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Thema des Monats

 
       
   

Das Jahr 2006

 
       
   

Die Singles im Spiegel der Medien

 
       
     
   
     
 

Das Jahr 2006 im Spiegel der Medien

1) Der Frühling des Patriarchen

Der Monat März stellte in diesem Jahr den Höhepunkt der Medienkampagne gegen Singles dar. Damit das Pamphlet Minimum von Frank SCHIRRMACHER zum Bestseller wurde, arbeitete fast die ganze Medienbranche zusammen. Zwei Welt-Autoren brachten eigens Geburtenzahlen für das Jahr 2005 in Umlauf, die das Minimum eindrucksvoll belegen sollten. Der Fake wurde - weil er so gut ins Konzept passte - auch von den selbsternannten Qualitätszeitungen - unkritisch verbreitet. Der MATUSSEK-Spiegel bot SCHIRRMACHER eine Plattform. Die taz lieferte einen Beitrag zur Kultur der Kinderlosigkeit. Der Stern nutzte die Gelegenheit, um Rentenkürzungen zu rechtfertigen. Keine Kinder, keine Rente! Aus den USA kam Philip LONGMANs Rückkehr des Patriarchats gerade rechtzeitig, um die Debatte um die neue Hausfrau und Die Helden der Familie (Norbert BOLZ) zu befeuern.  

Politisch stand in diesem Jahr das Elterngeld und die Rente mit 67 auf dem Programm. Das Elterngeld war ein Projekt von Rot-Grün, das nun von der Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde. Nicht mehr, dass vom Elterngeld zu allererst die Erfolgreichen profitieren, sondern dass Väter zur Elternzeit gezwungen werden sollen, stand im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Mit SCHIRRMACHER, BOLZ und Eva HERMAN ("Das Eva-Prinzip") kam der Frühling des Patriarchen. Die Rhetorik der Reaktion schien das Jahr zu prägen.             

2) Der Sommer, der die Wende brachte

Am 14. Juni wurde das Elterngeld vom Bundestag beschlossen. Am selben Tag durfte Björn SCHWENTKER erstmals nicht nur in der Zeit online, sondern in der Print-ZEIT über die politische Konstruktion der Geburtenkrise schreiben. Bereits seit März hatte sich angedeutet, dass es Widerstand gegen die Rhetorik der Reaktion geben wird. Im Mai-Heft der Lifestyle-Zeitschrift Neon durfte der Statistiker Gerd BOSBACH, der seine Sicht zuerst nur in gewerkschaftlichen bzw. gewerkschaftsnahen Publikationen verbreiten konnte, seine Thesen zum demografischen Wandel im Artikel Zahlensalat von Marc DECKERT  darlegen. Demnach liegt der größte demografische Wandel, nicht wie Herwig BIRG behauptet vor, sondern bereits hinter uns. Im Juli sieht der Soziologe Karl Otto HONDRICH in der Neuen Zürcher Zeitung den Fall der Geburtenrate als Glücksfall an. Am 28. August schickte Frank SCHIRRMACHER die Kontrahenten Albrecht MÜLLER ("Die Reformlüge") und Herwig BIRG ("Die ausgefallene Generation") in den Ring. Ist Deutschland noch zu retten? lautete die Gretchenfrage. BIRG verwies auf die 11. Vorausberechnung der Bevölkerungsentwicklung, deren Veröffentlichung für November vorgesehen war. Man solle die Zahlen genau studieren, betonte BIRG. Aber im November wollte von den Zahlen keiner mehr etwas wissen.

3) Der Herbst der Kinderlosen

Drei Bücher stehen exemplarisch für den Widerstand gegen die Rhetorik der Reaktion. Neuerdings reden diejenigen, die Interesse an der Dramatisierung des Geburtenrückgangs haben, von der Kultur der Kinderlosigkeit. Dies ist der neue Kampfbegriff der Polarisierer, die den Konflikt Eltern gegen Kinderlose auf die Spitze treiben möchten. Drei Bücher sind erschienen, die oberflächlich gesehen, als Ausdruck dieser Kultur der Kinderlosigkeit gesehen werden könnten. Drei Autoren der Generation Golf präsentieren darin ihre Vorstellungen der neuen Klassengesellschaft, in denen den Angehörigen der Elite eine tragende Rolle zugeschrieben wird. Die kinderlose "Neo-Feministin" Thea DORN spricht konsequenterweise vom F-Klassenkampf, denn Feminismus wird hier zum Elitenkonzept, das die Solidarität zwischen Frauen aufkündigt und stattdessen auf die Allianz von Karrierefrau und Karrieremann setzt.

