Probleme zu demografisch bedingten Problemen auffassen. RADEMACHER stellt in seinem Buch drei sozialwissenschaftliche Konzepte der Demographisierung vor, wobei er der Sichtweise von Eva BARLÖSIUS folgt. RADEMACHER unterscheidet verschiedene Formen der Problematisierung des demografischen Wandels: der demografische Wandel kann als Katastrophe, Schicksal, Risiko, Herausforderung, Chance, Glücksfall gedeutet oder sogar geleugnet werden. Mit Demographismus bezeichnet RADEMACHER eine politische Ideologie, die bestimmte Sichtweisen auf den demografischen Wandel bezeichnen und historisch gesehen einer "Epoche des Nichtwissens" geschuldet sind:     

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Unter Rückgriff auf Abbott (1988) wird darauf hingewiesen, »dass viele Professionen in der Vergangenheit ähnlich wie die Demographie heute - große Problemdefinitionsbereiche 'erobern' konnten« (...). Allerdings hätten sie die »eroberte Deutungshoheit« wegen fehlender Interventionselemente nicht dauerhaft behaupten können. Zu Ende gedacht bedeutet dies jedoch, dass das soziale Phänomen der Demographisierung nur eine geringe »Halbwertszeit« hat. Sollte der aktuelle Demographismus überwindbar sein, wird sich nicht nur für die Historiker, sondern auch alltagspraktisch die Frage stellen, wie derartige Erklärungen und Legitimationsmuster nicht nur entstehen, sondern auch, warum sie so lange Geltung beanspruchen konnten."
(2013, S.56)

RADEMACHER geht also davon aus, dass die Bevölkerungswissenschaft, die heutzutage quasi den Status einer Leitwissenschaft in einem weiten Bereich des politischen Handelns hat, diesen Status wieder verlieren wird, weil sie keine adäquaten Problemlösungen bereitstellen kann. Dies setzt jedoch voraus, dass empirische Untersuchungen endlich die bevölkerungspolitisch behaupteten Zusammenhänge untersuchen. Einen wichtigen Beitrag leistet dazu die Studie von RADEMACHER für den Bereich kommunalpolitischen Handelns, wie noch gezeigt werden wird.

Die öffentliche Debatte über den demografischen Wandel als Problem wissenschaftlicher Theoriebildung

Warum wissen wir so wenig über die Auswirkungen des demografischen Wandels? RADEMACHER geht davon aus, dass die öffentliche Debatte Schuld hat an der unbefriedigenden Wissenslage. Die Rolle der Medien wurde erst im letzten Jahrzehnt erforscht und problematisiert, nicht zuletzt auf dieser Website:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Es gibt sicher nur wenige Phänomene, die in den letzten zwanzig Jahren so stark im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik verankert waren, wie der Demographische Wandel. »Massenmedien inszenieren das Thema auf ihre Weise, das heißt in der Regel dramatisch und manchmal moralisierend (...) oder skandalierend (...). «Vor zehn Jahren wurde die Bedeutung der Massenmedien im Diskurs zum Demographischen Wandel noch unterschätzt (vgl. Mayer 1999; 433-435). Seit dem wurde diese Rolle der Medien immer stärker erforscht (Kittlaus 2010, 2009, 2007, 2006) und Klundt 2008) und hervorgehoben"
(2013, S.56)

Die Art und Weise wie der demografische Wandel gedeutet wird (RADEMACHER spricht von "Modi der Demographisierung") war bis Mitte des Jahrtausends geprägt vom "reinen Alarmismus" (Stephan LESSENICH) und dem Vorherrschen des Katastrophendiskurses. RADEMACHER beschreibt das Kontinuum der Einschätzungen des demografischen Wandels zwischen Katastrophe und Verleugnung folgendermaßen:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Allgemeiner Konsens scheint zu sein, dass nicht nur die deutschen Massenmedien, sondern auch sozialwissenschaftliche Diskurse (z.B. Lachmann 2008) den Demographischen Wandel überwiegend als Katastrophenszenario darstellen (vgl. Bartl 20011: 13-17,48 und Siedhoff 2008: 9-11). Die Modi der Demographisierung bewegen sich dabei in einem begrifflichen Kontinuum zwischen »Verleugnung« (Voß 2006 und Müller 2005) und »Katastrophe« (Lévi-Strauss 1992, zitiert in Birg 2005:23 und Ebert/Kistler 2007). Dazwischen liegen verschiedene Thesen politischer »Gestaltbarkeit« (...). Die wissenschaftliche Repräsentation des Demographischen Wandels variiert auch in verschiedenen Schattierungen, wie »Glücksfall« (z.B. bei Hondrich 2007 oder Kittlaus 2007) »Chance«, »Herausforderung«, »Risiko« und »Schicksal«"
(2013, S.57)

