Einführung
Das Thema Menschen ohne
Beziehungserfahrung könnte man von ganz unterschiedlichen
Perspektiven beleuchten. In unserer paar- und
familienorientierten Gesellschaft gelten die
Eltern-Kind-Beziehung und die Partnerschaft jedoch als jene
Beziehungsformen, die jeder Mensch erfahren haben sollte.
Darüber können auch
nicht poplinke Thesen vom Mainstream der Minderheiten oder
neubürgerliche Pamphlete wie Otto Normalabweicher
hinwegtäuschen. Im mittleren Lebensalter lebt die überwiegende
Mehrheit der deutschen Bevölkerung in einer Partnerschaft bzw.
Familie. Klischees wie jene von der
Single-Gesellschaft oder von
den swinging Singles gehen deshalb an der Lebenswirklichkeit von
Alleinlebenden und Partnerlosen vorbei.
Die Single-Lüge
führt zudem dazu, dass Menschen, die unfreiwillig partnerlos
bzw. kinderlos sind, sich mit ihren Problemen in dieser
Gesellschaft nicht ernst genommen fühlen können. Menschen ohne
Beziehungserfahrung, die mit ihrer Situation unzufrieden sind,
werden im schlimmsten Fall zusätzlich diskriminiert. Sie ernten
Spott (selber schuld!) oder erregen im besten Fall Mitleid, was
auch nicht weiterführend ist. Der Umgang mit ihnen wird außerdem
dadurch erschwert, dass sie sich ihrer "Anormalität" (meist)
zwar bewusst sind, aber Schamgefühle und Schüchternheit eine
aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Situation erschweren.
Das Aufkommen des
Internets hat die Möglichkeiten solcher Menschen ohne Beziehungserfahrung insofern verbessert, da durch spezielle
Foren ein Austausch mit anderen Betroffenen erleichtert wurde
und Single-Börsen auch die Hemmschwelle für Schüchterne senken
können.
Die beiden Autoren,
deren Bücher hier vorgestellt werden, haben solche
Forenteilnehmer interviewt. Es handelt sich hier um Menschen,
die sich mit ihren Problemen intensiv auseinandergesetzt und
mehr oder weniger komplexe Alltagstheorien über die Ursachen
ihrer Situation und mögliche Lösungen entwickelt haben.
Forschungsdefizite und Probleme der
Zugangsweisen zum Thema
Die erziehungswissenschaftliche
Studie von Olaf WICKENHÖFER über unfreiwillige Singles versteht
sich als Pionierarbeit zu Menschen ohne Beziehungserfahrung. Es
kann deshalb nicht um repräsentative Ergebnisse zu dieser
Problemgruppe gehen, sondern nur um eine Sondierung des Feldes.
Arne HOFFMANN hat
mit seinem Sachbuch Unberührt die Problematik
journalistisch aufbereitet. Bei ihm kommen sowohl die Menschen
mit ihren Selbsteinschätzungen und Überzeugungen zu Wort als
auch Experten wie WICKENHÖFER. Und nicht zuletzt gibt HOFFMANN
Denkanstösse und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Die beiden
Bücher decken damit prinzipiell die ganze Bandbreite des Themas
ab.
Nichtsdestotrotz
soll hier auch gezeigt werden, dass bereits der spezielle Zugang
zum Thema die Problemlage der Menschen ohne Beziehungserfahrung mitkonstruiert.
Gehen wir von der
poplinken Position eines Mainstreams der Minderheiten
aus, dann ständen den Menschen ohne Beziehungserfahrung
verschiedene Lebensstile offen, die prinzipiell gleichwertig
nebeneinander stehen. In einer pluralistischen Gesellschaft wäre
die heterosexuelle Paarbeziehung nur eine von vielen möglichen
Lebensstilen. WICKENHÖFER zieht
jedoch mögliche Übergänge z.B. zur Homosexualität
oder zur lesbischen Liebe nicht in seine Überlegungen mit ein.