Sascha LOBO & Holm FRIEBE beschreiben in dem Buch Wir nennen es Arbeit dagegen die Kultur der digitalen Bohème, die sich als Avantgarde eines neuen Individualisierungsschubs versteht, den neue Produktions- und Arbeitsformen ermöglichen sollen. Der neue Mensch ist nicht mehr Produzent oder Konsument, sondern Prosument. Der neue Mensch ist flexibel, aber eingebunden in "Netzwerke frei assoziierter Prosumenten". Es handelt sich dabei um eine Wiederkehr der Großfamilie, die nicht biologisch, sondern egozentriert ist. Der digitale Bohème ist tendenziell kinderlos - zumindest unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft. Das Entscheidende ist jedoch, dass der digitale Bohème keineswegs so autonom ist, wie er sich gibt, sondern auf einen privaten Generationenvertrag spekulieren kann, der gerne vergessen wird, weil in der öffentlichen Debatte nur der öffentliche Generationenvertrag, z.B. in Form des Rentensystems, diskutiert wird. Die digitale Bohème profitiert letztlich von den bestehenden sozialen Ungleichheiten:

Wir nennen es Arbeit

"Wie schon die analoge Bohème, so setzt sich auch die digitale zu einem Gutteil aus Bürgersöhnen und Töchtern aus höherem Hause zusammen, die aus einer privilegierten Position heraus gegen das Lebensmodell ihrer Eltern opponieren. (...). Nicht unwahrscheinlich, dass es sich leichter und unbekümmerter mit der Ungewissheit lebt, wenn man weiß, dass man in äußerster Not finanziell auch auf die Familie zurückgreifen kann oder ein Erbe in Aussicht stehen hat." (S.280)

Man muss es sich erst einmal leisten können, jenseits der Festanstellung zu existieren. Die Schwächen ihres Eliten-Modells sehen die Autoren selber:

Wir nennen es Arbeit

"Wenn wir davon ausgehen, dass man freudig an die Arbeit geht, die man sich selbst gewählt hat, und wenn wir davon sprechen, dass man Durststrecken mit einplanen sollte bei der Verwirklichung des bunten Masterplans, blenden wir dabei aus, dass dieser steinige Wege für viele Menschen zu riskant erscheint, wenn Kinder ins Spiel kommen. An dieser Stelle sind Staat und Politik gefragt, allerdings auf eine Art, die über Kinder- und Erziehungsgeld hinausgeht. (...). Vor ähnlichen Problemen steht die digitale Bohème, wenn es um die Pflege von Alten, Behinderten oder sonstwie hilfsbedürftigen, nahe stehenden Menschen geht. Auch die Frage nach der eigenen Altersvorsorge, nach etwaiger Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit wird ohne staatlich-strukturelle Hilfe und Institutionen nicht zu lösen sein. Mit 35 lässt sich sehr gut von der Hand in den Mund leben, mit 75 wird das zum Problem, wenn man nicht oder nicht mehr in der Lage ist, an einem wie auch immer gearteten Markt teilzunehmen. Auch hieran zeigt sich, dass die digitale Bohème kein Gesellschaftsmodell sein kann, sondern ein Lebens- und Arbeitsmodell für einen Teil der Gesellschaft." (S.284f.)