Einzig die Deutung des demografischen Wandels als "Glücksfall" sieht RADEMACHER als außergewöhnlich an, weil sie den gängigen Wahrnehmungsmustern "stark widerspricht". In dem zitierten Beitrag KITTLAUS 2007 wird im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen demografischen Wandel jedoch nur von Chance gesprochen. Der Begriff "Glücksfall" wird im Buchtitel des Buches Weniger sind mehr von Karl Otto HONDRICH verwendet: Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für die Gesellschaft ist. Er bezieht sich damit nur auf einen Teilprozess (Geburtenentwicklung) des demografischen Wandels. In der Rezension des Buches auf dieser Website wird der Begriff "Glücksfall" deshalb auch nur im Titel genannt. Möglicherweise ist der Begriff eher aufmerksamkeitsökonomisch zu deuten, denn der Begriff "Glücksfall" prangt z.B. auch auf einem Buch des Schweizer Soziologen Peter GROSS: Glücksfall Alter und befasst sich damit mit anderen Teilprozessen (Sterblichkeit, Lebenserwartung, Altersstrukturentwicklung) des demografischen Wandels.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass es durchaus Sinn macht, den Oberbegriff "demografischer Wandel" in seine Unterbegriffe zu zerlegen, denn die einzelnen Prozesse des demografischen Wandels können durchaus unterschiedlich bewertet werden.

Demographismus als politische Ideologie

Demographismus ist keine homogene Ideologie, sondern eine politische Ideologie, die sich auf den Gegenstandsbereich "demografischer Wandel" bezieht. RADEMACHER arbeitet in seiner Studie deshalb fünf Hauptströmungen heraus. Demographismus beschreibt RADEMACHER folgendermaßen:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Im Fokus der vorliegenden Studie stehen lokale Bevölkerungsveränderungen. (...) Demographische Interventionen streben die Beeinflussung von Fertilität, Mortalität und Migration an, um ein Wachstum und/oder eine Verjüngung der Population zu erzielen. Es handelt sich also um politisch-ideologische Forderungen, den Demographischen Wandel positiv zu beeinflussen. Für diesen Aspekt der Demographisierung, also die Vorschläge, die gemacht, die Forderungen, die erhoben und vor allem die Werturteile, die dabei getroffen werden, wurde der Terminus Demographismus eingeführt, der mit dem »Akt der Problemlösung« (...) weitgehend übereinstimmt. Er soll daher begriffsanalytisch vom Konzept der Demographisierung unterschieden werden.
Die Demographisierung soll im (...) Anschluss an Barlösius (2007) nur heißen, dass soziale Konflikte zu demographisch induzierten Problemen umgedeutet werden".
(2013, S.54)

In einem Schaubild stellt RADEMACHER den unterschiedlichen Bedeutungsinhalt der Begriffe "Demographisierung" und "Demographismus" gegenüber:

Demographisierung  Demographismus
Demographische Herausforderung Modus der Demographisierung
Art und Weise der Problematisierung (Demographischer Wandel als: ....)
Interventionsansätze
"Objektive" Natur des Problems + Akt der Problematisierung Akt der Problemlösung
Schrumpfende Stadt (Demographie vs. Finanzen) Katastrophe
Schicksal
Risiko
Herausforderung
Chance
Glücksfall
Verleugnung
z.B. Privatisierung vs. Kommunalisierung
Rentenprobleme
(Demographie vs. mangelnde Arbeit)
z.B. Arbeitszeitverlängerung vs. Aktivierung der "stillen Reserve"
Geburtenrückgang
(Demographie vs. Wert)
z.B. Fortpflanzungsimperativ vs. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Innovationsschwäche
(Demographie vs. Technologie)
z.B. Investition in Innovationen vs. Investition in Bildung
Quelle: Christian Rademacher, 2013, S.55

