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Die
Pyramide steht Kopf
Die Dramatisierung des Dreischritts Pyramide - Glocke (zersauste Tanne) - Urne geht ETZEMÜLLER zufolge auf Ernst KAHN zurück. Im Buch Der
internationale Gebärstreik aus dem Jahr 1930 prognostiziert
KAHN, dass im Jahr 1975, also innerhalb von 45 Jahren der
Altersaufbau auf dem Kopf stehen wird.
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Quelle: Thomas
Etzemüller, 2007, S.88 |
Im Buch Die
Berechnungen über die künftige deutsche Gesellschaft aus dem
Jahr 1938 vergleicht P. J. DENEFFE verschiedene Prognosen, die
bis 1975 oder sogar bis zum Jahr 2000 Aussagen treffen. Darunter
5 Varianten des Statistischen Reichsamtes und 4 Varianten von
Ernst KAHN. Letzterer
geht sowohl von einem Rückgang der Sterblichkeit, als auch von
einem weiteren Rückgang der Geburtenzahlen aus und kommt dadurch
zur Prognose eines Bevölkerungsrückgangs zwischen 1930
(ca. 64 Millionen Einwohner) und 1975 (je nach Variante zwischen
ca. 49 - 60 Millionen Einwohner). KAHN nimmt für den günstigsten
Fall an, dass die Geburten von ca. 1,9 Kinder pro Frau konstant
bleiben (ca. 60 Mill.) bzw. im ungünstigsten Fall bis 1950/54
auf 1,5 Kinder pro Frau zurückgehen, um dann auf dem niedrigeren
Niveau zu verharren (ca. 49 Mill.). Das
Schicksal, das uns in den 1980er Jahren für 2030 und nun für 2050 angekündigt
wird, wurde also bereits in den 1920er Jahren für das Jahr 1975
befürchtet.
Im
aktuellen Heft der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft
schreibt der ostdeutsche Bevölkerungswissenschaftler Parviz
KHALATBARI, dass noch Ende des 19. Jahrhunderts für Europa eine
schreckliche Bevölkerungsexplosion prognostiziert wurde:
Europa droht eine verheerende Bevölkerungsexplosion bis
Mitte der 1950er Jahre
"1898
erschien in Leipzig ein Buch unter dem Titel
»Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik«,
wahrscheinlich war es das erste umfassende demographische
Buch im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Der Autor;
Arthur Freiherr von Fircks (...). Besorgt über die Zukunft
Europas schrieb er: »In allen Kulturstaaten nimmt (...)
die Sterblichkeit der Menschen ab, so dass in Zukunft auf
einen noch größeren Überschuss der Geburten über die
Sterbefälle zu rechnen ist, wenn es nicht gelingt, die
Zahl der Geburten zu verringern. Die schwersten
Katastrophen sind unausbleiblich, wenn es nicht gelingt,
die Bevölkerungsvermehrung der europäischen Völker
erheblich einzuschränken (...).« (...). Eine Verdopplung
der Bevölkerung bis 1950 sei denkbar."
(aus: Die weibliche Emanzipation und der Prozess der
Wandlung der generativen Verhaltensweise, Zeitschrift für
Bevölkerungswissenschaft, Heft 1-2, 2007) |
Gemäß KHALATBARI hat
sich im Zeitraum zwischen 1800 und 1900 die Bevölkerungszahl in
Europa von 187 auf 401 Millionen erhöht. Allein in
Deutschland verdoppelte sich die Bevölkerungszahl von 24,5 auf
50,6 Millionen.
Innerhalb
von nur einer einzigen Generation kehrte sich die
Überbevölkerungsangst der Bevölkerungsbeobachter in eine
Unterbevölkerungsangst um.
Auch
für das Nachkriegsdeutschland ist dieser Umschlag festzustellen.
Noch Ende der 1960er Jahre wurde auch für Deutschland eine weitere
Zunahme der Bevölkerung angenommen. Der Spiegel-Reporter
Claus JACOBI schreibt im Buch Die menschliche Springflut
zur europäischen Bevölkerungsentwicklung:
Die menschliche Springflut
"Seit
1930 wuchs die Bevölkerung Europas um etwa hundert
Millionen (...). Die Bundesrepublikaner werden sich in
hundertfünfzig Jahren verdoppeln".
(1969, S.17)
Europa wird nach den gegenwärtigen Zuwachsraten seine
Einwohnerzahl in achtundachtzig Jahren, Amerika in siebzig
Jahren verdoppeln. Bald werden daher auch in der alten
Welt rigorose Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung notwendig
sein."
(1969, S.204) |
Auch prominente
Bevölkerungswissenschaftler wie Karl SCHWARZ gingen noch in den
1960er Jahren von kommenden Überbevölkerungsproblemen in
Deutschland aus
. Eine Generation später steht nun wieder die
Unterbevölkerungsangst auf dem Programm. Das Prinzip der
Fortschreibung von vergangenen Bevölkerungsentwicklungen in
die Zukunft führt dazu, dass Änderungen im generativen Verhalten
lange Zeit unentdeckt bleiben. Forderungen nach Nachhaltigkeit
setzen Verhaltenskontinuitäten voraus, die jedoch nicht gegeben
sind. Der Historiker ETZEMÜLLER plädiert deshalb dafür, das Unvorhersehbare
der Bevölkerungsentwicklung in das Denken über Bevölkerung mit
einzubeziehen. Es
sollte anerkannt werden, dass der Altersaufbau von Bevölkerungen
ständigen Veränderungen unterliegt. Ein Naturgesetz, wonach es
einen Anfangszustand gibt, der sich unausweichlich auf einen
vorhersehbaren Endzustand zu bewegt, gibt es nicht. Der
Altersaufbau unterliegt vielmehr zyklischen Schwankungen.
Zäsuren wie Kriege, Wirtschaftskrisen oder territoriale
Veränderungen haben einschneidende Wirkungen, die in Prognosen
unberücksichtigt bleiben. Auch gesellschaftliche Innovationen
können jeglichen Versuch einer Steuerung der
Bevölkerungsvorgänge zunichte machen.
Die Geschichte der
Bevölkerungsprognosen ist deshalb eine Geschichte ihrer Irrtümer
gewesen. Nichtsdestotrotz halten sich Topoi wie die Pyramide steht
Kopf hartnäckig. Noch im Jahr 2001 erschien ein Buch von
Andrea und Roland TICHY mit gleichnamigen Titel und auch eine
Tagung der evangelischen Akademie schmückte sich mit diesem
Katastrophentopos. In
den Themenblätter für den Unterricht Nr.26 vom Frühjahr
2003, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische
Bildung liest sich das unter der Überschrift Die Pyramide
steht Kopf dann folgendermaßen:
Die Pyramide steht Kopf
Im Jahre 1910
verdiente die Altersstruktur des Deutschen Reiches noch
den Namen
»Bevölkerungspyramide«:
Jeder nachfolgende
Jahrgang ist größer als der vorangehende, was auf eine
hohe Geburtenrate (Fertilität) hinweist, aber auch auf
eine hohe Sterblichkeit, denn die Jahrgänge werden nach
oben hin rasch kleiner. Im Altersaufbau von 1950 haben
beide Weltkriege tiefe »Einkerbungen« hinterlassen, die
auch heute noch sichtbar sind („zerzauste Tanne").
Die aktuelle Altersstruktur ist geprägt durch die
»geburtenstarken« mittleren Jahrgänge und einen schmalen
Sockel der unter 25-jährigen. Der Geburtenrückgang der
60er Jahre (»Pillenknick«) wirkt bis in die Zukunft fort.