Sowohl LOBO & FRIEBE als auch Christian RICKENS positionieren sich gegen die Neuen Bürgerlichen, zu denen sie Paul NOLTE, Frank SCHIRRMACHER und Matthias MATTUSSEK zählen. Während für erstere die Neubürgerlichen nur ein Randthema sind, hat Christian RICKENS gleich ein ganzes Buch ("Die neuen Spießer") daraus gemacht:   

Die neuen Spießer

"Eine 3-Zimmer-Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf, mit Flügeltüren zwischen Zimmern, Stuck, abgeschliffenen Bodendielen und einer Einrichtung, die von erfolgreicher Schöner-Wohnen-Lektüre zeugt.
Eingeladen hatten Annika, Lehrerin an einer Hauptschule, und ihr Lebensgefährte Rainer, der als Physiker in einem Forschungslabor arbeitet. Die Gäste: Michaela (irgendetwas mit Internet), ihr Freund Oskar, Rechtanwalt, und ich, Journalist bei einem Wirtschaftsmagazin. Meine Freundin Helene fehlte, sie war bei einer ihrer Freundinnen zu einem ganz ähnlichen Abendessen eingeladen.
(...).
Keiner von uns fünf hatte Kinder. (...).

»Habt ihr in dieser Woche den Spiegel gelesen«, fragte Michaela. »Die Titelgeschichte? In der stand, dass wir zu egoistisch sind, um Kinder zu kriegen?«
»Ja. Das war ja wohl das Allerletzte«, sagte Annika. (...).
»Warum habt ihr denn eigentlich keine Kinder?«, fragte ich unvermittelt, einem plötzlichen Interesse folgend. Für einen Moment herrschte Schweigen. Michaela sah Oskar an. »Hätten wir gerne«, sagte Oskar leise, »aber es klappt nicht so recht.«
Annika war kein bisschen leise: »Sage ich dir gerne. Weil ich keinen Bock darauf habe, deshalb habe ich keine Kinder. Ich bändige fünf Vormittage pro Woche zwei Dutzend Schwererziehbare, die Hälfte davon mit Klappmessern in der Tasche. (...).«
So erregt hatte ich sie noch nie gesehen. Und das nur wegen eines simplen Artikels im Spiegel.
Warum haben Helene und ich eigentlich keine Kinder? Schon die falsche Frage, ärgerte ich mich, während ich die Treppen zu unserer Wohnung hochstieg. Die Frage impliziert ja, dass man sich fürs Nichtkinderkriegen rechtfertigen muss. Ob das schon der schleichende Einfluss der neuen Bürgerlichkeit war? (S.9ff.)

Im Heft 4/2005 der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, das erst in diesem Herbst erschien, widmet sich der Bevölkerungswissenschaftler Jürgen DORBRITZ der Kinderlosigkeit in Deutschland und Europa. In den Medien spricht DORBRITZ gerne von einer Kultur der Kinderlosigkeit. In diesem Beitrag liest sich dies folgendermaßen:

Kinderlosigkeit in Deutschland und Europa

"Die Gruppe der Frauen und Männer, die kinderlos bleiben möchte, hat generell negativere Einstellungen zu Kinder, Ehe und Familie. Dies betrifft die Bewertung familiendemograpischer Trends ebenso wie die Einstellungen zu Kindern, die zukünftige Bedeutung des Familienlebens und die Erwartungen an die Familienpolitik. Die massiv ausgeprägten Unterschiede lassen die Vermutung zu, dass es sich hier um eine soziale Gruppe handelt, in der sich die Entscheidung gegen Kinder verfestigt hat. (...). Die geringe Befürwortung möglicher familienpolitischer Maßnahmen führt darüber hinaus zu der Annahme, dass diese Gruppe durch die Familienpolitik kaum noch hinsichtlich einer Entscheidung für Kinder erreichbar ist." (S.394f.)

Die soziale Gruppe, die DORBRITZ identifiziert haben will, umfasst 15 % der Bevölkerung. Sie ist also wesentlich kleiner als das behauptete Drittel, das angeblich lebenslang kinderlos bleiben wird. Auch Claus LEGGEWIE meint in seinem Beitrag Eltern - Kinderlose im Sammelband Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft, dass sich mit dem Wertewandel seit den 1960er Jahren eine Kultur der Kinderlosigkeit ausgebreitet hat. Der feministischen Bewegung schreibt er die Entkopplung von Weiblichkeit und Mütterlichkeit zu. Im Gegensatz zu den neuen Reaktionären zieht er daraus jedoch andere Schlüsse:

Eltern - Kinderlose

"Meine These ist, das sich die gewollte Kinderlosigkeit mit beachtlichen sozio-demographischen Auswirkungen verbreitet hat, die in der öffentlichen Debatte anzutreffende Aufregung aber kaum geeignet ist, sich auf irreversible Gegebenheiten einer alternden Gesellschaft einzustellen. Aus dem »nackten« Gegensatz von Eltern und Kinderlosen folgt keine echte Reformperspektive, er unterstützt nur eine »Rhetorik der Reaktion« (...), die »Familienwerte« postuliert, ohne ihre im kapitalistischen Modernisierungsprozess eingebaute Missachtung korrigieren zu wollen. Auch wenn sich ein Gegensatz Eltern/Kinderlose nicht zu einem »Hauptwiderspruch« stilisieren lässt, ist eine rationale Debatte um strukturelle und normative Gründe zunehmender Kinderlosigkeit bedeutsam für das Selbstverständnis postindustrieller Gesellschaften".

Abgesehen davon, dass LEGGEWIE mit keinem Wort auf die politische Konstruktion der Geburtenkrise eingeht und vollkommen unkritisch die - mittlerweile umstrittenen Zahlen zum hohen Anteil der Kinderlosen in Deutschland - wiedergibt, ist ihm zuzustimmen, dass die politische Erregung eher schädlich ist.

Im Buch Die Single-Lüge wird der weit verbreiteten Single-Rhetorik und der daraus resultierenden Anti-Singles-Debatte eine Mitschuld am Geburtenrückgang gegeben. Dass dies keineswegs so abwegig ist, zeigt der Beitrag Die demographischen Lage in Deutschland 2005 von Evelyn GRÜNHEID im aktuellen Heft der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft.

Seit dem Aufstieg der Individualisierungsthese von Ulrich BECK Anfang der 1990er Jahre, sind die Bundestagswahlkämpfe durch eine Anti-Singles-Debatte geprägt. Aus einer Tabelle von GRÜNHEID, die strukturelle und verhaltensbedingte Anteile des Geburtenrückgangs gegenüberstellt, wird deutlich, dass Bundestagswahlkämpfe - vor allem in Westdeutschland - die Gebärneigung negativ beeinflusst haben.

Tabelle 2: Anteil, den die beiden Einflussfaktoren auf die westdeutschen Geburtenzahlen haben
Jahr Altersstruktur Gebärverhalten
1991 1,4 -2,1
1992 1,0 -1,2
1993 0,4 -0,7
1994 -0,6 -3,2
1995 -0,6 -0,7
1996 -1,2 4,3
1997 -1,8 3,1
1998 -2,3 -1,9
1999 -2,1 -0,6
2000 -3,2 2,0
2001 -0,7 -3,8
2002 -1,4 -0,8
2003 -1,6 -0,5
2004 -1,3 0,6
Quelle: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.1/2006, S.37

Einzige Ausnahme war 2002, was kein Wunder ist, wenn man die vorangegangenen Ereignisse bedenkt, die die Wahrnehmung überschattet haben. 2005 dürfte dagegen  wieder ganz im Trend gelegen haben. Angesichts dieser Indizien verwundert es kaum, dass inzwischen mancher Hardliner auf Tauchstation gegangen ist.

Mit einer Kultur der Kinderlosigkeit ist es jedoch nicht weit her. Im Gegensatz zur Schwarz-Weiß-Malerei von DORBRITZ, findet eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik, wie sie inzwischen ganz ohne Tabus genannt wird, selbst unter Kinderlosen hohe Zustimmung. Alle drei Bücher plädieren für eine familienfreundlichere Politik, die für die Eliten eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht.

4) Ausblick

Es fehlt in Deutschland eine ernstzunehmende Auseinandersetzung, die endlich Schluss macht, mit der Scheinkontroverse Singles contra Familien, stellte im letzten Rückblick single-generation.de fest. Obgleich die Familienfundamentalisten seit Mitte des Jahres an Boden verloren haben, kann hier keine Entwarnung gegeben werden. Das ZDF sendet Mitte Januar den dreiteiligen Demografiethriller 2030 - der Aufstand der Alten zur besten Sendezeit. Die Debatte wird also in eine neue Runde gehen.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen."

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 09. Dezember 2006
Update: 14. November 2019