Demographisierung betrifft die Wahrnehmung des demografischen Wandels und die Art und Weise seiner Einschätzung, während der Demographismus die Art der Problemlösung prägt. RADEMACHER nimmt einen engen Zusammenhang zwischen der Art und Weise den demografischen Wandel einzuschätzen und der Art der Problemlösung an:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Der Modus der Anerkennung demographisierender Problematisierungen, das heißt die Rahmung des Demographischen Wandels als Risiko, Schicksal oder Katastrophe ist am weitesten verbreitet. Daher bietet sich an, mit diesem Modus als Referenzkategorie zu beginnen. (...).
Die Art und Weise, Bevölkerungsentwicklungen als Krisen- oder Katastrophenszenarien zu rahmen, führt vermutlich von der Demographisierung, der Konstruktion einer demographischen Herausforderung bzw. der Umdeutung eines sozialen Konfliktes zu einem demographisch bedingten Problem (...) direkt zu den rechts-konservativen Interventionsansätzen. Auch die Rahmung von »Demographie als Schicksal« (Birg 2006, 2005; vgl. Schirrmacher et al. 2006) leitet zu pronatalistischen Interventionsansätzen über.
Die Diskreditierung derartiger Bevölkerungspolitik und -theorien (...) geht immer mit einer tendenziellen Ablehnung von Demographisierungen einher. Auch Albrecht Müller, der demographische Probleme explizit leugnet (vgl. Schirrmacher et al. 2006), geht von »drei Mythen, die demographischen Frage betreffend [aus]« (Müller 2005: 6): »Wir werden immer weniger!« (ebd.: 104-114); »Wir werden immer älter: Der Generationenvertrag trägt nicht mehr« (ebd.: 115-125) und »Jetzt hilft nur noch private Vorsorge« (ebd.: 126-139); vgl. Siedhoff 2008: 9-11 und Kerschbaumer/Schroeder 2005a). Auch andere Leugner des Zusammenhanges zwischen Demographie und sozialen Krisen kommen zu dem Schluss, dass moderne Nationen nicht mehr Nachwuchs benötigten, als sie ohnehin bekämen. Außerdem könnten sich soziale Systeme Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Religion, Familie u.a.) auch mit weniger Menschen reproduzieren (Hondrich 2007: 265). Daher bestehe weder Grund zur Panik noch zu pronatalistischer Intervention (vgl. Kittlaus 2010, 2009, 2007 und Voß 2006)".
(2013, S.59)

Auch hier wäre wieder zu kritisieren, dass RADEMACHER von der Bewertung einzelner Teilprozesse des demografischen Wandels auf den Umgang mit dem demografischen Wandel an sich schließt. Es ist durchaus wissenschaftlich umstritten, welchen Beitrag einzelne Prozesse bzw. Aspekte zum demografischen Wandel leisten. Diese strittige Faktenlage kommt bei RADEMACHER zu kurz, wie weiter unten noch ausgeführt wird. Im dem Zitat steht der Streit um "pronatalistische" Interventionen im Fokus. Darunter versteht RADEMACHER folgendes:   

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Pronatalistische Bevölkerungspolitik bezeichnet politische Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenzahl, um ein Bevölkerungswachstum zu erreichen oder Bevölkerungsrückgänge zu verhindern. Dies kann durch materielle Anreize oder Vergünstigungen im Zusammenhang mit Geburten erfolgen. Gelegentlich wurde auch versucht, Geburtenzuwächse durch repressive Maßnahmen zu erreichen, z.B. durch das Verbot von Verhütungsmitteln oder von Schwangerschaftsabbrüchen".
(2013, Fußnote S. 59)

Damit wird Bevölkerungspolitik auf eine quantitative Bevölkerungspolitik reduziert, während in der gegenwärtigen Debatte (die Falschen bekommen die Kinder) gerade auch die qualitative Bevölkerungspolitik im Mittelpunkt steht. Auf die Grenzen einer solchen quantitativen bzw. qualitativen Bevölkerungspolitik wurde im Rahmen der Rezension des Buches Grenzen der Bevölkerungspolitik ausführlich eingegangen.

