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Berlin im November
"November
in Berlin, Harder, da fangen die Drepressionen an. Und ich
hab keine müde Mark und muß hierbleiben und arbeiten, und
dann auch noch meine Mutter. Dabei wollte ich schon längst
auf Sri Lanka sein um diese Zeit."
(aus: Jörg Fauser "Das Schlangenmaul" 2006, S.118) |
Jörg Fauser und der
deutsche Männerroman
Jörg FAUSER wird gerne als
später Nachfahre der US-amerikanischen Beat-Generation in
der Tradition von Charles BUKOWSKI oder William BURROUGHS
beschrieben. Andere sehen in ihm einen Urvater der deutschen
Popliteratur. Der
Berlin-Krimi Das Schlangenmaul zeigt uns einen anderen
Jörg FAUSER. Der Roman erschien erstmals 1985, also ein Jahr nach dem
künstlerischen Durchbruch, den die Verfilmung Der Schneemann
und der Roman Rohstoff für FAUSER brachten. Kein Wunder
also, dass der Berlin-Krimi damals bei der Kritik schlecht weg
kam. Vielleicht bedurfte es erst eines Abstandes von 10 oder gar
20 Jahren, um den Berlin-Krimi richtig würdigen zu können.
Rebell im Colahinterland
"Im
Juli 1985 wird Das Schlangenmaul ausgeliefert.
Ullstein druckt von der ersten Auflage – im Hardcover –
30.000 Exemplare. Die Filmrechte sind bereits verkauft. Drei
Monate später wird nachgedruckt. Jörg Fauser ist nun nicht
mehr Kultautor und Ex-Junkie, er ist jetzt als
Schriftsteller eine etablierte Größe. In seiner Direktheit,
doppelt gebrannt und ohne Umschweife erzählt, ist Das
Schlangenmaul fast das Gegenteil von Der Schneemann".
(Matthias Penzel und Ambros Waibel 2004) |
Zum
60. Geburtstag widmete sich die Berliner Sängerin Christiane
RÖSINGER, die mit ihrer Band Britta gerade den
Unterschied zwischen Unterschicht und Bohème ausgelotet hat,
Jörg FAUSER als Autor von Männerromanen. Der typische
FAUSER-Leser der 1980er Jahre galt ihr als einsamer Wolf,
der gerne schweigend allein am Tresen saß, in der Stadt lebte
und zwischen 25 und 35 Jahre alt war. Er war also ein Angehöriger der
Single-Generation
.
Coole Jungs
"Den
Jörg-Fauser-Leser traf man nicht an der Uni. Die Hochschule
war ihm zu vertrocknet, zu hierarchisch, zu theoretisch, zu
wenig underground, zu wenig dran am Leben."
(Tagesspiegel vom 11.07.2004) |
Was
für die 1980er Jahre galt, die RÖSINGER ins Auge gefasst hat, das
gilt für die letzten Jahre immer weniger. Die Generation Golf
hat Jörg FAUSER für sich entdeckt. Noch immer sind es männliche
Städter, aber längst hat der popkulturelle
Individualisierungsschub seit Mitte der 1980er Jahre FAUSER
auch an den Universitäten salonfähig gemacht. Aus Sicht von
Matthias PENZEL ist FAUSER jedoch im Vergleich zu
Generationsgenossen wie Rolf-Dieter BRINKMANN immer noch
unterbewertet.
Der
Soziologe Gerhard SCHULZE hat in seinem Buch Die
Erlebnisgesellschaft (1992) diesen kulturellen
Individualisierungsschub vermessen. Das Milieu, das FAUSER mit
seinen Romanen ansprach, nennt SCHULZE Integrationsmilieu,
denn es scherte sich nicht um die Grenzen von Hoch- und
Trivialliteratur, sondern liebte die gelungene Synthese. Nicht
zuletzt Benjamin von STUCKRAD-BARRE, der mit Soloalbum einen
eigenen Männerroman geschrieben hat, hat Jörg FAUSER für seine
Generation neu entdeckt. Bereits 1997 hat er für die taz
eine Hommage verfasst, in der er den Männerroman-Schreiber und
sein männliches Publikum charakterisierte.
Der Männerroman-Schreiber
"Vornehmlich
Männer schrieben über Fauser, und er schrieb nur über Männer
- das Wasser bis zum Hals, das Glas in der Hand und die Bank
im Nacken. »Das ist die einzige Welt, die ich kenne«,
erklärte er einmal, warum seine Frauenrollen nur als
Reflektoren zur genaueren Definition der männlichen
Charaktere taugen."
(TAZ vom 17.07.1997) |
Betrachtet man die
Schriftsteller der Post-68er-Generationen, die zurzeit als
Männerromanautoren firmieren, dann reicht das Spektrum vom
erfolgreichen Briten Nick HORNBY, der 1995 mit High Fidelity
den Boom der neuen Männerliteratur begründete, bis zu Sven
REGENER, der mit seiner bislang unvollendeten
Frank-Lehmann-Trilogie erfolgreich war. Daneben
existieren mit Frank GOOSEN ("Liegen lernen") und Daniel BIELENSTEIN ("Die Frau fürs Leben") auch Angehörige der
Generation Golf, die als Männerromanschreiber tituliert
werden. Männerliteratur - das ist meist abwertend gemeint, aber
FAUSER ist im besten Sinne ein Männerroman-Schreiber.
Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!
Eines unterscheidet Jörg
FAUSER von der neuen Generation der Männerroman-Schreiber: die
Männerrolle wird nicht in Frage gestellt. Der Mann ist noch ein
richtiger Mann. Harder, der Protagonist des Krimis Das
Schlangenmaul, ist ein Getriebener. Er ist gefangen im "Rad
der Begierden" und die Steuerfahndung sitzt ihm im Nacken. Im
Gegensatz zu den - vom Debattenfeuilleton bevorzugten -
Sinnsuchern, haben wir es bei Harder mit einem Wahrheitssucher
zu tun. Harder ist ein Jäger, der im Dschungel der Stadt,
konsequent seinen Weg geht. Ist die Spur einmal aufgenommen,
dann gibt es kein Zurück mehr. Auftraggeber hin, Auftraggeber
her. Die Aufgabe stellt das Leben...
Das Schlangenmaul
"Das ist also dein
Zuhause, dachte ich. Jedenfalls, wenn du mal saubermachen
und die Flaschen wegwerfen und den Müll vom Balkon räumen
und die Bücher aufstellen und einen Schrank kaufen und deine
Klamotten reintun und deinen Spion blankputzen und dein Bett
beziehen und dein Bad schrubben und den Fußboden scheuern
würdest, hättest du den Anfang für ein Zuhause. Der Trouble
mit dir ist, Harder, daß du lieber den Anfang für eine Story
hättest als den Anfang für ein Zuhause."
(2006 S.96) |
Das Zuhause muss warten,
wenn es darum geht, eine Aufgabe zu erfüllen. Der Soziologe
Ronald BACHMANN hat 4 Typen des Alleinwohnens beschrieben
. Bei FAUSER reduziert sich das auf die Hälfte: defizitäres und
freizeitmobiles Alleinwohnen prägen das männliche
Singleleben. Das wahre Leben findet draußen statt...
Das Schlangenmaul
"Jades Appartement
bestand aus einem Wohnzimmer mit Blick auf die
Verkehrskreuzung und einem winzigen Balkon, dessen einziger
Sinn darin liegen konnte, über die rostzerfressene
Balustrade nach unten zu springen, einem gekachelten Bad, in
dem noch das Parfüm der Vormieterin zu Hause war, einer
Kochnische und dem Schlafzimmer, das groß genug für ein
Bett, einen Videorecorder, das Telefon und eine Flasche
Barcadi war.
»Mach dir's bequem« sagte Jade, nachdem er mir sein Heim
gezeigt hatte. Das Wohnzimmer glich meinem, nur daß Jade
keine Umzugskisten herumstehen hatte. Fleckiger brauner
Teppichboden, Stehlampe, an der noch das Preisschild hing,
zwei funkelnagelneue Sessel aus imitiertem Leder, eine
Sperrholzkiste, die als Tisch diente, eine Alu-Schale mit
den Resten einer Mahlzeit, ich kannte das Zeug:
Schlemmerfilet la Bordelaise. Keine Bilder, keine Bücher,
keine Hi-Fi-Türme.
(...).
Er brachte zwei eiskalte Dosen Cola Light, und nachdem er
auch saß und wir an dem Zeug genippt hatten, sagte er mit
einem nervösen Lächeln und einer Handbewegung, die alles
umfaßte: »Mir scheint einfach die Überzeugung zum Schöner
Wohnen zu fehlen. Bett, Eisschrank, Video, ab und zu ein
Buch - fürs Wirtschaftswachstum müssen die anderen sorgen.«"
(2006, S.194f.) |
Harder ist auf den ersten
Blick der Schrecken der Feministinnen und Postfeministinnen.
1983 erschien in Amerika das einflussreiche Buch The Hearts of
Men von Barbara EHRENREICH, das 1984 auch ins Deutsche
übersetzt wurde. Darin wird die Rebellion der Männer
beschrieben. EHRENREICH analysiert die Philosophie des
Playboy und der Beat-Generation.
Die Herzen der Männer
"Der
»Krieg der Geschlechter« und die »Lösung
geschlechtsspezifischer Rollenkonflikte« bestimmten in den
letzten zwanzig Jahren die - nach weitverbreiteter Ansicht
von Frauen ausgelöste - Diskussion über die Beziehungen der
Geschlechter zueinander.
Barbara Ehrenreich vertritt die These, daß dabei - versteckt
hinter viel Rhetorik - eine der wichtigsten Veränderungen
übersehen wurde: der Verfall des Moral-Gesetzes, nach dem
Männer zuallererst Ernährer einer Familie sind. Die Autorin
weist nach, daß Männer durch Fluchttendenzen aus dieser
traditionellen Verantwortung als Brotverdiener mehr im
Zusammenleben der Geschlechter verändert haben als Frauen -
und dies seit den frühen Fünfzigern, mehr als zehn Jahre vor
dem Sichtbarwerden der sogenannten Frauenbewegung."
(aus: Klappentext 1984) |
FAUSER ist zwar von beiden
Philosophien beeinflusst, aber im Roman Das Schlangemaul
ist diese Philosophie stark gebrochen. FAUSER orientiert sich hier
weniger an der Beat-Generation, sondern knüpft an den
US-amerikanischen Krimi der Schwarzen Serie an. Nicht BUKOWSKI
oder BOUROUGHS, sondern CHANDLER ist das Vorbild. Im Gegensatz
zu den traditionellen Privat Eyes der Schwarzen Serie, ist Harder jedoch Vater einer Tochter. Wenn Harder die verschwundene
Tochter seiner Auftraggeberin sucht, dann wird klar, dass er
sofort zur Stelle wäre, wenn seine eigene Tochter ihn wirklich bräuchte. Aber Harder ist seit 5 Jahren geschieden und lebt getrennt von seiner
Frau Evelyn, die in Hamburg Pöseldorf lebt und Redakteurin einer
Kunstzeitschrift ist. Die gemeinsame Tochter besucht ein
englisches Internat.
Rebell im Colahinterland
Nicht nur Harder, sondern
auch FAUSER selber war Vater einer Tochter. Im Abschnitt
Die großen Städte und der kleine Tod, wird auf FAUSERs
Tochter Petra (1966 geboren) eingegangen:
"Von der Existenz Petras werden die Eltern erst fünfzehn
Jahre später erfahren. Jörg Fauser sieht sich bei ihrer
Geburt nicht in der Lage, die Vaterrolle einzunehmen."
(Matthias Penzel und Ambros Waibel 2004) |
Feministinnen
würden Harder vorwerfen, dass er nicht für den Unterhalt
aufkommt. Statt einer geregelten Erwerbsarbeit nachzugehen,
zieht er es vor der wahren Story nachzujagen. Lieber abgebrannt
als festangestellt. Postfeministinnen
würden beklagen, dass er vom alltäglichen Kinderkram nichts
wissen möchte. Aber Harder würde ihnen antworten, dass die
Zeiten nicht danach sind, solange draußen die Welt noch nicht in
Ordnung ist.
Der Mann und der Großstadtdschungel
Das Schlangenmaul
"Am Ende wird man sagen
müssen, daß all die Mühe (...) auch zu dem Preis gehört, den
wir alle zahlen für unsere Freizügigkeit, unsere Mobilität,
unsere Dienstleistungsgesellschaft, die die Solidarität
durch den Service ersetzt hat. Einer der Beamten schilderte,
wie sie in den Bombennächten von Berlin nach der Entwarnung
gleich rausliefen, um nachzusehen, ob das Haus noch stand,
wo die Tante wohnte, der Laden, wo der Schwager arbeitete.
Damals zerfiel ein Staat, aber Familien überlebten. Heute
läßt sich an der Arbeit unserer Vermißtenstelle ablesen, wie
die Familien zerfallen, nach und nach, an ihre Stelle tritt
der Computerterminal. Ist der Staat dann nicht sinnlos?"
(2006, S.301) |
Jörg FAUSER hat 1984 für
das Berliner Stadtmagazin tip eine Reportage mit dem
Titel Spurlos verschwunden geschrieben, die man in der
jetzt erschienenen Neuauflage des Krimis im Alexander
Verlag ebenfalls nachlesen kann. Wer sich für den Krimi als
Zeitdokument interessiert, der wird also zusätzlich auf seine
Kosten kommen. Die
Idee zum Krimi kam FAUSER durch eine Recherche. Die
Bildzeitung brachte damals Sensationsberichte über mehrere
Tausend Mädchen, die jährlich in Berlin verschwinden.
Anfang der
1980er Jahre war West-Berlin bekanntlich ein Magnet, der die
Jugend aus der Provinz anlockte. Einerseits gab es die
Hausbesetzerszene und die Punk-Bewegung
, andererseits lieferte
die Verfilmung des Buchs Wir Kinder vom Bahnhof Zoo über
das Drogenschicksal der Christiane F. Anlass für die
schlimmsten Befürchtungen.
Das Schlangenmaul
"Solche Fälle hat es doch
immer gegeben, die Lust am Abenteuer, am Verschwinden, das
wahre Leben suchen, die große Freiheit, nun also auch bei
Mädchen: Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise? Die
Umstände, erfuhr ich, die sind neu. Das langsame, aber
unübersehbare Abbröckeln von Familie, Verwandtschaft, Ehe,
Bindungen überhaupt."
(2006, S.300) |
Wenn man so will, ist
FAUSER eine Art früher Vorläufer von Michel HOUELLEBECQ
. Als
Autor der 68er-Generation sieht FAUSER die Sache mit dem Zerfall
der Familie naturgemäß anders als HOUELLEBECQ, der ja gerade die
68er-Bewegung für den Untergang des Abendlandes verantwortlich
macht. Für
FAUSER beginnt das Trauma in den Bombennächten des Zweiten
Weltkriegs. Damit dürfte er derzeit ganz im Trend liegen In dem
Buch Alles wird gut schreibt er:
Alles wird gut
"»wir
sind eine Generation von Trümmerkindern, erst später hat
man uns Computersilos und Zuckerfassaden auf die Trümmer
gestellt, aber wir vergessen sie nicht. (...). So groß
kann unsere Liebe zu dieser Welt, die man uns vorgesetzt
hat, niemals sein, daß wir uns nicht alle nach den alten
Trümmern sehnen.«"
(1979, S.112f.) |
Die Topographie der Berliner Gesellschaft
FAUSER
wird gerne als jemand betrachtet, der sich den Underdogs der
Gesellschaft gewidmet hat. Im Krimi Das Schlangenmaul
steht dagegen die Aufsteigergesellschaft der Neureichen
und jenen, die es unbedingt werden wollen, im Mittelpunkt.
Das Schlangenmaul
"Schwund in 6 Buchstaben:
Berlin. Der erste Blick macht einen an, und dann sieht man
genauer hin und entdeckt die Zeichen des unaufhaltsamen
Verfalls, den keine Mache übertünchen kann."
(2006, S.182)
"Berlin ist ein
Kunstgebilde, (...) ein künstlich am Leben gehaltenes
Symbol, ein Mythos am Tropf, aus sich selbst nicht
lebensfähig, eine Subventionsmaschine, eine
Schmiergeldmetropole. Berlin ist die Große Korruption."
(2006, S.221) |
Die korrupte Republik ist
das Ergebnis einer Verquickung von Politik, Wirtschaft und
Rotlicht-Milieu. Der Sozialstaat und die damit verbundenen Arrangements
der Subventionspolitik bilden den Hintergrund der neuartigen
Kriminalität, mit der Harder bei seiner Suche nach einer
vermissten Tochter konfrontiert wird.
Das Schlangenmaul
"In der Paris-Bar hockten
nach Mitternacht die Habitués, Dramatiker aus Ost-Berlin auf
dem Weg ins Bordell, Szene-Journalisten auf der Suche nach
einem Abstauberfick oder einer Dosis Schnee, aufstrebende
Avantgardisten aus dem Schwäbischen und den Grazer
Vorstädten, die auf den Anschluß nach New York warteten,
Modedesigner, die in Kreuzberger Hinterhöfen den Bettel-Look
der achtziger Jahre entwarfen, angeschickerte
Filmproduzenten, die bei jedem Anruf zusammenzuckten: »Wenn
es Hollywood ixt, ich ruf zurück.« (...).
» (...) Als ich das erste Mal hier war, Mitte der Siebziger,
war die erste Kneipe, in die ich kam, die Paris-Bar. (...).
Die zerschlissenen Poster, die alten Plakate, die hinkenden
Kellner. Zwiebelsuppe und roter Landwein in der Karaffe und
blutige Beefsteaks und Studentinnen mit Baskenmützen und
Feuilletonisten mit dem Frühstücksei auf dem Schlips. Eine
andere Epoche.«"
(2006, S.265f.) |
Für FAUSER erschließt sich
die Westberliner Topographie von der Kantstraße aus. Dort wohnt
Harder im 13. Stock eines Appartmenthauses mit Blick auf die
alte Berliner Mitte. Dort residiert das Berliner Stadtmagazin
tip, das zu FAUSERs Zeiten seine Blütezeit erlebte. Dort
liegt die Paris Bar, die 1979 von zwei Österreichern übernommen
wurde und in den 1980er Jahren ihre große Zeit hatte. