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Kritik

 
       
   

Reinhard Mohr u.a.

 
       
   

Nobel statt Nabel.
In den Zeiten der Krise, des Pisa-Schocks und um sich greifender Verlotterung ist eine neue Bürgerlichkeit gefragt. Das Einhalten von Regeln, das Leben mit althergebrachten Tugenden und Ritualen wird wichtiger
in: Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003

 
       
     
       
   
     
 

Zitate:

Bürgerlichkeit und Klassengesellschaft

Die neue Bürgerlichkeit

"Man müsste das Imperfekt schon tief raunend beschwören, um das Bürgerliche in Deutschland in all seiner Pracht wiederzubeleben. Als politische Einflussgröße hat es sich verflüchtigt - als Selbstverständigungsbegriff für eine klar umrissene soziale Schicht taugt es nicht mehr. Nur in der Lebenskultur hat offenbar eine Vorstellung davon überwintert."
(Thomas E. Schmidt in der ZEIT vom 11.04.2002)

Bürgersinn und Ängstlichkeit

"Man muss ziemlich blind sein, um zu behaupten, die tonangebende Elite der linksliberalen Wählerschaft sei ein hedonistisches Milieu, das keine Verantwortung übernehmen will und statt dessen alles an den Sozialstaat delegiert. Das Problem scheint vielmehr fast umgekehrt darin zu liegen, dass es im neuen Bürgertum an der Bereitschaft und Fähigkeit mangelt, die eigene, gerade nicht hedonistische Lebenspraxis als Modell der gesamten Gesellschaft durchzusetzen.
(...)
Nicht in hedonistischer Versorgungsmentalität (...), sondern in einem spezifischen Überschuss an Moral dürfte der Grund liegen, warum das neue Bürgertum anders als das alte nicht bereit ist, die selbst praktizierte Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftlichen Maßstab durchzusetzen.
Jetzt aber bringt der öffentliche Finanzkollaps diese Schicht in die Situation, dass der Staat (...) sie so sehr schröpfen muss, dass ihre materielle Grundlage bedroht ist. (...). Plötzlich steht sie vor der Aufgabe (...) das eigene Klasseninteresse verteidigen zu müssen."
(Matthias Kamann in der Welt vom 14.11.2002)

Das Bürgertum lebt hier nicht mehr

"Wo dank der überparteilich gewollten Bildungsexplosion der Nachkriegszeit in vielen deutschen Städten über 50 Prozent der Kinder das Gymnasium besuchen, tritt an die Stelle des »Bildungsbürgers« die Neue Mitte der Meritokraten. Gewiss, sie schätzt die Tugenden des Bürgertums. Nostalgisch äfft sie zuweilen deren Formen nach. Aber sie ist wesensmäßig anders. Sie muss das Offene, Pluralistische, ja zuweilen Vulgäre einer klassenlosen kapitalistischen Marktgesellschaft verteidigen, weil sie sonst ihre eigene Herkunft verriete."
(Alan Posener in der Welt vom 28.11.2002)

Dorn am Auge

"Das Spießerglück zu zwein geht mittlerweile zusammen mit Piercing, Tattoos und Ich-hau-dir-in-die-Fresse-Blick
(Dirk Knipphals in der TAZ vom 20.01.2003)

Das Märchen von der Chancengleichheit

"»Wenn es (...) schlecht läuft, dann verdrängt der Nachwuchs aus bürgerlichen Kreisen die Konkurrenz fast vollkommen« Genau das geschieht jetzt. Die Sechziger und Siebziger mit ihren außergewöhnlichen Möglichkeiten für alle Klassen waren eine historische Ausnahmesituation. Die Zeiten sind längst vorbei.
(...).
DIE OBERSCHICHT in Deutschland hat sich so zu einer geschlossenen Gesellschaft entwickelt. Und das beinahe unbemerkt."
(Walter Wüllenweber im Stern vom 17.07.2003)

Jenseits der Spaßgesellschaft - Die Moral der neuen Klassengesellschaft

Was man in der Welt seit Jahr und Tag lesen konnte, das muss man nun auch in der neuen Titelgeschichte des Spiegel lesen: "Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie" werden als die "neuen" Werte gepriesen. Reinhard MOHR & Co. stellen sich als die Sittenwächter einer neo-viktorianischen Gesellschaft vor.