Mit der ideologischen Frontstellung pro und contra pronatalistische Bevölkerungspolitik bleibt  ausgeklammert, dass der demografische Wandel keineswegs ein (vorrangig) bevölkerungspolitisch zu bearbeitendes Problem sein muss, sondern auch z.B. medizinische Aspekte (Stand der Reproduktionsmedizin) oder sozio-kulturelle bzw. -ökonomische Aspekte (Probleme bei der Partnersuche und Familiengründung, Milieuunterschiede, Ressourcenausstattung usw.) hat. Nicht um die Frage der Beeinflussbarkeit, sondern um die Frage des Umgangs mit einzelnen Phänomenen des demografischen Wandels geht es.

Die Gleichsetzung von Verleugnung mit Ablehnung von Bevölkerungspolitik, im Gegensatz zu Intervention und Fatalismus, wie es in einem Schaubild (S.60) suggeriert wird, ist deshalb unzureichend und verkürzend. RADEMACHER sympathisiert offenbar mit einer "moderaten Akzeptanz" von Demographisierungen:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Wertsysteme, die staatliche Interventionen jedoch befürworten, weisen eine moderate Akzeptanz von Demographisierungen auf. Ihre Verfechter bewerten Bevölkerungsveränderungen als demographisches Risiko. Dies entspricht der Unterscheidung Luhmanns zwischen Gefahr und Risiko. Wird ein Schaden direkt der Umwelt zugerechnet (wie beim populationistischen Demographismus) kann von Gefahr gesprochen werden. Sind jedoch Instrumente verfügbar, diesen Schaden zu vermeiden - Einwanderung und Anhebung der Fertilität auf 1,6 Kinder pro Frau können den Bevölkerungsrückgang aufhalten (vgl. Oberndörfer 2006: 7), dann liegt lediglich ein Risiko vor".
(2013, S.59)

Implizit ergibt sich aus diesen Beschreibungen, dass RADEMACHER die 7 Modi der Demographisierung letztlich mit 3 Interventionsformen in Zusammenhang bringt: Die Deutung des demografischen Wandels als Katastrophe oder Schicksal tendiert zu "rechts-konservativen Bevölkerungsmaßnahmen", die Deutung als Risiko und Herausforderung führt eher zu linksliberalen Interventionen, während die Deutung als Chance, Glücksfall bzw. die Verleugnung die Ablehnung von ("rechts-konservativen") Bevölkerungsmaßnahmen nahe legt. Vermittelt durch die Einschätzung des demografischen Wandels als bewältigbar (Risiko/Problem) bzw. unbewältigbar (Schicksal/"zweite Natur") ergeben sich die 3 Interventionsformen Gestaltung, Verleugnung und Fatalismus. Problematisch ist, dass der Begriff "Verleugnung" einerseits als Modi der Demographisierung (Deutungsmuster) und andererseits als Bewältigungsform verwendet wird. Es fällt zudem auf, dass nicht begrifflich zwischen Familienpolitik und Bevölkerungspolitik unterschieden wird, obwohl beide die Geburtenrate beeinflussen, jedoch mit unterschiedlichen Intentionen. Man kann familienpolitische Maßnahmen durchaus begrüßen, während man bevölkerungspolitische Maßnahmen ablehnt. Oder man kann sogar nur einzelne Maßnahmen akzeptabel finden, während andere als unakzeptabel eingestuft werden. Diese Differenzierungen entfallen bei der Darstellung des "Demographismus". Das Ideal politischen Handelns im Zeichen des Nichtwissenkönnens beschreibt RADEMACHER dagegen folgendermaßen:    

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Wird Demographisierung (...) im ergebnis- und zukunftsoffenen Modus der Herausforderung beschrieben (...) können Akteure die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, Zwecke, Mittel und (Neben-)Folgen zweck- oder wertrational (...) gegeneinander abwägen. Geht man davon aus, dass derzeit noch nicht genau bestimmt werden kann, was und wie die Folgen der Bevölkerungsentwicklung sein werden, käme dem Handeln der Akteure wieder eine größere Bedeutung zu. Situation, Zwecke, Mittel und Folgen wären dann nicht nur durch Wertungen miteinander verbunden."
(2013, S.60)

Kritisch zu fragen wäre deshalb, inwiefern ein solcher Anspruch eines "ergebnis- und zukunftsoffenen Modus" auch einlösbar ist.

