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Einführung
Spätestens Ende Februar
dürfte es den gut informierten Menschen in Deutschland klar
geworden sein, dass COVID-19 keine Krankheit ist, die
Deutschland nicht betrifft. Bereits seit dem 28. Januar wurden
die ersten
Fälle aus Bayern gemeldet. Diese wurden jedoch von
verantwortlicher Seite nicht als Weckruf verstanden, sondern als
leicht einzudämmende Einzelfälle gehandhabt, da sie sich auf
einen Autozuliefererbetrieb beschränkten. Dieses Muster wird
sich wie ein roter Faden durch die Bekämpfung der Krankheit
ziehen, wie hier gezeigt werden wird.
Es hätte vieles einfacher
gemacht, hätte das Bundesgesundheitsministerium damals bereits
gehandelt. Es rächte sich, dass dies nicht als Anlass verstanden
wurde, ausreichend Schutzausrüstung - zumindest für das
medizinische Personal - anzuschaffen. Stattdessen wurde die
Gefahr von Gesundheitsminister Jens SPAHN heruntergespielt.
Es dauerte bis zum
Massenausbruch im Landkreis Heinsberg aufgrund einer
Karnevalsveranstaltung, dass der Ernst der Lage - langsam
- erkennbar wurde. Das Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlicht
tägliche Situationsberichte.
Online archiviert und damit für jedermann abrufbar sind
diese erst ab dem 4. März 2020. Damals gab es 262 erfasste
Infektionsfälle in Deutschland, 113 Fälle werden dem Ausbruch im
nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg
zugeordnet.
Als Risikogebiete galten
damals neben China, nur Teile von Iran und Italien. Österreich fehlt.
Mittlerweile ist deutlich geworden, dass ein Großteil der nach
Deutschland eingeschleppten Fälle ihren Ausgangspunkt außerhalb
der vom RKI genannten Risikogebiete hatten. Insbesondere
Baden-Württemberg und Bayern waren von infizierten
Urlaubsrückkehrern aus Österreich und Südtirol betroffen. Erst
am 11. März wird in Frankreich die Region Grand Est, die u.a.
das an Baden-Württemberg grenzende Elsass umfasst, zum
Risikogebiet erklärt. Erst am 13. März kommt das österreichische
Bundesland Tirol (mit dem Hotspot Ischgl) als Risikogebiet hinzu. Am 15. März beschließt
die Bundesregierung Grenzschließungen u.a. zu Frankreich,
Österreich und die Schweiz.
Für Baden-Württemberg sind die
Lageberichte erst ab dem 6. April beim Landesgesundheitsamt
online archiviert. Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits in
allen 44 Kreisen über 20.000 COVID-19-Fälle und 427 Todesfälle.
Eine eigenständige Bewertung der Lage für Baden-Württemberg wird
nicht vorgenommen, sondern nur die Bewertung des RKI für
Deutschland wiedergegeben. In Baden-Württemberg stiegen die
Infektionsfälle seit dem 3. März dramatisch an, nachdem der
erste Fall am 25. Februar im Landkreis Göppingen erfasst wurde.
Am 3. März wurden vom Landesgesundheitsamt (LGA) erst 37 Fälle
für Baden-Württemberg gemeldet. Am 13. März, dem Tag als das RKI
Tirol zum Risikogebiet erklärte, waren es bereits 569 gemeldete
Fälle.
Ähnlich rasant war der Verlauf in Bayern. Dort gab es am
24. Februar 14 gemeldete Fälle bei einem Autozulieferer, am 13. März waren
es gemäß RKI 558 Fälle. Für Baden-Württemberg meldete das RKI
zum gleichen Zeitpunkt nur 454 Fälle, also 115 Fälle weniger als das LGA.
Hier zeigt sich bereits das erste große Problem der
Pandemiebekämpfung: Durch den Meldeverzug vom
Kreisgesundheitsamt (KGA) über das Landesgesundheitsamt zum
Robert-Koch-Institut werden viele Neuinfektionen erst Tage
später sichtbar. Und das ist nur einer von vielen Aspekten, die
das wahre Ausmaß des Infektionsgeschehen im Dunkeln lassen, wie
hier gezeigt wird.
Wenn Medien den
Pandemieverlauf in Deutschland mit Zahlen beschreiben, dann
greifen sie zu allererst auf die täglichen Veröffentlichungen
der
Zahlen des Robert-Koch-Instituts und der US-amerikanischen
Johns Hopkins Universität (JHU) zurück. Wer aktuellere
Zahlen für die Landkreise will, der ist auf das
Informationsangebot der Kreisgesundheitsämter angewiesen. Das
Informationsangebot reicht von so gut wie nicht vorhanden bis zu
ausführlich und detailliert. Dafür werden hier einige Beispiele
anhand von Ausbrüchen aufgeführt.
Die Medien schmücken sich
gerne mit Attributen wie "objektiv" oder "umfassende
Information", doch das Gegenteil ist der Fall. Wer sich z.B.
durch die TV-Programme der "Nachrichtensender" zappt, der stellt
schnell fest, dass sich die Meldungen ziemlich ähneln und meist
werden sie auch noch zum gleichen Zeitpunkt ausgestrahlt. Wer
sich durch Tagesschau 24, n-TV, Welt, Phoenix oder
Euronews zappt,
der kann von Informations- bzw. Meinungsvielfalt nur Träumen.
Kritiker der Mainstreammedien werden schnell in die Ecke der
Verschwörungstheoretiker gestellt. Dabei sind Verschwörungen zur
Erklärung gar nicht notwendig. Es geht vielmehr um starke
gesellschaftliche Interessen, die das Mediengeschehen bestimmen.
In der Krise wird dies nur umso offensichtlicher.
Die
Medienberichterstattung der ersten fünf Monate lässt sich auf zwei Kernphasen
reduzieren: zum ersten die Begründung des "Lockdowns" und zum
zweiten die Begründung der Lockerungen. Während in der ersten
Phase die Virologen im Vordergrund standen, standen in der
zweiten Phase die Experten für die ökonomischen und die
gesellschaftlichen Auswirkungen im Mittelpunkt. Hier wird
gezeigt wie nach und nach die Krankheit und deren Langzeitfolgen
in den Medien in den Hintergrund getreten sind. Dies geht einher mit
der Regionalisierung, d.h. der Verantwortungsverschiebung vom
Bund und den Ländern auf die Kreise. Damit verschwindet das
Krankheitsgeschehen großteils aus den überregionalen Medien und
wird in die lokalen Medien verbannt. Wie dies geschieht, das wird
hier ebenfalls aufgezeigt.
Seit kurzem erleben wir
den Beginn einer dritten Phase, in der die Krankheit wieder mehr
aus dem Abseits rückt, aber dazu später.
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Heidelberg im
Juli 2020, Foto: Bernd Kittlaus |
Die
Macht der Bilder
Zahlen und seien sie noch
so erschreckend, sind für sich alleine wenig wirkungsvoll. Ihre
Wirkung zeigen sie erst, wenn sie mittels dramatischer Bilder oder Grafiken
versinnbildlicht werden. Dies zeigt sich nicht nur in dieser
Krise, sondern diese Mittel begleiten uns auf vielen Feldern der
gesellschaftlichen Debatten. So z.B. bei den
demographischen Krisengemälden. Was dort die Demographen
waren, das sind hier die Virologen. Auch wenn in den Medien
gerne behauptet wird, dass die Macht der virologischen
Expertise ein singuläres Phänomen sei, das ohne Vorbild ist, so
ist das falsch. Nicht erst seit mit dem Neoliberalismus die
wissenschaftliche Expertise die Alternativlosigkeit von
Maßnahmen beschwört, spielen Experten eine entscheidende Rolle
bei den Begründungen von politischen Maßnahmen.
Bei der Durchsetzung des Kurzzeit-"Lockdowns", der im Vergleich mit
anderen Ländern wie z.B. Italien, bereits eine Lightversion war,
spielten zwei Bilder eine zentrale Rolle. Da sind zum einen die
Bilder von nächtlichen Leichentransporten mittels
Militärlastwagen aus dem italienischen Bergamo. Lucien
SCHERRER schreibt dazu:
Diese schrecklichen Bilder – wie ein junger Italiener
unsere Sicht auf das Coronavirus verändert hat
"Es ist
der 18. März 2020 – der Tag, an dem der Name
Coronavirus jenen bedrohlichen Beiklang erhält,
der bis heute nachwirkt. Denn inzwischen weiss
fast jeder, was die Lastwagen damals
transportiert haben: Särge mit Corona-Toten, die
in andere Städte abtransportiert werden mussten,
weil das Krematorium in Bergamo überlastet war.
Die Fotos und Videos des nächtlichen
Beerdigungszuges gehen am Morgen des 19. März um
die ganze Welt, das Echo ist gewaltig."
(Neue Zürcher Zeitung Online v. 30.05.2020)
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Ist es Zufall, dass diese
Bilder gerade dann um die Welt gingen, als in Deutschland die
Durchsetzung des Lockdowns in die entscheidende Phase ging? Am
21. März tritt jedenfalls in Bayern die erste bundeslandweite
Ausgangsbeschränkung in Kraft. Zuvor war bereits am 18. März im
Landkreis Tirschenreuth die erste Ausgangssperre für die Stadt
Mitterteich verhängt worden. Dazu heißt es in einer Untersuchung
zur Epidemie im Landkreis:
Ergebnisse der Untersuchung der COVID-19-Epidemie im
Landkreis Tirschenreuth
"Der
Landkreis Tirschenreuth liegt im Norden des
bayerischen Regierungsbezirks Oberpfalz. Im
Norden grenzt er an den Regierungsbezirk
Oberfranken und im Osten an die Tschechische
Republik. Der Landkreis besteht aus insgesamt 26
Gemeinden und hat 72.504 Einwohner (Datenstand
Dezember 2018). Kreisstadt ist die gleichnamige
Stadt Tirschenreuth.
Die erste Meldung einer Infektion mit dem
neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 ging am
10.03.2020 beim örtlichen Gesundheitsamt (GA)
Tirschenreuth ein. Innerhalb einer Woche stieg
die Zahl der gemeldeten Fälle auf 42. Am
18.03.2020 wurde für die Stadt Mitterteich die
bundesweit erste Ausgangssperre verhängt. Die
Situation im Landkreis verschärfte sich
daraufhin weiter und erreichte am 01.04.2020 mit
103 gemeldeten Fällen an einem Tag ihren
Höhepunkt. Über die nächsten Wochen beruhigte
sich die Situation langsam. Die hohe Anzahl der
an COVID-19 Verstorbenen erregte Besorgnis bei
Behörden, Bürgern und der Öffentlichkeit."
(RKI-Studie v.
13.07.2020)
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Das zweite prägende Bild
der Pandemie sind die Kurvendiagramme, deren Veränderungen die
dominanten Debatten illustrieren. Am Beispiel der
Süddeutschen Zeitung lässt sich zeigen, dass die Darstellung
der Pandemieentwicklung mittels Diagrammen den Debattenverlauf
begleitet. Bis zum 22. April beherrschten die Diagramme mit den
steil ansteigenden kumulativen Fallzahlen (rote Linie) und die
Totenzahlen der einzelnen Bundesländer die Lockdown-Phase (siehe
Kurvendiagramm 1). Ab dem 24. April wechselte die Süddeutsche
Zeitung zu Diagrammen, in denen die Genesenden (grüne
Fläche) die aktuell Infizierten (rote Fläche) dominieren und die
Toten (schwarze Fläche) als irrelevante Zahl erscheinen lassen
(siehe Kurvendiagramm 2). Diese Diagramme begleiteten die ersten
Lockerungen, die ab dem 20. April in Kraft getreten sind. Ab dem
9. Mai wird die Regionalisierungsphase dann durch die Debatte um
die Inzidenz-Obergrenze eingeläutet. Die 50 Neuinfektionen
innerhalb von 7 Tagen pro 100.000 Einwohner in einem Kreis
werden zum wichtigsten Wert erklärt (Kurvendiagramm 3)
Die
Kurvendiagramme der Süddeutschen Zeitung
|
Am 6. Mai wird hierzu ein
Beschluss gefasst, den die Bundeskanzlerin folgendermaßen
erklärt:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel,
Ministerpräsident Söder und dem Ersten Bürgermeister
Tschentscher im Anschluss an das Gespräch mit den
Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder
"Frage: Frau Bundeskanzlerin, Herr Söder hat
gestern gesagt: »Jetzt ist Corona unter Kontrolle«. Teilen
Sie diese Einschätzung? Gab es einen Dissens bei den
Zahlen 35 und 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern?
BK’in Merkel: Nein, heute war nur die 50 Gegenstand der
Gespräche. Wir haben uns das noch einmal überlegt. Früher
gab es auch einmal die Betrachtung mit den 35, aber wir
haben uns jetzt angeschaut: Wie sind die Gesundheitsämter
bestückt - wir haben pro 20.000 Einwohnern ein Team von
fünf Leuten - und kann man die Infektionsketten verfolgen?
Wir glauben, dass man das bei bis zu 50 akut Infizierten
pro Tag - wenn man das über sieben Tage mittelt - und 100.000 Einwohnern erreichen und leisten kann, und auf dieser
Grundlage gab es da heute keine große Diskussion. Es wurde
darauf hingewiesen, dass die Situation in einem Landkreis
sich von der Situation in einer Großstadt unterscheidet.
Das ist klar, und insofern wird, wenn man heute bei 10
Infizierten pro 100.000 Einwohnern ist, auch niemand
warten und seelenruhig zugucken, bis man 48 erreicht hat.
Vielmehr wird sich jeder sicherlich genau überlegen, was
zu tun ist, wenn er ein stärkeres Infektionsgeschehen
sieht.
(aus: Mitschrift der Bundespressekonferenz v. 06.05.2020
in:
bundesregierung.de)
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Um zu vermeiden, dass die
Gesundheitsämter durch die beschlossenen Lockerungen überlastet
werden, wenn es um die Eindämmung lokaler Ausbrüche geht, soll
also eine Obergrenze eingeführt werden, bei deren Überschreitung
Lockerungen zurückgenommen werden. Stand in der Debatte um den
Lockdown am Anfang die Überlastung der Krankenhäuser und des
Pflegepersonals im Mittelpunkt, so rücken nun die
Gesundheitsämter ins Zentrum, die mit ihrem Personal die
Infektionsketten unterbrechen sollen, um eine unbeherrschbare
Situation zu verhindern, bei der es zur Triage kommt.