Es »fehlen« für künftige Geburten schon heute die Mütter
und Väter, und die Geburtenrate ist mit 1,4 Kinder pro
Frau so niedrig, dass jede Elterngeneration nur zu 65
Prozent durch Nachkommen ersetzt wird. Als Folge werden
die jüngeren Jahrgänge immer mehr ausgedünnt, während die
am stärksten besetzten Jahrgänge ins Rentenalter
hineinwachsen. Der Altersaufbau wird in 50 Jahren die Form
einer »Urne«
annehmen. Der Vergleich der Altersstruktur von 1999
und 2050 zeigt deutlich, wie sich der Altenquotient
verschlechtert, d.h. die mittleren und jüngeren Jahrgänge
abnehmen, die älteren dagegen zunehmen". |
1910 - Die heile Welt der Bevölkerungspyramide,
die keine war
Die Altersstruktur des
Jahres 1910 hatte die Idealform einer Pyramide, wie sie uns
heutzutage des Öfteren in den Medien begegnet.
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Quelle: Die
Woche vom 27. April 2001 |
Ist die Pyramidenform aber
tatsächlich allen anderen Ausprägungen des Bevölkerungsaufbaus
überlegen? Und stellt sie nicht ein Phänomen dar, das nur unter
ganz bestimmten historischen Bedingungen überhaupt auftritt?
Die
statische Betrachtungsweise, die nur eine Momentaufnahme
heraushebt, blendet die Gewordenheit und die
Entwicklungsrichtung von Bevölkerungsbewegungen aus. Tatsächlich
stellte das Jahr 1910 eine Zäsur dar, denn erstmals gingen in
diesem Jahr nicht nur die Geborenenziffern, sondern auch die
absoluten Geburtenzahlen zurück:
Krise der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1880 -
1930
"Erst nach Einsetzen des Geburtenrückgangs - der
Begriff erscheint 1911 zum erstenmal in
wissenschaftlich-politischen Diskussion und weist darauf
hin, daß nun nicht mehr nur, wie schon seit längerem, die
Geborenenzifferen, sondern (seit 1909) auch die absoluten
Geborenenzahlen zurückgingen - erst seit dem Jahre
1911also begann man auch in Deutschland die Ursachen
dieses Phänomens zu benennen, die Gefahren einer
Verminderung der Bevölkerungszahl zu erörtern und
Maßnahmen zur Abhilfe dieser Gefahren vorzuschlagen: die -
publizistische - Bekämpfung des Geburtenrückgangs hatte
begonnen."
(aus: Rainer Mackensen (Hg.)
"Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie", 1989, S.177f.) |
Im Kern der Pyramidenform
des Jahres 1910 ist also bereits der Keim des Geburtenrückgangs
verborgen gewesen. Unsichtbar zwar bei dieser Darstellungsform,
aber nichtsdestoweniger vorhanden.
Ein
Wechsel der Darstellungsform, ein Perspektivenwechsel also - und
schon stellt sich die Sachlage in einem völlig anderen Licht
dar.
Erst
die Absehung von den historischen Bedingungen durch die
spezifische Darstellungsform macht die Idealisierung der
Pyramide überhaupt möglich. Die Pyramide ist außerdem noch eine
Idealform, die für uns - im Rahmen der so genannten "natürlichen
Bevölkerungsbewegungen" nur mit unmenschlichen Methoden
erreichbar ist, denn sie setzt die gezielte Erhöhung der Sterblichkeit voraus.
Als
"eine Bevölkerungsstruktur mit Tränen, Sorgen und Kummer" hat
Ruprecht JAENICKE diesen Altersaufbau deshalb bezeichnet
. ETZEMÜLLER fasst
den Forschungsstand zum Bevölkerungsaufbau deshalb folgendermaßen
zusammen:
Ein ewigwährender Untergang
"Dabei
weiß man inzwischen, daß die Pyramide einen
Übergangszustand im 19. Jahrhundert charakterisiert, als
nämlich die Zahl der Kinder durch mehr Geburten und
geringere Säuglingssterblichkeit wuchs, die Alten aber
noch relativ früh starben. Sie charakterisiert also weder
ein natürliches Bevölkerungsoptimum, noch ist sie der
chronologische Ausgangspunkt aller Abstiegsbewegungen. Das
Bild könnte anders aussehen. (...). Mal Pyramide, mal
Treppenpyramide, mal eine etwas schmalere Basis, die dann
wieder nachwächst; ein stetiges Wechseln des
Altersaufbaus."
(2007, S.87) |
Die Altenlast ist erdrückend?
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Quelle: Thomas
Etzemüller, 2007, S.95 |
Die "vergreisende"
Gesellschaft war bereits in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts mit dem Topos der Altenlast, unter
der unser Sozialstaat ständig ächzt, verknüpft. Mitte der 1980er
Jahre und erst recht nach
der Jahrtausendwende, stand die Altenlast im Zusammenhang mit
geplanten Rentenreformen auf der Agenda. Zwei Spiegel-Cover
("Renten
in Gefahr. Die Last wird zu groß", 04.03.1985 und "Der
letzte Deutsche", 05.01.2004) zeigen deutliche Anleihen bei der obigen Bildsprache, die sich
bereits in dem 1934 erschienen Buch Volk in
Gefahr, herausgegeben von Otto HELMUT, findet.
Berichte über die
"vergreisende" Gesellschaft drehen sich meist ausschließlich um
die "Altenlast". Ausgeblendet bleibt dagegen die "Kinderlast",
denn die Belastungen der Erwerbstätigen als Referenzpunkt der
Debatte, werden sowohl von den Noch-Nicht-Erwerbstätigen, als
auch von den Nicht-Mehr-Erwerbstätigen verursacht. Hinzu
kommt, dass auch das Potenzial der Erwerbstätigen durch
Arbeitslosigkeit nicht ausgeschöpft wird. Die Zuspitzung auf
einen einzigen Faktor eines komplexen Zusammenhangs kennzeichnet
das vorherrschende nationalkonservative Katastrophenschema. Es
gibt aber mittlerweile auch Stimmen, die den Begriff "alternde"
Gesellschaft generell ablehnen. Auch auf single-generation.de
wurde deshalb in einem Beitrag aus dem Jahr 2003 von einer
Gesellschaft der Langlebigen gesprochen
. In dem Buch Die
Kunst des langen Lebens begründet Stefan BOLLMANN die
Begriffswahl folgendermaßen:
Die Kunst des langen Lebens
"Unsere
ehemals junge Gesellschaft hat sich im Verlaufe der
letzten 100 Jahre in eine Gesellschaft der Langlebigen
verwandelt. Ich ziehe diese Prägung dem Begriff der
alternden oder vergreisenden Gesellschaft vor, der sich
mittlerweile eingebürgert hat und die Zukunft der
Gesellschaft mit allen Klischees des Alters verbindet:
Erstarrung, ein übergroßes Sicherheitsbedürfnis,
Todesnähe. Sicher, die Gesellschaft der Langlebigen ist
keine Gesellschaft von Picassos, aber sie besteht auch
nicht aus lauter Dementen. Der Terminus »alternde
Gesellschaft« meint, genau besehen, eine Gesellschaft, mit
einer Bevölkerung, in der die Einzelnen immer länger leben
und die Gruppe der Älteren im Verhältnis zu den anderen
Altersgruppen immer größer wird. Er legt darüber hinaus
aber auch nahe, dass die Gesellschaft selbst altert. Das
jedoch ist eine irreführende Metapher. Die Gesellschaft
ist kein Lebewesen, das von Natur aus Altersprozessen
unterworfen ist. Eine Gesellschaft wird nicht gezeugt,
geboren und stirbt irgendwann an Krankheit oder
Altersschwäche. Viel eher gleicht sie einem Konstrukt: Sie
ist die organisierte Gesamtheit ihrer Mitglieder, die über
die Ordnung ihres Gemeinwesens ständig neu verhandeln und
sich dabei über ihre Lebenschancen auseinandersetzen."
