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Elterngeldbezug als eine Strategie von
Mittelschichtangehörigen jenseits von Festanstellung und Hartz
IV?
Wer das 2007 erschienene
Buch Wovon lebst du eigentlich? von Joern MORISSE und Rasmus ENGLER kennt, der weiß, dass
die Strategien der Kulturschaffenden jenseits von Festanstellung
und Hartz IV sehr unterschiedlich ausfallen. Der Schriftsteller
Wolfgang HERRNDORF sieht jedoch einen Unterschied zwischen der
Armut der Unterschicht und seiner eigenen privilegierten Armut.
Wovon lebst du eigentlich?
"Auf
der reinen Güterebene rangiere ich vermutlich noch unter
den Leuten, die das Sozialamt heimsuchen. Ich fahre nicht
in Urlaub, ich hab kein Auto, ich kaufe keine Kleidung,
ich mache keine Anschaffungen. Lange hatte ich nicht mal
Dusche, Kühlschrank, Telefon.
Einerseits. Andererseits hat Juli Zeh da einmal einen
überraschenden Aufsatz über die Neue Armut geschrieben, in
dieser guten alten Stern-Tradition (...), wo man versucht,
empirische Feldforschung durch drei dahergelaufene
Bekannte mit komischen Namen zu ersetzen. Das hieß
»Gregor-Prinzip«, und da stellt Juli Zeh in ihrem
Bekanntenkreis eine Armut fest, mit der sich die Leute
arrangiert haben, also eher eine Anspruchslosigkeit, wie
bei mir. Nur ist das mit einer echten Unterschicht-Armut
eben nicht zu vergleichen. Weil, das ist eine
privilegierte Armut, wenn man hochqualifiziert ist und
sich jederzeit anders besinnen könnte."
(2007, S.130) |
Diese "kreative Klasse"
lässt sich mit den Mitteln einer traditionellen
Sozialstrukturforschung, die am Einkommen orientiert ist, nicht
fassen. Hier spielen mittelschichtspezifische Mentalitäten eine
größere Rolle, die einen Lebensstil- bzw. Milieuansatz
erforderlich machen.
Im
Gegensatz zu den von HERRNDORF geschilderten Umständen lebt
HERTEL in bürgerlichen Verhältnissen. Christiane RÖSINGER,
die ihr Milieu als Low-Fi- Bohème charakterisiert, hat in ihrem
Buch
Das schöne Leben HERTELs Künstler-Ideal als
Bourgois-Bohème (David BROOKS) bezeichnet.
Das schöne Leben
"Hustete
sich die traditionelle Boheme (...) noch an einer offenen
Tb zu Tode oder suchte wegen steigender
Lebensunterhaltskosten den Ausweg im Freitod, bleibt dies
dem Bourgeois-Bohemien erspart.
Denn
das Bürgerliche, Krankenversicherte, Konventionelle fügt
der Bobo dem unbekümmerten Exzess- und Lotterleben hinzu.
Eine
gelungenere Verschmelzung zweier Lebensentwürfe lässt sich
kaum vorstellen. Die Losung lautet: Künstlerisches
Laissez-faire trifft auf pflichtbewusste
Systembestätigung."
(2008, S.162) |
Lässt man den Exzess und
das allzu Lotterhafte einmal beiseite, dann trifft diese
Beschreibung die Neuöttinger Variante eines Bourgeois-Bohéme
ziemlich genau. HERTEL ist verheiratet, hat eine gut verdienende
Ehefrau und kann sich nach dem Job in der Backfabrik dem
Hausmanndasein, der Kindererziehung und dem Buchschreiben
widmen. Den Zwang zu diesem Broterwerb erklärt er einerseits
durch mangelnden Erfolg als Freiberufler und zweitens mit der
Anschaffung eines Neuwagens.
Knochenarbeit
"Warum
muss ein Akademiker für 8 Euro 10 pro Stunde arbeiten?
Diese Frage
beschäftigt mich schon lange. Es ist leider wahr, dass ich
diesen Job nicht im Rahmen einer hochschulfinanzierten
Studie durchgeführt habe, sondern schlicht gezwungen war,
mich in dieser Billigfabrik zu bewerben, weil ich
nirgendwo sonst etwas fand. Nun habe ich Soziologie
studiert, das Fach kennt und braucht keiner. (...). In
einer anderen Lebenssituation wäre ich längst aus
Deutschland fortgegangen, irgendwohin, wo man es schätzt,
wenn jemand drei Sprachen spricht und viel gelesen hat.
Ich glaube, es gibt solche Länder.
Ich konnte nicht
anders. Davor war ich Freiberufler. Ich zahlte 300 Euro
für meine Krankenversicherung und verdiente 900 Euro, wenn
es sehr gut lief. Meistens ging ich aber am Ende des
Monats mit 100 Euro plus nach Hause. Das war zu wenig. Ich
hätte mich arbeitslos melden können, da hätte ich noch
drei Monate Anspruch auf 150 Euro im Monat gehabt. Danach
aber nichts mehr, weil wir für Hartz IV nicht arm genug
sind. Und als Arbeitsloser muss man dauernd zu
irgendwelchen unmotivierten Beratern gehen, die einem
sinnlose Tipps geben. Deshalb habe ich mich in der Fabrik
beworben und konnte eine Woche nach der Bewerbung
anfangen."
(2010, S.35)
"Diese Arbeit hat mir
viel gebracht. Vor allem Geld. Zwar nicht viel, aber
genug. Meine Frau konnte 10 Monate zu Hause bleiben und
aufs Kind aufpassen, und wir haben einen billigen Neuwagen
gekauft."
(2010, S.53) |
Für andere Männer, deren
Partnerin keine so gut bezahlte Arbeit haben, gäbe es die
Möglichkeit selber Elterngeld zu beantragen. Ein
1200 Euro-Job in den letzten 12 Monaten vor der Geburt eines
Kindes hätte nach den bisherigen Regelungen des
Elterngeldgesetzes immerhin 67 % Lohnersatzleistung gebracht.
Elterngeld und Elternzeit
"Der
Anspruch auf das einkommensabhängige Elterngeld berechnet
sich nach dem bereinigten Nettoeinkommen der
Antragstellerin oder des Antragstellers.
Ausgangspunkt ist das
persönliche steuerpflichtige Erwerbseinkommen der letzten
zwölf Kalendermonate vor der Geburt des Kindes, für dessen
Betreuung jetzt Elterngeld beantragt wird. Monate mit
Bezug von Mutterschaftsgeld oder Elterngeld sowie Monate,
in denen aufgrund einer schwangerschaftsbedingten
Erkrankung oder wegen Wehr- oder Zivildienstzeiten das
Einkommen gesunken ist, werden bei der Bestimmung der
zwölf Kalendermonate grundsätzlich nicht berücksichtigt.