Die
Vermeidung der Triage als oberstes Ziel der Virusbekämpfung
Der französische Begriff
"Triage" kommt aus dem Bereich der Militärmedizin. Damit werden
Kriterien für den Fall bereitgestellt, dass die Kapazitäten für
die Behandlung von Patienten nicht ausreichen und Entscheidungen
getroffen werden müssen, welche Patienten behandelt werden
sollen und welche keine Behandlung mehr bekommen. Franziska
LEHNERT erklärt das Problem, das mit dem Triagieren verbunden
ist, folgendermaßen:
Was das Triage-System zu bedeuten hat
"Triagieren gehört in Notaufnahmen zum Alltag,
stammt jedoch ursprünglich aus der
Militärmedizin. Der französische Chirurg
Freiherr Dominique Jean Larrey entwickelte die
Triage im Jahr 1792 während der Napoleonischen
Kriege. In Zeiten knapper Ressourcen brauchte
man ein System, um zu entscheiden, welche der
zahlreichen Verletzten zuerst behandelt wurden.
Ziel der Triage war es, Soldaten möglichst
schnell wieder fit für den Einsatz zu machen.
Das bedeutet, dass diejenigen mit den besten
Aussichten auf Genesung zuerst Hilfe bekamen,
und nicht die Menschen, die sie am nötigsten
brauchten.
Dieser Ansatz steht im Konflikt mit den
Prinzipien der Medizin heutzutage: In einer
Notaufnahme werden Menschen, denen es besonders
schlecht geht, auch besonders dringlich
behandelt. Im Krieg, bei Katastrophen oder in
anderen Ausnahmefällen wandelt sich das – es
mangelt an Zeit, Personal und Materialien,
sodass eine angemessene Versorgung aller nicht
möglich ist. In solchen dramatischen Situationen
dient die Triage dazu, Behandlungsentscheidungen
so zu treffen, dass möglichst viele Menschen
überleben."
(in:
Quarks v. 23.04.2020) |
In Italien war eine solche
Triage-Situation eingetreten (auch in Spanien, Frankreich und
Großbritannien war es im Verlauf der Pandemie vonnöten). In
Deutschland sollte dies im März durch den Lockdown verhindert
werden.
Auch wenn in Deutschland von
keinen Triage-Situationen berichtet wurde, gibt es dennoch
Landkreise mit sehr vielen Toten. Berechnet man die Todeszahlen
anhand dem Vergleichsmaßstab Tote pro 100.000 Einwohner
(Bevölkerungsstand: 31.08.2018), dann ergibt sich für den
1. August folgendes Bild bei den Kreisen mit den höchsten
Todeszahlen:
Rang |
Kreis |
Bundesland |
Einwohner |
Tote |
Tote/100.000 |
1 |
Tirschenreuth (Landkreis) |
Bayern |
72.504 |
139 |
191,71 |
2 |
Straubing (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
47.794 |
48 |
100,43 |
3 |
Neustadt a.d. Waldnaab |
Bayern |
94.352 |
73 |
77,37 |
4 |
Rosenheim (Landkreis) |
Bayern |
260.983 |
199 |
76,25 |
5 |
Odenwaldkreis |
Hessen |
96.798 |
63 |
65,08 |
6 |
Wunsiedel/Fichtelgebirge |
Bayern |
73.178 |
41 |
56,03 |
7 |
Amberg-Sulzbach (Landkreis) |
Bayern |
103.109 |
54 |
52,37 |
8 |
Traunstein (Landkreis) |
Bayern |
177.089 |
88 |
49,69 |
9 |
Altötting (Landkreis) |
Bayern |
111.210 |
55 |
49,46 |
10 |
Fürth (Landkreis) |
Bayern |
117.387 |
58 |
49,41 |
11 |
Greiz (Landkreis) |
Thüringen |
98.159 |
48 |
48,90 |
12 |
Weiden/Oberpfalz (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
42.520 |
20 |
47,04 |
13 |
Hohenlohekreis |
Baden-Württemberg |
112.010 |
47 |
41,96 |
14 |
Wolfsburg (kreisfreie Stadt) |
Niedersachsen |
124.151 |
52 |
41,88 |
15 |
Olpe (Kreis) |
Nordrhein-Westfalen |
134.775 |
56 |
41,55 |
16 |
Zollernalbkreis |
Baden-Württemberg |
188.935 |
77 |
40,75 |
17 |
Würzburg (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
127.880 |
52 |
40,66 |
18 |
Rottal-Inn (Landkreis) |
Bayern |
120.659 |
48 |
39,78 |
19 |
Sonneberg (Landkreis) |
Thüringen |
56.196 |
22 |
39,15 |
20 |
Rosenheim (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
63.324 |
23 |
36,32 |
21 |
Saarbrücken (Regionalverband) |
Saarland |
329.708 |
114 |
34,58 |
22 |
Baden-Baden (kreisfreie Stadt) |
Baden-Württemberg |
55.123 |
19 |
34,47 |
23 |
Freiburg (kreisfreie Stadt) |
Baden-Württemberg |
230.241 |
79 |
34,31 |
24 |
Passau (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
52.469 |
18 |
34,31 |
25 |
Hof (Landkreis) |
Bayern |
95.311 |
32 |
33,57 |
26 |
Heinsberg (Kreis) |
Nordrhein-Westfalen |
254.322 |
85 |
33,42 |
27 |
Coburg (Landkreis) |
Bayern |
86.906 |
29 |
33,37 |
28 |
Schweinfurt (kreisfreie Stadt) |
Bayern |
54.032 |
18 |
33,31 |
29 |
Freudenstadt |
Baden-Württemberg |
117.935 |
38 |
32,22 |
30 |
Heidenheim (Landkreis) |
Baden-Württemberg |
132.472 |
41 |
30,95 |
In diesen 30 Kreisen mit
zusammen ca. 3,6 Millionen Einwohnern starben 1.736 Menschen.
Das sind im Durchschnitt 47,80 Menschen pro 100.000 Einwohner
Im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen (17, 9
Millionen Einwohner) starben im gleichen Zeitraum 1.739 Menschen
(9,7 Menschen pro 100.000 Einwohner) . Deutschlandweit starben
im gleichen Zeitraum 11,02 Menschen pro 100.000 Einwohner.
Der Vergleichsmaßstab mit
Bevölkerungsstand 31.12.2018 wurde hier gewählt, weil ihn auch
das Robert-Koch-Institut (RKI) benutzt. Nicht alle
Landesgesundheitsämter benutzen den gleichen Bevölkerungsstand.
Hessen wechselt den Bevölkerungsstand z.B. vierteljährlich, um
die Inzidenzen zu berechnen. Derzeit ist das der 30.03.2020. Bei
stark schrumpfenden oder stark wachsenden Kreisen kann es hier
zu Unterschieden bei der ersten Stelle hinter dem Komma kommen. Mit RKI-Daten lassen sich die
Inzidenzen auf 13 Stellen hinter dem Komma unterscheiden und
damit Rankings erstellen, die jedoch nur die Illusion von
Exaktheit vortäuschen. Darauf wird noch genauer einzugehen sein.
Hier soll jedoch zuerst einmal gezeigt werden, inwiefern
internationale Vergleiche sinnvoll sind.
Internationale Vergleiche und ihre Fallstricke
In der folgenden Tabelle sind
die Toten pro 100.000 Einwohner ersichtlich, die am 01.08.2020 in
ausgewählten europäischen Ländern gemeldet wurden:
Land |
31.12.2018 |
Tote |
Tote/100.000 EW |
Belgien |
11.455.519 |
9.841 |
85,91 |
Deutschland |
83.019.213 |
9.148 |
11,02 |
Frankreich |
67.012.883 |
30.265 |
45,16 |
Italien |
60.359.546 |
35.146 |
58,23 |
Niederlande |
17.282.163 |
6.167 |
35,68 |
Österreich |
8.858.775 |
718 |
8,10 |
Schweden |
10.230.185 |
5.743 |
56,14 |
Schweiz |
8.544.527 |
1.981 |
23,18 |
Vereinigtes Königreich |
66.647.112 |
46.193 |
69,31 |
Belgien zählt gemessen an der
Bevölkerungszahl die meisten Toten in Europa, während Österreich
sogar besser als Deutschland dasteht. Am Beispiel Italien wird
offensichtlich, dass solche Durchschnittszahlen die
unterschiedliche Pandemie-Betroffenheit innerhalb der Länder
verschleiert. In ganz Italien wurden bis 1. August 35.146 Tote
gezählt, die der Pandemie zum Opfer fielen. Doch 25.227
Menschen, also fast 72 Prozent der Toten, starben in nur 3
der 21 italienischen Regionen, die mit
unseren Bundesländern vergleichbar sind. In diesen 3 Regionen,
nämlich Lombardei, Emilia Romagna und Piemont,
leben aber nur rund 31,3 Prozent der italienischen Bevölkerung.
Gebiet |
Bevölkerung |
Bevölkerungsanteil |
Tote |
Tote/100.000 EW |
Italien |
60.359.546 |
100,0 % |
35.146 |
58,23 |
Lombardei/Emilia Romagna/Piemont |
18.876.457 |
31,3 % |
25.227 |
133,64 |
Italien
ohne die 3 Regionen |
41.483.089 |
68,7 % |
9.919 |
23,91 |
Lombardei |
10.060.574 |
16,7 % |
16.807 |
167,06 |
In Deutschland war das
Bundesland Bayern (rund 13 Millionen Einwohner) am stärksten von
der Pandemie betroffen. Dort gab es im gleichen Zeitraum 20,05
Tote pro 100.000 Einwohner. In beiden Ländern traf es die
wirtschaftlich stärksten Regionen am härtesten, was die Frage
aufwirft, inwiefern der Globalisierungsgrad Einfluss auf die
Pandemiebetroffenheit von Regionen hat. Schaut man jedoch
genauer hin, dann differenziert sich das Bild: Bayern ist zwar
am stärksten betroffen gewesen, aber die betroffenen Landkreise
gehören nicht unbedingt zu den wirtschaftlich starken Kreise. Es
muss also andere Gründe geben, die in einem späteren Beitrag
erörtert werden.
Das
italienische Gesundheitsministerium macht zu den
Sterbefällen nur Angaben für die Regionen, aber nicht für
kleinere Gebietseinheiten. Dagegen macht das
Vereinigte Königreich, das neben England auch Schottland und
Wales umfasst, auch Angaben zu kleineren Gebietseinheiten. Hier
soll nun England genauer betrachtet werden.
Die 315 englischen Lower tier
Local Authorities mit zusammen 56.286.171 Einwohnern entsprechen den
deutschen Kreisen. Im Vergleich mit Italien ist Großbritannien
gleichmäßiger von der Pandemie betroffen. Die Spanne reicht von
Hastings (8,6) bis Hertsmere (143,0) Tote pro 100.000 Einwohner
(Stand: 09.08.2020). Es liegen jedoch nur 4 Verwaltungseinheiten
unter 20 Toten pro 100.000 Einwohnern, aber 56 hatten über 100 Tote pro
100.000 Einwohner zu beklagen. Fast zwei Drittel der Verwaltungseinheiten
(198) haben dagegen 50 bis 100 Tote pro 100.000 Einwohner zu
beklagen. Für England ergibt sich folgendes Bild:
Gebiet |
Bevölkerung |
Bevölkerungsanteil |
Tote |
Tote/100.000 EW |
England
(315 Verwaltungseinheiten) |
56.286.171 |
100,0 % |
41.606 |
74,5 |
4
Verwaltungseinheiten mit 8 - 20 Tote pro 100.000 Einwohner |
403.372 |
0,7 % |
50 |
12,40 |
57
Verwaltungseinheiten mit 20 - 50 Tote pro 100.000
Einwohner |
9.446.687 |
16,8 % |
3.498 |
37,0 |
198
Verwaltungseinheiten mit 50 - 100 Tote pro 100.000
Einwohner |
35.502.441 |
63,1 % |
25.876 |
72,9 |
56
Verwaltungseinheiten mit über 100 Tote pro 100.000
Einwohner |
10.933.671 |
19,4 % |
12.182 |
111,4 |
Für England gilt, dass 82,5
Prozent der Bevölkerung in Gebieten leben, in denen es viele
Pandemie-Opfer zu beklagen gab (50 und mehr Tote pro 100.000
Einwohner). Für Italien existieren solche Daten nicht. Man kann
nur sagen, dass es dort 3 stark betroffene Regionen gibt, in
denen viele Tote zu beklagen sind. Es lässt sich jedoch nicht
ersehen, ob es in den restlichen 18 Regionen nicht auch sehr
große Unterschiede gibt.
Für Deutschland gilt dagegen,
dass nur sehr wenige Einwohner in Gebieten mit mehr als 50 Toten
pro 100.000 Einwohner wohnen. Dagegen leben rund 79 Millionen
Menschen in Gebieten mit 30 und weniger Toten pro 100.000
Einwohner. Damit stellt sich die Frage, inwiefern das
Aufbegehren gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auch
mit den ganz unterschiedlichen Betroffenheiten der Menschen
innerhalb eines Landes zusammenhängt.
Zusammenfassend kann also
gesagt werden, dass internationale Vergleiche, die sich
lediglich auf durchschnittliche Werte beziehen (hier am Beispiel
der Toten pro 100.000 Einwohner demonstriert), die Situation in
den einzelnen Ländern nicht angemessen beschreiben können. So
bleibt uns die dramatische Situation in Italien auch durch die
Macht der Bilder eindringlicher in Erinnerung als die
Situation in Großbritannien, obgleich dort die
Situation ungleich dramatischer ist. Was wir über andere Länder
wissen, das hängt auch sehr stark von der Verfügbarkeit von
statistischen Daten ab. Hier gibt es jedoch - selbst in Europa - sehr große Unterschiede.
Wer
sind die Pandemie-Opfer? Drei Herangehensweisen
Der Blick auf die Toten der
Pandemie wird hier als erste Herangehensweise vorgestellt, denn
sie ist jene, die in der ersten Phase, d.h. der
Lockdown-Begründung, die dominante Rolle spielte, aber dann in
der Lockerungsdebatte relativiert wurde.