Stattdessen wird die radikale Frauenbewegung für die
Probleme von Menschen ohne Beziehungserfahrung entweder explizit
wie bei HOFFMANN oder implizit wie bei WICKENHÖFER
mitverantwortlich gemacht. Bei WICKENHÖFER
könnte diese Aussparung als Ergebnis der Selbstdeutungen der
Befragten interpretiert werden, aber auch auf der theoretischen
Ebene kommen gleichgeschlechtliche Partnerschaften erst
gar nicht in den Blick. In der neueren
soziologischen Forschung werden dagegen gleichgeschlechtliche
Partnerschaften miteinbezogen. Hier wäre vor allem das Buch
Nichtkonventionelle Lebensformen von SCHNEIDER/ROSENKRANZ/LIMMER
zu nennen.
WICKENHÖFER hat 21
E-Mail-Interviews mit 18 Männern und 3 Frauen durchgeführt. 20
Befragte entsprechen der Fragestellung der Studie, weil sie ihre
Situation als unfreiwillig einschätzen. Aus dem Rahmen fällt
jedoch Holger:
Unfreiwillig Single
"Holger
bezeichnet sich im Gegensatz zu allen anderen als
»freiwillig Beziehungsloser«, der zwar noch nie eine
intime Beziehung zum anderen Geschlecht hatte, aber unter
diesem Zustand nach eigener Aussage auch nicht leidet.
(...). Eventuell zeigt sich in seinem (...) Verhalten
(...) ein Potential zur aktiven Problemlösung, welches ihn
von anderen in ähnlicher Lage unterscheidet und es ihm
(...) ermöglicht, sich als aktiv Handelnden zu betrachten,
der Situationen nicht hilflos erleiden muss, sondern sie
durchaus auch selbst verändern kann."
(2004, S.39) |
Während neuerdings
Asexualität als eigenständiges Phänomen behandelt wird, das
quasi als normaler "sexueller" Lebensstil gilt, versucht
WICKENHÖFER Holger ins Konzept von Menschen ohne
(gegengeschlechtliche) Beziehungserfahrungen zu integrieren,
obwohl gerade die Unfreiwilligkeit dieses Zustandes
Kernbestandteil der Problemgruppe ist. Ob ein Lebensstil
einer Person in die Problemgruppe fällt oder nicht, das hängt
also auch mit der Zugangsweise zum Thema ab. Dieser
Aspekt soll hier jedoch nicht weiterverfolgt werden. Es sollte
jedoch klar geworden sein, dass Menschen ohne
Beziehungserfahrung durchaus auch anders in den Blick geraten
könnten. Die Konzentration auf Menschen ohne
gegengeschlechtliche Beziehungserfahrung ist bereits eine
Perspektivenverengung, die zum einen einem speziellen
Gesellschaftsbild und zum anderen der Reduktion auf ein
spezielles Rollenbild von Mann und Frau geschuldet ist.
Es kann also
zusammengefasst werden: Wenn hier im Weiteren von Menschen ohne
Beziehungserfahrung gesprochen wird, dann bezieht sich der
Aspekt der Freiwilligkeit einzig und allein auf
gegengeschlechtliche Partnerschaften. Allen Befragten geht es um
das Eingehen einer heterosexuellen Partnerbeziehung. Homosexualität oder lesbische
Liebesbeziehungen stellen für diese Menschen keine Option dar
(Im Buch von HOFFMANN kommt dagegen auch eine Absolute
Beginnerin mit lesbischer Beziehungserfahrung zur Sprache).
Außer für Holger ist auch ein asexuelles Leben keine zufrieden
stellende Alternative.
Eine weitere
Einschränkung ergibt sich daraus, dass Promiskuität keine
Option darstellt. Ziel ist eine dauerhafte, feste
Partnerschaft. Sexuelle Kontakte, die außerhalb von festen
Beziehungen stattfinden, werden ebenfalls abgelehnt. Die
Vorstellungen entsprechen in diesem Sinne dem klassischen
Partnerschaftsverständnis. Alle anderen Modelle gelten in dieser
Sicht sozusagen als abweichende Verhaltensweisen.
Wir haben es damit
mit einer Gegenposition zum Mainstream der Minderheiten
zu tun. Die Gesellschaft wird nicht als pluralistisch gedacht,
sondern als Mehrheitsgesellschaft, die die Normen aller
Lebensstile prägt. Die Existenz von Lebensstilen, die friedlich
nebeneinander existieren können, wird damit negiert. Wenn man
diese Vorannahmen akzeptiert, dann können die theoretischen Überlegungen und
Ausführungen von WICKENHÖFER ohne Weiteres
nachvollzogen werden. Die spezielle
Konstruktion der Problemgruppe tangiert aber auch die Frage, wie
viele Menschen ohne Beziehungserfahrung es überhaupt in
Deutschland gibt.
Wie viele Menschen ohne Beziehungserfahrung
gibt es im mittleren Lebensalter?
Die
Individualisierungsthese des Soziologen Ulrich BECK legt nahe,
den Blick bei dieser Frage auf die steigende Zahl der
Einpersonenhaushalte zu richten. Der rapide Anstieg dieser
Single-Haushalte würde auf die Zunahme der Partnerlosigkeit in
Deutschland hindeuten.
Auch WICKENHÖFER
nimmt hier seinen Ausgangspunkt. Seine Zahlenangaben spiegeln
jedoch den Erkenntnisstand Mitte der 1990er Jahre wider, der
insbesondere der Lektüre des Buches Sind Singles anders?
von Beate KÜPPER geschuldet ist:
Sind Singles anders?
"Alles
in allem schwankt die Zahl der geschätzten Singles von ca.
3 % bis 30 % je nach gewählter Definition und Bezugsgröße.
Genaueres kann leider aufgrund fehlender Datengrundlage zu
diesem Zeitpunkt nicht über die Häufigkeit von Singles im
hier definierten Sinne als Partnerlose im mittleren
Erwachsenenalter gesagt werden. Zu vermuten ist auf jeden
Fall, daß die Angaben der amtlichen Statistik über
Alleinstehende und Alleinwohnende die Zahl der
partnerlosen Singles überschätzt."
(2002, S.27f). |
Kürzlich hat das
Statistische Bundesamt die Haushaltszahlen für das Jahr 2005
veröffentlicht. Daraus
ergibt sich die folgende Verteilung der 25- bis 45jährigen
Männer und Frauen auf Ein- und Mehrpersonenhaushalte:
Die im Januar 2005
veröffentlichte Parship-Single-Studie ermittelte einen Anteil
von ca. 2,1 Millionen Partnerlosen bei den 31- bis 40Jährigen.
Dies entspräche einem Anteil von ca. 20 % dieser Altersgruppe. Neben
Alleinlebenden gehören dazu jedoch auch partnerlose
Alleinerziehende und partnerlose Nesthocker sowie Partnerlose,
die in Wohngemeinschaften oder Mehrgenerationenhaushalten leben
. Zu diesen
Partnerlosen gehören jedoch nicht nur Menschen ohne Beziehungserfahrung, sondern vor allem Menschen zwischen zwei
Beziehungen. Hier ergibt sich dann die Frage, wann wird von
einer "festen" Beziehung gesprochen? Darf jemand bereits ein
oder gar mehrmals sexuelle Erfahrungen gemacht haben? WICKENHÖFER umreißt
seinen Personenkreis folgendermaßen:
Unfreiwillig Single
"Die
21 interviewten Teilnehmer unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer Beziehungsbiografie. Während einige noch keinerlei
intime Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht
hatten, gab es andere, die bereits Beziehungen hatten oder
sich sogar aktuelle in einer befanden; allen gemeinsam war
jedoch, dass sie über lange Zeit hinweg unfreiwillig ohne
Partner lebten und damit in die Personengruppe fielen,
deren Sozialisationsgeschichte und kulturelle
Alltagspraxis erforscht werden sollte."