It's hip to be square

"Beliebigkeit einer schnoddrigen Ego-Gesellschaft", "Verlotterung der Sitten", "Versiffung des öffentlichen Raumes", "Lähmung angesichts des allgegenwärtigen Schlendrians" heißt die Diagnose der neuen Reaktionäre, die ihre eigene Jugend verschwendet haben - nicht selten, indem sie den Strand unter dem Pflaster gesucht haben. Als Konvertiten versuchen sie nun den Strand zu pflastern...

Die Mitte und die Formvollendung

Nobel statt Nabel

"Möglich, dass vor allem die akute ökonomische Krise das Erstarken den Bürgerlichkeit fördert, die allmähliche Rückgewinnung von Tugenden (...), überhaupt die Wiederentdeckung der Form - sie war lange verrufen als steife Verhinderung ungezwungener Selbstverwirklichung, aber sie kann eben auch (...) Sicherheit bieten".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

Die Sicherheit, die MOHR & Co. meinen, ist jene, die Individualisierung und damit Orientierungslosigkeit verursacht haben soll. Wer jedoch diesem Schein der Oberfläche nicht traut und eine Tiefenbohrung vornimmt, der findet dahinter die Angst der herrschenden Eliten davor, ihre - in den goldenen Jahren angehäuften Besitzstände - zu verlieren. Die neue Moral dient deshalb in erster Linie der Besitzstandwahrung der herrschenden Eliten, die sich nicht mehr dem Ideal "Wohlstand für alle" verpflichtet sieht, sondern vehement an der Durchsetzung der neuen Klassengesellschaft arbeitet . Alte und Neue Mitte bilden nicht nur im politischen System ein neues Bündnis, sondern auch auf der kulturellen Ebene.

Die Neue Mitte und die Medienhörigkeit

Die Alte Mitte stützte ihre Macht auf den traditionellen, industriellen Sektor, während die Neue Mitte im Zuge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft die (neuen) Medien eroberte. Gerade diese Aufsteigergesellschaft ist durch die gegenwärtige ökonomische Situation existenziell gefährdet . Es wundert deshalb kaum, dass die Akteure nun ihr Heil in einem Verteidigungsbündnis suchen. Wenn Wohlstand für alle nur machbar ist, wenn die herrschende Elite von ihrem Reichtum abgeben müsste, dann ist es einsichtig, dass unsere Elite lieber für den Erhalt ihres eigenen Wohlstands kämpft und damit die Verelendung weiter Teile unserer Gesellschaft billigt. Die Durchsetzung dieser Moral wird nun offensichtlich auch im Spiegel ganz offen betrieben. Da die Medienhörigkeit angeblich Autoritäten wie Lehrer oder intakte Familien (!) entkräftet hat, warum also nicht nunmehr diese MEDIENHÖRIGKEIT nutzen, um diesen Instanzen wieder zur Autorität zu verhelfen?

Totgesagte leben länger: Adel verpflichtet!

Nobel statt Nabel

"Es war schließlich nicht nur der wirtschaftliche Erfolg, der das Bürgertum einst stark und selbstbewußt gemacht hat. Es war auch (...) die disziplinierende Lebensweise der den verderbten Adel ablösenden neuen Klasse. Für diese Lebensweise gibt es einen altmodischen Sammelbegriff: Sittlichkeit".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

Es muss wie die Ironie des Schicksals klingen, wenn heutzutage ausgerechnet der einst verderbte Adel für den neuen Benimm des Neo-Bourgeois sorgt. Allwöchentlich berichtet z.B. Alexander von SCHÖNBURG - bekannt durch seine Tristesse Royale - in der Süddeutschen Zeitung über das stilvolle Verarmen. Dieser Stil entlastet so ganz nebenbei den Sozialstaat und fördert damit den Wohlstand der verbleibenden Machtelite.

Der Feminismus und der Verfall der Haushaltssitten

Nobel statt Nabel

"Kochen, Waschen, Bügeln, Ordnung halten - mit all diesen Verrichtungen sind viele der heute 25- bis 40-jährigen Frauen (von Männern gar nicht zu reden) in ihrem Elternhaus nie vertraut gemacht worden. Haushaltsbelange waren mit der Frauenbewegung abgewertet worden".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

Gegen diese "Erfahrung der Hilflosigkeit im Haushalt" setzen MOHR & Co. die Haushaltsproduktion, die von der Soziologie bereits seit längerem wieder entdeckt wurde. Sollte nach dem Willen der Apologeten der Dienstleistungsgesellschaft die Haushaltsproduktion voll und ganz in den Konsum von Dienstleistungen überführt werden, so erfordert die neue Klassengesellschaft eine differenziertere Sichtweise . Die teuren Dienstleistungen bleiben denjenigen vorbehalten, die nicht zur Mehrheit der Überflüssigen und der im Niedriglohnsektor Beschäftigten gehören werden. Daher macht es Sinn, wenn schon die ganz Kleinen dazu angehalten werden "Erbsen zu pulen mit eher stumpfem Werkzeug Möhren zu schälen und nach dem Essen den eigenen Teller abzutragen".

Die neuen Autoritäten: Wasser predigen und Wein trinken

Die Medien der Neuen Mitte üben sich bereits seit geraumer Zeit im Wasser predigen. Bernd ULRICH gehört in der ZEIT zu ihren eifrigsten Predigern. In Vertreibung aus dem Paradies (03.07.2003) hat er gerade die Vorzüge einer Wende zum Weniger beschrieben. Natürlich ist diese Wende zum Weniger kein Ideal von Verzichtspredigern, sondern wird von Sachzwängen diktiert. Leider verschweigt ULRICH, dass die Wende zum Weniger eine Angelegenheit der Nicht-Eliten sein soll. Denn damit sich bei den Eliten nichts ändern muss, muss sich bei den anderen alles ändern ! In derselben ZEIT hat Susanne MESSMER den Sound der Rezession entdeckt:

Sound der Rezession

"Das große Versprechen der Popmusik, alles sei möglich, ist längst zu billigen Werbeslogans und übermächtigem Leistungsdruck eingedampft, neue Utopien sind nicht in Sicht. bleibt nur, sich einen Weile an die alten zu halten. Weniger ist mehr".
(Die Zeit 03.07.2003)

Dieser Sound ist nicht nur einer der Rezession, sondern im Sinne der neuen Reaktionäre vielmehr der Sound einer neuen Klassengesellschaft. Es ist der Sound einer geschlossenen Gesellschaft. Bei MOHR & Co. sollen Schuluniformen die zunehmende ökonomische Ungleichheit unsichtbar machen. Dies hat sich in den traditionell ungleicheren angelsächsischen Ländern nicht bewährt. Die Gewalt an den Schulen dieser Länder ist dadurch nicht geringer geworden.

Habitus statt Leistung

Nobel statt Nabel

"Eine der fatalen Folgen von '68: Die sittliche Benotung eines Menschen verschwand fast völlig aus den Schulzeugnissen".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

MOHR & Co. rechnen die Sittlichkeit zur Sozialkompetenz, die nun wieder höher als Kenntnisse, d.h. Leistung, gewertet werden soll. Gegen Sozialkompetenz ließe sich nichts einwenden, aber was die Autoren wirklich meinen, das hat der französische Soziologe Pierre BOURDIEU treffender mit dem Begriff Habitus beschrieben. Dieser Begriff verweist in erster Linie auf die Herkunft, d.h. auf Elternhaus und Milieu. Dort erlernt das Kind jene Umgangsformen, die Voraussetzungen für die Teilhabe an den Positionen einer Gesellschaft sind. Der Soziologe Michael HARTMANN hat anhand einer empirischen Studie über den Mythos der Leistungselite nachgewiesen, dass der Habitus in unserer angeblichen Leistungsgesellschaft bereits in den "goldenen Zeiten" vor dem New Economy-Crash mehr zählte als MOHR & Co. wahrhaben wollen. In Krisenzeiten kommt dem Habitus eine noch größere Bedeutung zu. Wenn MOHR & Co. die Sekundärtugenden wieder derart in den Vordergrund rücken, dann sind damit jene Tugenden gemeint, die vor allem im Niedriglohnsektor gebraucht werden. Der Soziologe Alphons SILBERMANN hat in seinem Buch Die Kunst der Arschkriecherei jene Fertigkeiten beschrieben, die in einer Habitusgesellschaft für das Überleben notwendig sind.

Die Rückkehr der Rituale: Rettung für die Familie

Nobel statt Nabel

"Kindliche Lebenswelten werden wieder mit »Jüngferlein« und »Müllermeistern«, mit »Wandersleut'« und »Königskindern« bevölkert - Tagesmütter und Kindergärtnerinnen schwören auf Volksweisen, uralte Reime und Fingerspiele".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

Wenn unsere Kinder also wieder mit den archaischen Bildern der vormodernen Gesellschaft aufwachsen, dann soll damit auch Institutionen wie Ehe und Familie gestützt werden, deren Unverwüstlichkeit keineswegs wundersam ist. Da weder die Anzahl der Trauungen, noch die Scheidungszahlen die Thesen der Autoren stützen, muss die Ritualisierung der Hochzeiten als Beweis herhalten. Der "Wille zur Form" und nicht die Familie als letzte Bastion gegen den Neoliberalismus soll bei MOHR & Co. die Ausweitung der Kampfzone (HOUELLEBECQ) beenden. Zu Ende gedacht, wäre es dann auch wieder an der Zeit nicht nur für Schuluniformen zu plädieren, sondern auch für familienstandstypische Kleidung. Singles wären dann endlich anhand der Kleidung eindeutig identifizierbar, was die Paarung erleichtern würde. So weit gehen die Autoren noch nicht. Immerhin kennen sie sogar den Unterschied zwischen Alleinlebenden und Partnerlosen.

Die Spaßgesellschaft der Elite

Was ist von einer Restauration zu halten, bei der sich neue Reaktionäre, die im kulturellen Schatten der APO aufwuchsen und auf alle Konventionen pfiffen, nun die Pose des Sittenwächters einnehmen? Die Antwort geben die Autoren selber, wenn sie die Moral in jenem Zeitalter beschreiben, in dem "der politische Optimismus der Gründerzeit mehr und mehr zerbröckelte". Angesichts des vielstimmigen Chors des Die-Lage-ist-viel-schlimmer-als-die-Simmung kann man kaum anders als vom Ende des politischen Optimismus sprechen. In solchen Zeiten blüht jedoch die bürgerliche Doppelmoral, für die Max SCHELER steht,

Nobel statt Nabel

"der 1913 einen Essay »Zur Rehabilitation der Tugend« schrieb, aber selbst ein so schwungvolles Leben führte, dass er zur Entschuldigung erklären musste, ein Wegweiser brauche doch wohl nicht selber zu gehen, wohin er zeige".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003)

Und die Moral von der Geschicht': Die Spaßgesellschaft ist nur für jene da, die Orientierung geben, statt an Orientierungslosigkeit zu leiden. Wer jetzt noch orientierungslos ist, der ist also selber schuld.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dieses Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik. In einer funktional-differenzierten Gesellschaft sollten Kinderlose genauso selbstverständlich sein wie Kinderreiche. Warum sollten sich unterschiedliche Lebensformen, mit ihren jeweils spezifischen Potenzialen nicht sinnvoll ergänzen können? Solange jedoch in Singles nur eine Bedrohung und nicht auch eine Chance gesehen wird, leben wir in einer blockierten Gesellschaft, in der wichtige Energien gebunden sind, die bei den anstehenden Herausforderungen fehlen werden."
(2006, S.254)

 
     
 
   

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© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 21. Juli 2003
Stand: 03. Februar 2019