Welche Toten werden überhaupt
zu den Opfern der Pandemie gezählt? Das Robert-Koch-Institut
erfasst nur Fälle, die "labordiagnostisch" bestätigt wurden. Was
das heißt, das lässt sich an den veröffentlichten Zahlen des
Ostalbkreises in Baden-Württemberg aufzeigen. Der
Ostalbkreis veröffentlichte bis zum 2. Juni nur die Zahl der
"Corona-Erkrankten". Ab dem 3. Juni unterschied der Ostalbkreis
dann bei den "Corona-Erkrankten" zwischen "laborchemisch
bestätigten" und "klinisch-epidemiologisch" Erkrankten. Von den
an diesem Tag 1.588 gemeldeten Corona-Erkrankten waren 1.397
"labordiagnostisch" bestätigt im Sinne des RKI und 191
"klinisch-epidemiologisch" erkrankt. Die letzte Zahl stieg bis
zum 12. August auf 194, während die Zahl der labordiagnostisch
bestätigten Erkrankten auf 1.598 anstieg. Zu den
klinisch-epidemiologischen Fällen heißt es beim RKI:
Falldefinitionen des Robert Koch-Instituts zur
Übermittlung von Erkrankungs- oder Todesfällen und
Nachweisen von Krankheitserregern
"Auftreten
von zwei oder mehr Lungenentzündungen
(Pneumonien) (spezifisches klinisches Bild) in
einer medizinischen Einrichtung, einem Pflege-
oder Altenheim, bei denen ein epidemischer
Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet
wird, auch ohne Vorliegen eines
Erregernachweises."
(RKI,
29.05.2020)
|
In der
Anfangsphase der Pandemie als noch sehr wenig getestet wurde,
gab es vermehrt Fälle, die nicht labordiagnostisch bestätigt
sind. Diese Fälle wurden also nicht gezählt, d.h. diese Toten
tauchen in keiner RKI-Statistik auf. Für den Ostalbkreis lässt
sich sagen, dass dort keine Zahlen zu Verstorbenen
veröffentlicht wurden, die nicht auch labordiagnostisch
bestätigt wurden. Ob es andere gab, das lässt sich jedoch aus
den Veröffentlichungen nicht ersehen. Deutschlandweit gibt es
viele Kreisgesundheitsämter, die mehr Fälle erfasst haben als
jene, die dann in die RKI-Statistik eingehen. Das hat nichts mit
dem Meldeverzug zu tun, der in den Debatten diskutiert wird.
Noch
komplizierter wird es, wenn das baden-württembergische
Landesgesundheitsamt in seinen Lageberichten die Kategorie der
"klinisch-epidemiologisch bestätigten Erkrankungen" aufführt und
folgendes dazu vermerkt:
Lagebericht COVID-19
"Neben
laborbestätigten SARS-CoV-2 Fällen, die der
Referenzdefinition entsprechen und in der
offiziellen Fallstatistik aufgeführt werden,
werden im Rahmen von Ausbruchsgeschehen auch
klinisch-epidemiologisch bestätigte COVID-19
Fälle an das LGA übermittelt. Bis
Redaktionsschluss waren es insgesamt 272
klinisch-epidemiologische COVID-19-Fälle und 15
klinisch-epidemiologische COVID-19-Todesfälle.
Für die Bewertung der COVID-19-Fälle als
klinisch-epidemiologisch bestätigte Erkrankung
muss das klinische Bild laut Falldefinition
erfüllt sein und zusätzlich eine
epidemiologische Bestätigung vorliegen. Diese
liegt vor, wenn der Fall mit einem
labordiagnostisch nachgewiesenen Fall in einem
epidemiologischen Zusammenhang gebracht werden
kann."
(Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg,
S.6, 13.08.2020)
|
Der Landkreis
Schwäbisch Hall meldete für den 12. August 1.100
Corona-Erkrankte. Das LGA dagegen zählt für den Landkreis am
selben Tag nur 894 Infizierte, also eine Differenz von über 200
Fällen. Ein Artikel der Südwestpresse beschäftigte sich bereits
im April mit dieser Differenz im Landkreis Schwäbisch-Hall:
Viel mehr Infizierte laut Landratsamt Schwäbisch Hall: So
zählen Amt, RKI und Ministerium
"Das RKI
und das Sozialministerium nehmen in ihre
Statistik nur auf, wer durch einen Test
nachgewiesener Corona-Infizierter ist. Das
Landratsamt nimmt auch Fälle auf, die von den
Ärzten gemeldet wurden, ohne getestet worden zu
sein. Das teilte Marlena Merkel, Sprecherin des
Amtes, auf Nachfrage von swp.de mit.
Die Ärzte melden Fälle, die eine »entsprechende
Symptomatik und epidemiologischen Zusammenhang
haben« – also zum Beispiel im selben Haushalt
wohnen, sagt Steffen Baumgartner, auch Sprecher
des Landratsamtes Schwäbisch Hall, in seiner
Antwort auf unsere Nachfrage. In der Liste
werden also Menschen geführt, die Symptome von
Covid-19 haben und Kontaktpersonen der Kategorie
I sind.
Das Gesundheitsamt behandelt diese Erkrankte wie
nachweislich Infizierte. Das bedeutet: Sie
müssen in Quarantäne und es werden die Menschen
ermittelt, die mit diesen Personen Kontakt
hatten. »Nur als Verdachtsfälle gemeldete
Personen ohne Test werden routinemäßig nicht
nachverfolgt.«, so Baumgärtner weiter. (...).
Bei den Todesfällen zählt auch das Landratsamt
nur die nachweislich mit dem Coronavirus
Infizierten.
(swp.de, 03.04.2020)
|
Diese
Beschreibung der Sachlage entspricht ziemlich genau jenen
"klinisch-epidemiologisch bestätigten Erkrankungen" des LGA. Als
der Zeitungsbericht erschien, gab es im Lagebericht noch keine
Ausführungen zu den klinisch-epidemiologisch bestätigten Fällen.
Erst am 20. April führte das LGA diese Kategorie in den
Lagebericht ein. Damals wurden 268 solcher Fälle und 11
Todesfälle gezählt. Bis heute sind also nur 4 weitere Fälle und
4 Todesfälle dazu gekommen.
In
Baden-Württemberg gibt es 44 Landkreise. Allein in den genannten
2 Landkreisen gibt es rund 400 Fälle, die nicht in die
Fallstatistik eingegangen sind. Das LGA nennt 15 Todesfälle, die
zwar als "klinisch-epidemiologisch bestätigt" gelten, aber nicht
in der RKI-Todeszahlenstatistik geführt werden. Deutschlandweit
könnte dies zu einer Unterschätzung der Todeszahlen führen -
insbesondere in der akuten Phase im März und April 2020.
An oder
"nur" mit SARS-CoV-2 verstorben
Erregte
öffentliche Debatten kreisen um die scheinbar weite Definition der Corona-Toten, die das RKI
benutzt. Dabei lädt in erster Linie die Passage "mit SARS-CoV-2
verstorben" zu wilden Spekulationen und Fake-News ein. Dabei
gehen die Gesundheitsämter, die hier einen gewissen
Ermessensspielraum besitzen, eher restriktiv mit der Definition
"mit Corona verstorben" um. Infizierte, die z.B. bei einem
Autounfall gestorben sind, gehören da genauso wenig dazu wie
Selbstmörder, um nur einige der gängigen Argumente von
Corona-Leugnern zu nennen.
Politische
Brisanz erlebte diese Debatte durch die Aussage des
baden-württembergischen Grünen-Politikers Boris PALMER "Wir
retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem
halben Jahr sowieso tot wären." (Sat-1-Frühstücksfernsehen,
28.04.20) Diese Debatte erfolgte nach dem Beschluss erster
Lockerungen, die ab dem 20. April, d.h. nach nicht einmal einem
Monat der - im Vergleich mit Ländern wie Italien, Spanien oder
Frankreich geringen Einschränkungen - in Kraft traten, und den
Hardlinern der Lockerungsverfechtern bei weitem nicht
ausreichend waren. Zwei Tage zuvor hatte der neoliberale
CDU-Politiker Wolfgang SCHÄUBLE einen Gegensatz von "absolutem"
Lebensschutz und unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Schäden
konstruiert (Tagesspiegel,
26.04.20). Einen Tag später titelte das Hamburger Abendblatt
"Alle 133 Hamburger Coronatoten litten an schweren
Vorerkrankungen". Klaus Püschel, Direktor des Instituts für
Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
war angetreten, um mittels Obduktionen zu belegen, dass man
damit jene Corona-Toten von anderen mit dem Virus Infizierten
unterscheiden kann, die zwar infiziert waren, aber nicht
ursächlich daran gestorben waren. Die Saarbrücker Zeitung
hatte dies bereits Anfang April folgendermaßen formuliert:
RKI rechnet mit Dunkelziffer bei Corona-Toten in
Deutschland
"Hintergrund
(...) der gegenwärtigen Debatte um die Zahl der
Toten ist unter anderem, dass Hamburg diese
anders erfasst als das RKI. Die Hansestadt lässt
mutmaßliche Corona-Tote im Institut für
Rechtsmedizin untersuchen. Dadurch werde
medizinisch differenziert nachgewiesen, welche
Menschen nicht nur mit, sondern ursächlich durch
eine Covid-19-Erkrankung gestorben seien,
erklärte die Hamburger Gesundheitsbehörde."
(Saarbrücker
Zeitung, 03.04.2020)
|
Mittlerweile
ist klar, dass es sich bei Corona-Erkrankungen nicht um eine
schlichte Atemwegs- bzw. Lungenkrankheit handelt, sondern um
eine "Multiorgankrankheit", die neben der Lunge auch Niere, Herz
und Gehirn angreifen kann. Welche Spätfolgen eine solche
Infektion haben kann, das ist jedoch längst noch nicht
ausreichend geklärt. Es wird deshalb auch künftig heftige
Konflikte, um die Todeszahlenstatistik entbrennen, wie die
beiden folgenden Beispiele zeigen.
Hinter der
Kritik an einer "weiten Definition" der Corona-Toten stecken
ganz handfeste wirtschaftlichen Interessen z.B. von
Heimbetreibern, die sich den Ruf ihres Heimes nicht beschädigen
lassen wollen. Die Rhein-Neckar-Zeitung hat einen
Heimbetreiber seine Kritik in polemische Worte fassen lassen:
An oder mit Corona gestorben?
"»Sterben
zukünftig alle Bewohner unserer Einrichtung,
auch in den nächsten Monaten, die irgendwann mal
positiv waren, 'im Zusammenhang mit Corona'?«
Und weiter: »Dass selbst noch nach überstandener
Erkrankung die Menschen zu den mit Corona
Verstorbenen zählen, macht mich sprachlos.«"
(RNZ,
07.05.2020)
|
Eine andere
Konsequenz hat die Kreisverwaltung des Eifelkreises Bitburg-Prüm
aus einem solchen Fall gezogen:
Künftige Fallzahlen-Meldungen der Kreisverwaltung
Bitburg-Prüm
"Am
gestrigen Donnerstag haben wir die genaueren
Umstände des am 6. Juni verstorbenen 66-Jährigen
Eifelers mit dem Krankenhaus in St. Wendel
geklärt. Das St. Wendeler Krankenhaus hatte dem
Gesundheitsamt des Eifelkreises diese Woche
schriftlich als Grund des Todes eine
Coviderkrankung mitgeteilt. Die zuständige
Ärztin des St. Wendeler Krankenhauses erklärte
auf unsere Nachfragen, dass bei zwei Tests im
April der Coronavirus beim Patienten nicht mehr
festgestellt wurde. Der Verstorbene war insofern
vom neuartigen Virus seit April 2020 geheilt und
starb an den körperlichen Folgeauswirkungen.
Wie solche Krankheitsverläufe künftig korrekt zu
erfassen sind, werden wir mit dem
Gesundheitsministerium im Mainz klären. Bis
dahin geben wir keine Statistik zu den
Todesfällen im Zusammenhang mit Covid heraus.
Wir benennen Neuinfektionen und Erkrankte."
(Pressemitteilung
vom 12.06.2020)
|
Die
Todeszahlenstatistik ist hart umkämpft, weil damit ganz
unterschiedliche politische und wirtschaftliche Interessen
verknüpft sind. Revisionen sind deshalb nicht unüblich, werden
aber selten öffentlich diskutiert, sondern werden möglichst
geräuschlos über die Bühne gebracht. So veröffentlichen z.B. das
RKI oder die Landesgesundheitsämter nur die tägliche Gesamtzahl
an Todesfällen. Revisionen werden dann nur sichtbar, wenn
plötzlich weniger Tote als am Vortag gemeldet werden. In
Baden-Württemberg hatte z.B. das Landesgesundheitsamt am 3. und
7. Juli die Todeszahlen jeweils um einen Toten nach unten
korrigiert. Die Stuttgarter Zeitung veranlasste dies zur
Aufklärung dieses Vorganges:
Wer gilt eigentlich als Corona-Todesfall?
"In der
zurückliegenden Woche ist die Zahl der
Corona-Todesfälle im Land erst auf 1.839
gestiegen, dann lag sie wieder bei 1.837.
Allerdings wurde da keine Statistik frisiert,
wie eine Nachfrage bei den Gesundheitsämtern
Emmendingen und Konstanz ergab. Vielmehr lag bei
den Verstorbenen ein nicht allzu lange
zurückliegender positiver Corona-Test vor. Erst
nachträglich wurden laut Sprechern der beiden
Ämter neuere, negative Corona-Tests bekannt.
Daher seien die Verstorbenen wieder aus der
Statistik herausgenommen worden.
Im Falle der Konstanzer und Emmendinger
Verstorbenen habe sich auch wegen der
nachträglich bekannt gewordenen negativen
Corona-Tests gezeigt, dass »kein Zusammenhang
mit der zurückliegenden Infektion bestand«, so
eine Sprecherin des Landesgesundheitsamts.
Dieser Zusammenhang sei relevant dafür, ob
jemand in die Statistik der an und mit Corona
Verstorbenen einfließe oder nicht."
(Stuttgarter
Zeitung, 09.07.2020)
|
Ob das
Vorhandensein eines Negativtests der Multiorgankrankheit und den
damit verbundenen möglichen Spätfolgen gerecht wird, das darf
bezweifelt werden. Aber das Beispiel zeigt, welche
Ermessensspielräume bei der Frage eines Zusammenhangs mit der
Infektion den Gesundheitsämtern offen stehen.
Am 14. Juli
meldete das RKI für Brandenburg einen Toten weniger als am
Vortag (167 statt wie am Vortag 168). Dagegen findet sich in den
Tagesmeldungen des Landesgesundheitsamts kein Rückgang der
Todeszahlen in den einzelnen Landkreisen. Jedoch zählt das
Landesgesundheitsamt mit 173 Toten mehr Tote als es dem RKI
weiter gemeldet hat. Nur über die Fallzahlen der Landkreise, die
das RKI veröffentlicht, lässt sich ermitteln, dass der Tote im
Landkreis Potsdam-Mittelmark verschwunden ist (37 statt am
Vortag 38 Tote). Das LGA zählt für diesen Landkreis jedoch wie
am Vortag 43 Tote. Am 10. Juli meldet das LGA 29 Fälle weniger
für Brandenburg als am Vortag, weil es nur 4 "Neuinfektionen"
gab. Hintergrund: 33 Fälle in Potsdam-Mittelmark waren aus der Statistik
herausgefallen. Zu dieser Revision heißt es lapidar:
Coronavirus: Insgesamt 3.475 bestätigte COVID-19-Fälle in
Brandenburg statistisch erfasst
"Landkreis
Potsdam-Mittelmark hat eine Datenrevision
durchgeführt. Bei der Überprüfung der Zahlen
wurden 33 falsch klassifizierte Fälle in den
Monaten April und Mai neu bewertet und
rückwirkend korrigiert. Die Korrektur wirkt sich
auch auf die Zahl der Genesenen aus, die
entsprechend rückläufig ist. Die Ermittlung der
Anzahl der aktuell Erkrankten bleibt davon
unberührt."
(Koordinierungszentrum
Krisenmanagement in Brandenburg,
Pressemitteilung vom 10.07.2020)
|
Das
Kreisgesundheitsamt Potsdam-Mittelmark meldet diese Korrektur am
selben Tag mit folgendem Wortlaut:
Pressemitteilung vom 10. Juli 2020 - 13:30 Uhr
"Im
Landkreis Potsdam-Mittelmark sind derzeit 554
(-21 zum Vortag) Personen als infiziert
gemeldet. Einige bisher im System positiv
gelistete Personen mussten nach Überprüfung
durch das Gesundheitsamt Potsdam-Mittelmark neu
bewertet und aktualisiert werden. Bei den
korrigierten Fällen handelt es sich um
fehlerhafte Datenübertragungen und
Systemeingaben von negativen Laborergebnissen
ins Meldesystem des RKI (SurVNet@RKI). Die
unzutreffenden Eingaben sind während der
regelmäßigen Überprüfungen des Systems
festgestellt worden. Da die Überprüfung noch
nicht abgeschlossen ist, kann es zu weiteren
Anpassungen kommen."
(Potsdam-Mittelmark,
10.07.2020)
|
Es gibt also
neben spurlos verschwindenden Toten auch im Statistikdschungel
verschwindende Fälle. 10 Tage später liest man in der
Pressemeldung dann Folgendes:
Lagebild Nr. 119 Corona vom 20. Juli 2020
"Mit dem
heutigen Datum wird das Corona-Lagebild
umgestellt. Der Landkreis veröffentlicht nur
noch Daten, die auch im SurVNet des
Robert-Koch-Institutes gespeichert werden. Damit
sollen zukünftig Doppeleingaben und
unterschiedliche Aussagen zu den Daten vermieden
werden."
(Potsdam-Mittelmark,
20.07.2020)
|
Also
Neuanfang in Potsdam-Mittelmark, aber das Dunkel der
Vergangenheit wird dadurch nicht erhellt.
Bleiben wir
in Brandenburg, denn in der Landeshauptstadt Potsdam gab es im Land
die meisten Verstorbenen. Viele davon sind im Zusammenhang mit
Ausbrüchen im Klinikum Ernst von Bergmann gestorben. Bis zum 11.
Mai wurden tägliche Lageberichte veröffentlicht, danach nur noch
Corona-Updates. Am 5. und 8. Juni verschwanden dann 3
Verstorbene aus der Statistik, wodurch sich die Todeszahl von 53
auf 50 reduzierte. Begründet wurde das Verschwinden mit der
nachträglichen Änderung der Diagnose auf den Totenscheinen:
Corona-Updates für Potsdam
"Die
Zahl der verstorbenen Potsdamerinnen und
Potsdamer wurde (...) nach unten korrigiert, da
durch den Arzt auf dem Totenschein Covid 19
gestrichen und eine andere Diagnose als
Todesursache angegeben wurde"
(Verwaltungsstab
der Landeshauptstadt Potsdam, 05.06.und
08.06.2020)
|
Am 14. August
sind weitere zwei Verstorbene mit der gleichen Begründung aus
der Statistik verschwunden, die eine Woche zuvor mit folgender
Bemerkung in die Statistik aufgenommen wurden:
Corona-Updates für Potsdam
"Die Zahl der
verstorbenen Potsdamerinnen und Potsdamer im
Zusammenhang mit dem Corona-Virus wurde in
dieser Woche auf 52 erhöht, da eine
nachträgliche Prüfung der Todesursachen bereits
früher Verstorbener dieses Ergebnis zeigte."
(Verwaltungsstab
der Landeshauptstadt Potsdam, 07.08.2020)
|
Neben
plötzlich auftauchenden Negativtests können also auch
nachträglich geänderte Totenscheine zum Verschwinden von Toten
aus der Statistik führen.
Eine Panne im
nordrheinwestfälischen Landkreis Heinsberg zeigt wie schnell
Tote aus den Statistiken verschwinden können. Während am 7. Juni
noch 79 Tote gemeldet wurden, waren es am 8. Juni plötzlich nur
noch 70 Tote. Aufschlussreich sind die jeweiligen Begründungen
für den Wegfall bzw. die Wiedereinführung der 9 Toten am
nächsten Tag:
Aktuelle Informationen
"Aufgrund
inzwischen vorliegender Befunde sind neun bisher
in der Statistik geführte verstorbene Personen
nachweislich nicht an bzw. mit Covid19
verstorben. Die Statistik ist daher entsprechend
angepasst worden."
(Kreis
Heinsberg, 08.06.2020)
"In
der am 8. Juni 2020 veröffentlichten Statistik
wurden aufgrund einer veränderten
Filtereinstellung in der Corona-Software des
Kreises nur die Todesfälle berücksichtigt, in
denen Corona-Positive, noch nicht geheilte
Personen betroffen waren. Todesfälle von bereits
genesenen, ehemals positiv getesteten Menschen
wurden nicht genannt. Da laut Expertise des
Gesundheitsamtes aber nicht auszuschließen ist,
dass auch bei Genesenen der Todesfall auf
mögliche Spätfolgen der Coronaerkrankung
zurückzuführen ist, werden auch diese
Verstorbenen ab sofort wieder in die Statistik
aufgenommen."
(Kreis
Heinsberg, 09.06.2020)
|
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die
Todeszahlenstatistik immer zur Disposition steht und
großmaßstäbliche Revisionen wie sie in anderen Ländern üblich
waren (z.B. Spanien, Frankreich und Großbritannien, wo Tausende
von Toten durch unterschiedliche Erfassungsformen verschwanden
oder statistisch inexistent waren) auch in Deutschland erfolgen
können.
Das
unsichtbare Sterben in der Statistik
Wenn das RKI
keine Toten in einem Bundesland meldet, heißt dies nicht
unbedingt, dass es keine neu gemeldeten Toten an diesem Tag gab.
Weil das RKI nur zusammengefasste Zahlen zu den Toten
veröffentlicht, können durch Revisionen einzelner
Landesgesundheitsämter ein falscher Eindruck entstehen. Die
Medien melden gewöhnlich nur die Gesamtzahl und nicht, wenn
Revisionen erfolgen. Nur negative Todeszahlen erwecken
das Medieninteresse.
Am 10. Juni meldete z.B. das LGA in Baden-Württemberg
keinen Toten für das Bundesland. Nur wer sich die einzelnen
Landkreise betrachtet, der bemerkt, dass im Ostalbkreis ein
Toter neu gemeldet wurde, gleichzeitig aber im Landkreis
Schwäbisch-Hall ein Toter aus der Statistik entfernt wurde. Am
21.05. meldete Baden-Württemberg 8 Tote für das Bundesland,
obwohl 9 Tote neu gemeldet wurden. Doch ein Toter verschwand
gleichzeitig aus der Statistik. Dies sind - deutschlandweit -
keine seltene Fälle. Über die Hintergründe wird von den Ämtern
nur sehr selten aufgeklärt.
Exkurs:
Spanien als Corona-Wunderland - Von heute auf morgen vom
abschreckenden Beispiel zum europäischen Musterknabe?
In Westeuropa
sind Tausende Tote aus den Statistiken verschwunden, indem die
Erfassungsformen verändert wurden. Am 24. Mai meldete die
offizielle spanische Statistik noch 28.752 Tote. Einen Tag
später waren es nur noch 26.834 - also 1.918 Tote weniger. Das
European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC)
schwieg zu diesem Vorgang, übernahm jedoch die Zahlen der
revidierten Statistik. Während die 28.752 Toten 61,5 Toten pro
100.000 Einwohner entsprachen, waren es am Tag danach nur noch
57,4. Es verschwanden somit 4 Tote pro 100.000 Einwohner oder
anders gerechnet fast die Toten der letzten 14 Tage, die in
Spanien gezählt worden waren!
In der deutschen Presse war das
kein Thema. Es ist schließlich die Zeit, in der die Urlaubsfrage
Fahrt auf nimmt. Am 28. Mai titelt die Wochenendausgabe der
Süddeutschen Zeitung noch: "Die Sehnsucht nach Orten in der
Ferne ist riesig. Doch mit Urlaubsfahrten ins Ausland wird es so
schnell nichts werden". Aber Spanien ist ein Lieblingsreiseland
der Deutschen, weswegen das Sterben in Spanien ein Ende haben
soll. Am 24. Mai gab es noch 70 Tote an einem Tag. In den 23
Tagen vom 26. Mai bis zum 18. Juni starben laut Statistik nur 19
Menschen in ganz Spanien. In den 12 Tagen vom 7. bis zum 18.
Juni starb sogar gemäß Statistik kein einziger Mensch in ganz
Spanien! Das ECDC übernahm diese Zahlen ohne irgendeinen Hinweis
in die eigene Statistik. Am 19. Juni wurden dann in Spanien an
einem einzigen Tag 1.179 Tote sozusagen nachgemeldet.
In den
deutschen Medien herrschte Stillschweigen zu diesem
Statistikirrsinn. Im Internet fand sich auf web.de ein einziger
Artikel am 8. Juni. Marco FIEBER fragte darin: "Seit Ende Mai
hat Spanien kaum mehr neue Corona-Tote vermeldet. An vielen
Tagen gab es laut Behörden nur einen oder sogar gar keinen Fall.
Vom Coronavirus-Hotspot zum vorgeblich sicheren Reiseziel
innerhalb kürzester Zeit – wie kann das sein?" Darin heißt es:
Spanien meldet plötzlich nur noch einen Corona-Toten pro
Tag – das steckt dahinter
"Spanien
hat am 25. Mai die Erfassungsmethode grundlegend
geändert. Die Behörden begründeten den Schritt
damit, dass das neue Datenerfassungssystem ein
besseres Bild der Pandemie liefern würde. Zum
einen wird seitdem bei einem Corona-Todesfall
der Zeitpunkt gezählt, an dem ein Infizierter
gestorben ist – und nicht mehr das Datum, an dem
die Behörden informiert wurden. Zum anderen
führt die spanische Regierung nun nicht mehr die
Zahl der Todesfälle in den vergangenen 24
Stunden auf. Die Gesamtzahl der Todesfälle wird
nur noch einmal pro Woche aktualisiert. Und neue
Todesfälle werden nur dann in die laufende
Gesamtzahl aufgenommen, wenn sie in den 24
Stunden vor jedem täglichen Bericht aufgetreten
sind. Deshalb führt der aktuellste Bericht auch
lediglich einen neuen Todesfall für den Sonntag
auf."
(web.de,
08.06.2020)
|
Ralf STRECK
berichtet im Online-Magazin Telepolis in diversen
Artikeln (z.B.
hier und
hier) über die spanische Statistik und ihre Tücken. STRECK
geht es vor allem um statistische Lücken, die den politischen
Interessen und Konflikten (Madrid contra Katalonien/Barcelona)
geschuldet sind und um Belege für falsche politische Strategien,
deren Folgen sich in unterschiedlich hohen Todeszahlen bzw.
Übersterblichkeiten ausdrücken. Die Methoden mit denen
Statistiken für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden
können, bleiben dagegen unterbelichtet. Hier dagegen soll es um
die Aufklärung über genau diese Methoden gehen, denn die
spanische Methode macht Schule in Europa.
Bis 8. Juli
meldete das ECDC, sozusagen das europäische Pendant zum
Robert-Koch-Institut, die Toten pro 100.000 Einwohner. Seit dem
9. Juli werden dagegen nur die Toten der letzten 14 Tage pro
100.000 Einwohner aufgelistet. Was das bedeutet? Während am 8.
Juli z.B. für Großbritannien 66,8 Tote pro 100.000 Einwohner
gemeldet wurden, waren es am 9. Juli plötzlich 2,2 Tote pro
100.000 Einwohner. Das sieht natürlich viel besser aus, denn wer
rechnet das schon um? Bis zu diesem Tag waren in Großbritannien
44.602 Menschen am Coronavirus verstorben. 14 Tage zuvor waren
es dagegen erst 43.230 Menschen. Folglich bedeuten die 2,2 Toten
pro 100.000 Einwohner in Wirklichkeit 1.372 Menschen, die in nur
14 Tagen gestorben waren. Immerhin durchschnittlich fast 100
Tote pro Tag. In den
täglichen Meldungen des ECDC ist das auf den ersten Blick
nicht erkennbar.
Exkurs:
Großbritannien als nächstes Corona-Wunderland
Seit einigen
Tagen folgt nun auch Großbritannien dem spanischen Pfad des
Umgangs mit Verstorbenen. Am 13. August meldete
Großbritannien noch 46.706 Tote. Tags darauf waren es nur noch
41.357 Tote. Kurz mal 5.349 Tote aus der Statistik
heraus geworfen! Für das ECDC sind das gerade einmal 7,1 Tote
pro 100.000 Einwohner in den letzten 14 Tagen weniger gewesen.
Großbritannien begleitete diese neue Sicht auf die Toten mit der
Umstellung der Website. Wie in Spanien werden nun die Toten
unsichtbar gemacht, indem eine neue Definition der
veröffentlichten Todeszahlen benutzt wird: Wer nicht spätestens
28 Tage nach einem positiven Test verstirbt, der wird nicht als Corona-Toter
gezählt - wie immer das berechnet wird. Warum aber 28 Tage?
Man sollte
daran erinnern, dass Großbritannien bis zum 24. April nur die
Toten zählte, die im Krankenhaus verstorben waren. Ab dem 25. April
kamen dann auch die Toten, die in Alten- und Pflegeheimen
verstarben hinzu. Das waren damals 3.316 Menschen. Mit der neuen
Revision entsorgt man offenbar diese Toten wieder. Während das ECDC dieses Spiel - wie bei Spanien - mitspielt, meldet die
Johns-Hopkins-Universität für den 15. August 46.791 Tote. Auch
hierzu schweigen die Medien und die JHU hat ihre Zahlen
mittlerweile nach unten korrigiert!