(2004, S.31) |
Leider sind dem Buch von
WICKENHÖFER nicht einmal die grundlegendsten Daten der Befragten
zu entnehmen. Zitiert werden lediglich 19 von 21 Befragten. Das
Alter einer der drei befragten Frauen ist einmal mit 21 und ein
anders Mal mit 28 Jahren angegeben. Nimmt man Letzteres an, dann
wäre die jüngste Befragte 22 Jahre alt und der älteste Befragte
38 Jahre. Für 3 Personen fehlen jedoch jegliche Altersangaben
und für 4 Personen fehlen Angaben zum beruflichen Status.
Acht der zitierten
Befragten sind älter als 30 Jahre. Selbst im Personenkreis der
Befragten sind also 30Jährige ohne jegliche sexuellen
Erfahrungen oder Beziehungserfahrungen eine Minderheit.
Arne HOFFMANN nennt
in seinem Vorwort verschiedene Studien, die gewisse Anhaltspunkt
für die Verbreitung von Menschen ohne Beziehungserfahrung
bieten:
Unberührt
"Der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolgen
umfasst die Gruppe der »Jungfrauen über 18« etwa ein
Drittel dieser Altersgruppe. Manche gehören dazu bis ins
vierte oder fünfte Lebensjahrzehnt ihres Lebens.
Statistisch führen sie weitgehend noch ein Schattendasein,
da sie bei Umfragen schwer zu erfassen sind. Immerhin aber
ergab eine Studie, die Infratest Dimap im Auftrag des
Magazins »ZeitWissen« durchführte, dass fast zehn Prozent
aller 30-jährigen Männer noch nie Sex hatten. Das
Gewis-Institut befragte für die Zeitschrift »Laura«
gleichzeitig über tausend Frauen zwischen 16 und 60 Jahren
und kam dabei auf eine Rate von fünf Prozent, die
ebenfalls noch nie Sex hatten. Auch eine Studie des
Leipziger Sexualforschers Kurt Starke ermittelte bei rund
zehn Prozent aller männlichen Hochschulabsolventen aus dem
Westen fehlende Erfahrungen in Sachen Geschlechtsverkehr
bis zum 29. Lebensjahr."
(2006, S.8) |
Obwohl die sexuelle
Revolution bereits 40 Jahre zurück liegt, scheinen die
Errungenschaften noch nicht bei allen angekommen zu sein. Oder
ist gerade die sexuelle Revolution das Problem? Vielleicht ist
hier ein Blick auf die Medienberichterstattung hilfreich.
Menschen ohne Beziehungserfahrung in der
Öffentlichkeit
1998 eröffnete das
Internet-Forum Absolute Beginner, deren Zielgruppe
folgendermaßen beschrieben wurde:
Unfreiwillig Single
"Absolute
Beginners - kurz ABs - bezeichnet Menschen, die noch keine
Erfahrungen mit Beziehungen gesammelt haben, obwohl sie
mittlerweile in einem Alter sind, indem die meisten
anderen derartige Erfahrungen gemacht haben - also etwa ab
20 Jahren aufwärts. Diesen wird hier eine Online-Plattform
geboten."
(2004, S.10) |
Im gleichen Jahr erschien
in Frankreich der Skandalroman Elementarteilchen von
Michel HOUELLEBECQ, der ein Jahr später, fast gleichzeitig mit
dem Debüt
Ausweitung der Kampfzone in Deutschland
erschien.
In beiden Romanen
wurde die unfreiwillige Partnerlosigkeit thematisiert. Für die
zunehmende Ungerechtigkeit im sexuellen Bereich wurde zum einen
die sexuelle Liberalisierung und zum anderen der Feminismus
verantwortlich gemacht:
Ausweitung der Kampfzone
"In
einem Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten
sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen Platz.