Statt dieser Monate werden zusätzlich weiter
zurückliegende Monate zugrunde gelegt. Bei Selbstständigen
werden die betreffenden Monate auf Antrag von der
Einkommensermittlung ausgenommen.
Um das
Durchschnittseinkommen vor der Geburt zu bestimmen, wird
das maßgebliche Erwerbseinkommen in den zu
berücksichtigenden zwölf Monaten addiert und durch zwölf
geteilt. Kalendermonate, in denen kein zu
berücksichtigendes Erwerbseinkommen erzielt wurde, werden
mit null angesetzt."
(2010, S.21) |
Das ist mehr als mancher
Kulturschaffender mit seiner Arbeit verdienen kann. Was aber,
wenn der Erfolg sich auch weiterhin nicht einstellt? Im
Sammelband von BURZAN & BERGER beschäftigt sich nur der Beitrag
von Alexandra MANSKE näher mit den Kreativen. Ihr geht es darum,
ob sich in diesem Bereich neue Konzepte von Männlichkeit
entwickeln. Ihr Fazit ist jedoch ernüchternd, denn Männer im
Kreativbereich können in der Regel aufgrund der
Einkommensunsicherheit nicht die Rolle des Familienernährers
übernehmen. Diese Problematik des Elterngeldes wurde bereits
an anderer Stelle ausführlicher behandelt
. In Heft 2/2010 der
Zeitschrift Soziale Welt sehen Kerstin PULL & Ann-Cathrin
VOGT die Sache nicht ganz so pessimistisch. Sie setzen ihre Hoffnungen auf
einen durch das Elterngeld angeschobenen Wertewandel.
Viel Lärm um Nichts?
"Wenn und insofern es
durch die Elterngeldreform gelingt, tragfähige Impulse in
Richtung eines modernen Geschlechterrollenverständnis zu
induzieren (in Bezug auf Einstellungen der Väter, aber
auch in Bezug auf das »gelebte
Geschlechterrollenverständnis«, etwa wenn es um die
Verteilung der Hausarbeit zwischen den Geschlechtern geht)
und/oder die soziale Akzeptanz für eine väterliche
Inanspruchnahme von Elternzeit zu erhöhen (geringere
erwartete Karrierehindernisse), dann dürften sich die
Effekte der Elterngeldreform noch deutlich verstärken -
und möglicherweise irgendwann zu messbaren Auswirkungen
jenseits der Inanspruchnahme der Vätermonate führen.
Unsere Daten liefern bereits erste Ansatzpunkte für
entsprechende Effekte".
(aus: Soziale Welt, Heft 2, S.134) |
Die Zukunft wird zeigen,
inwiefern sich die Generation Elterngeld von der Generation
Erziehungsgeld unterscheidet. Nur verknöcherte alte Herren wie
Thilo SARRAZIN und sein Gewährsmann Herwig BIRG sehen zwischen
beiden Instrumenten keinen qualitativen Unterschied.
Deutschland schafft sich ab
"Das
1978 eingeführte Mutterschaftsgeld, das Erziehungsgeld
(1986) sowie das Elterngeld (2006) sollen dazu beitragen,
Kinder und Erwerbstätigkeit der Frau besser miteinander zu
vereinbaren. Sie sehen eine Beurlaubung von der Arbeit für
eine gewisse Zeit nach der Geburt vor und einen gewissen
materiellen Ausgleich für den entgangenen Verdienst.
(...). Eine Auswirkung auf die Geburtenrate ist
statistisch allerdings nicht nachweisbar. Nicht
ausschließen lassen sich allenfalls gewisse
Vorzieheffekte. Herwig Birg hat nachgewiesen, dass das
Erziehungsgeld einen solchen minimalen Effekt bei zweiten
und dritten Kindern auslöste, aber keine messbaren
Wirkungen bei Zahl und Zeitpunkt der Erstgeburten hatte.
Auch beim Elterngeld lässt sich der erhoffte Effekt auf
die Gesamtzahl der Geburten bislang nicht beobachten, und
es ist aus den bisherigen Daten nicht ersichtlich, dass
die soziale Struktur der Elternschaft sich wie erhofft
verbessert. Die Intention der Maßnahme wurde allerdings
auch beschädigt, indem nicht erwerbstätigen Eltern oder
Eltern mit niedrigem Einkommen ein Mindestsatz an
Elterngeld zuerkannt wurde."
(2010, S.382) |
Verdienstvoll ist im
Hinblick auf voreilige Rückschlüsse von der Vergangenheit auf
die Zukunft der Familie ein Sonderheft der Zeitschrift für
Familienforschung zur Zukunft der Familie. Die
verschiedenen Beiträge beschäftigen sich mit Prognosen und
Szenarien. Dabei wird eine große Spannbreite sichtbar.
Insbesondere der Beitrag von Dirk KONIETZKA und Michaela
KREYENFELD ist informativ, weil er sich mit den
Vorausberechnungen der zukünftigen Geburtenentwicklung
auseinandersetzt. Sie räumen mit beliebten Falschdarstellungen
auf, die sich um die zusammengesetzte Geburtenziffer (TFR)
ranken, mit denen sowohl Herwig BIRG als auch Thilo SARRAZIN
operieren, um ihren Bedrohungsszenarien mehr Nachdruck zu
verleihen.
Zwischen soziologischen Makrotheorien und demographischen
Vorausberechnungen - Möglichkeiten und Grenzen des Blicks
in die Zukunft der Familien- und Geburtenentwicklung
"Während
sich die westdeutsche TFR seit den 1970er Jahren auf einem
stabilen und niedrigen Niveau eingependelt hat, zeigen die
entsprechenden Kohortendaten (...), dass die
durchschnittliche Kinderzahl einerseits durchweg höher
geblieben, andererseits kontinuierlich und stetig
zurückgegangen ist. Die TFR verzerrt die
Geburtenentwicklung also in doppelter Weise. Sie
suggeriert ein stabiles Verhaltensmuster und unterschätzt
zugleich das tatsächliche Geburtenniveau. Beispielsweise
haben westdeutsche Frauen der Geburtskohorte 1962 im
Schnitt 1,56 Kinder bekommen. Ende der 1980er und Anfang
der 1990er Jahre, als diese Frauen überwiegend ihre Kinder
geboren haben, lag die geschätzte durchschnittliche
Kinderzahl laut TFR jedoch zwischen 1,28 und 1,45 Kindern
pro Frau (...). Anders formuliert hatte bislang kein
einziger realer Frauenjahrgang in Westdeutschland auch nur
annähernd eine so geringe Kinderzahl, wie sie die TFR
bereits seit der Mitte der 1970er Jahre durchgängig
angibt. Die aus der zusammengefasste Geburtenziffer
abgeleitete Behauptung, dass die durchschnittliche
Kinderzahl in Westdeutschland seit drei Jahrzehnten
konstant ist, steht entsprechend auf wackeligem Boden".
(aus: Zukunft der Familie, Sonderheft der Zeitschrift
für Familienforschung 2009, S.56) |
Es zeigt sich, dass die
Geburtenentwicklungen eben nicht linear fortgeschrieben werden
können, sondern jederzeit Brüche eintreten können, die lange
Zeit unerkannt bleiben. Dies zeigen KONIETZKA & KREYENFELD
anhand der gravierenden Fehlprognosen zur Geburtenentwicklung in
Ostdeutschland. Aufgrund der Erfahrung mit der geringen
Treffsicherheit von Bevölkerungsvorausberechnungen (die Autoren
zeigen anhand zweier Beispiele für das Nachkriegsdeutschland wie
Vorausberechnungen bereits nach wenigen Jahren von der Realität
widerlegt wurden), raten die Autoren zur Skepsis gegenüber
Propheten wie SARRAZIN.
Zwischen soziologischen Makrotheorien und demographischen
Vorausberechnungen - Möglichkeiten und Grenzen des Blicks
in die Zukunft der Familien- und Geburtenentwicklung
"Man
kann u. E. plausibel annehmen, dass die Reformen des
Kindschaftsrechts, des Unterhaltsrechts, von Elternzeit/-geld
und Maßnahmen zur Förderung institutioneller
Kinderbetreuung, die in Deutschland allesamt in den
letzten zehn Jahren erfolgt sind, nicht nur der
gestiegenen Vielfalt von Familienformen Rechnung tragen,
sondern ihrerseits Tendenzen des Wandels und der
Differenzierung der Lebensformen eigenständig
unterstützen, wenn nicht gar anstoßen.
Individuelle Handlungsziele im privaten Bereich, darunter
Kinderwünsche und Fertilitätsentscheidungen (...,) werden
durch Paar- bzw. Partnerschaftsmodelle, Wertvorstellungen
und Familienleitbildern sowie externe
Opportunitätsstrukturen aller Art beeinflusst. Wie sich
diese Faktoren im Verlauf der nächsten Jahrzehnte auf der
Ebene der Familien- und Lebensformen kristallisieren
werden, scheint uns nur schwer prognostizierbar. Die
geringe Treffsicherheit, die in der Vergangenheit Versuche
aller Art, in die Zukunft zu blicken, aufwiesen, sollte zu
Skepsis gegenüber Voraussagen über die Entwicklung der
Geburtenrate, der Kinderlosigkeit und der Anteile
nichtehelicher Geburten sowie die Zu- und Abnahme
verschiedener Lebens- und Familienformen mahnen."
(aus: Zukunft der Familie, Sonderheft der Zeitschrift
für Familienforschung 2009, S.59) |
Der Blick der verunsicherten Mittelschicht auf
die Unterschicht
Das Bild der Unterschicht
ist abhängig vom Betrachter und vom Zweck der Beschreibungen.
Dies zeigen die folgenden zwei Beispiele deutlich. Frank HERTEL
beschreibt den 22jährigen Thomas, der in seiner Billigfirma
arbeitet, im Vergleich zu einem idealtypischen
Mittelschichtstudenten, der es eindeutig besser hat. Thilo
SARRAZIN beschreibt dagegen einen 21jährigen
Transferleistungs-Empfänger im Vergleich zu einem 21jährigen
idealtypischen Studenten. Während bei HERTEL die Tristesse des
Niedriglohnempfänger im Vergleich zum lustigen Studentenleben
geschildert wird, erscheinen dagegen bei SARRAZIN beide gleich
benachteiligt, nur auf anderen Gebieten.
Knochenarbeit
"Der
dicke Thomas, der früher in unserer Spätschicht war und
jetzt in der Nachtschicht arbeitet (...) ist 22 Jahre alt
und sehr dick. Er schläft 12 Stunden am Tag, hat er mir
gesagt. Ich fragte, warum. Er sagte, schau, ich habe keine
Freundin, ich habe keine Kinder, ich gehe nicht fort, ich
muss nicht einkaufen, mein Essen kocht meine Mutter, da
kann ich schon 12 Stunden schlafen. (...). Was haben wir
mit 22 gemacht? Wir haben studiert, wir haben gefeiert,
wir haben unsere jugendliche Kraft genossen, wir waren
glücklich und wussten noch nicht viel vom Ernst des
Lebens."
(2010, S.11f.)
Deutschland
schafft sich ab
"Armut
in Deutschland offenbart sich im sozialen Vergleich: Wer
weniger hat als andere, mit denen er sich vergleicht,
fühlt sich ärmer, sei es, dass alle Autos fahren und er
selbst Fahrrad, sei es, dass er nur zwei gute Hosen
besitzt und andere fünf, sei es, dass er noch einen
Röhrenfernseher hat und andere einen großen
Flachbildschirm. Dies ist die klassische Problemlage eines
Empfängers von Transferleistungen. Ein 21-jähriger Student
dagegen hat zwar noch weniger Geld, aber er fährt gerne
Fahrrad, hat im Augenblick nur eine gute Hose und macht
sich nichts aus Fernsehen. Geld ist nicht sein Problem, er
hat ganz andere: Die attraktiven Mädchen interessieren
sich immer für seine Freunde; das Erasmus-Stipendium in
London wurde ihm verwehrt, sein Freund darf aber hin. Der
subjektive Leidensdruck dieses Studenten ist mindestens so
groß wie der des Transferempfängers, er ist allerdings
nicht arm an Geld, sondern arm an Chancen bei Mädchen und
vor der Stipendienauswahlkommission."
(2010, S.128) |
Während bei Thilo SARRAZIN
die Wertigkeiten eindeutig verteilt sind: hier die gute
Mittelschicht, dort die böse Unterschicht, ist die Sache bei
HERTEL schwieriger, weil das Buch von HERTEL vieles sein
will: Lob der Arbeitsteilung, Werbung für miese Jobs in
Billigfirmen, Lob der einfachen Leute, Lob der Bosse, Kritik am
Arbeits- und Führungsverhalten usw. Das gelingt nicht
widerspruchsfrei wie bei SARRAZIN, weshalb die Sichtweisen von
HERTEL von Kapitel zu Kapitel immer wieder zwischen Mutter
Theresa und Hans-Olaf HENKEL bzw. Thilo SARRAZIN schwanken. So
werden Transferempfänger einmal gerechtfertigt, ein anderes Mal
kritisiert und dann wieder zum Objekt einer Umerziehungsmaßnahme
gemacht.
Knochenarbeit
"Ich
bin keiner von denen, die mit dem Finger auf Arbeitslose
zeigen, um ihnen Faulheit und Dummheit vorzuwerfen. (...).