Die
Kontaktnachverfolgung als Königsweg zur Vermeidung von
Überlastungen im Gesundheitswesen bei gleichzeitiger
Normalisierung des Alltags
Wie weiter
oben gesehen, wurde mit der Obergrenze von 50 Neuinfektionen
über 7 Tage pro 100.000 Einwohner ein Schwellenwert definiert,
bei dessen Überschreitung wieder einschränkende Maßnahmen
ergriffen werden sollten. Die Kontaktnachfolgung durch die
Gesundheitsämter sollte bei niedrigeren Werten noch möglich
sein, ohne dass ein Lockdown vonnöten ist, der die Wirtschaft
weiter schädigt. Die Vermeidung höherer sogenannter Inzidenzen
hatte damit oberste Priorität. Doch von Anfang an wurde dieser
Wert eher als nach oben dehnbar verstanden. Dazu diente die
Formel von den "eindeutig räumlich eingrenzbaren Ausbrüchen".
Damit waren vor allem Ausbrüche in Einrichtungen wie Alten- und
Pflegeheime oder in Betrieben gemeint. Dies soll nun als zweite
Herangehensweise an die Pandemieopfer erörtert werden, denn hier
geht es nicht um die Toten, sondern um die Vermeidung von
Schäden für die Wirtschaft.
 |
Nach den
Lockerungen im Juni, Foto: Bernd Kittlaus |
Der
Umgang mit der Neuinfektionsobergrenze anhand einzelner
Fallbeispiele
Bereits vor
Einführung der Obergrenze hatte der Landkreis Greiz in Thüringen
die Obergrenze deutlich überschritten. Es stellte sich also die Frage
nach der Verlängerung des Lockdowns. Die Wochenzeitung Die
Zeit berichtete am 12. Mai über den Widerstand der Landrätin
gegen die Verlängerung des Lockdowns.
Eine Landrätin stellt die Vertrauensfrage
"Martina
Schweinsburg muss sich fragen lassen, warum sich
das Virus in ihrem Landkreis besonders heftig
verbreitet. Stand Anfang der Woche: 538
Infizierte – etwa 20 Prozent aller offiziellen
Infektionsfälle in Thüringen. Und 37 Todesfälle.
Schließlich kam noch die offizielle Alarmstufe
hinzu, der von Bund und Ländern festgelegte
Grenzwert: Ab 50 Neuinfektionen je 100.000
Einwohner innerhalb von sieben Tagen, soll die
»Notbremse« gezogen werden und ein
Beschränkungskonzept gelten. Greiz ploppte als
einer der ersten Landkreise in Deutschland auf,
denn dort wurde der Wert deutlich überschritten
– mit aktuell 75 Neuinfektionen in einer Woche.
(...).
Aber was ist, wenn sich die Kreise einfach nicht
an die Abmachung halten? Von Notbremsungen ist
in Greiz nämlich überhaupt nicht die Rede.
Stattdessen hört man von Martina Schweinsburg
andere Töne: Eine neue Maßnahmenoffensive wird
es bei ihr nicht geben, keine
Landkreisquarantäne, keine Schließungen. »Ich
warte noch ab«, sagt sie. »Ich mache jetzt
keinen Schnellschuss, den ich vielleicht wieder
einsammeln muss.« Nur das Besuchsverbot für
Senioreneinrichtungen und Kliniken bleibt weiter
bestehen."
(Die Zeit, 12.05.2020)
|
Das
Robert-Koch-Institut hat zwar bereits seit dem 25. März den
Indikator 7-Tage-Inzidenz in seinen täglichen
Situationsberichten als Maßzahl benutzt, aber zur Beschreibung
der epidemiologischen Lage in Deutschland wurden nur die Fälle
pro 100.000 Einwohner benutzt. Erst am 20. Mai stellte das RKI
dies um. Die
täglichen Bulletins des Thüringer Landesgesundheitsamts, die
am 10. Juli eingestellt wurden, verwendeten die 7-Tage-Inzidenz
bis zum 7. Mai überhaupt nicht zur Beschreibung der Lage in den
einzelnen Landkreisen. Am 7. Mai wies das LGA dann bei Greiz eine
7-Tage-Inzidenz von 87,5 aus. Danach folgten der Landkreis Gera
mit 20,0 und Sonneberg mit 19,6. Nur für zwei der 23 Landkreise
meldete das LGA keinen einzigen Fall innerhalb von 7 Tagen.
Doreen REINHARDT schildert uns die Sicht der Landrätin auf die
Entwicklung der Pandemie im Landkreis folgendermaßen:
Eine Landrätin stellt die Vertrauensfrage
"Den ersten
offiziellen Corona-Fall gab es Mitte März im
Greizer Krankenhaus. Doch schon Wochen vorher
war das Virus im Landkreis. Winterurlauber haben
es aus Italien mitgebracht. Drei Familienfeiern
spielten eine entscheidende Rolle bei der
Verbreitung. (...). Schnell wurden Greizer
Seniorenheime und Kliniken zu Virenschleudern.
Inzwischen entfällt auf sie die Hälfte der Fälle
im Kreis. Die 37 verstorbenen Menschen waren
zwischen 67 und 98 Jahre alt. Alle hätten teils
schwere Vorerkrankungen gehabt, sagt die
Landrätin. Sie wolle nichts verharmlosen, sagt
sie, »aber wir wissen ja nicht, ob die Leute mit
oder wegen des Virus gestorben sind«.
Obduktionen seien nicht durchgeführt worden. In
Greiz hat es gedauert, bis an den kritischen
Orten breit getestet wurde. Erst Anfang Mai fand
der erste Massentest statt – nach Verzögerungen,
in die etliche Behörden verwickelt waren. (...).
Die Ergebnisse haben die Greizer Statistik
weiter in die Höhe getrieben."
(Die Zeit,
12.05.2020)
|
Die Reaktion
der Landrätin, die die hohe Zahl von Toten zu verharmlosen
versucht, kann angesichts der desolaten Lage in ihrem Landkreis
kaum verwundern. Greiz führt die Liste der Toten pro 100.000
Einwohner in Ostdeutschland am 1. August mit weitem Abstand vor weiteren
thüringischen Landkreisen an. Dies ist aus der folgenden Tabelle
ersichtlich:
Rang |
Bundesland |
Kreis |
Einwohnerzahl |
Tote |
Tote/100T |
1 |
Thüringen |
Greiz (Landkreis) |
98.159 |
48 |
48,90 |
2 |
Thüringen |
Sonneberg (Landkreis) |
56.196 |
22 |
39,15 |
3 |
Thüringen |
Gera (kreisfreie Stadt)) |
94.152 |
22 |
23,37 |
4 |
Thüringen |
Gotha (Landkreis) |
135.452 |
30 |
22,15 |
5 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark (Landkreis) |
214.664 |
38 |
17,70 |
6 |
Sachsen |
Zwickau (Landkreis) |
317.531 |
52 |
16,38 |
7 |
Brandenburg |
Barnim (Landkreis) |
182.760 |
29 |
15,87 |
8 |
Thüringen |
Saale-Orla-Kreis (Landkreis) |
80.868 |
12 |
14,84 |
9 |
Sachsen |
Erzgebirgskreis (Landkreis) |
337.696 |
43 |
12,73 |
10 |
Sachsen |
Vogtlandkreis (Landkreis) |
227.796 |
22 |
9,66 |
Der Landkreis
Greiz gehört auch deutschlandweit zur Spitzengruppe der 30
Landkreise mit den meisten Toten pro 100.000 Einwohner. Seit dem
Zeitungsartikel, der gemäß der Meldung des Kreisgesundheitsamts
dem Stand vom 9. Mai entspricht, sind weitere 11 Tote im
Landkreis hinzu gekommen. Der letzte Tote starb jedoch bereits
am 16. Juni. Seitdem hat der Kreis keinen weiteren Toten mehr
gemeldet. Ob dies nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm ist, wird
sich zeigen müssen. Genau 2 Monate später führt der Landkreis
nämlich wieder die 7-Tage-Inzidenz-Rangliste des Bundeslandes
an. Diese liegt zwar erst bei niedrigen 8,2, was sich aber
schnell ändern könnte.
Die
simple Formel "Wer viel testet, der findet auch viel"
ist nur scheinbar stimmig, denn sie hängt
maßgeblich mit der jeweiligen Teststrategie zusammen. Dass in
Thüringen - gemessen an der Bevölkerungszahl - sehr viele Opfer
im Vergleich mit anderen ostdeutschen Bundesländern zu beklagen
sind, das ist eine Frage, die in einem eigenen Beitrag erörtert
werden soll. Hier soll dagegen ein Vergleich mit dem Landkreis
Sonneberg erfolgen, um zu zeigen, dass es gravierende
Unterschiede hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit der
Landkreise gibt.
Während der Landkreis Greiz eine restriktive
Öffentlichkeitsarbeit betreibt: lediglich Veröffentlichung der
Anzahl der Toten in den nicht einmal täglichen Meldungen zur
Lage des Kreises. Dagegen geht der Landkreis Sonneberg offensiv
mit der eigenen Lage um: Täglich wird diese anhand der
Veränderung der 7-Tage-Inzidenzen beschrieben und zu den
Verstorbenen gibt es Altersangaben und Hinweise zu
Besonderheiten. Durch die Angabe der Inzidenzen lassen sich
damit die Unterschiede der Verläufe zwischen Kreis, Land und
Robert-Koch-Institut erkennen. Bekanntlich sollte der
Schwellwert die Überlastung der Kreisgesundheitsämter anzeigen.
Doch die Medien greifen meist nur auf die Zahlen des RKI zurück,
obwohl diese Zahlen dem Arbeitsanfall in den Kreisen nicht gerecht
werden. Das folgende Schaubild zeigt die unterschiedlichen
Entwicklungen der 7-Tage-Inzidenzen:
Es wird
deutlich, dass die Höchstwerte der 7-Tage-Inzidenzen, die vom
Robert-Koch-Institut und der thüringischen Landesmeldestelle
gemeldet werden,
weit unter jenen Werten liegen, die auf der Ebene des
Kreisgesundheitsamtes die Kontaktnachverfolgung bestimmen.
Während RKI und LGA nur an 5 Tagen eine Überschreitung der
Obergrenze melden, wird vom Kreisgesundheitsamt die
Überschreitung an 15 Tagen gemeldet. RKI/LGA sehen den
Höchststand bei 64,1 (Stand: 11.05.). Das KGA dagegen bei 75,3
(Stand: 12.05.).
Wie lassen
sich diese Unterschiede erklären? Da ist zum einen, dass RKI und
LGA mit dem Bevölkerungsstand vom 31.12.2018 (56.196 Einwohner)
rechnen, während das KGA mit dem Bevölkerungstand vom 30.06.2019
(58.076 Einwohner) rechnet. Der Landkreis Sonneberg gehört zu
den wachsenden Landkreisen, sodass sich eine Zunahme von 1.880
Menschen ergibt. Nimmt man die Annahmen der Politik ernst, d.h.
5 Leute für 20.000 Einwohner, dann würde das umgerechnet
bedeuten, dass aufgrund des Bevölkerungswachstums fast eine
Halbtagskraft notwenig ist, um den normalen Mehrbedarf zu
schaffen.
Je höher die
7-Tage-Inzidenzen steigen, desto stärker wirkt sich der
Unterschied jedoch aus. Bis zu einer Inzidenz von ca. 25 ergibt
sich kein Unterschied. Bei rund 25 - 70 ist es ein Fall. Darüber
sind es schon zwei Fälle. Beim Höchststand von 75,3 bedeutet dies, dass das KGA von 44 Fällen spricht, während RKI/LGA nur 42 Fälle
annehmen. Die Obergrenze in Sonneberg liegt also je Berechnung
bei 28 oder 29 Fällen. Inzwischen liegen für die thüringischen
Landkreise die Bevölkerungszahlen für den 31.12.2019 vor.
Danach ist der Kreis auf 57.717 Einwohner geschrumpft. Dennoch
stimmen die Zahlen des KGA weiterhin, jedoch ist die Zunahme auf
1.521 zurückgegangen. Erst bei Veröffentlichung der Zahlen für
Mai/Juni 2020 wissen wir, welche Berechnung der heutigen
Wirklichkeit am nächsten kommt.
Nimmt man die
Differenz der Höchstwerte, dann ergibt sich selbst bei gleicher
Berechnung eine Differenz von 4 Fällen. Diese Differenz ist dem
Meldeverhalten und den Eigenarten der 7-Tage-Inzidenz
geschuldet. Kommen wir noch einmal auf die Greizer Landrätin und
den Zeitungsartikel zurück. Dort heißt es:
Eine Landrätin stellt die Vertrauensfrage
"Schon Anfang
Mai, beim ersten Massentest, hat die Landrätin
sich deshalb Sorgen gemacht. Bund und Länder
haben sich auf den Grenzwert von 50 Infektionen
geeinigt, als die Tests in Greiz gerade liefen.
»Rein theoretisch hätte ich auch sagen können,
wir testen nicht sechs Pflegeheime auf einmal,
sondern nur drei in einer Woche und die nächsten
drei in der anderen Woche, dann hätte es das
Ergebnis vielleicht halbiert.« Aber solche
Zahlenspiele, fügt sie schnell hinzu, seien
nicht Teil der Lösung. »Nur um eine Statistik
schönzumachen, das ist ja nicht Sinn der
Sache.«"
(Die Zeit,
12.05.2020)
|
Die Landrätin
legt hier den Akzent auf jene Verzögerungen, die durch den
Zeitpunkt der Testung entstehen. Doch das ist nur eine
Möglichkeit, um die Statistik besser aussehen zu lassen. Und es
braucht nicht einmal Absicht dahinter zu stehen, sondern
Verzerrungen entstehen bereits aufgrund der Arbeitsbedingungen
bei den Kreisgesundheitsämtern, den Meldewegen und den
Arbeitsweisen der Landesgesundheitsämter. Es gibt eine Vielzahl
von Faktoren, die hier zusammenwirken und die Verzerrungen
bewirken.
Exkurs:
Was bedeutet es, wenn von einer 7-Tage-Inzidenz gesprochen
wird?
Das Prinzip
der 7-Tage-Inzidenz ist im Grunde einfach, wenn man es
oberflächlich betrachtet: Jeden Tag fallen die Fälle eines Tages
aus der Berechnung heraus, während die Fälle des aktuellen Tages
hinzu kommen. Jeden Tag erfolgt dieses Spiel dann von Neuem. Doch was
einfach aussieht ist es nicht, weil die Sache in der Realität
ganz anders aussieht.
