Zitate:
Bürgerlichkeit
und Klassengesellschaft
Die neue Bürgerlichkeit
"Man müsste das
Imperfekt schon tief raunend beschwören, um das Bürgerliche in
Deutschland in all seiner Pracht wiederzubeleben.
Als politische
Einflussgröße hat es sich verflüchtigt - als
Selbstverständigungsbegriff für eine klar umrissene soziale
Schicht taugt es nicht mehr. Nur in der Lebenskultur hat
offenbar eine Vorstellung davon überwintert."
(Thomas E. Schmidt in der ZEIT vom 11.04.2002)
Bürgersinn und Ängstlichkeit
"Man muss ziemlich
blind sein, um zu behaupten, die tonangebende Elite der
linksliberalen Wählerschaft sei ein hedonistisches Milieu, das
keine Verantwortung übernehmen will und statt dessen alles an
den Sozialstaat delegiert. Das Problem scheint vielmehr fast
umgekehrt darin zu liegen, dass es im
neuen Bürgertum an der
Bereitschaft und Fähigkeit mangelt, die eigene, gerade nicht
hedonistische Lebenspraxis als Modell der gesamten Gesellschaft
durchzusetzen.
(...)
Nicht in hedonistischer Versorgungsmentalität (...), sondern in
einem spezifischen Überschuss an Moral dürfte der Grund liegen,
warum das neue Bürgertum anders als das alte nicht bereit ist,
die selbst praktizierte Eigenverantwortlichkeit als
gesellschaftlichen Maßstab durchzusetzen.
Jetzt aber bringt der öffentliche Finanzkollaps diese Schicht in
die Situation, dass der Staat (...) sie so sehr schröpfen muss,
dass ihre materielle Grundlage bedroht ist. (...). Plötzlich
steht sie vor der Aufgabe (...) das eigene Klasseninteresse
verteidigen zu müssen."
(Matthias Kamann in der Welt vom 14.11.2002)
Das Bürgertum lebt hier nicht mehr
"Wo dank der
überparteilich gewollten Bildungsexplosion der Nachkriegszeit in
vielen deutschen Städten über 50 Prozent der Kinder das
Gymnasium besuchen, tritt an die Stelle des »Bildungsbürgers«
die Neue Mitte der Meritokraten. Gewiss, sie schätzt die
Tugenden des Bürgertums. Nostalgisch äfft sie zuweilen deren
Formen nach. Aber sie ist wesensmäßig anders. Sie muss das
Offene, Pluralistische, ja zuweilen Vulgäre einer klassenlosen
kapitalistischen Marktgesellschaft verteidigen, weil sie sonst
ihre eigene Herkunft verriete."
(Alan Posener in der Welt vom 28.11.2002)
Dorn am Auge
"Das Spießerglück zu zwein
geht mittlerweile zusammen mit Piercing, Tattoos und
Ich-hau-dir-in-die-Fresse-Blick
(Dirk Knipphals in der TAZ vom 20.01.2003)
Das Märchen von der
Chancengleichheit
"»Wenn es (...) schlecht
läuft, dann verdrängt der Nachwuchs aus bürgerlichen Kreisen die
Konkurrenz fast vollkommen« Genau das geschieht jetzt.
Die
Sechziger und Siebziger mit ihren außergewöhnlichen
Möglichkeiten für alle Klassen waren eine historische
Ausnahmesituation. Die Zeiten sind längst vorbei.
(...).
DIE OBERSCHICHT in Deutschland hat sich so zu einer
geschlossenen Gesellschaft entwickelt. Und das beinahe
unbemerkt."
(Walter Wüllenweber im Stern vom 17.07.2003)
|
Jenseits der Spaßgesellschaft
- Die Moral der neuen Klassengesellschaft
Was man in der Welt seit Jahr und Tag
lesen konnte, das muss man nun auch in der neuen Titelgeschichte
des Spiegel lesen: "Ordnung, Höflichkeit, Disziplin, Familie"
werden als die "neuen" Werte gepriesen.
Reinhard MOHR & Co. stellen sich als die
Sittenwächter einer neo-viktorianischen Gesellschaft vor.