Ich war selbst bestimmt vier Jahre ohne Arbeit. In dieser
Zeit widmete ich mich den Büchern und dem Schreiben. Ich
ging spazieren und dachte nach. Natürlich wurde ich dafür
kritisiert, aber das war mir ziemlich egal. Ich brauchte
diese Zeit für mich und meine Entwicklung, und ich nahm
sie mir einfach. (...). Es gibt Aussteiger, die keine Lust
haben zu arbeiten. Manche trinken lieber Bier, statt in
der Fabrik zu schuften. Und wenn schon, solange sie nicht
randalieren, stört es keinen. Aber alle, die über lange
Jahre nicht arbeiten, haben etwas gemeinsam: Sie haben
einen Grund und diesen Grund sollte man akzeptieren. Man
sollte nicht ständig versuchen, Menschen umzuerziehen.
(...). Gleichzeitig muss man aber auch dafür sorgen, dass
jeder, der arbeiten möchte, eine Arbeit bekommen kann."
(2010, S.135)
"Wenn Hauptschüler als
Berufswunsch Hartz-IV-Empfänger angeben, ist das nur auf
den ersten Blick sonderbar. Schaut man genauer hin,
erkennt man, dass sich diese Schüler durchaus wünschen,
wie ein Herr zu leben, also nicht wie ein Knecht zu
arbeiten, sondern für das Nichtstun bezahlt zu werden,
Zeit für Liebe, Familie und Hobbys zu haben.
Sozialhilfeempfänger genießen Herrenstatus. Man muss nicht
arbeiten, um zu leben. Das hat man nicht nötig. Der
moderne Privatier lebt von Stütze. In Berlin gibt es die
meisten Hartz-IV-Empfänger und die meisten Künstler. Dass
dabei nichts Gescheites herauskommen kann, versteht sich
von selbst. In Berlin leben zurzeit 21 Prozent der
Bevölkerung unter 65 Jahren von Hartz IV. Sie ist zu Recht
die Hauptstadt Deutschlands, weil in ihr die meisten
Herren leben.
(...).
Viele Stützebezieher fühlen sich pudelwohl. Sie sind
kerngesund und putzmunter. Aber sie haben keine Lust, sich
knechten zu lassen, sie wollen ihre Ruhe, und die
Allgemeinheit soll dafür bezahlen. Das ist nicht in
Ordnung. Das ist Betrug"
(2010, S.159f.)
"Die Knechte arbeiten
sich Tag und Nacht die Finger blutig, damit ein Viertel
aller Berliner gemütlich auf der Couch sitzen kann. So
geht das nicht weiter. Unterstützung sollen die wirklich
Arbeitsunfähigen bekommen, die es immer gibt. Das ist
völlig in Ordnung und tut niemandem weh. Doch es kann
nicht sein, dass jeder Fünfte von Staatsgeld lebt und sich
über die Dummköpfe, die zur Arbeit gehen, kaputtlachen."
(2010, S.160) |
HERTEL umkreist in seinem
Buch den
Begriff der sozialen Marktwirtschaft und was er in unserer Welt
bedeuten könnte. Man kann dem Autor auf seinen Denkwegen folgen
oder ihn wie Rudolf STUMBERGER oder Günter WALLRAFF dafür schelten. Man mag HERTEL
für seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen kritisieren, aber im
Gegensatz zu Thilo SARRAZIN ist das Buch wenigstens anregend.
Wie lässt sich die Angst der Mittelschicht erklären und wie
hängt dies mit der Abgrenzung gegenüber der Unterschicht
zusammen? Dieser Frage soll im nächsten Kapitel genauer
untersucht werden.
Wohlstandskonflikte und neue
Bürgerlichkeit als zwei Seiten einer Medaille
Die Entdeckung der
Unterschicht und die Anrufung des Bürgers haben seit Anfang des
neuen Jahrtausends Konjunktur. Die öffentliche Debatte ist
zuerst von dem Soziologen Heinz BUDE und dem Historiker Paul
NOLTE sowie in letzter Zeit auch von dem Philosophen Peter
SLOTERDIJK vorangetrieben worden.
Während
der Soziologe Heinz BUDE mit der Generation Berlin einen
geschichtsphilosophischen Kontinuitätsbruch zwischen der Bonner
Republik und der Berliner Republik konstruierte, der sich einer
Mythologie der Daten 1968 und 1989 bemächtigt, unterfütterte der
Historiker Paul NOLTE diese Ideologie mit einer neokonservativen
Reformulierung der sozialen Frage. Beide zusammen lieferten
damit den Überbau des von der rot-grünen Koalition forcierten
Umbaus des Wohlfahrtsstaates vom "sorgenden" zum
"gewährleistenden" Staat.
In
dem 2010 erschienen Buch Bürgerlichkeit ohne Bürgertum
zeigt sich deutlich die Problematik einer solchen
revisionistischen Sichtweise. In der Einleitung behaupten Heinz
BUDE, Joachim FISCHER und Bernd KAUFFMANN, dass die Debatte um
die neue Bürgerlichkeit zunächst in den 1990er Jahren im
Feuilleton geführt wurde. Dummerweise findet sich jedoch kein
einziger Nachweis, sondern die Debatte wird lediglich anhand von Beiträgen, die allesamt nach der Jahrtausendwende veröffentlicht
wurden, nachgezeichnet. Die Zielgruppe, auf die BUDE als
Trägergruppe setzt, beschreibt er in seinem Beitrag Einübung in
Bürgerlichkeit. Das elitäre Konzept ist demnach auf 15 % der
Bevölkerung Deutschlands zugeschnitten:
Einübung in die Bürgerlichkeit
"Mit
der Frage nach der Bürgerlichkeit kann man in der
Bundesrepublik von heute die schätzungsweise kritischen 15
Prozent der Bevölkerung ansprechen, die von ihren
materiellen Voraussetzungen, ihrem Bildungshintergrund und
ihrer beruflichen Position als Trägergruppe
bundesrepublikanischer Bürgerlichkeit gelten können. Man
sollte nicht mehr die Selbständigkeit des Erwerbs und auch
nicht ein ständisches Lebensführungsideal voraussetzen,
aber doch eine soziale Position, die eine gewisse
berufliche Selbstverantwortung, die Möglichkeit einer
Reflexion auf das gesellschaftliche Ganze und einen Sinn
für persönliche Selbständigkeit impliziert. Das jedenfalls
sind nach herrschender Auffassung die drei Kriterien von
Bürgerlichkeit, die übrig bleiben, wenn man diese nicht
mehr unbedingt auf eine soziale Großgruppe des Bürgertums
bezieht."
(2010, S.190) |
Aber offensichtlich
entspricht die bundesrepublikanische Bürgerlichkeit nicht
unbedingt diesem Bild des idealtypischen Bürgers, sondern die
zu verbürgerlichende Zielgruppe ist fragmentiert.
