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Debatte

 
       
   

Nerds

 
       
   

Die kommunikationsunfähigen, unfreiwilligen Singles der Informationsgesellschaft

 
       
   

Die Themen

 
       
   
     
 

Nerds oder Geeks

Im allgemeinen beginnen die Geschichten über Nerds so oder so ähnlich:

Wie wird der Nerd zum Geek?

"Nerds begegnen uns alle (...) Jedes Sozialverhalten geht ihnen völlig ab (...) und das warme Licht der Sonne dringt nur mühsam durch das zentimeterdicke Panzerglas ihrer Brille.
Bis vor wenigen Jahren noch befanden sich Nerds in der sozialen Hierarchie ganz unten. Sie wurden erbarmungslos auf Schulhöfen gejagt, später im Job verspottet und vom weiblichen Geschlecht ein Leben lang ignoriert: Kein Sex, keine sozialen Kontakte (...). Wahrlich, der Nerd hatte es nicht leicht!"
(aus: Geeksworld.de)

Durch die Veralltäglichung des Computers sind "Nerds" zu einer wichtigen sozialen Gruppe geworden, die man braucht, aber nicht liebt. GeeksWorld hat dem negativen Klischee ein positives Selbstbild entgegengesetzt:

Wie wird der Nerd zum Geek?

"Sicherlich stünde die halbe Welt bis in unsere Tage ratlos vor der jeweils neuesten Rechnergeneration, wäre nicht gleichzeitig mit dem Nerd sein redegewandtes Pendant auf die Bühne getreten: der Geek. Ungleich wortgewaltiger als die verpickelte Konkurrenz machte der coole Geek sich daran, die Welt zu erklären, und zwar in verständlichen Worten."
(aus: Geeksworld.de)

Nerds als Subgruppe der Yetties

"Nerds" sind nach Sam SIFTON eine Subgruppe der "Yetties", was für "young, entrepreneurial, tech-based", also für junge Unternehmer im Technik-Sektor steht.

A Field Guide to the Yettie

"Sifton, der als Redakteur für die amerikanische Zeitschrift »Talk« sein Geld verdient, beschreibt seine Klientel in dem satirischen Büchlein mit viel Einsicht in die Szene. Wie der Entdecker eines fremden Erdteils schildert er die Einwohner von Dot.com-Land mit ihren Siedlungsformen, Ernährungsgewohnheiten und Konsumverhalten.
Es liegt in der Natur so zeitgeist-abhängiger Bücher, das sie schnell altern und ihr Humor in kurzer Zeit schal wird. »The Yettie« wurde vor dem Absturz der New Economy im letzten Jahr geschrieben und erst danach veröffentlicht. Nun wirkt das Buch schon ein bisschen wie ein historisches Dokument - wenn auch ein überaus lesenswertes."
(Tilman Baumgärtel in der Berliner Zeitung v. 16.01.2001)

Nerds als unsoziale Einzelgänger

Für den niederländischen Radiomoderator Max de BRUIJN ("Wie werde ich Bill Gates?" ist der "Nerd" dagegen das Sinnbild des unsozialen Einzelgängers, der sich bereits in der Schule als Streber unangenehm hervortut und in Fächern erfolgreich ist, die man im Leben normalerweise nie brauchen sollte. Statt für Sport, schöne Künste oder Fremdsprachen interessiert der "Nerd" sich für Mathematik und sonstige unsozialen Fächer. Auf Partys steht er abseits oder geht erst gar nicht hin.

Wie werde ich Bill Gates?: Aufzucht und Lebensweise des gemeinen Nerd

"Sie wissen nicht, was ein Nerd ist? Dabei hatten Sie garantiert einen in der Klasse. Er saß allein an einem Tisch in der ersten Reihe, hatte eine dicke Brille und ungepflegtes Haar, war ein As in Mathe und eine Niete im Sport. Man brauchte ihn für die Nachhilfe, lud ihn aber nie zu Feten ein. Später studierte er Theologie, Mathematik, Jura, am liebsten aber Informatik. Er verbringt seine Zeit vorwiegend am Computer oder mit seinesgleichen, ist unfähig zum Führen eines Alltagsgesprächs, kann aber komplizierte Lösungen für einfache Probleme entwerfen. Oft ist er verklemmt und etwas unvorteilhaft gekleidet. Berühmte Nerds sind beispielsweise der Kreml-Flieger Matthias Rust, Peter Hintze, Al Bundy und Mr. Bean. Viele andere finden Sie in diesem Band. Dazu Antworten auf die Fragen: Gibt es auch weibliche Nerds? Wie erkenne ich einen Nerd? Und warum lernen die immer Eisenbahnfahrpläne auswendig?"
(aus: Klappentext 2000)

Die Geschichte hat den Schöngeistern und Schönen dieser Welt wahrlich schwer mitgespielt, als sie ein paar Nerds zu Millionären und einige mehr zu wohlhabenden Mitbürgern machte. Aber die "Nerds" haben als sogenannte "Neureiche" ein Problem: ihr mangelndes Selbstwertgefühl und der "richtige" gesellschaftliche Auftritt. Dies ist der Ansatzpunkt für die entstehende "Lebenshilfe"-Industrie, die an dem "unverdienten" Reichtum der "Nerds" partizipieren will. Wer möchte schon gern ein unattraktiver "Nerd" bleiben, wenn es auch "coole Geeks" gibt, die bei den Frauen Erfolg haben?

Nerds als coole Role-Models?

Die Berliner Zeitschrift de:bug hat in ihrer Ausgabe zum Jahreswechsel 2008/2009 die Ära Gadget ausgerufen. Technische Geräte wie der iPod haben Kultstatus erlangt und in Zukunft soll diese Verehrung für ästhetische Geräte zum neuen Alltag gehören. In diesem Zusammenhang soll der "Computer-Streber" zum neuen coolen Role-Model avancieren. Das Blog Nerdcore ist das Aushängeschild dieser Fraktion. Anton WALDT schreibt dazu: 

Gadget-Fetisch - Maschinen sind die neuen Popstars

"Nerds und Geeks führen nach dem gängigen Klischee ein mäßig aufregendes Sozialleben, dafür kennen sie sich umso besser mit realer und fiktiver Technik aus. Aber das Abziehbild des Nerds hat schon länger Risse bekommen und seit dem New-Economy-Hype wird hart um die soziale Neupositionierung der Nerds gerungen. (...) In der zähen sozialen und kulturellen Praxis zieht sich so ein Transformationsprozess natürlich, schließlich gilt es aus bislang jämmerlich geschmähten Strebern neue Role-Models und aus Maschinen mit einem denkbar miesen Image die Nachfolge von Auto und E-Gitarre zu formen."
(aus: de:bug, Nr.128, Dezember)

Möglicherweise muss der Nerd aber gar nicht cool werden, sondern gerade im Uncoolen wird in letzter Zeit ein unwiderstehlicher Charme entdeckt. Seit Michel Houellebecq Ende der 1990er Jahre dem Nerd mit seinem beiden Romanen Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen ein Denkmal gesetzt hat, ist mittlerweile ein Jahrzehnt vergangen und die Entwicklung hat eine gewisse Eigendynamik gewonnen.

Dem Mann in der Krise, schreibt die Journalistin Ines KAPPERT in ihrem gleichnamigen Buch, schlägt eine Welle der Sympathie entgegen, während der "systemkonformen Singlefrau" der Wind kalt ins Gesicht bläst . Die Popliteratur setzt mittlerweile auf den Nerd, der sich in der Tradition von Buddy Holly sehen kann, den Klaus WALTER vor kurzem als Pate aller weißen Nerds beschrieben hat (vgl. "50 Jahre nach dem Aufprall", taz 03.02.2009). Und vergessene Schriftsteller wie Jörg FAUSER erleben eine Renaissance . Mit  Wolfgang WELT ist der Buddy Holly von der Wilhelmshöhe dort angekommen, wo er immer hinwollte: bei der Suhrkamp-Kultur.

1983 hatte noch Rainald GOETZ mit Irre statt seiner debütiert. Der Mann von heute, schreibt KAPPERT, wird nicht mehr zum Rebell, sondern steigt als Patient aus dem System aus. Der Psychiatrieaufenthalt als Karrieresprungbrett? Eines scheint gewiss: wir werden noch viel hören von den männlichen Nerds. Ob sie nun zum neuen Role-Model avancieren oder als Menschen ohne Beziehungserfahrung ins Rampenlicht gerückt werden oder gar das Uncoole das neue Cool wird, das bleibt vorerst dahingestellt.

Nerds als coole Role-Models? Revisited 2010

In den USA haben sich in den vergangenen Jahren zwei Bücher um die kulturelle Aufwertung des Nerds verdient gemacht, die auch die neuere Debatte um die Nerd-Kultur in Deutschland beeinflusst haben: Zum einen das Buch Nerds des Psychologen David ANDEREGG und zum anderen das Buch American Nerd von Benjamin NUGENT.

Der Film The Social Network von David Fincher hat dem Nerd zusätzlich neue öffentliche Aufmerksamkeit beschert, nachdem ihn bereits Frank SCHIRRMACHER im September letzten Jahres gegen seine zahlreichen Kritiker verteidigt und ihm größte gesellschaftliche Macht zugeschrieben hat:

Die Revolution der Piraten

"Nerds, heißt es, haben es in der Pubertät etwas schwerer als die Raver, eine Freundin zu finden. Das stachelt sie umso mehr an. Das Ergebnis liegt vor unser allen Augen: Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben. Sie sind die größte Macht der modernen Gesellschaft."
(FAS, 20.09.2009)

Im April erscheinen gleich zwei Beiträge zu Nerds. Mario LASAR schreibt in der Musikzeitschrift Intro über die Nerd-Brille, wobei diese jedoch aus einem Nerd noch lange keinen Hipster mache:

Schon seit Ewigkeiten in Mode: Die Hornbrille

"War Nerdism ehedem als Synonym für eine gewisse Opferrolle zu verstehen, die einem von den Nicht-Nerds zugewiesen wurde, ist er mittlerweile fast schon zu einer neuen Jugendbewegung in der Tradition der Mods oder Teds avanciert. Der Nerd ist nicht mehr stigmatisiertes Opfer, sondern eine Option, die man selbst erwählt. Nun könnte man argumentieren, dass eine dicke Brille allein einen noch nicht zum Nerd macht. Tatsächlich sollte man die Neuentdeckung der Hornbrille so verstehen, dass sie Nerdkultur lediglich zitiert, statt sie in ihrer Eigentlichkeit nachzuahmen. Die Hipster wären auch ohne Hornbrille hip, während die echten Nerds, die Briefmarken sammeln und sich ihre Klamotten von ihrer Mutter kaufen lassen, trotz Hornbrille nicht zur Hipster-Elite zählen würden."
(Intro, April 2010)

Ein halbes Jahr später erwidert Matthias KALLE, Berufsjugendlicher bei der Zeitschrift Neon, hämisch, dass die Nerdbrille zwar in Berlin Mitte Ausdruck des Hipstertums, aber dieses längst überholt sei (vgl. "Die Welt durch die Brille des Nerds", Tagesspiegel 09.10.2010). Er könnte sich dabei z.B. auf einen Nachruf in der Süddeutschen Zeitung von Jens-Christian RABE berufen, zu dem single-generation.de folgendes anmerkte:

Der Hipster

Jens-Christian RABE schreibt einen Sommerloch-Nachrufartikel auf den Hipster. Während in deutschen Zeitungen und Zeitschriften der Hipster noch angesagt ist, wird der Hipster gemäß RABE in den USA bereits totgesagt, z.B. auf einer Tagung zum Thema What was the Hipster?

Veranstaltet hat diese Tagung ausgerechnet das coole n+1 magazine um Benjamin KUNKEL (und nicht die New Yorker New School for Social Research wie RABE behauptet; dort fand sie nur statt). Das Magazin hat sich auf diese Weise auch im Popdiskurs positioniert. Zwei Jahre zuvor hat der Podiumsteilnehmer und Autor von n+1 Christian Lorentzen in einer Titelgeschichte des New Yorker Magazin Time Out erklärt, warum der Hipster sterben muss. Mark GREIF, ebenfalls Autor von n+1, erklärte den Hipster-Begriff und lieferte auch eine Typologie. RABE geht bei GREIF nur auf den Neo-Hipster ein, den er als Trendsetter charakterisiert ("Mittelsmann zwischen Straße und den Marketing-Abteilungen"). Nicht eingeladen war dagegen Robert LANHAM, der 2003 ein Hipster-Handbuch veröffentlichte. LANHAM wohnt seit 1996 im derzeit angesagten Williamsburg und schrieb das Buch, weil er des Hipsterseins überdrüssig war, wie er kürzlich in dem Artikel Look at This Fucking Hipster Basher schrieb. RABE referiert nochmals die Geschichte des Hipstertums, der sich ausführlicher die Radiosendung Wo ist vorne? Wie die Hipster die Welt eroberten von Caroline von LOWTZOW im letzten Dezember widmete.

Natürlich ist der Neo-Hipster bzw. Trendsetter auch in Deutschland in die Kritik gekommen. Das Buch Konsumrebellen rechnete bereits 2005 mit diesem Typus ab. In einer Rezension des Buches Global Players aus dem  gleichen Jahr wurde auf single-generation.de aufgezeigt, wie die deutschen Neocons die Popkultur und das Hipstertum umzudeuten versuchten.

Der Hipster geriet jedoch nicht nur von dieser Seite unter Druck, sondern er wurde auch als Pionier zum Opfer seiner eigenen Umtriebe. Darauf deutet die Schlusspointe von RABE hin:

"Als traumatisierten Helden muss man sich den Hipster aus einem anderen Grund vorstellen: Er wurde vom Nerd, dem Inbegriff des square, links überholt. Man sehe sich nur einmal auf einer TED- Konferenz um. Und die Nerds haben längst das Geld, um ihn aus seinen Vierteln zu verdrängen. So steht der einst stolze Hipster traurig da als Modeberater und Probewohner."

Mehr zu Szenevierteln und Berufsjugendlichen gibt es hier zu lesen.

Der Nerd bekommt zu spüren, dass Frank SCHIRRMACHER sich für ihn stark gemacht hat. In der trendigen Wirtschaftszeitschrift brand eins schreibt Thomas VASEK über die Rache der Nerds. Und das hat wenig mit der Rache des Nerds im Film The Social Network von David FINCHER zu tun, dessen Rache beschreibt Claudius SEIDL lediglich als Verlustgeschichte:

Er wollte die Mädchen, jetzt gehört ihm die Welt

"so, wie Sorking und Fincher die Genese erzählen, ist Facebook auch eine Rationalisierungsmaßnahme und ein großer Verlust. Wo, in der Welt, wenn einer wissen will, ob ein Flirt sich lohnt, das schöne Spiel der Andeutungen und Umkreisungen beginnt, schaut einer im Facebook unter der Rubrik Beziehungsstatus nach. Aha, vergeben, egal. In der digitalen Welt läuft, was es einst im Konjunktiv gab, immer nur auf Jaja oder Neinnein hinaus."
(FAS 26.09.2010)

Man kann zu Recht bezweifeln, dass Nerds wie Mark ZUCKERBERG an der Ökonomisierung des Sozialen schuld sind, ob es sich nun um Flirts, Partnersuche oder Freundschaften geht. Sie stellen höchstens die Mittel zur Verfügung. Bereits vor Jahren ist in den USA ein Ratgeber von Rachel GREENWALD erschienen, in dem es darum ging, möglichst schnell und effektiv einen Ehemann zu finden . Es sind die modernen Lebensbedingungen, die andere Formen der Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen erfordern. Wie erhöhte räumliche Mobilität und die Organisation von Ausbildung und Arbeit die Partnersuche für Höher Gebildete erschweren bzw. kanalisieren, ist z.B. das Thema des Soziologen Jochen HIRSCHLE ("Eine unmögliche Liebe", 2007) . Thomas VASEK beschreibt in dem Artikel Die Rache der Nerds wie Nerds sich aus den negativen Stereotypen befreit haben und neuerdings selbstbewusster auftreten.

Die Rache der Nerds

"Die Nerds haben (...) begonnen, ihr eigenes Stereotyp zum Ehrentitel umzudefinieren, ihre vermeintlichen Macken zur Schlüsselqualifikation - und das Schlausein zum zeitgemäßen, hippen Lebensstil. Geld und Macht haben einige von ihnen schon. Jetzt fordern sie ihren Platz in der kulturellen Vielfalt der Welt. Ihr neues Selbstbewusstsein ist nicht nur Ausdruck eines Generationenwechsels. Es ist auch der Aufstand einer Form von Rationalität, ob einem die sympathisch ist oder nicht. Sicher ist: Die Welt braucht ihren Sachverstand, ihre Logik und Erfindungskraft. Und zwar nicht nur in den Entwicklungsabteilungen von Google & Co."
(aus: brand eins, April 2010)

Geht man das Problem des Nerds nicht vom gesellschaftlichen Klischee her an, sondern nimmt seinen Ausgang von der Pubertät bzw. vom Erwachsenwerden aus, dann kommen Nerds als Jungs, die keine Mädchen abbekommen, in den Fokus. Das ist das Thema von Doris KUHN, die sich in der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Films Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt mit dem Nerd befasst:

Der Loser schlägt zurück

"Scott Pilgrim ist die nächste Generation der bisherigen Kino-Nerds, er ist eine Figur, die genauso aussieht wie ein Nerd, die zum Teil auch ein authentisches Nerdleben führt, an den Rändern aber bereits ausfranst. Denn Scott Pilgrim kann etwas Neues: Er wechselt vom Ruhe- in den Kampfmodus, sobald die Jungen auftauchen, die ihm die Freundin wegnehmen wollen. Dazu muss er allerhand Dinge tun, die er sonst nie tut. Er darf der Konfrontation nicht ausweichen, er braucht Tempo und präzise Bewegung, er muss seine Unauffälligkeit aufgeben. (...). »Scott Pilgrim« ist tief verankert im geheimen Teenager-Wissen. Der Film bezieht sich auf Comics, Band-Battles, auf ungefähr jedes Computerspiel zwischen Pacman und heute, er benutzt für seine Hauptfigur den exaltierten Verhaltensmix der Pubertät, der zwischen Lethargie und Panik schwankt. In dieser exzellenten Melange geschieht dann das Wundersame: Der Nerd wird zum Actionhelden. Er ist, in einer Person, ein Nerd und dessen Widerlegung.
             So erfindet »Scott Pilgrim« den Nerd als Krieger, der, wenn auch unter Zwang, diejenigen besiegt, die ihm das Leben bisher ruinierten. Wie in einem glamourösen Videospiel gewinnt er zuletzt das »Schwert der Liebe«, aber, womöglich wichtiger, das »Schwert der Selbstachtung« auch." [mehr]
(SZ. 16.10.2010)

Dass dieser Film zum einen bei der gesellschaftlichen Aufwertung der Nerds behilflich sein soll und zum anderen das Selbstbewusstsein von schüchternen, linkischen Jungen hebt, das ist zu bezweifeln. Eines ist jedoch sicher: die Debatte wird weiter gehen, denn der Kulturkampf zwischen Bildungsbürgertum und MINT- bzw. Nerd-Kultur hat in Deutschland gerade erst begonnen (vgl. "Die Jugend drückt den falschen Knopf", Welt-Interview mit Peter WEIBEL v.18.10.2010).   

 
     
 
       
   

Nerds in der Debatte

 
       
   

NISSEN, Nico (2009): "Wir sind letztlich dabei, uns selbst zu erfinden".
Thorsten Wirth, Mitglied des Bundesvorstandes der Piratenpartei, über das Wahlprogramm, Verschwörungstheoretiker und die Verbindung der Internet- und Parteikultur,
in: Telepolis
v. 03.08.

Die Piratenpartei wurde in 15 Bundesländern zur Bundestagswahl 2009 zugelassen. Thorsten WIRTH nimmt u. a. Stellung dazu, ob die Unterstützer und Mitglieder der Partei überwiegend junge Männer ohne Kinder sind:

"Das andere Problem ist, dass die Piratenpartei es schwer haben wird, sich einen Stammwählerschaft aufzubauen, da die Unterstützer und Mitglieder der Partei eine weitgehend homogene Gruppe sind: junge Männer ohne Kinder. Was macht die Partei, wenn ein Großteil von ihnen zu Papis wird und ihnen ganz andere Themen wie kostenfreie Kindergartenplätze wichtig werden? Wird sie thematisch mit ihren Mitgliedern wachsen?
            Thorsten Wirth: Die jungen kinderlosen Männer gibt es natürlich, aber es gibt so viele Familien, die bei uns Mitglied sind, dass ich das einfach nicht bejahen kann. An unseren Stammtischen trifft man auch Eltern. Ich selbst bin 41, und wir haben noch jemanden, der ist 70, und der sehr aktiv mitarbeitet. Es ist im Prinzip alles dabei, alle Gesellschaftsschichten, alle Altersgruppen und Geschlechter. Verstärkt sind natürlich junge Männer dabei, aber die würde ich eher zwischen 20 und 35 schätzen.
            Fragen nach kostenfreien Kindergartenplätze stehen für unsere Wähler nicht im Zentrum, jedenfalls habe ich das noch nicht wahrgenommen. (...). Die Familienväter oder –mütter, die sich bei uns engagieren, sind eher daran interessiert, ihren Kindern für die Zukunft z.B. den kostenlosen Zugang zum Wissen zu sichern."

KUHN, Doris (2010): Der Loser schlägt zurück.
Nach dem Facebook-Film feiert das Kino nächste Woche wieder einen Nerd in der Heldenrolle. Offenbar hat der unbeliebte, seltsame Teenager von einst mittlerweile das Zeug zum Star. Übrigens auch in der Realität,
in: Süddeutsche Zeitung v. 16.10.

Doris KUHN versucht das schlechte Image des Nerds aufzupeppen, indem sie Scott Pilgrim, den Helden des neuen Kinofilms Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt zum Nerd neuen Typs stilisiert. Die erste Hälfte des Artikels schildert KUHN das Pubertätsdrama eines Nerds aus weiblicher Perspektive, denn so will es die Legende: Nerds sind "Jungs, die keine Freunde haben", was natürlich nicht stimmt (aber dem Hype um den Film The Social Network geschuldet ist), sondern sie sind Jungs, die kein Mädchen abbekommen - was dann ja auch bei KUHN thematisiert wird.

Angeblich ist der Nerd auch eine typisch amerikanische Erscheinung, weil es das "Land der hierarchischen Strukturen" sei, was natürlich völliger Blödsinn ist. In Deutschland sind die Strukturen höchstens subtiler und werden verleugnet. Bis vor kurzem galt ja Deutschland auch als das Land ohne Unterschichten. Populisten wie der Soziologe Ulrich BECK haben mit ihrer Individualisierungsthese Mittelschichtsmärchen aufgetischt, die langsam entzaubert werden. In Deutschland gibt es ganz eindeutige Klassenstrukturen, die sich in entsprechenden Heiratsmustern niederschlagen. Der Soziologe Hans-Peter BLOSSFELD sieht das Bildungssystem und seine geschlossene Welt als Heiratsmarkt. Der Soziologe Jochen HIRSCHLE sieht in den veränderten Gesellungsstilen und hoher räumlicher Mobilität der Akademiker gar einen Nachteil gegenüber bildungsfernen Milieus. Mit dem Nerd ist aber keine vertikale (Klassenschichtung), sondern eine horizontale Hierarchie gemeint, denn der Nerd gehört nicht den bildungsfernen Schichten an wie die männlichen Modernisierungsverlierer aus dem Osten Deutschlands, sondern sie gehören zur Bildungsfraktion:

"Im amerikanischen Horrorfilm, in dem die Highschool einen angestammten Platz hat, taucht er nicht einmal auf - kein Psychokiller interessiert sich für ihn, der Nerd muss durchhalten bis zum College, bis zur Universität, bis er erwachsen ist und die Regeln sich lockern."

KUHN übersetzt den amerikanischen Begriff des Nerd als Sonderling bzw. Autist ins Deutsche. Der drastische Begriff des Autisten zielt bei KUHN auf den Gegensatz von sozialen zu nicht-sozialen Tätigkeiten, die hinsichtlich des Prestigewertes bislang eine eindeutige Rangfolge hatten:

"Bleiben Einsamkeit und Langeweile als bestimmende Elemente im Leben des Nerds, bis er Interessen entwickelt, die gut autistisch durchzuführen sind. Der frühe Nerd ist obsessiver Comicleser, manchmal ergibt er sich auch Musik oder Film. Seine wahre Heimat allerdings hat er erst mit dem Fortschritt der Unterhaltungselektronik gefunden. Das Videospiel, dann das Computerspiel, dann der Computer als Ganzes wurden zu dem, was anderen der Sportplatz, das Date, das Nachtleben waren".

Der Schweizer Soziologe Peter GROß hat für das Nicht-Soziale den Begriff des solitären Handels entwickelt und in seiner Soziologie des Nicht-Sozialen die Abwertung des solitären Handelns kritisiert, da es ohne solches Handeln keine soziale Innovationen gegeben hätte. Dies ist sozusagen auch der positive Kern, aus dem sich die gesellschaftliche Aufwertung des Nerds ergeben könnte, wäre da nicht die Borniertheit des Bildungsbürgertums gegenüber der "Ingenieurleistung", wie sie immer noch häufig in den Feuilletons zu beobachten ist. Die Ablehnung des Internets beruht großteils auf solch althergebrachtem Bildungsbürgerdünkel. Dummerweise sind selbst die Bildungsbürger gegen das Internet nicht gefeit:

"Interessanterweise sind im reißenden Strom der Computerspiele die Nerds längst nur noch ein Teil der Zielgruppe. Die Vermutung liegt nahe, dass irgendwo eine Verschwörung existiert, die den großen Rest der Teenager ihrem meistverachteten Bild angleichen will. Denn sie alle verbringen inzwischen viel Zeit mit Headset und Chips vor 'Sims' oder 'GTA', sie alle haben längst festgestellt, dass damit durchaus Spaß verbunden ist. Mit dieser Feststellung beginnt allerdings nicht der Abstieg der bisher Anerkannten, sondern das Gegenteil tritt ein: Hier beginnt der Weg des Nerds aus der Unsichtbarkeit hin zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Denn erstens findet er so eine Bezugsgruppe, zweitens findet diese Bezugsgruppe ihre Stärke in der Beherrschung des Computers, und drittens finden wir alle selber am Computer den Nerd in uns, der uns ins Web hineintreibt, auch wenn das mürrische Vereinsamung mit sich bringt und massenhaft verlorene Zeit."

Gemäß KUHN ist der Nerd angeblich erst durch den Film The Social Network im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit angekommen. Dies ist natürlich falsch, denn es war zuerst der Erfolg der Partei Die Piraten, mit der die Nerds die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzten. Im September letzten Jahres musste sich deshalb sogar Frank SCHIRRMACHER mit ihnen befassen. Sein Fazit:

"Nerds, heißt es, haben es in der Pubertät etwas schwerer als die Raver, eine Freundin zu finden. Das stachelt sie umso mehr an. Das Ergebnis liegt vor unser allen Augen: Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben. Sie sind die größte Macht der modernen Gesellschaft."

Wenn Nerds aber solche Macht zugeschrieben wird, dann können sie kaum zu den Lieblingen der Nation avancieren. Der Versuch der Rehabilitierung von Doris KUHN ist deshalb zwar gut gemeint, aber geht an der Realität vorbei. Scott Pilgrim, der Held ist im Grunde auch kein Nerd, denn als Bandmitglied steht er auf der Rangliste der Popkultur ganz oben. Loser sehen anders aus!

SEIBEL, Andrea (2010): "Die Jugend drückt den falschen Knopf".
Der Medientheoretiker Peter Weibel beklagt, dass Jugendliche heute nicht mehr über Bildung aufsteigen wollen. Sie glauben, dass es im Internet-Zeitalter auch ohne geht,
in: Welt v. 18.10.

Der Bildungsaufsteiger Peter WEIBEL widerspricht dem Bildungsaufsteiger Thilo SARRAZIN. Die Menschen wollen nicht mehr durch Bildung aufsteigen, weil es in der Erfolgsgesellschaft im Gegensatz zur Leistungsgesellschaft auch anders geht und dies viel attraktiver ist. Niemand will ein Nerd, sondern alle wollen ein Promi sein:

"Bildung war in der Nachkriegszeit ein Aufstiegsmittel. Heute steigt man auch ohne Bildung auf: durch Pop-Musik oder Castingshows, Filme oder Sport. Fußballer verdienten früher nichts. Am Ende waren sie vielleicht Autohändler oder Tankstellenbesitzer. Heute sind sie Multimillionäre, halten sich Frauen als Trophäen und sind ständig in den Medien. Die Jugendlichen lernen, man kann reich und berühmt und geliebt und geehrt werden, auch ohne Bildung. Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung. Denn in der Celebrity-Kultur werden nicht Kompetenz und Wissen, sondern Defizite und Fehlverhalten belohnt. Wer Drogen nimmt, betrunken abstürzt etc., der wird in den Medien gefeiert. Kein Nobelpreisträger der Chemie kommt auf das »Spiegel«-Cover, aber ein jugendlicher Amokläufer. Die Jugendlichen lernen schnell. Sie sind ja nicht blöd, es zeigt ihre Intelligenz, dass sie auf Bildung verzichten. Je bizarrer und gaga, desto besser und erfolgreicher - das lernen sie von der Pop-Kultur. (...). Die Bildungskrise werden wir nicht durch Bildung lösen."

In den USA meint man mittlerweile, dass es das Nerd-Image der so genannten MINT-Fächer ist, das den Wohlstand der westlichen Gesellschaften gefährdet. Erfolgreiche Studienabbrecher zeigen zudem, dass das Bildungssystem selbst ein Rechtfertigungsproblem hat. Wie aber soll angesichts dieser Missstände die Aufwertung des Nerds gelingen? Darüber ist man sich uneinig wie die anwachsende Zahl von Publikationen zum Thema zeigt (siehe z.B. David ANDEREGGs Nerds oder Benjamin NUGENTs American Nerd). Das größte Problem dürfte aber sein, dass das Posertum der so genannten "kreativen Klasse" bzw. der "digitalen Bohème" allemal attraktiver ist.

Der Nerd Thilo SARRAZIN, als Anwalt der MINT-Fächer, ist in diesem Kulturkampf nicht wirklich hilfreich, sondern er ist Teil des Problems. Ob Filme wie The Social Network bzw. Scott Pilgram gegen den Rest der Welt für die kulturelle Aufwertung des Nerds hilfreicher sind, daran darf zwar gezweifelt werden. Der Kulturkampf ist jedoch unvermeidlich, denn der Nerd wird gebraucht - auch wenn er nicht Everybody's Darling ist.

SCHWEIZERHOF, Barbara (2014): Silicon Valley.
Selig sind die Nerds, denn sie werden die Erde besitzen,
in: Spex Nr.354, Juli/August

Barbara SCHWEIZERHOF holt zuerst einmal begriffsgeschichtlich aus. Der Nerd im engeren Sinne wird als Computerfreak beschrieben, während er im weiteren Sinne als "Gegensatz zu allem, was Frauen attraktiv finden" galt. Mit Steve JOBs Keynot-Präsentationen und den TV-Serien The Big Bang Theory und Silicon Valley bzw. dem Spielfilm The Social Network ist der Nerd nun gemäß SCHWEIZERHOF auf dem Weg zum Helden.

Die Autorin beschreibt aber auch Versuche das Nerdtum auszudifferenzieren, mithin aufzuspalten in Erfolgreiche und Verlierertypen:

"Als würde man dem Nerd seine wirtschaftlichen Triumphe nicht gönnen, gibt es vermehr Versuche der semantischen Spaltung: »Geek« soll demnach den Typus des erfolgreichen Nerds definieren - »The Geek Shall Inherit The Earth« hatte das Time-Magazin 1995 getitelt -, »Nerd« soll den intelligenten, aber sozial Unbegabten bezeichnen und »Dork« schließlich denjenigen, dem von den Nerd-Begabungen nur noch dessen popkulturelle Obsessionen plus Unattraktivität bleiben."

Ausführlich geht SCHWEIZERHOF auf die Charaktere in den TV-Serien The Big Bang Theory und Silicon Valley ein und zeigt die Entwicklungstendenzen beim Figurenset der Nerds auf.

UNFRIED, Peter (2014): Jungs, die auf Titten starren.
Freiheit: Das kalifornische Silicon Valley ist die Heimat von Konzernen wie Google, Apple und Facebook. Ein Hort des Bösen? Nein, ein Ort an dem die Unschuldigen die Welt verändern,
in:
TAZ v. 06.12.

Peter UNFRIED arbeitet am Nerd-Mythos. Dazu hat er sich zwei gehypte Geistesarbeiter, Hans-Ulrich GUMBRECHT und Georg PACKER dazugeholt, um dem Mythos einen Autoritätsanstrich zu verpassen. Wobei Autorität heutzutage folgendermaßen kreiert wird:

"Der Literaturprofessor kokettiert damit, dass er sich mit Computern nicht richtig auskenne. Seine Mails schreibt er gern komplett in die Betreff-Zeile. Aber er ist von den wichtigen deutschen Intellektuellen der einzige, der die digitalen Erschütterungen aus deren Zentrum beobachtet. Genauer gesagt: aus seinem Erdgeschossbüro im Herzen des Campus."

Das klassische Storytelling hinsichtlich der Nerds darf natürlich nicht fehlen:

"Einige seiner Klassenkameraden gingen zu Apple, Sun und Microsoft. Die, mit denen die hübschen Mädchen nicht tanzen wollten. Die, die man früher Nerds nannte. Sie wurden Millionäre."

Das wäre keine Problem, wenn der nächste Satz nicht wäre:

"Und regieren heute die Welt."

Dahinter steckt die Panik einer Geburtselite, die ihren Führungsanspruch durch Aufsteiger (Emporkömmlinge) in Gefahr sieht. Das beste Gegenmittel ist der Aufbau von Drohkulissen:

"In Deutschland sind womöglich 50 Prozent der Arbeitsplätze in den nächsten Jahrzehnten durch Computer, Roboter, Algorithmen bedroht."

Angesichts dieser Drohkulisse erscheint jedoch der demografische Wandel gar als Glücksfall.

 
       
   

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Update: 25. November 2018