(2007, S.221) |
Es würde hier zu weit
führen, den Perspektivenwechsel, für den BOLLMANN in seinem Buch
plädiert, näher vorzustellen. Dies wird an anderer Stelle
geschehen. Nur so viel: Es gibt vermehrt Stimmen, die den Faktor
"Altenlast" relativieren. Damit reduziert sich auch das Problem,
das mit dem Begriff "Altenlast" nur unzulänglich beschrieben
ist.
Zum
Abschluss soll noch ein anderer wichtiger Aspekt angesprochen
werden, der auch bei ETZEMÜLLER eine größere Rolle spielt: Die
Beschränktheit der Bevölkerungstheorie durch ihre Bevorzugung
einer statischen Gemeinschaft.
Wie natürlich ist die natürliche
Bevölkerungsbewegung?
Wanderungen stehen
nationalkonservative Bevölkerungspolitiker überaus ablehnend
gegenüber. Dahinter verbirgt sich auch ein Unbehagen an der Moderne und dem Industrialismus. Diese Wertung
drückt sich ebenfalls in der amtlichen Statistik aus, die bei
den Bevölkerungsvorgängen zwischen natürlichen
Bevölkerungsbewegungen, also der Entwicklung der Fruchtbarkeit
und Sterblichkeit, und den Wanderungen differenziert. ETZEMÜLLER
kritisiert den Bevölkerungsbegriff deshalb folgendermaßen:
Ein ewigwährender Untergang
"Bevölkerung
ist ein normativer Begriff. Die früher eingewanderte
Ausländer werden stillschweigend als »deutsch« subsumiert,
gegenwärtige Einwanderer als zukünftige Bedrohung der
Bevölkerung präsentiert. Das »Funkkolleg Humanökologie«
oder Herwig Birg definieren den Begriff erst gar nicht.
Nur wenn vom »natürlichen« Bevölkerungswachstum die Rede
ist - Geburten statt Immigration -, merkt man erstens, daß
Bevölkerungswachstum durch Migranten offenbar
»unnatürlich« ist, und zweitens, daß Einwanderer gegen
Geburten von Deutschen stehen, Bevölkerung also »deutsch«
ist. Das wird allerdings selten explizit gemacht."
(2007,
S.154) |
Auf
single-generation.de wurde des Öfteren darauf hingeweisen,
dass z.B. bei internationalen Vergleichen mitunter nicht die
Gesamtbevölkerungen verglichen werden, sondern die deutsche
Teilbevölkerung mit der anderen Gesamtbevölkerung. Auf diese
Weise lassen sich die Unterschiede in den Geburtenraten noch zuspitzen . Bereits
im Jahr 1975 befürchtete der Spiegel die Überfremdung
in Deutschland und fragte besorgt: In 300 Jahren keine Deutschen
mehr?
Die Kinder wollen keine Kinder mehr
"Noch vor vier Jahren war nur jedes zehnte in der
Bundesrepublik geborene Kind fremder Leute Sproß
(...).
In Frankfurt wuchs die Zahl der Gastarbeiterkinder fast im
gleichen Tempo, wie die Geburtenzahl der Einheimischen
schrumpfte (...) und 1976 werden voraussichtlich in der
Main-Stadt mehr Ausländer als Deutsche geboren"
(aus: Spiegel v. 24.03.1975) |
Den Bayern
rechnete das Staatsministerium laut dieser düsteren
Spiegel-Titelgeschichte vor, dass das Volk von 1973 (10,8
Mill.) auf 6,2 Millionen (2030) und bis 2070 sogar auf 2,5
Millionen zusammenschrumpfen wird.
Wie
Phönix aus der Asche muss es da aussehen, wenn das
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Buch
Die demografische Lage der Nation aus dem Jahr 2006 zu
Bayern feststellt, dass die Einwohnerzahl von 12,4 Mill. im Jahr
2004 auf 12,9 Mill. im Jahr 2020 anwachsen wird .
ETZEMÜLLER
sieht den schwedischen Umgang mit dem demografischen Wandel als
vergleichsweise vorbildlich an, weil dort Ausländer nicht so stark ausgegrenzt
werden wie in Deutschland und Einwanderung positiver bewertet
wird. Die Verjüngung der Bevölkerung eines Landes durch Einwanderung wird
vor allem von nationalkonservativen Bevölkerungspolitikern
abgelehnt. Dadurch wird gleichzeitig die Schuld am
demografischen Wandel den Frauen zugewiesen, die ihrer
Gebärpflicht nicht nachkommen. Die Spaltung der Gesellschaft in
würdige Eltern und unwürdige Kinderlose wird durch dieses Denken
zusätzlich vorangetrieben.
Das
nationalkonservative Denken über die Bevölkerung könnte dadurch
über kurz oder lang selber zum Problemfall werden, denn es sieht nicht danach aus, dass die
jüngeren Frauengerationen die bevölkerungspolitische
Indienstnahme einfach hinnehmen
werden.
Fazit: Das Buch bietet einen hervorragenden
Einstieg ins Denken über Bevölkerungen und seine
Beschränktheiten
Das Buch
Ein ewigwährender Untergang von Thomas ETZEMÜLLER eignet
sich hervorragend, um das Interesse an der Problematik des
bisherigen Bevölkerungsdiskurses zu wecken. Wer
bislang immer noch glaubte, dass der Geburtenrückgang nach 1964
eine Ausnahme vom langfristigen Bevölkerungstrend war, der wird
eines anderen belehrt. Aber auch unvorhergesehene Baby-Booms und
Bevölkerungszuwächse sind keine Seltenheit. Zyklische
Schwankungen im Bevölkerungsgeschehen sind die Normalität, und
zwar nicht erst seit der Industrialisierung.
Das Katastrophenschema des nationalkonservativen Denkens über
Bevölkerung beruht auf der Annahme, dass sich das
Bevölkerungsgeschehen steuern lässt, wenn das Volk mit einem
angemessenen Bevölkerungsbewusstsein ausgestattet ist.
Bevölkerungspolitik verspricht die Lösung unserer
gesellschaftlichen Probleme. Nachhaltigkeit ist in diesem
Zusammenhang zum Zauberwort geworden. Die Konsequenz ist, dass
Alarmismus die Debatten und Aktionismus die Politik prägt. Mehr
Gelassenheit tut aber Not. Nur Gelassenheit ermöglicht ein
alternatives Denken über Bevölkerungen. Die Inszenierung von
Handlungsdruck suggeriert dagegen Alternativlosigkeit.
Das
Buch von ETZEMÜLLER stellt die zentralen Strukturelemente und die Stilmittel des Katastrophendiskurses
in den Mittelpunkt. Wer einen chronologischen Einstieg sucht,
der wird vom Buch enttäuscht sein. Nicht die große Erzählung
einer linear verlaufenden Geschichte, sondern die Auslotung des
Möglichkeitsraumes ist angestrebt. Wer
nicht nur an vorgefertigten Meinungen interessiert ist, sondern
verstehen will, warum sich Bevölkerungspolitik als Lösung so
ziemlich aller gesellschaftspolitischer Problemlagen inszenieren
kann, die mit der Volkswirtschaft und dem Sozialstaat
zusammenhängen, der wird großen Nutzen aus dem Buch ziehen. Viele
Schaubilder aus den Anfängen der Debatte um den demografischen
Wandel mit seinen Ängsten vor Über- und Unterbevölkerung
ermöglichen außerdem, die gegenwärtigen Bebilderungen des
Bevölkerungsniedergangs in ihrer historischen Gewordenheit zu
verfolgen. In
weiteren Beiträgen zum Thema wird hier auf
single-generation.de immer wieder auf das Buch verwiesen
werden, da es weit mehr Aspekte beleuchtet, auf die in diesem
Rezensionsessay notgedrungen nicht näher eingegangen werden
konnte. Im
nächsten Thema des Monats werden die Grenzen der
Bevölkerungspolitik anhand des gleichnamigen Buches,
herausgegeben von Diana AUTH & Barbara HOLLAND-CUNZ, aufgezeigt.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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