An anderer Stelle spricht BUDE
auch von
den "alten Selbstverwirklichungsindividualisten West" und den
"neuen Leistungsindividualisten Ost". Der Begriff
"Leistungsindividualist" wurde von einer politischen
Milieustudie im Auftrag der Friedrich-Ebert Stiftung geprägt
(Gero Neugebauer "Die politischen Milieus in Deutschland", 2007). In
der Studie wurde die Bevölkerung Deutschlands in drei Drittel
mit 9 Milieus aufgeteilt, die nach ihrer Aufgeschlossenheit für weitere
Reformen entsprechend der nachfolgenden Tabelle eingeteilt
wurden.
Milieuverteilung in Deutschland |
|
Milieu |
Bevölkerungsanteil |
Oberes
Drittel |
Leistungsindividualisten |
11 % |
45 % |
Etablierte
Leistungsträger |
15 % |
Kritische
Bildungseliten |
9 % |
Engagiertes
Bürgertum |
10 % |
Mittleres Drittel |
Zufriedene
Aufsteiger |
13 % |
29 % |
Bedrohte
Arbeitnehmermitte |
16 % |
Unteres
Drittel |
Selbstgenügsame
Traditionalisten |
11 % |
26 % |
Autoritätsorientierte Geringqualifizierte |
7 % |
Abgehängtes
Prekariat |
8 % |
|
Quelle: Gero
Neugebauer "Politische Milieus in Deutschland", 2007, S.69
|
Im Jahr 2006 entzündete
sich am "abgehängten Prekariat" die deutsche
Unterschichtendebatte, die bereits in den Jahren 2002 bis 2004
von Paul NOLTE feuilletonistisch vorbereitet worden war. Der
Soziologe Karl-Siegbert REHBERG beschreibt die
Unterschichten-Debatte im Beitrag Neue Bürgerlichkeit als
Inszenierungsbegriff für bürgerliche Distinktionsbedürfnisse.
Schärfer wird dieser Aspekt im September-Heft der Zeitschrift
PROKLA zum Thema Kulturkämpfe herausgearbeitet.
Prekäre (Kultur-)Kämpfe? Die Verhandlung
gesellschaftlicher Verhältnisse im Diskurs zu
Prekarisierung
"Das
»abgehängte Prekariat«
wird im Oktober 2006 im öffentlichen Diskurs zum Marker
für eine gesellschaftliche Schieflage. (...). Das »abgehängte
Prekariat« (Neugebauer 2007) wird in der Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung als ein spezifisches Segment der
bundesdeutschen Wahlbevölkerung ausgemacht (...).
(...).
Mit der Konstruktion des Prekariats als Unterschicht wird
im öffentlichen Diskurs eine Erzählung etabliert, die
soziale Ungleichheiten etabliert."
(Magdalena Freudenschuß,
2010, S.364) |
Im Dezember-Themenheft
Armut in Deutschland der Zeitschrift Aus Politik und
Zeitgeschichte werden die Distinktionsbedürfnisse der
Mittelschicht angesichts der Debatte um Thilo SARRAZIN kritisch
gesehen.
In der Sicht von Heinz BUDE ist der Bürger
als Unternehmer die Lichtgestalt der
Berliner Republik, während die alte Bonner Republik durch den verachteten Arbeitnehmer geprägt war. Ist die
Arbeitnehmergesellschaft eine Konsensgesellschaft gewesen, so
ist nun der soziale Konflikt angesagt und zwar nicht nur in
Deutschland, sondern im OECD-Raum. Im Zentrum steht dabei der
bereits weiter oben angesprochene Umbau des Wohlfahrtsstaates.
Einübung in die Bürgerlichkeit
"In
der
»Arbeitnehmergesellschaft«
verschwindet (...) der Gegensatz zwischen dem Bürger und
dem Proletarier, um den Begriff des Staatsbürgers der
einen Rechtstitel für alle darstellt als Bezugspunkt
hervorzuheben. So gesehen ist der sozialmoralische
Ordnungsbegriff der »Arbeitnehmergesellschaft« Ausdruck
der universalisierten Bürgergesellschaft. (...).
Mit dem Ende der Nachkriegszeit hat dieser unbürgerliche
Begriff der Bundesrepublik ein Ende gefunden. Der
Bürgerbegriff wird heute als Ablösungsbegriff zum Begriff
des Arbeitnehmers aufgerufen. Dieser ideelle
Registerwechsel hängt mit der Transformation des
bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaates zusammen. Im
Einklang mit Entwicklungen, die sich im gesamten OECD-Raum
vollzogen haben, hat der Abschied vom schützenden und
sorgenden zum befähigenden und gewährleistenden
Wohlfahrtsstaat stattgefunden."
(2010, S.192) |
Der Soziologe Günter VOß
spricht in diesem Zusammenhang auch vom Wandel des Arbeitnehmers zum
Arbeitskraftunternehmer, der mit dem veränderten
Kräfteparallelogramm einhergeht. Für BUDE geht mit der neuen
Bürgerlichkeit eine Stärkung des Familialismus einher, der sich
in steigenden Geburtenzahlen der Akademikerinnen niederschlägt.
Einübung in die Bürgerlichkeit
"Wie
viele Kinder bracht man zur Sicherung des Erbes, wenn man
mit Abweichlern in brotlose Künste oder mit Versagern am
schwierigen Leben rechnen muss? Das ist der Grund dafür,
dass (...) ganz ähnlich wie in der proletarischen
Unterklasse in der bürgerlichen Oberklasse in der Regel
mehr Kinder geboren werden als in der von ängstlichem
Renditebewusstsein getriebenen Mittelklasse.
So
gesehen gehört der genealogische Stolz zu einem bürgerlichen
Lebensstil, was heute vor allem die besser qualifizierten Frauen
verstanden zu haben scheinen. Es ist von daher nicht ganz
unverständlich, dass im Zuge der wachsenden Bildungsbeteiligung
der Frauen und vor allen Dingen mit dem Erwerb höherer
Bildungsabschlüsse bei einer wachsenden Gruppe von Frauen das
Familienmotiv eine größere Bedeutung bei der Inszenierung eines
bürgerlichen Lebensstils erhält. Hier deutet sich an, dass es
heute vor allem Frauen sind, die die Selbsthabitualisierung von
Bürgerlichkeit nicht nur mit Perlenketten und Kaschmir-Pullover,
sondern für alle sichtbar mit Bugaboo-Kinderwägen und mindestens
zwei Kindern vorantreiben."
(2010, S.199) |
Während Heinz BUDE die
Veränderungen im Sinne einer Herrschaftssoziologie rechtfertigt,
beschreibt der Sozialwissenschaftler Berthold VOGEL in seinem
Buch Wohlstandskonflikte die Situation aus der Sicht der
Aufsteiger und der bedrohten Arbeitnehmermitte, d.h. des
mittleren Drittels im Sinne von Gero NEUGEBAUER. Die
Unterschichtendebatte wird in dieser Sicht zur
Selbstverständigungsdebatte der Mittelschicht.