Das politische Feld des Demographismus

Fünf Hauptströmungen des Demographismus unterscheidet RADEMACHER: Geschichtskonservativer, nationalkonservativer, multikulturalistischer, neoliberaler und wohlfahrtsstaatlicher Demographismus. Im folgenden Schaubild sind die vier gesinnungs- und verantwortungsethischen Demographismen grob skizziert. Der werttraditionale Demographismus, der von RADEMACHER als geschichtskonservativer Demographismus bezeichnet wird und durch eine Orientierung an "überkommenen Ideen oder Gewohnheiten" charakterisiert wird, fehlt in dieser Auflistung. Er ist jedoch im Hinblick auf die Debatte um schrumpfende Städte relevant und wird deshalb weiter unten behandelt:

Orientierung Merkmale eher linke Ideologien eher rechte Ideologien
gesinnungsethisch
(Ausblendung wertbezogener Folgen)
Bezeichnung Multikultureller Demographismus Nationalkonservativer Demographismus
Hauptvertreter Dieter Obernhöfer Herwig Birg, Charlotte Höhn
Hauptziel multikulturelle Gesellschaft Ethnopluralismus (Multiminoritätengesellschaft)
Kernthese Migration verringert demographische Probleme! Zuwanderung schadet mehr als sie nützt
verantwortungsethisch (Einbezug wertbezogener Folgen) Bezeichnung Wohlfahrtsstaatlicher Demographismus Neoliberaler Demographismus
Hauptvertreter Christoph Butterwegge, Michael Klundt Hans-Werner Sinn
Hauptziel Erhaltung des Sozialstaates Veränderung der Umverteilung
Kernthese Deutschland braucht nicht mehr Kinder, sondern weniger Kinder, die in Armut aufwachsen! Damit mehr Kinder geboren werden, muss das Rentensystem umgebaut werden
Quelle: Christian Rademacher, 2013, S.92

Die Bezeichnungen der Demographismen entnimmt RADEMACHER den jeweiligen Kritikern der Position. So wird z.B. der Begriff "nationalkonservativ" und "neoliberal" von Christoph BUTTERWEGGE entlehnt, während der Begriff "geschichtskonservativ von Dieter OBERNDÖRFER und der Begriff "multikulturell" von Charlotte HÖHN u.a. stammt. Der wohlfahrtsstaatliche Demographismus bezeichnet dagegen keine homogene Position, sondern versammelt eine Vielzahl von Positionen, die gemäß RADEMACHER einzig einen kleinsten gemeinsamen Nenner haben: die Gegnerschaft zum neoliberalen Demographismus:

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Der letzte Demographismus bricht mit der Logik, die Bezeichnung des Idealtypus aus Aussagen seiner Gegner zu gewinnen. Er subsumiert alle Positionen, die sich gegen Sozialstaatsabbau, Privatisierungen und eigenverantwortliche Risiko- und Altersabsicherung aussprechen, weil er den Gegenpol zum neoliberalen Bevölkerungsdenken darstellt. Weil unstrittig ist, dass der »schlanke Staat« (...) sowie der Rückbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates (...) zu den Eckpfeilern neoliberaler Diskurse gehören, scheint es sinnvoll, für die Gegenposition den Begriff wohlfahrtsstaatlicher Demographismus einzuführen. Seine Vertreter pauschal als »Mythenknacker« (Siedhoff 2008: 9) und Kerschbaumer/Schroeder 2005a: 10f.) zu diskreditieren, verbietet sich, weil die Ablehnung des ökonomisch dominierten politischen common sense sehr heterogen ist.
Gegen individuelle Zurechnungen von Kinderlosigkeit und gegen »Sozialstaatsabbau im Namen kommender Generationen« (Klundt 2011: 126) regt sich umfassender Widerspruch aus sozialtheoretischer (Hondrich 2007: 202-229), familien- (Kittlaus 2010, 2009, 2006) und geschlechtersoziologischer Perspektive (Berger/Kahlert 2006 und Forum Umwelt und Entwicklung/genanet 2006) sowie von sozialpolitischer Seite (Butterwegge/Klundt 2003b, Butterwegge/Klundt/Belke-Zeng 2008, Hentges/Lösch 2011 und Klundt 2011, 2008). Zudem mischen sich Vertreter einer »Gestaltbarkeit« (Kerschbaumer/Schroeder 2005a: 11f.; vgl. Siedhoff 2008) demographischer Entwicklungen unter die Kritiker neoliberaler Demographismen. Dabei führt das »Skandinavien-Modell (...) kräftige Seitenhiebe auf die konservative [und neoliberale] Demografie und Bevölkerungspolitik« (Hondrich 2007: 240).
Der wohlfahrtsstaatliche Demographismus lässt sich daher analytisch in Befürworter und Gegner pronatalistischer Bevölkerungspolitik unterteilen. Innerhalb des Idealtypus wird davon jedoch abgesehen und stattdessen die sozialstaatliche Verantwortungsethik, die all diesen Positionen zugrunde liegt, als gemeinsames und verbindendes Merkmal in den Vordergrund gerückt."
(2013, S.89)