It's
hip to be square
"Beliebigkeit einer schnoddrigen
Ego-Gesellschaft", "Verlotterung der Sitten", "Versiffung des
öffentlichen Raumes", "Lähmung angesichts des allgegenwärtigen
Schlendrians" heißt die Diagnose der neuen Reaktionäre,
die ihre eigene Jugend verschwendet haben - nicht selten, indem
sie den Strand unter dem Pflaster gesucht haben. Als Konvertiten
versuchen sie nun den Strand zu pflastern...
Die
Mitte und die Formvollendung
Nobel statt
Nabel
"Möglich,
dass vor allem die akute ökonomische Krise das Erstarken
den Bürgerlichkeit fördert, die allmähliche Rückgewinnung
von Tugenden (...), überhaupt die Wiederentdeckung der
Form - sie war lange verrufen als steife Verhinderung
ungezwungener Selbstverwirklichung, aber sie kann eben
auch (...) Sicherheit bieten".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
Die Sicherheit, die MOHR & Co. meinen,
ist jene, die Individualisierung und damit
Orientierungslosigkeit verursacht haben soll.
Wer jedoch diesem Schein der Oberfläche nicht
traut und eine Tiefenbohrung vornimmt, der findet dahinter die Angst der herrschenden Eliten davor, ihre - in den
goldenen Jahren angehäuften Besitzstände - zu verlieren.
Die neue Moral dient deshalb in erster Linie der Besitzstandwahrung der herrschenden Eliten, die sich
nicht mehr dem Ideal "Wohlstand für alle" verpflichtet sieht,
sondern vehement an der Durchsetzung der neuen
Klassengesellschaft arbeitet
. Alte und Neue Mitte bilden nicht nur im
politischen System ein neues Bündnis, sondern auch auf der
kulturellen Ebene.
Die
Neue Mitte und die Medienhörigkeit
Die Alte Mitte stützte ihre Macht auf
den traditionellen, industriellen Sektor, während die Neue Mitte
im Zuge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft die
(neuen) Medien eroberte.
Gerade diese Aufsteigergesellschaft ist
durch die gegenwärtige ökonomische Situation existenziell
gefährdet
. Es wundert deshalb kaum, dass die Akteure nun ihr
Heil in einem Verteidigungsbündnis suchen. Wenn Wohlstand für alle nur machbar ist, wenn
die herrschende Elite von ihrem Reichtum abgeben müsste, dann
ist es einsichtig, dass unsere Elite lieber für den
Erhalt ihres eigenen Wohlstands kämpft und damit die Verelendung
weiter Teile unserer Gesellschaft billigt.
Die Durchsetzung dieser Moral wird nun
offensichtlich auch im Spiegel ganz offen betrieben.
Da die Medienhörigkeit angeblich Autoritäten wie
Lehrer oder intakte Familien (!) entkräftet hat, warum also
nicht nunmehr diese MEDIENHÖRIGKEIT nutzen, um diesen Instanzen
wieder zur Autorität zu verhelfen?
Totgesagte leben länger: Adel verpflichtet!
Nobel statt
Nabel
"Es war schließlich nicht nur der
wirtschaftliche Erfolg, der das Bürgertum einst stark und
selbstbewußt gemacht hat. Es war auch (...) die disziplinierende
Lebensweise der den verderbten Adel ablösenden neuen Klasse. Für
diese Lebensweise gibt es einen altmodischen Sammelbegriff:
Sittlichkeit".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
Es muss wie die Ironie des Schicksals
klingen, wenn heutzutage ausgerechnet der einst verderbte Adel
für den neuen Benimm des Neo-Bourgeois sorgt. Allwöchentlich berichtet z.B. Alexander von
SCHÖNBURG - bekannt durch seine Tristesse Royale - in der
Süddeutschen Zeitung über das stilvolle Verarmen.
Dieser Stil entlastet so ganz nebenbei den Sozialstaat und
fördert damit den Wohlstand der verbleibenden Machtelite.
Der Feminismus und der Verfall der Haushaltssitten
Nobel statt
Nabel
"Kochen, Waschen, Bügeln, Ordnung
halten - mit all diesen Verrichtungen sind viele der heute 25-
bis 40-jährigen Frauen (von Männern gar nicht zu reden) in ihrem
Elternhaus nie vertraut gemacht worden. Haushaltsbelange waren
mit der Frauenbewegung abgewertet worden".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
Gegen diese "Erfahrung der
Hilflosigkeit im Haushalt" setzen MOHR & Co. die
Haushaltsproduktion, die von der Soziologie bereits seit
längerem wieder entdeckt wurde.
Sollte nach dem Willen der Apologeten der
Dienstleistungsgesellschaft die Haushaltsproduktion voll und
ganz in den Konsum von Dienstleistungen überführt werden, so
erfordert die neue Klassengesellschaft eine
differenziertere Sichtweise
.
Die teuren Dienstleistungen bleiben denjenigen
vorbehalten, die nicht zur Mehrheit der Überflüssigen
und der im Niedriglohnsektor Beschäftigten gehören
werden.
Daher macht es Sinn, wenn schon die ganz Kleinen
dazu angehalten werden "Erbsen zu pulen mit eher stumpfem
Werkzeug Möhren zu schälen und nach dem Essen den eigenen Teller
abzutragen".
Die neuen Autoritäten:
Wasser predigen und Wein trinken
Die Medien der Neuen Mitte üben sich
bereits seit geraumer Zeit im Wasser predigen.
Bernd ULRICH gehört in der ZEIT zu ihren
eifrigsten Predigern. In Vertreibung aus dem Paradies
(03.07.2003) hat er gerade die Vorzüge einer Wende zum
Weniger beschrieben.
Natürlich ist diese Wende zum Weniger kein Ideal von
Verzichtspredigern, sondern wird von Sachzwängen diktiert.
Leider verschweigt ULRICH, dass die Wende zum
Weniger eine Angelegenheit der Nicht-Eliten sein soll. Denn
damit sich bei den Eliten nichts ändern muss, muss sich bei den
anderen alles ändern
!
In derselben ZEIT hat Susanne MESSMER den Sound der
Rezession entdeckt:
Sound der
Rezession
"Das große Versprechen der Popmusik,
alles sei möglich, ist längst zu billigen Werbeslogans und
übermächtigem Leistungsdruck eingedampft, neue Utopien sind
nicht in Sicht. bleibt nur, sich einen Weile an die alten zu
halten. Weniger ist mehr".
(Die Zeit 03.07.2003) |
Dieser Sound ist nicht nur einer der
Rezession, sondern im Sinne der neuen Reaktionäre vielmehr der Sound einer neuen Klassengesellschaft. Es ist der Sound
einer geschlossenen Gesellschaft.
Bei MOHR & Co. sollen Schuluniformen die
zunehmende ökonomische Ungleichheit unsichtbar machen. Dies
hat sich in den traditionell ungleicheren angelsächsischen
Ländern nicht bewährt. Die Gewalt an den Schulen dieser Länder
ist dadurch nicht geringer geworden.
Habitus statt Leistung
Nobel statt
Nabel
"Eine der fatalen Folgen von '68: Die
sittliche Benotung eines Menschen verschwand fast völlig aus den
Schulzeugnissen".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
MOHR & Co. rechnen die Sittlichkeit zur
Sozialkompetenz, die nun wieder höher als Kenntnisse, d.h.
Leistung, gewertet werden soll.
Gegen Sozialkompetenz ließe sich nichts
einwenden, aber was die Autoren wirklich meinen, das hat der
französische Soziologe Pierre BOURDIEU treffender mit dem
Begriff Habitus beschrieben. Dieser Begriff verweist
in erster Linie auf die Herkunft, d.h. auf Elternhaus und
Milieu. Dort erlernt das Kind jene Umgangsformen, die
Voraussetzungen für die Teilhabe an den Positionen einer
Gesellschaft sind.
Der Soziologe Michael HARTMANN hat anhand einer
empirischen Studie über den Mythos der Leistungselite
nachgewiesen, dass der Habitus in unserer angeblichen
Leistungsgesellschaft bereits in den "goldenen Zeiten" vor dem
New Economy-Crash mehr zählte als MOHR & Co. wahrhaben wollen.
In Krisenzeiten kommt dem Habitus eine noch
größere Bedeutung zu. Wenn MOHR & Co. die Sekundärtugenden
wieder derart in den Vordergrund rücken, dann sind damit jene
Tugenden gemeint, die vor allem im Niedriglohnsektor gebraucht
werden. Der Soziologe Alphons SILBERMANN hat in
seinem Buch Die Kunst der Arschkriecherei jene
Fertigkeiten beschrieben, die in einer Habitusgesellschaft
für das Überleben notwendig sind.
Die
Rückkehr der Rituale: Rettung für die Familie
Nobel statt
Nabel
"Kindliche Lebenswelten werden wieder
mit »Jüngferlein« und »Müllermeistern«, mit »Wandersleut'« und
»Königskindern« bevölkert - Tagesmütter und Kindergärtnerinnen
schwören auf Volksweisen, uralte Reime und Fingerspiele".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
Wenn unsere Kinder also wieder mit den
archaischen Bildern der vormodernen Gesellschaft aufwachsen,
dann soll damit auch Institutionen wie Ehe und Familie
gestützt werden, deren Unverwüstlichkeit keineswegs wundersam
ist. Da weder die Anzahl der Trauungen, noch die
Scheidungszahlen die Thesen der Autoren stützen, muss die
Ritualisierung der Hochzeiten als Beweis herhalten.
Der "Wille zur Form" und nicht die Familie als
letzte Bastion gegen den Neoliberalismus soll bei MOHR & Co. die
Ausweitung der Kampfzone (HOUELLEBECQ) beenden.
Zu Ende gedacht, wäre es dann auch wieder an der
Zeit nicht nur für Schuluniformen zu plädieren, sondern auch für
familienstandstypische Kleidung. Singles wären dann endlich
anhand der Kleidung eindeutig identifizierbar, was die Paarung
erleichtern würde. So weit gehen die Autoren noch nicht.
Immerhin kennen sie sogar den Unterschied zwischen
Alleinlebenden und Partnerlosen.
Die
Spaßgesellschaft der Elite
Was ist von einer Restauration zu
halten, bei der sich neue Reaktionäre, die im
kulturellen Schatten der APO aufwuchsen und auf alle
Konventionen pfiffen, nun die Pose des Sittenwächters
einnehmen?
Die Antwort geben die Autoren selber, wenn sie
die Moral in jenem Zeitalter beschreiben, in dem "der politische
Optimismus der Gründerzeit mehr und mehr zerbröckelte".
Angesichts des vielstimmigen Chors des
Die-Lage-ist-viel-schlimmer-als-die-Simmung kann man kaum anders
als vom Ende des politischen Optimismus sprechen.
In solchen Zeiten blüht jedoch die
bürgerliche Doppelmoral, für die Max SCHELER steht,
Nobel statt
Nabel
"der 1913 einen Essay »Zur
Rehabilitation der Tugend« schrieb, aber selbst ein so
schwungvolles Leben führte, dass er zur Entschuldigung erklären
musste, ein Wegweiser brauche doch wohl nicht selber zu gehen,
wohin er zeige".
(Spiegel Nr. 28 vom 07.07.2003) |
Und die Moral von der Geschicht': Die
Spaßgesellschaft ist nur für jene da, die Orientierung geben,
statt an Orientierungslosigkeit zu leiden.
Wer jetzt noch orientierungslos ist, der ist
also selber schuld.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dieses
Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. In einer funktional-differenzierten
Gesellschaft sollten Kinderlose genauso selbstverständlich
sein wie Kinderreiche. Warum sollten sich unterschiedliche
Lebensformen, mit ihren jeweils spezifischen Potenzialen
nicht sinnvoll ergänzen können? Solange jedoch in Singles
nur eine Bedrohung und nicht auch eine Chance gesehen
wird, leben wir in einer blockierten Gesellschaft, in der
wichtige Energien gebunden sind, die bei den anstehenden
Herausforderungen fehlen werden."
(2006, S.254) |