Wohlstandskonflikte
"Der
Wohlstand, dessen möglicher Verlust oder dessen
verhinderte Erreichbarkeit, ist der Referenzpunkt der
politischen und ökonomischen Entwicklung, nicht die Armut
und ihre Überwindung. Die Wohlstandskonflikte
repräsentieren daher die sozialen Fragen, die aus der
Mitte kommen. Daher treten zwangsläufig die dominanten
Sozialfiguren staatsbedürftiger und
erwerbsarbeitszentrierter Wohlstandsgesellschaften hervor:
die »Aufsteiger« und die »Statussucher«. Deren Erfahrungen
und Orientierungen, deren Befürchtungen und Ressentiments
prägen das gesellschaftliche Klima weit stärker als
diejenigen, die in die Randzonen der Gesellschaft
abgedrängt sind. Aufsteiger und Statussucher achten
peinlich genau auf soziale Abstände und berufliche
Differenzen, auf erworbene Privilegien und erkämpfte
Positionen."
(2009, S.12) |
Eine solche Sichtweise
wird auch hier hinsichtlich der Einordnung von Autoren wie Frank
HERTEL oder Thilo SARRAZIN eingenommen. HERTEL steht für die
Aspekte der "verhinderten Erreichbarkeit" bzw. "Statussucher",
während Thilo SARRAZIN den möglichen Wohlstandsverlust der
"Aufsteiger" bzw. ihrer Kinder repräsentiert. Die
Hintergrundfolie vor der diese Bilanzen gezogen werden ist die
bereits weiter oben erwähnte Aufsteigergesellschaft der
Nachkriegszeit.
Wohlstandskonflikte
"Wer
über Wohlstand spricht und über den Verlust seiner
Selbstverständlichkeit, der tut dies mithin vor dem
Hintergrund einer differenzierten und individualisierten
Aufsteigergesellschaft. Dieser Gesellschaftstypus, so
schreibt Robert Castel in seiner großen Sozialgeschichte
»Die Metamorphosen der sozialen Frage«, scheint »von einer
unaufhaltsamen Aufstiegsbewegung getragen zu sein (...)«.
Diese Aufsteigergesellschaften setzen spezifische sozialen
Energien frei. (...). Das strukturelle Resultat
wohlfahrtsstaatlicher Aufstiegsmobilität und
Aufstiegsmobilisierung ist die Etablierung einer breiten
Mittelschicht (...). Diese Aufwärtsmobilität scheint seit
einigen Jahren freilich ins Stocken geraten zu sein. Das
soziale Klima prägt die Erfahrung, dass es nicht mehr viel
zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren gibt. Soziale
Konflikte finden nicht mehr als Klassenkämpfe zwischen
Kapitalbesitz und Arbeitskraftbesitz statt, sondern sie
werden als Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand und um
Verpflichtungen zur Wohlstandssicherung ausgetragen."
(2009, S.12f.) |
In den
Wohlstandskonflikten geht es also um die Zukunft unserer mehr
oder weniger breiten Mittelschicht. Berthold VOGEL beschreibt in
dem Buch anschaulich die Entstehung und den Umbau des
Wohlfahrtsstaates anhand des Schicksals der staatsgebundenen
Mittelklasse. Diese Vorgänge sind abseits der lautstarken
öffentlichen Debatten vorgegangen, denn im Gegensatz zur
Kreativwirtschaft hat die bedrohte Arbeitnehmermitte keine Lobby
in den Medien. Ihr fehlt der Glamour einer digitalen Bohème oder
schicker Orte der Gentrifizierung wie Prenzlauer Berg und Schanzenviertel.
VOGEL beschreibt insbesondere die weibliche (öffentlicher
Dienst) und die männliche Variante (industrielle
Facharbeiterschaft) der bedrohten Arbeitnehmermitte.
Wohlstandskonflikte
"Wenn
wir die Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft näher
bestimmen, dann können wir erkennen, dass zwei zentrale
Mittelklassemilieus als (ehemalige) Aufsteigergruppen
auf besondere Weise unter Druck und in Anspannung geraten
sind. Die Rede ist zum einen vom gewerkschaftlich
organisierten Milieu der industriellen Facharbeiterschaft,
das sich in den Nachkriegsjahrzehnten auf den Grundlagen
tarifvertraglicher Disziplin, gemeinwohlorientierter
Mitbestimmung und konfliktscheuer Leistungsbereitschaft
durchzusetzen und zu etablieren vermochte.
Auf
der anderen Seite attackieren die staatlichen und
arbeitsgesellschaftlichen Veränderungen in starkem Maße
das Mittelklassemilieu öffentlicher Dienste, das
auf klar geordneten Berufslaufbahnen, moderater, aber
sicherer Entlohnung und wechselseitiger Loyalität ruhte.
Im industriellen Facharbeitermilieu etablierte sich in den
Jahrzehnten sorgender Wohlfahrtsstaatlichkeit die neue,
vorwiegend männlich geprägte Mittelklasse, im öffentlichen
Dienst und in seinen angeschlossenen Korporationen und
Institutionen hingegen deren weibliche Variante. Für beide
Milieus gilt, dass mit der tendenziellen Auflösung der
engen Verbindung von sorgender, intervenierender
Staatlichkeit und korporativ organisierter Arbeitswelt die
Geschäftsgrundlagen ihres sozialen Erfolgs zumindest
brüchig werden, wenn nicht sogar verschwinden. Die
gesellschaftspolitische Brisanz dieser Verschiebungen im
Ungleichheitsgefüge besteht nun darin, dass die Fachkräfte
in Industrie und öffentlicher Verwaltung nach wie vor
zentrale Trägerschichten der Wohlstandsökonomie und des
politischen Gemeinwesens repräsentieren."
(2009, S.210) |
Die
Veränderungen, die VOGEL schildert, stehen nicht im Focus
unserer Medien, obwohl sie für die Gesellschaft von größerer
Tragweite sind. Empörungsgehalt erhält der Faktor
Wohlstandsstaat eher durch die verachteten "Versorgungsklassen"
(LEPSIUS) als durch die staatsgebundenen Dienstklassen.
Höchstens als Freiberuflern wie Ärzten oder als die Staatskassen
belastende Pensionäre kommt ihnen gelegentlich Aufmerksamkeit
zugute, aber nicht hinsichtlich ihrer geänderten
Arbeitsbedingungen.
VOGEL beschreibt in seinem Buch
Wohlstandskonflikte eine komplementäre Wirklichkeit zu den
privatwirtschaftlichen Verhältnissen, die von Karl Ulrich MAYER
& Eva SCHULZE in den Mittelpunkt gerückt werden.