Das Landesgesundheitszentrum (LZG) in
Nordrhein-Westfalen (NRW) veröffentlichte bis vor kurzem die
Zahlen des Vortages, die in die Inzidenzberechnung einfliesen,
lediglich von Montag bis Freitag. Seit 8. August aber auch
am Wochenende. Dadurch können anhand der Veröffentlichung, die
dem Datenstand des RKI entspricht, diejenigen Fälle ermittelt
werden, die jeweils am ersten Tag in die Inzidenzen (Fallzahlen) eingeflossen
sind. Im Idealfall müsste dann die 7-Tage-Inzidenz identisch
sein mit der Summe der jeweiligen Tagesmeldungen. In der Regel
ist das aber nicht der Fall, sondern die Ausnahme. Beispielhaft soll
das an der 7-Tage-Inzidenz des 14. August gezeigt werden.
Am 14. August
meldete das RKI/LZG für NRW 2.571 Fälle, die bei der
7-Tage-Inzidenz berücksichtigt wurden. Nimmt man jedoch die
Fälle zur Hand, die am 7. August, am 8. August, am 9. August, am
10. August, am 11. August, am 12. August, und am 13. August
berücksichtigt wurden, dann ergeben sich nur 1.928 Fälle. Das
sind 643 Fälle weniger als die von RKI/LZG angegeben 2.571
Fälle, aus denen sich die Inzidenz vom 14. August tatsächlich
zusammensetzt. Wie kann das sein?
In der
Realität werden Neuinfektionen selten alle am selben Tag
gemeldet, an dem das Kreisgesundheitsamt über einen Positivfall
informiert wurde, sondern oftmals erst später. Was aber heißt
das? Das Bundesland Nordrhein-Westfalen ist in 53 Landkreise
gegliedert. Am 14. August stimmten in nur 7 Landkreisen beide
Zahlen überein, d.h. alle gemeldeten Fälle flossen am ersten Tag
in den 7-Tage-Wert vom 14. August ein. In 46 Landkreisen gab es
stattdessen Nachmeldungen oder es wurden Fälle aus den
unterschiedlichsten Gründen wieder gelöscht. Die Gründe sind der
Veröffentlichung nicht zu entnehmen, jedoch lassen sich
Rückschlüsse ziehen.
In der
kreisfreien Stadt Köln wurden am 14. August 149 Fälle für die
7-Tage-Inzidenz berücksichtigt. Jeweils am ersten Tag gemeldet
wurden lediglich 35 Fälle. Die Mehrzahl der Fälle, nämlich 114,
flossen nicht jeweils am Tag des Meldedatums ein, sondern
später. Auch der umgekehrte Fall ist möglich. In der kreisfreien
Stadt Essen wurden 108 Fälle jeweils am Tag des Meldedatums
übermittelt. In die 7-Tage-Inzidenz gingen dann jedoch nur 104
Fälle ein. Es fanden also innerhalb der 7-Tagesfrist Löschungen
statt. Löschungen und Nachmeldungen können sich auf 6 Tage
verteilen, weshalb das ganze Ausmaß von Revisionen auch durch
die Veröffentlichung des LZG nicht sichtbar wird. Es sollte
jedoch klar werden, dass mit dem Begriff der
Kontaktnachverfolgung nicht die ganze Arbeit der
Gesundheitsämter beschrieben ist. Je undurchsichtiger das
Ausbruchsgeschehen ist, desto schwieriger ist die
Kontaktnachverfolgung. Möglicherweise stimmen die Angaben zum
Wohnort nicht oder ein Umzug wurde nicht gemeldet. Auch können
die Angaben auf Kontaktdatenlisten unleserlich oder falsch sein.
In den Ferienzeiten ist so mancher auch nicht erreichbar, weil
in Urlaub. Damit sind nur einige Probleme genannt.
Das RKI
stellt Daten zur Verfügung, die einen größeren Teil aufklären
können.
Doch auch diese Daten haben große Lücken, weil Nachmeldungen und
Löschungen auch nach langen Zeiträumen erfolgen können. Dies nur
zur Information. Das bayerische Landesamt für Gesundheit und
Lebensmittelsicherheit (LGL) erklärt uns die Sache auf seiner
Seite folgendermaßen:
Übersicht der Fallzahlen von Coronavirusinfektionen in
Bayern
"Die
7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle der letzten
sieben Tage pro 100.000 Einwohner ab. Zur
Berechnung wird der Datenstand von 08:00 Uhr des
Aktualisierungstages verwendet. Bei den Fällen
der letzten sieben Tage handelt es sich um die
aufsummierten Fälle mit Meldedatum der letzten
sieben Tage sowie Fallmeldungen, die mit
Meldedatum des Aktualisierungstages bis 08:00
Uhr eingegangen sind. Das Meldedatum entspricht
dem Datum, an dem das Gesundheitsamt vor Ort
Kenntnis von einem positiven Laborbefund
erhalten hat. Dieses Meldedatum entspricht nicht
immer dem Datum, an dem das LGL einen Fall
erstmals berichtet. Daher kann die
7-Tage-Inzidenz nicht über die Aufsummierung der
jeweils neu berichteten Fälle der vergangenen
Tage berechnet werden. Zu beachten ist in diesem
Zusammenhang auch, dass sich Fallzahlen
rückwirkend ändern können (z. B. durch
Qualitätskontrollen oder Nachmeldungen)."
(LGL,
15.08.2020)
|
Unter den
Begriff "Qualitätskontrolle" fallen die Löschungen. Am 15.
August meldete das LGL z.B. 230 "Neuinfektionen". Diese
bestanden aus 163 "neu berichtete aktuelle Fälle seit der
letzten Aktualisierung", aus 70 Nachmeldungen und aus 3
Löschungen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die
7-Tage-Inzidenzen, die das RKI veröffentlicht, den
Arbeitsaufwand in den Kreisgesundheitsämter nicht angemessen
abbilden kann. Je größer ein Ausbruch, desto weniger wird das
Geschehen auf der Ebene der Kontaktnachverfolgung abgebildet.
Und die Kontaktnachverfolgung ist nur ein Teil der Arbeit, die
das Gesundheitsamt zu leisten hat. Am Beispiel eines der größten
Ausbrüche in Deutschland soll dies gezeigt werden.
Der Fall
Gütersloh und was daraus für die Aussagekraft der
7-Tage-Inzidenz zu lernen ist
Kein Fall
erregte in letzter Zeit mehr mediale Aufmerksamkeit als der
Ausbruch bei der Firma Tönnies. Schlachthöfe und die
Fleischverarbeitungsbranche waren zwar schon länger durch die
Pandemie in den Blickpunkt geraten, aber kein Ausbruch hatte
jene Dimensionen wie der Fall Tönnies. Mit den Kreisen Gütersloh
und Warendorf waren gleich zwei Kreise vom bisher einzigen
Lockdown nach Einführung der Obergrenze betroffen, auch wenn die Beschränkungen milder
ausfielen als im März. Im nachfolgenden Schaubild ist das
Ausbruchsgeschehen anhand drei verschiedener Quellen zu sehen:
Die
7-Tage-Inzidenzen stammen zum einen von den täglichen
Situationsberichten des Robert-Koch-Instituts. Diese sind
identisch mit den täglichen Meldungen des Landesgesundheitsamtes
von Nordrhein-Westfalen. Zum Zweiten gab das Kreisgesundheitsamt
in seinen Pressemeldungen ebenfalls täglich die Inzidenzwerte
an, die dem Dashboard des KGA entnommen wurden. Die
Aktualisierung erfolgte wie beim RKI zum gleichen Zeitpunkt (0:00
Uhr).
Mit rund
einem Monat Abstand sieht dann jedoch das Ausbruchsgeschehen
wiederum anders aus. Das LZG veröffentlicht diese Werte täglich
für den Pandemieverlauf in Nordrhein-Westfalen. Es zeigt sich,
dass die Inzidenzen, die das RKI täglich meldet, in der akuten
Phase eines Ausbruchs zum einen zeitlich und zum anderen
wertemäßig weit von der Realität des Arbeitsaufwandes im
Kreisgesundheitsamt entfernt sind. Gemäß RKI wurde die
Obergrenze erst am 19.06. (94,2 - was 343 Fällen entspricht)
überschritten. Auch das KGA selbst sah die Obergrenze erst am
19.06. (71,1 - 259 Fälle) überschritten, weil die Eingabe ins
elektronische System nicht hinterher kam. Dagegen zeigt sich nach
Aufarbeitung der Fallzahlen zum Zeitpunkt 18.05., dass die
Fallzahlen am 16.06. bereits knapp unterhalb der
Obergrenze lagen (45,6 - 166 Fälle) und am 17.06. mit 154,6 (563
Fälle) die Obergrenze weit überschritten wurde. Woher kommen diese
Differenzen?
Die ersten
drei Positivfälle bei Tönnies wurden bereits am 15. Mai
gemeldet. Am 18. Mai kam ein weiterer Fall hinzu. Doch erst als
am 27. Mai 19 Fälle durch das Unternehmen gemeldet wurden, lief
die Testmaschinerie der Behörden endlich an. Es dauerte dann aber noch
bis zum 16. Juni, also fast 3 Wochen, bis dann tatsächlich mit
Reihentestungen der Belegschaft begonnen wurde. Die
Pressemitteilung des Kreises Gütersloh versuchte noch am 15.
Juni das Ausbruchsgeschehen folgendermaßen herunterzuspielen:
48 Neuinfektionen übers Wochenende
"Von den 48
Neuinfektionen stehen 46 in direktem
Zusammenhang mit dem Schlachtbetrieb Tönnies.
»Das Unternehmen Tönnies und seine
Werkvertragsnehmer tragen als Arbeitgeber eine
außerordentlich große Verantwortung, dass es im
Kreis Gütersloh nicht wieder zu einem Anstieg
der Infektionen in der Bevölkerung kommt. Die
Infektionszahlen müssen wieder sinken! Und wenn
die bisherigen Maßnahmen nicht gereicht haben,
müssen weitere ergriffen werden!«, erklärte
Krisenstabsleiter Thomas Kuhlbusch (Kreis
Gütersloh). »Deshalb stehen wir mit dem Land,
insbesondere der für den Arbeitsschutz
zuständigen Bezirksregierung Detmold und dem
Unternehmen Tönnies in engem Kontakt.«
In den vergangenen 7 Tagen waren im Kreis
Gütersloh 94 Neuinfektionen zu verzeichnen. Der
Anstieg in den vergangenen Tagen beruht ganz
überwiegend auf Neuinfektionen von Personen, die
bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätig sind. Die
Zahl der Neuinfektionen innerhalb der letzten
sieben Tage ist deshalb von Interesse, weil sich
Bund und Länder darauf verständigt haben, dass
ab einer Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000
Einwohner geprüft werden soll, ob in dem
betroffenen Kreis oder der kreisfreien Stadt
wieder kontaktbeschränkende Maßnahmen getroffen
werden sollen. Diese Schwelle wäre im Kreis
Gütersloh bei 182 Neuinfizierten innerhalb von 7
Tagen erreicht. Ein Automatismus setzt dann
jedoch nicht ein. Der Blick auf die Praxis in
anderen Regionen zeigt, dass die Überschreitung
dieses Grenzwertes nicht unbedingt zu einem
neuen 'Lockdown' führt – beispielsweise dann
nicht, wenn das Ausbruchsgeschehen lokal sehr
begrenzt auftrat und sich die Neuinfektionen auf
einen oder sehr wenige Hotspots beschränkten."
(Kreis
Gütersloh, Pressemitteilung 15.06.2020)
|
Lockdown ja
oder nein, das wird als Frage der lokalen Begrenztheit des
Ausbruchsgeschehens aufgefasst. Sollte sich das
Ausbruchsgeschehen lediglich auf den Fleischverarbeitungsbetrieb
beschränken, dann wäre der Ausbruch - trotz sehr hoher
Fallzahlen - kein Grund für Einschränkungen für den ganzen
Kreis, so diese Sicht.
Zwei Tage
später werden erste Testergebnisse bekannt gegeben (395
Positivfälle bei 589 Tests in der Schweinezerlegung, insgesamt
657 von 983 Proben positiv) und die Schließung von Kitas und
Schulen beschlossen, aber kein "genereller" Lockdown. Der
generelle Lockdown wird dann erst am 23. Juni verkündet. Die
Landesregierung sprach dabei von der zweiten Stufe des Lockdowns:
Landesregierung aktiviert zweite Stufe des Lockdowns im
Kreis Gütersloh und im Kreis Warendorf
"In Folge des
Corona-Ausbruchs in einem Schlachtbetrieb in
Rheda-Wiedenbrück aktiviert die Landesregierung
die zweite Stufe des Lockdowns. Damit gelten im
Kreis Gütersloh und im Kreis Warendorf wieder
bestimmte Einschränkungen im öffentlichen Leben.
Demnach dürfen im öffentlichen Raum nur zwei
Menschen oder Menschen aus einem Familien- oder
Haushaltsverbund zusammentreffen. Zudem muss –
über die landesweit gültigen Regelungen der
Coronaschutzverordnung hinaus – eine Reihe von
Freizeitaktivitäten unterbleiben. So müssen zum
Beispiel Museen, Kinos, Fitnessstudios,
Hallenschwimmbäder und Bars geschlossen werden.
Die entsprechenden Vorschriften finden sich in
der neuen Coronaregionalverordnung, die um
Mitternacht (Mittwoch, 24. Juni 2020) zunächst
für eine Woche (bis zum 30. Juni 2020) in Kraft
tritt."
(Ministerium
für Arbeit, Gesundheit und Soziales,
Pressemitteilung 23.06.2020)
|
Am 23. Juni
hatte das RKI eine 7-Tage-Inzidenz von 257,4 (KGA: 287,6)
gemeldet, was 937 (1.047) Fällen entspricht. Das ist das 5-fache
dessen, was die Kreisgesundheitsämter ohne Überlastung schaffen
können sollten. Der Fall stellte also eine völlige Überforderung
dar. Entsprechend groß war das Chaos, das in diesen Tagen im
Kreis Gütersloh herrschte. Nach Aufarbeitung der Fälle, waren es
an diesem Tag sogar 1.123 Fälle.
Die Differenz zwischen KGA- und
LZG-Zahlen sagt etwas darüber aus, welche Schwierigkeiten sich
bei der Ermittlung der Fälle ergeben haben, wobei am 15. August
ein Großteil der Nachmeldungen zum Ausbruchsgeschehen bereits
eingearbeitet waren. Wie immens das Chaos war, zeigt z.B. dass
erst am 23. Juni die Suche nach 150 Dolmetschern startete. (Die
damalige Pressemeldung ist im Netz nicht mehr verfügbar). Hatte
man nicht von Anfang an gewusst, dass es bei den betroffenen
osteuropäischen Arbeitern Sprachprobleme gab? Erst nachdem
bekannt geworden war, dass Arbeiter die Quarantäne nicht
einhielten und sogar in ihre Heimatländer zurück reisten,
handelte der Kreis.
Die größeren
Ausbrüche in den Betrieben der Fleischverarbeitungsbranche und
bei Erntehelfern zeigen, dass die fehlende gesellschaftliche Integration
der Arbeiter in
der Pandemie geradezu als Vorteil betrachtet wurde. Die "räumlich"
lokale Eingrenzbarkeit wurde von der politischen Elite in diesen
Fällen in erster Linie als schnelle Isolierbarkeit der
"Arbeiter mit Migrationshintergrund" verstanden. Im
Beamtendeutsch heißt das dann, dass kein "Eintrag in die
allgemeine Bevölkerung" stattgefunden hat. Oder wie es in
Gütersloh hieß: "in die übrige Bevölkerung".
Die Frage nach der
Aufhebung des zweistufigen Lockdowns wurde in den
Pressemeldungen des Kreises auf die Frage reduziert, ob die
einheimische Bevölkerung vom Ausbruch betroffen war. Ab dem 26.
Juni wurden deshalb täglich die "Fälle in der übrigen
Bevölkerung" gemeldet, um zu belegen, dass der Ausbruch auf die
meist osteuropäischen Arbeiter begrenzt war. Dass diese Arbeiter
oftmals nicht in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren,
erwies sich nicht als Glücksfall, sondern als Nachteil, da das
Unternehmen die Adressen der bei Subunternehmern beschäftigten
Arbeiter nicht herausrückte und deshalb Verzögerungen bei der
Verordnung von
Quarantänemaßnahmen entstanden.
Es ging hier
offensichtlich nicht um eine humane Unterbringung von Arbeitern, sondern um
schnellstmögliche Wegsperrung der Infizierten. In Göttingen war
Anfang Juni schon ein Hochhauskomplex abgeriegelt worden, was als
Alternative zu einem generellen Lockdown verstanden wurde. Von
diesem Fall war zudem bekannt, dass mit Sprachproblemen zu
rechnen war. Aber in Gütersloh lebte man offenbar in einer
anderen Welt.
Die Maßnahmen
in der Stadt Verl zeigen, dass der Umgang mit den
osteuropäischen Arbeitern wenig zimperlich war. Dort wurde eine "Plattenbau"-Siedlung
(so der CDU-Bürgermeister)
mit 650 Menschen unter Quarantäne gestellt und abgeriegelt,
obwohl dort keineswegs hauptsächlich infizierte
Tönnies-Mitarbeiter lebten (mehr
hier). Die Frage stellt sich, ob man so auch mit der
einheimischen Bevölkerung umgegangen wäre. Im Online-Magazin
Telepolis erschien am 14. Juli ein
Kommentar und ein
Interview zu einem Fall, bei dem sich eine Familie 26 Tage
ohne Testergebnis in Quarantäne befand. Der WDR, der bereits am
9. Juli darüber berichtete, sprach von einem Informationsstau:
Familie aus Gütersloh von Behörden in der Quarantäne
vergessen?
"Das
Kreishaus wollte sich gegenüber dem WDR nicht
äußern. Eine Mitarbeiterin der Hotline sagt
aber, dass die Familie Rejall kein Einzelfall
sei. Im Kreis Gütersloh gebe es offenbar einen
riesigen Informationsstau. Etwa 4.500 Menschen
sind dort noch in Quarantäne - viele von ihnen
müssten es wohl gar nicht mehr sein."
(WDR,
09.07.2020)
|
Die
einheimische Bevölkerung kümmerte die Situation der betroffenen
Arbeiter und ihrer Familien wenig, vielmehr spielte in der
"übrigen Bevölkerung" in erster Linie die Sorge eine Rolle, ob
man noch rechtzeitig in Urlaub fahren könne. So jedenfalls war
der Mainstreammedientenor. Der Lockdown sollte bis 30. Juni
dauern und es stand sogar eine mögliche Verlängerung im Raum. In
Nordrhein-Westfalen begannen die Sommerferien aber bereits am
29. Juni. Dass Urlaubswillige des Kreises plötzlich von
beliebten deutschen Urlaubsregionen wie Mecklenburg-Vorpommern
oder Bayern als Risiko für die Tourismusbranche der deutschen
Urlaubsregionen galten und
deshalb nicht willkommen waren, war das große Thema. Der Lockdown wurde dann von einem Gericht am 30. Juni aufgehoben,
noch bevor die Politiker darüber befunden hatten, und
die Gütersloher konnten endlich in Urlaub fahren.
Die Lage im
Gesundheitsamt des Kreise war da nur eine unbedeutende Nebensache. Dabei war man zum
Zeitpunkt des Ausbruchs in einer sehr komfortablen Lage gewesen.
Die Bundeswehr und Nachbarkreise konnten genauso aushelfen wie die Hilfsdienste, um
den Ausbruch einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Das aber
war nur möglich, weil die Infektionszahlen im Bundesland niedrig
waren. Am 27. Juli, also fast einen Monat später hatte die
7-Tage-Inzidenz in Gütersloh mit 8,0 (29 Fälle) ihren Tiefstwert
seit dem Ausbruch erreicht. Am 14. August lag die
7-Tage-Inzidenz dann jedoch wieder bei 25,0 (91 Fälle). Der
Urlaub der Gütersloher war zu Ende und die Reiserückkehrer
schleppten das Virus in den Kreis ein.
Am 17. Juni,
dem Tag als der Ausbruch in Gütersloh in die "heiße Phase"
eintrat, lag die 7-Tage-Inzidenz gemäß der Tagesmeldung LZG/RKI
im Bundesland Nordrhein-Westfalen bei 3,6 in den 53 Kreisen. Es
gab lediglich 3 Kreise, die über 10,0 (Gütersloh, Duisburg und
Warendorf) lagen, aber 13 Kreise mit unter 1,0. In 6 Kreisen gab
es keinen einzigen gemeldeten Fall innerhalb von 7 Tagen.
Am 17.
August dagegen, also keine zwei Monate später, lag die 7-Tage-Inzidenz
gemäß LZG/RKI im Bundesland bei 15,0. Es gab 40 Landkreise, die
über 10,0 lagen. Es gab keinen einzigen Kreis mehr, der unter
1,0 lag. Der niedrigste Wert lag bei 3,0. Die Tabelle zeigt
diese Entwicklung in den Kreisen Nordrhein-Westfalens anhand von
Farbabstufungen, die von Grün über Gelb zu Rot reichen:
Kreis |
17.06.2020 |
17.07.2020 |
17.08.2020 |
Düsseldorf (kreisfreie Stadt) |
8,7 |
5,2 |
17,3 |
Duisburg (kreisfreie Stadt) |
16,8 |
15,4 |
30,1 |
Essen (kreisfreie Stadt) |
4,6 |
5,7 |
20,9 |
Krefeld (kreisfreie Stadt) |
0,9 |
5,7 |
7,0 |
Mönchengladbach (kreisfreie Stadt) |
5,0 |
11,9 |
21,8 |
Mülheim an der Ruhr (kreisfreie Stadt) |
2,9 |
7,6 |
14,6 |
Oberhausen (kreisfreie Stadt) |
0,0 |
5,2 |
14,7 |
Remscheid (kreisfreie Stadt) |
0,0 |
5,4 |
17,1 |
Solingen (kreisfreie Stadt) |
8,8 |
10,0 |
10,0 |
Wuppertal (kreisfreie Stadt) |
2,5 |
3,7 |
25,7 |
Kleve |
7,4 |
2,9 |
11,3 |
Mettmann |
1,0 |
21,2 |
20,6 |
Rhein-Kreis Neuss |
1,6 |
3,5 |
13,1 |
Viersen |
2,3 |
3,3 |
8,7 |
Wesel |
3,0 |
5,0 |
13,3 |
Bonn (kreisfreie Stadt) |
1,5 |
0,9 |
13,1 |
Köln (kreisfreie Stadt) |
3,5 |
9,4 |
15,8 |
Leverkusen (kreisfreie Stadt) |
2,4 |
8,5 |
18,9 |
Städteregion Aachen |
0,9 |
3,2 |
6,7 |
Düren |
0,8 |
3,0 |
14,8 |
Rhein-Erft-Kreis |
1,1 |
1,7 |
15,7 |
Euskirchen |
0,0 |
20,7 |
9,9 |
Heinsberg |
4,3 |
2,8 |
3,5 |
Oberbergischer Kreis |
0,0 |
1,1 |
10,6 |
Rheinisch-Bergischer Kreis |
0,7 |
2,5 |
10,6 |
Rhein-Sieg-Kreis |
0,8 |
2,2 |
9,8 |
Bottrop (kreisfreie Stadt) |
3,4 |
6,0 |
7,7 |
Gelsenkirchen (kreisfreie Stadt) |
6,5 |
8,1 |
18,0 |
Münster (kreisfreie Stadt) |
1,0 |
1,6 |
14,0 |
Borken |
0,5 |
1,3 |
7,8 |
Coesfeld |
1,8 |
0,0 |
4,1 |
Recklinghausen |
2,3 |
2,8 |
15,6 |
Steinfurt |
2,2 |
1,1 |
10,5 |
Warendorf |
10,8 |
2,2 |
9,0 |
Bielefeld (kreisfreie Stadt) |
1,5 |
9,9 |
15,3 |
Gütersloh |
30,8 |
15,1 |
23,1 |
Herford |
2,0 |
0,4 |
21,5 |
Höxter |
2,1 |
0,7 |
5,7 |
Lippe |
1,1 |
1,4 |
10,3 |
Minden-Lübbecke |
0,0 |
1,6 |
13,5 |
Paderborn |
1,0 |
2,3 |
3,6 |
Bochum (kreisfreie Stadt) |
4,4 |
8,2 |
24,7 |
Dortmund (kreisfreie Stadt) |
6,6 |
7,0 |
19,6 |
Hagen (kreisfreie Stadt) |
9,0 |
9,0 |
24,9 |
Hamm (kreisfreie Stadt) |
4,5 |
5,0 |
12,8 |
Herne (kreisfreie Stadt) |
1,3 |
2,6 |
32,0 |
Ennepe-Ruhr-Kreis |
1,5 |
7,1 |
11,4 |
Hochsauerlandkreis |
1,5 |
17,7 |
13,1 |
Märkischer Kreis |
0,7 |
4,4 |
18,0 |
Olpe |
8,2 |
5,9 |
19,3 |
Siegen-Wittgenstein |
0,0 |
2,5 |
19,4 |
Soest |
2,3 |
1,3 |
3,0 |
Unna |
5,6 |
4,3 |
21,8 |
Wie wäre der
Ausbruch in Gütersloh verlaufen, wenn die Lage im Bundesland
eher jener am 17. August geähnelt hätte? Wären dann ebenfalls
noch so viele Kapazitäten zur Aushilfe vorhanden gewesen? Und
was, wenn der Ausbruch bei Tönnies mit einem Anstieg durch
Infektionen bei Reiserückkehrern in der "übrigen Bevölkerung"
zusammengefallen wäre? Solche Fragen werden derzeit nicht
gestellt. Stattdessen wird die Gefahr einer "zweiten Welle"
beschworen.
Droht eine zweite Welle? Die Perspektive der
Gesunden und der scheinbar Gesunden
Mit den
Reiserückkehrern und dem Schulbeginn in den ersten Bundesländern
droht die gewonnene Freiheit der Lockerungen, die vielen noch
viel zu viele Beschränkungen aufzuerlegen scheint, wieder zur
Disposition zu stehen. Oberste Priorität hat jedoch die
Verhinderung eines generellen Lockdowns, um "weitere"
wirtschaftliche Schäden abzuwenden. Im April erregte eine
Heidelberger Anwältin mediale Aufmerksamkeit, denn sie ist bis
vors Bundesverfassungsgericht gezogen, um die
Grundrechtseinschränkungen durch den Lockdown zu Fall zu bringen
- was scheiterte. Außerdem rief sie zum Widerstand gegen die
Anordnungen und zu Demonstrationen auf. Der Begriff
"Hygiene-Demo" war damals noch nicht in aller Munde. In
Heidelberg war die Geburtstunde dieser Art von Protest am 18.
April.
 |
Eingang zum
Büro der Fachanwältin in Heidelberg am 15. und 17. 04.2020, Foto: Bernd Kittlaus |
Seit April
beherrschten Bilder von Hygiene-Demos in bundesdeutschen
Großstädten die Medienberichterstattung. Immer wieder werden
Menschen gezeigt, die weder Masken noch Abstand für nötig
hielten. Das Coronavirus sei nicht gefährlicher als eine
gewöhnliche Grippe, so die vorherrschende Meinung. Warum sind
also solche gravierenden Grundrechtseinschränkungen notwendig?
Viele Gesunde und scheinbar Gesunde, z.B. asymptomatisch
Infizierte, sehen in den Freiheitsbeschränkungen eine
unzulässige Einschränkung. Manche fordern deshalb ein Recht,
sich infizieren zu dürfen. Wo aber ist die Grenze? Ist das
Recht, sich infizieren zu dürfen, nicht eher das Recht andere zu
infizieren? Seit dem Beginn der Lockerungen haben Gerichte mehr
und mehr Einschränkungen als unzulässig erklärt. Der
nordrhein-westfälische Ministerpräsident betont deshalb gerne,
dass jede Rücknahme von Lockerungen sehr gut begründet sein
müsse. Die Hürden für neue Einschränkungen sind also sehr hoch.
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Heidelberg im
Juli 2020, Foto: Bernd Kittlaus |
Mit dem
Beginn der Ferienzeit sind die Hygiene-Demos aus den Medien
verschwunden und sind Party feiernden Touristen und
Reiserückkehrern aus Risikogebieten, die positiv getestet
wurden, gewichen. Die Debatte um den Beginn einer so genannten
zweiten Welle hat inzwischen an Fahrt aufgenommen. Die täglichen
Lageberichte des RKI begannen seit Anfang August bei der
Zusammenfassung der aktuellen Lage mit folgender Formel:
Täglicher Lagebericht des RKI zur
Coronavirus-Krankheit-2019
"In den
letzten Wochen ist der Anteil an Kreisen, die
über einen Zeitraum von 7 Tagen
keineCOVID-19-Fälle übermittelt haben, deutlich
zurückgegangen. Parallel dazu ist die
COVID-19-Inzidenz in vielen Bundesländern
angestiegen. Dieser Trend ist beunruhigend."