Nichtsdestotrotz unterscheidet RADEMACHER zwischen einem "Skandinavien-Modell", dem er Namen wie Gøsta ESPING-ANDERSEN, Hans BERTRAM und Reiner KLINGHOLZ zuordnet, die als "pronatalistisch" eingestuft werden. Dagegen beschreibt RADEMACHER die zweite Position als "pronatalistisch skeptischere":

Deutsche Kommunen im Demographischen Wandel

"Im Gegensatz zum »Skandinavien-Modell« lehnen pronatalistisch skeptischere Positionen (z.B. Butterwegge 2006a, 2006b, Kittlaus 2010, 2009, 2007, 2006, Klundt 2011, 2008 und Müller 2005) eine familien- oder geburtenfördernde Bevölkerungspolitik tendenziell ab. Stattdessen vertreten sie die Position einer sozialstaatlichen Lösung ohne demographisches Problem".
(2013, S.90)

Auf dieser Website wird Familienpolitik, die zu einer steigenden Geburtenrate führt, durchaus nicht generell abgelehnt, sondern es wird darauf hingewiesen, dass Instrumente wie z.B. das Elterngeld im Gegensatz zum Ausbau der Kinderbetreuung, die beide auf die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie abzielen, durchaus unerwünschte Folgen für die Geburtenentwicklung haben können. Außerdem wird kritisiert, dass Bevölkerungspolitik, die lediglich die Familiengründung, jedoch nicht die Paarbildung bzw. Partnerschaftsstabilität als typische Voraussetzungen der Familienbildung im Auge hat, kontraproduktiv ist. Hier wird deshalb dafür plädiert, dass die Probleme unfreiwilliger Singles bzw. potenzieller Eltern ernst genommen werden, statt das Single-Dasein auf das Yuppie-Klischee zu reduzieren (z.B. indem man "DINKs" - Doppelkarrierepaare ohne Kinder - meint, aber "Singles" schreibt) wie es in bevölkerungspolitisch motivierten Diskursen üblich ist. Eine pronatalistische Politik, die nicht auf die Verbesserung der sozialen Lage von Familien abzielt und damit die soziale Ungleichheit verstärkt, wird auf dieser Website genauso abgelehnt wie antinatalistische Politikelemente à la die Falschen bekommen die Kinder (neoliberaler bzw. nationalkonservativer Demographismus) oder ein Antinatalismus im Sinne der kinderfreien Nicole HUBER, deren ökologisch begründeter Antinatalismus (ökologischer Demographismus) bei RADEMACHER unberücksichtigt bleibt.

Die Unterscheidungen der fünf Hauptströmungen des Demographismus sind Idealtypen, weshalb sie für die empirische Untersuchung von RADEMACHER untauglich sind und deshalb letztlich nur heuristischen Wert haben. Im Folgenden wird anhand der empirischen Studie von RADEMACHER die Problematik der Demographisierung gesellschaftlicher Probleme aufgezeigt.

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 08. Juni 2014
Update: 19. November 2018