Der gewährleistende Wohlfahrtsstaat und die
neue Aufstiegsmobilität
Der Umbau des
Wohlfahrtsstaates erzeugt nicht nur Verlierer, sondern auch
Gewinner. Ohne diese Seite der Medaille wäre das Bild von der
Generation Golf unvollständig. Zu den Gewinnern gehört z.B.
Florian ILLIES, der zu einem Kunstauktionshaus wechseln wird.
Berthold VOGEL nennt eine Reihe von Profiteuren dieser
Entwicklung.
Wohlstandskonflikte
"Unter
den Rahmenbedingungen gewährleistender Staatlichkeit
machen neue Leitfiguren Karriere. Hier ist zum Beispiel an
den Controller zu denken, der vom neuen
betriebswirtschaftlichen Effizienzdenken in der
öffentlichen Verwaltung profitiert, an den
Projektentwickler, der als Handlungstyp auch außerhalb
des akademischen Feldes rege Nachfrage in zahlreichen
öffentlichen wie privaten Dienstleistungen findet, oder an
den Therapeuten (...). Als neuer Arbeitnehmertypus
treten auch die Case-Manager auf (...). Zu einer
Aufzählung neuer Karrierefelder im und durch den
gewährleistenden Staat gehört auch die wachsende Zahl der
Mediatoren, die ein staatlich gefördertes
Konfliktmanagement betrieben (...). Schließlich sind in
diesem Zusammenhang die Berater als Berufsgruppe
und Branche zu nennen. (...). Das Spektrum neuer
Möglichkeiten vorgeblich souveräner Konsumenten reicht von
der Wahl einer leistungsfähigen Krankenversicherung über
die richtige Höhe der privaten Altersvorsorge und
günstigste Telefonanbieter bis hin zu
Finanzdienstleistungen und Angeboten zur Geldverwaltung.
Hier öffnen sich unter anderem neue und aussichtsreiche
Märkte für das Versicherungs- und Bankwesen. (...). Alles
in allem charakterisiert den Gewährleistungsstaat
wesentlich, dass er den Beratungsbedarf in Fragen der
Gesundheit, der Familie und der »richtigen«, das heißt selbstbeherrschten und eigenverantwortlichen,
Lebensführung erhöht. Hierzu zählt auch die Sparte der
neuen Haushaltsökonomie, die sich als Schul- und
Studienfach die »finanzielle Allgemeinbildung« auf ihre
Fahnen geschrieben hat. (...).
Wenn
wir den Struktur- und Gestaltwandel der Mittelklasse unter
dem Aspekt neuer Gelegenheiten und Karriereperspektiven
diskutieren, dann dürfen wir die Entwicklung der »unternehmungsbezogenen
Dienstleistungen« nicht übersehen. Hier hat sich in den
vergangenen Jahren in einer neuen sozialen Zwischenschicht
neuer Wohlstand etabliert".
(2009, S.215ff.) |
In dem kürzlich
erschienenen Sammelband
Diven, Hacker, Spekulanten,
herausgegeben von Markus SCHROER & Stephan MOEBIUS, werden neben
den von VOGEL erwähnten Beratern und Therapeuten auch andere
Sozialfiguren der Gegenwart benannt, die stärker mit der
veränderten Arbeitswelt und deren Selbststilisierungszwängen
zusammenhängen (z.B. der Dandy, der Medienintellektuelle oder
der Kreative).
In
einem ZEIT-Dossier wurde kürzlich die Kreativindustrie
und deren Image hinterfragt, das eng mit dem Namen Richard
FLORIDA und dem schillernden Begriff der "kreativen Klasse"
zusammenhängt. Insbesondere
Berlin ist Schauplatz dieses umkämpften Terrains. Im Gespräch
mit Ulrich BRÖCKLING, u. a. Mitherausgeber eines Glossar der
Gegenwart, das die schöne
neue Welt des "Selbstunternehmertums" und der Selbstvorsorge (im
Gegensatz zum sorgenden Wohlfahrtsstaat) vermisst, wird die
Konvergenz von alter und neuer Arbeitswelt hervorgehoben.
"Kreativ? Das Wort ist vergiftet"
"Die Unterstellung, Selbständige seien frei,
Angestellte abhängig, ist pure Ideologie. Sie
unterschlägt, wie viel Unsicherheit und Stress mit dieser
Lebensweise verbunden sind. Das Reich der Freiheit beginnt
erst jenseits der Arbeit, egal, ob ich angestellt oder
selbständig bin. Der Druck hat generell zugenommen, auch
die Firmen suchen unternehmerische Mitarbeiter, die
allzeit flexibel, innovativ, selbstverantwortlich und
risikobereit sind. Die Unterschiede zwischen
Angestelltentätigkeit und Selbständigkeit verschwimmen."
(Die ZEIT Nr.45 v. 04.11.2010) |
Gesamtgesellschaftlich
wichtiger sind immer noch die Berufsgruppen mit geringerem
Glamourfaktor als die Avantgarde der Arbeit jenseits der
Festanstellung.
Das
weite Feld der Finanzdienstleister wird, wie bei Berthold VOGEL
beschrieben, wichtiger werden. Darauf deutet auch der
Bestsellererfolg von Gerald HÖRHANs Buch
Investment Punk
hin. Niemand, der sich das Buch kauft, weiß danach wie er reich
werden kann. Es geht HÖRHAN nicht primär darum die finanzielle
Allgemeinbildung zu verbessern, sondern sich eine neue
Zielgruppe zu erschließen. Grundlage dafür sind einerseits die
Folgen der veränderten Situation der Mittelklasse, die VOGEL als
prekärer, parzellierter und Scheinwohlstand beschreibt.
Wohlstandskonflikte
"Es
werden differenzierte und abgestufte
Wohlstandsgefährdungen sichtbar: Der prekäre
Wohlstand der unsicher Beschäftigten, der
parzellierte Wohlstand kreditbelasteter
Eigenheimbesitzer und der Scheinwohlstand derer,
die im Versuch sozialer und materieller Selbstbehauptung
in die Schuldenfalle geraten oder falschen
Gewinnerwartungen aufgesessen sind. In allen diesen Fällen
geht es immer wieder um konkrete Fragen der
Besitzstandswahrung und der Besitzstandsermöglichung."
(2009, S.276) |
Für alle diese von VOGEL
beschriebenen Wohlstandslagen finden sich im Buch von HÖRHAN
anschauliche Beispiele. Bereits vor den Krisen der Nullerjahre
fand bei der Generation Golf ein veränderter Umgang mit
Geld statt, der die Krisenanfälligkeit dieser Generation im
Gegensatz zu vorangegangenen Generationen verstärkte. Das
Kultbuch Tristesse Royale gibt einen Einblick wie ein
neuer demonstrativer Lebensstil den Umgang mit Geld veränderte.
Tristesse Royale
"BENJAMIN
V. STUCKRAD-BARRE: Es gab bei früheren Generationen noch die
angestrebte Gleichzeitigkeit von Anschaffungen. (...) Heute
entsteht die Verschuldung aber nicht mehr durch Investitionen,
sondern direkt und indirekt durch das Nachtleben. (...).
ECKHART
NICKEL: Das Interessante daran ist, daß sich sämtliche
Geldvorgänge bald nur noch in einem Bereich abspielen, der
unter Null beginnt und eigentlich Nichts-Haben, also Armut,
bedeutet. (...).
Und trotzdem ist es unserer Generation möglich, dank den
modernen Methoden der Geldinstitute sehr anständig zu leben.
(...)
CHRISTIAN KRACHT: Das liegt aber daran, daß wir hemmungslos
über unsere Verhältnisse leben. Wir müßten im Grunde viel mehr
Geld verdienen, um unseren Lebensstil rechtfertigen zu können.
(...).
JOACHIM BESSING: Schon bald nach Erteilung des ersten
Dispokredits erscheint einem der Saldo Null als einzig
wiederherzustellender Zustand. Null wird zum Ziel. Null wird
zum gesunden Punkt.
ECKHART NICKEL: also nichts haben im Grunde."
(1999, S.20f.) |
Zum anderen geht es um den
Formwandel des Wohlstandsstaates, der die finanzielle
Selbstsorge auf immer neuen Feldern erfordert. Beat WEBER
spricht in diesem Zusammenhang von Finanzialisierung:
Finanzbildungsbürgertum und die Finanzialisierung des
Alltags
"Finanzbildungsoffensiven,
die mit der Abgrenzung gegenüber »finanziellen Analphabeten«
werben, (können) als distinktionsorientierter Diskurs
begriffen werden, der in Deutschland im Kontext eines
Kulturkampfs neuer Bürgerlichkeit zu verorten ist (...).
Initiativen
zur Hebung der Finanzbildung transportieren ein Leitbild, das
mit dem Begriff Finanzbildungsbürgertum charakterisiert werden
kann. Dieser bezeichnet eine neuartige Aufladung des
Bildungsbürgertums und seiner sozialen Mechanismen unter
Bedingungen der Finanzialisierung.
(...).
Die vom Leitbild Finanzbildungsbürgertum geprägte Kultivierung
der Eigenverantwortung und persönlichen Kompetenz trägt zu
einer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellung bei, in der
gesellschaftliche Verantwortung und Lastenteilung für
Risikovorsorge delegitimiert wird."
(aus: Prokla, Nr.3, 2010, S.388f.) |
Gerald HÖRHAN gehört zum
sich neu etablierenden Finanzbildungsbürgerum. Im Fall von
HÖRHAN wird insbesondere die "grüne" bzw. nonkonformistische
Bürgerlichkeit angesprochen, auf die seine Inszenierung als Punk
abzielt. Bei dieser Fraktion scheinen besonders große Potenziale
vorhanden zu sein, denn die Kreativwirtschaft kann selten gut
mit Geld umgehen. In der Jungle World, einer
Wochenzeitung, deren Klientel eher nicht zur klassischen
Zielgruppe der Finanzdienstleister gehört, wurde dem Thema sogar
eine Titelgeschichte über den neuen Zwang sich in der
Wirtschaft auszukennen gewidmet. In einem Interview durfte
HÖRHAN sein Anliegen darstellen.
"Handeln Sie antizyklisch!"
"Carl
Melchers: Seit der Finanzkrise tun alle so, als müsste
sich jeder mit Finanzen auskennen. Ist das nicht eine
Zumutung, dass wir das müssen, nur um am Schluss eine
kleine Rente zu haben?
Gerald
Hörhan: Nein, also wenn Sie Auto fahren wollen, dann sind
Sie sogar gesetzlich gezwungen, in die Fahrschule zu
gehen. Wenn Sie eine neue Sprache lernen wollen, gehen Sie
in eine Sprachschule. Wenn es um Ihre Altersversorgung,
Ihre Gesundheitsversorgung oder die Ausbildung Ihrer
Kinder geht, dann sagen die Leute plötzlich: »Das
interessiert mich nicht.« Es gibt leider keine vernünftige
Ausbildung in Sachen Geld. Dabei betrifft das eigentlich
viel fundamentalere Fragen als etwa das Autofahren."
(Jungle World Nr.21 v. 27.05.2010) |
Dieses Beispiel zeigt,
dass auch Milieus, die bislang wenig mit Finanzdienstleistern zu
tun hatten, gezwungen sind, sich mit den neuen
Verhältnissen zu befassen. Eines scheint gewiss zu sein: Auf
diesem Gebiet werden zukünftig ständig neue Felder erschlossen
werden, die Anbietern vorher nicht vorhandene Karrierechancen
ermöglichen und ein Umdenken erzwingen. Reine Abwehrkämpfe sind
unter diesen neuen Bedingungen nicht zu gewinnen.
Fazit: Die verlorene Generation Golf
gehört ins Reich der Mythen, auch wenn Wohlstandskonflikte
in der Mittelklasse zukünftig vermehrt auf der Tagesordnung
stehen werden.
Die Frage wie sich die
Mittelschicht, die hier insbesondere auch unter Berücksichtigung
der öffentlichen Inszenierungen um die Generation Golf
betrachtet wurden, zukünftig entwickelt, ist eine komplexe
Frage, die von vielen Faktoren bestimmt wird. Thilo SARRAZINs
Buch Deutschland schafft sich ab und Frank HERTELs Buch
Knochenarbeit repräsentieren - wie in diesem Beitrag
deutlich gemacht wurde - zwei zentrale Aspekte dieser Medaille.
In
wieweit die Mittelschicht tatsächlich verschwinden oder
schrumpfen wird, wie das in derzeitigen Bestsellern beschworen
wird, ist eine Frage der Machtverhältnisse in Deutschland.
Entgegen dem symbolischen Kampf in der öffentlichen Debatte, die
Teil dieses Kräftemessens ist, ist die weitere Dynamik in der
Mittelschicht abhängig von den weiteren politischen Reformen des
Wohlfahrtsstaates und den Entwicklungen in der Privatwirtschaft.
Die
Abschaffung Deutschlands steht nicht auf dem Programm, wohl aber
die Neujustierung des Wohlfahrtsstaates, bei der 2011 u. a. der
Kampf um die Pflegeversicherung ansteht. Wie bereits bei den
Rentenreformen der vergangenen Jahre, geht es hier um die
weitere Durchsetzung des gewährleistenden Staates. Die netten
Jahre sind in Zeiten einer neu beschworenen Bürgerlichkeit
vorbei.
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