(RKI, 01.08.2020) |
Ab 14. August
bezeichnet das RKI diesen Trend nicht mehr nur als beunruhigend,
sondern als "sehr" beunruhigend. Das Ausbruchsgeschehen in
einzelnen Landkreisen findet beim RKI erst bei einer
7-Tage-Inzidenz von 25,0 und mehr überhaupt Erwähnung. Ausbrüche
unterhalb dieses Schwellwertes finden keinen Eingang in die
Rubrik "Ausbrüche", obwohl gerade diese Frage des Aufschaukelns
von Infektionen in immer mehr Regionen der Republik für die
Frage nach dem Beginn einer "zweiten Welle" relevant wäre.
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Heidelberg im
Juli 2020, Foto: Bernd Kittlaus |
Was
bedeutet der Begriff "zweite Welle"?
Der Begriff
der "zweiten Welle" verdankt sich der historischen Erforschung
der Spanischen Grippe, der viele Millionen Tote weltweit zum
Opfer fielen. Wie viele genau, darüber streiten sich jedoch die
Geister.
Am 14. Mai warnte der WHO-Regionaldirektor für Europa im
britischen Telegraph vor einer zweiten, tödlichen Welle
in Europa. Hans KLUGE betonte, dass wir aufgrund der Spanischen
Grippe wüssten, dass selbst wenig betroffene Länder von einer
zweiten Welle betroffen sein können. Ein Bericht von Thorsten
MAYBAUM im Ärzteblatt, der bereits 2018 erschien, beschreibt den
Verlauf der Spanischen Grippe als Blaupause für neue Pandemien:
Ein Virus – Millionen Tote
"Während der
ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918
erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber
relativ wenige starben. Im Herbst nahm jedoch
eine weitere, tödliche Welle ihren Lauf. Gerade
dort, wo Menschen geballt aufeinandertrafen
(...) hätten sich auf einen Schlag zahlreiche
Menschen angesteckt. (...)(Es) starben
ungewöhnlich oft vermeintlich robuste Menschen
zwischen 20 und 40 Jahren. (...).
Inzwischen sehen Wissenschaftler die Spanische
Grippe nicht mehr unbedingt als Einzelfall,
sondern als Prototyp von Pandemien. Sie kann
sich wiederholen – das zeigten etwa die
Asiatische Grippe (1957) und die Hongkong-Grippe
(1968), wenn auch in geringerem Ausmaß."
(Ärzteblatt
Nr.1/2018) |
Die zweite
Ansteckungswelle wird also tödlicher sein und auch jüngere
Menschen treffen, so der Tenor dieser Sicht auf die Spanische
Grippe. Der sorglose Umgang auf Massenveranstaltungen gilt
außerdem als größte Gefahr. Hier sind schon alle Elemente
enthalten, die heutzutage bei einer Warnung vor der zweiten
Welle eine Rolle spielen.
Aber wie
erkennt man den Beginn der zweiten Welle? Sind wir schon
mittendrin oder hat die zweite Welle noch gar nicht begonnen?
Die Datenjournalisten Johannes SCHMID-JOHANNSEN, Nico HEILIGER
und Ulrich LANG wollen mittels Indikatoren den Beginn einer
zweiten Welle in Deutschland erkennen. Am 11. August haben sie
die 5. Version ihrer Datenanalyse ins Netz gestellt.
So lässt sich eine "Zweite Welle" erkennen
"Eine
wissenschaftlich-epidemiologische Definition
einer »Welle« gibt es eigentlich nicht. Das Bild
entsteht aus der Darstellung der Verlaufskurve
der Neuinfektionen. Charakteristisch an einer
ungebremsten Epidemie ist das exponentielle
Wachstum. Die registrierten Fallzahlen
vervielfachen sich dann innerhalb weniger Tage.
Die Kurve der Neuinfektionszahlen steigt dann
steil an wie eine Welle im Meer. Bei der »ersten
Welle« im März / April lag das Niveau innerhalb
von 10 Tagen bei knapp 25 Neuinfektionen je
100.000 Einwohner.
Nehmen wir an, es käme zu einer »Zweiten Welle«
und sie wäre ähnlich wie die erste, dann müssten
drei Dinge gegeben sein:
1.Innerhalb von wenigen Tagen vervielfachen sich
die registrierten Fallzahlen von Tag zu Tag.
2.Die Neuinfektionen betreffen verhältnismäßig
viele Menschen in der Bevölkerung.
3.Und das alles passiert an vielen Orten
gleichzeitig. (...).
Für das Modell des SWR Zweite-Welle-Radars
nehmen wir an, dass ein Landkreis innerhalb von
höchstens 10 Tagen mindestens ein Niveau von
24,7 Neuinfektionen pro Hunderttausend Einwohner
erreichen müsste."
(SWR,
11.08.2020) |
Die zweite
Welle wird von den Datenjournalisten analog der ersten Welle
modelliert. Ob das sinnvoll ist, ist fraglich, denn bei der
ersten Welle musste das Virus erst in Deutschland ankommen,
mittlerweile ist es jedoch bereits mittendrin. Die Entwicklung
der letzten Woche zeigt, dass innerhalb kürzester Zeit die
Neuinfektionen in vielen Landkreisen schnell ansteigen können.
Am 11. August sahen die Datenjournalisten nur in 13 deutschen
Kreisen eine kritische Entwicklung, am 20. August wird bereits
in 40 Kreisen eine Überschreitung des Schwellenwertes gesehen.
Das Fazit der Autoren hat sich innerhalb von nur 9 Tagen
verändert:
So lässt sich eine "Zweite Welle" erkennen
"Die
SWR-Datenanalyse zeigt, dass aktuell zwar ein
erhöhtes Grundniveau an Infektionen und akuten
Ausbruchsherden vorhanden ist. Noch zeigt sich
aber keine Tendenz, dass in Deutschland die
Neuinfektionen flächendeckend und kontinuierlich
ansteigen."
(SWR,
11.08.2020)
"Die
SWR-Datenanalyse zeigt, dass aktuell ein
deutlich erhöhtes Grundniveau an Infektionen
vorhanden ist. Außerdem gibt es einen Trend,
dass die registrierten Neuinfektionen
flächendeckend in vielen Landkreisen und
kontinuierlich ansteigen. Reiserückkehrer
spielen dabei eine verstärkte Rolle."
(SWR,
19.08.2020) |
Da es sich bei dieser
Datenanalyse um eine Momentaufnahme und nicht um eine Prognose
handelt, ist sie kaum geeignet, um Handeln anzuleiten. Wenn die
zweite Welle begonnen hat, dann ist ihr im Grunde nur noch mit
sehr drastischen Maßnahmen zu begegnen. Dies gilt umso mehr,
desto mehr Tote die Pandemie fordert. Wie hier gezeigt wurde,
ist die Datenlage auf allen Ebenen der Ämter eher dürftig, was
mit unterschiedlichen Ursachen zusammenhängt. Die
Kreisgesundheitsämter sind in der akuten Phase der Ausbrüche
personell überlastet, wodurch die statistische Dokumentation auf
der Strecke bleibt. Hinzu kommen Verzögerungen auf dem Meldeweg
zum RKI. Das Einpflegen der Daten ist - besonders, wenn es
händisch erfolgt - sehr zeitaufwändig. Die Panne in Bayern bei
der Inbetriebnahme der Testzentren für Reiserückkehrer hat das
eindrücklich belegt.
Software-Updates führen in
jedem Landkreis zu zusätzlichen Verzögerungen und nicht selten
zu Pannen. So meldete z.B. Nordrhein-Westfalen am Sonntag, den
2. August nur 43 Fälle für das ganze Bundesland. Ursache: Der
Ennepe-Ruhr-Kreis hatte 142 Fälle und 6 Tote weniger als am
Vortag gemeldet. Tags darauf waren die Fälle und Toten wieder
da. Weder das RKI noch das LGA vermerkten diesen Vorfall in
ihren Lageberichten, denn für den Leser war diese Panne nicht
sichtbar. Nur wer sich die Differenzen zum Vortag, die das LGA
nicht auflistet, anschaut, bemerkt diesen Vorfall.
Dieser
Vorfall war schnell behoben, andere sind es nicht, sondern
verfälschen mitunter eine Woche und länger die
7-Tage-Inzidenzen. So meldete z.B. Brandenburg erst am 19.
August, dass die kreisfreie Stadt Frankfurt/Oder wegen einer
technischen Störung zwischen dem 12. und 17. August keinen
einzigen Fall an das LGA übermitteln konnte. Dieser Vorfall
bescherte dem Kreis beim RKI vom 16. bis zum 18. August eine
7-Tage-Inzidenz von 0, d.h. keinen einzigen Fall innerhalb von 7
Tagen. Tags darauf schnellte die Inzidenz auf 13,8 und noch einen
Tag später lag der Kreis bei 25,9 und belegte damit einen Platz
in den Top 15. In den Daten des SWR erscheint diese Panne als
exponentielles Wachstum: in 2 Tagen von 0 auf 25,9. In
Wirklichkeit steigerte sich die Fallzahl über einen längeren
Zeitraum.
Aufgrund der Vielzahl von
möglichen Störfaktoren auf dem Meldeweg von der Testung bis zum
täglichen Lagebericht des RKI ist eine RKI-Datenanalyse, die auf
Momentaufnahmen setzt, ungeeignet, um die kommenden Entwicklungen
abzuschätzen. Einige Forschungsinstitute setzen auf Prognosen,
die die Entwicklung der Todeszahlen in ihren Modellen mit dem
Verhalten der Bevölkerung verknüpfen, um dadurch zu
Einschätzungen zu kommen, die auch die Überlastung der
Krankenhäuser berücksichtigen.
Einen solchen Ansatz verfolgt das
Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) an der
Universität in Washington. Anhand ihres Modells
prognostizierten die Wissenschaftler
Anfang Mai Todeszahlen für Deutschland, die am 4. August
erreicht werden sollten. Danach sollten die Toten in Deutschland
von 6.922 auf 8.543 steigen, wobei eine Bandbreite zwischen
7.006 und 12.150 Toten für möglich erachtet wurde. Tatsächlich
starben bis zum 4. August 9.148 Menschen in Deutschland. Dies
würde aus Sicht des Modells bedeuteten, dass die Lockerungen
seit Mai zu mehr Toten als nötig geführt haben. Eine neuere
Prognose vom 6. August rechnet nun für Deutschland mit rund
13.600 Toten bis Ende des Jahres. Für die Wissenschaftler steht
das Tragen von Masken im Mittelpunkt des Verhaltensmodells.
Deshalb stellt sich bei solchen Modellen die Frage, inwiefern
die Übertragungswege überhaupt bekannt sind und wie die
Mechanismen des Ausbruchsgeschehens aussehen. Die
Datenjournalisten des SWR kritisieren zu Recht die Dürftigkeit
der Ursachendokumentation in Deutschland:
Woher kommen die ganzen Neuinfektionen?
"Natürlich
gibt es mittlerweile sehr viele
wissenschaftliche Forschungen, die zum Beispiel
die Rolle von Aerosolen bei der Ansteckung in
geschlossenen Räumen beschreiben. Deshalb ist es
nicht aus der Luft gegriffen, Feiern und
Veranstaltungen mit vielen Gästen ein hohes
Verbreitungsrisiko zuzuschreiben. Aus den
epidemiologischen Daten des RKI lassen sich
diese Zusammenhänge aber nicht ableiten. Denn
die Gesundheitsämter dokumentieren immer noch
nicht ausreichend, in welchem Kontext
Ansteckungen stattfinden. Gesundheitsbehörden,
Forscher und Epidemiologen erhalten damit aus
diesen Daten keinerlei Erkenntnisse darüber, was
häufige Umstände sind, unter denen das Virus
weitergeben wird. (...).
Wohl erst in zwei bis drei Wochen will das RKI
ein weiteres Software-Update an die
Gesundheitsämter ausrollen. Dann könnten solche
Merkmale und Kategorien für jeden Infektionsfall
angelegt werden. Wenn dann sehr viele Fälle
sorgfältig dokumentiert sind, könnten die
Landesgesundheitsämter und das RKI vielleicht in
Zukunft die wahrscheinlichsten Umstände für eine
Ansteckung zeitnah analysieren. Aber das wird
wie schon in der ersten Infektionswelle davon
abhängen, ob die Gesundheitsämter mit der
Falldokumentation hinterherkommen. Schon in der
ersten Welle der Epidemie wurden viele
Neuinfektionen dürftig dokumentiert. Die Daten
waren im Nachhinein kaum zu gebrauchen, um
Zusammenhänge zu entdecken."
(SWR,
19.08.2020) |
Die Datenjournalisten
befürchten, dass die Politik im Herbst wieder Einschränkungen
und Verbote verhängt ohne auf eine ausreichende
Entscheidungsgrundlage zurückgreifen zu können.
Fazit
Nach 6 Monaten, die wir
bereits mit dem Virus leben müssen, scheinen viele Fragen
offener denn je. Die Datenlage ist unbefriedigend. Das können
weder Softwareupdates noch eine Aufstockung des Personals in den
Gesundheitsämtern kurz- oder mittelfristig beheben. Der Kampf
gegen die Ausbreitung des Virus könnte die Ressourcen schneller
aufbrauchen als diese mobilisiert werden können. Wenn die
Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung ins Hintertreffen
kommen, ist mit einer Überlastung der Krankenhäuser zu rechnen.
Sollte sich die Pandemie wie die Spanische Grippe bei der
zweiten Welle tatsächlich tödlicher erweisen als bei der ersten Welle, dann
steht uns ein harter Herbst und Winter bevor. Ob ein Impfstoff
jene Erwartungen erfüllen kann, der in ihn gesetzt wird, ist
offen. Wenn ein Impfstoff aber zum einzigen Ausgang aus der
Krise wird und dieser sich als Sackgasse erweist, dann stehen
uns womöglich noch härtere Zeiten bevor. Alternativen zu suchen,
das wäre dringend notwendig. Unsere Eliten wollen einen zweiten Lockdown nicht nur für Deutschland, sondern auch für größere
Landesteile vermeiden. Nicht nur Ökonomen und Eltern haben ein
Interesse daran. Auf dieser Website wird das Geschehen weiter
verfolgt werden und bestimmte Aspekte tiefergehend erörtert
werden.
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