In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist,
findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen. In
einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige
wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in
der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig
liberalen Sexualsystem haben einige ein
abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere
sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der
Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das
heißt, er gilt für alle Altersstufen und
Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle
Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung
auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen." |
Seit 1999 greifen die
Medien das Thema verstärkt auf. Auf dieser Website wurde diese
Debatte insbesondere auch mit dem demografischen Wandel in
Verbindung gebracht
.
Es darf nämlich
durchaus bezweifelt werden, dass die unfreiwillige bzw.
dauerhafte Partnerlosigkeit ein historisch neues Problem ist. Ob
es heute mehr dauerhaft Partnerlose als vor 1968 gibt, lässt
sich empirisch nicht feststellen. Im Buch Die Single-Lüge
wird auf die Deutungskämpfe im Zusammenhang mit dem
Single-Dasein und die damit verbundenen Kollateralschäden näher
eingegangen.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. |
"Oversexed and underfucked"
ist - wie dem auch sei - in zunehmenden Maße die trendige
Devise. Dass in diesem Zusammenhang Menschen ohne
Beziehungserfahrung ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit
geraten, ist deshalb wenig verwunderlich.
Ausgehend von
Amerika hat zudem die True-Love-Waits-Bewegung die
Enthaltsamkeit vor der Ehe zum Lebensstil erhoben. Menschen ohne
Beziehungserfahrung müssen ihr Manko damit nicht mehr unbedingt als
Defizit erleben, sondern können fehlende sexuelle Erfahrung als
freiwilligen Lebensstil präsentieren. In Deutschland hat dieses
Modell jedoch bislang noch nicht Schule gemacht. Auf diesen
Mythos Jungfrau, so ein Buchtitel der
Kulturwissenschaftlerin Anke BERNAU, wird in einer weiteren
Rezension näher eingegangen .
Die Ursachen von lang andauernder
Beziehungsunerfahrenheit
Olaf WICKENHÖFER hat in
der wissenschaftlichen Literatur der USA zwei Ansätze gefunden,
die sich mit der Problematik beschäftigen. Brian G. GILMARTIN
sieht in der Liebes-Schüchternheit ("Love-Shyness") das
Hauptproblem, während Denise DONNELLY und andere die
unfreiwillige Keuschheit ("Involuntary Celibacy") als Folge von
verpassten Gelegenheiten im Lebensverlauf betrachten. Beide
Aspekte schließen sich nicht aus, sondern sind eher zwei Seiten
einer Medaille. Liebes-Schüchternheit führt zu verpassten
Gelegenheiten, die sich im Lebensverlauf zu einem
Teufelskreis verfestigen.
Ein Ansatz, der
eine mehrdimensionale Betrachtung des Lebensverlaufs ermöglicht,
wurde in Deutschland von Monika WOHLRAB-SAHR entwickelt. Jedes
Individuum muss in dieser Sicht sein Leben sowohl in zeitlicher
Hinsicht als auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit zentraler
Lebensbereiche strukturieren. Dies bedeutet, dass Gewichtungen
im Bereich von ausbildungs- und berufsbezogenen Entscheidungen
auch Konsequenzen für den privaten Lebensstil haben und
umgekehrt.
Werden bestimmte
Weichen im Lebenslauf nicht rechtzeitig gestellt, dann kann
dies das Lebensarrangement stören.
Eine solche
Sichtweise hat gegenüber dem umstrittenen
entwicklungspsychologischen Konzept der Altersnormen, das
WICKENHÖFER im Anschluss an DONELLY bevorzugt, den Vorteil, dass
Störungen als Vereinbarkeit mit gesellschaftlichen
Lebenslaufregimen in den Blick geraten.
Eine solche
Sichtweise ist einer pluralistischen Gesellschaft angemessener
als das Altersnormen-Konzept, das für ALLE
Gesellschaftsmitglieder einen verbindlichen Übergang behauptet.
In einer
funktional-differenzierten Gesellschaft mit einem stark
segmentierten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt existieren
unterschiedliche Lebenslaufregime nebeneinander. Verschiedene
Milieus ermöglichen unterschiedliche Lebensverläufe. Geht man
davon aus, dass es rigide Altersnormen in modernen
Gesellschaften nicht mehr gibt, sondern Übergangsmöglichkeiten
eine enorme Spannbreite haben, dann ist der Spielraum für
Menschen ohne Beziehungserfahrung heutzutage größer. Dies
widerspricht kulturpessimistischen Sichtweisen, wie sie z.B. bei
Michel HOUELLEBECQ anklingen. Vereinbarkeitsprobleme ergeben sich also in erster Linie aus den Ablaufprogrammen und Anforderungsprofilen spezieller
gesellschaftlicher Institutionen. An diesen Schnittstellen
entscheidet sich dann, ob verpasste Gelegenheiten nachgeholt
werden können oder nicht.
Auch die Autoren
der Bücher müssen feststellen, dass Beziehungsunerfahrene
selbst noch in ihren Dreißigern und Vierzigern in befriedigenden
Partnerschaften landen können. Es muss also darum gehen, diese
Chancen zu nutzen.
Auch wenn man also
das Altersnormen-Konzept ablehnt, sind die Ergebnisse, die
WICKENHÖFER und HOFFMANN präsentieren, keineswegs belanglos,
sondern sie sind nur anders einzuordnen.
Die Prägung im
Elternhaus und durch Gleichaltrige ("Peergroup") in Schule
und Freizeit können bereits in der Kindheit und Jugend die
Aneignung von Kompetenzen im Umgang mit dem anderen Geschlecht
behindern oder fördern. Verpasste Gelegenheiten können sich dann
während der Ausbildung bzw. des Studiums weiter negativ
verstärken. Spezielle Berufskarrieren können zu weiteren Verfestigungen führen.
Man denke hier an die Debatte um Nerds
.
Ein zentraler
Aspekt ist gemäß WICKENHÖFER, dass introvertierte
Menschen gegenüber extravertierten Menschen benachteiligt
sind. Vielleicht sollte man jedoch von diesen
persönlichkeitsspezifischen Temperamentunterschieden
nicht vorschnell auf den bedeutenderen Unterschied zwischen
aktiv und passiv schließen.
Menschen können
introvertiert sein und trotzdem aktiv ihre Pläne verfolgen. Ob
man sich hilflos bzw. ohnmächtig Situationen ausgesetzt fühlt
oder sich als Gestalter erlebt, ist nicht unbedingt eine
Temperamentsfrage.
Schüchternheit,
Ängstlichkeit und ein geringes Selbstwertgefühl erschweren
die Aneignung von Kompetenzen, die im Umgang mit dem anderen
Geschlecht wichtig sind. Dieser Zusammenhang wurde auf dieser
Website bereits in mehreren Beiträgen aufgezeigt
.
Aufschlussreich ist
die Tatsache, dass gesellschaftliche Einrichtungen wie Schulen,
Universitäten und Unternehmen die Integration von Ängstlichen,
Schüchternen bzw. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl fördern
oder erschweren können. WICKENHÖFER zeigt wie diese
Institutionen solche Menschen eher diskriminieren.
Die Frage, ob
Menschen ohne Beziehungserfahrung ihre Unerfahrenheit im
Lebensverlauf kompensieren können oder diese sich durch
Kumulation so verfestigt, dass sie zum hoffnungslosen Fall
werden, lässt sich mit den vorliegenden wissenschaftlichen
Befunden nicht allgemein beantworten. Hier wäre die
Untergliederung in Subgruppen notwendig. Die Arbeiten von WICKENHÖFER und HOFFMANN zeigen
deutlich, dass die
Beziehungsunerfahrenheit auf ganz verschiedenen Ursachen beruhen kann.
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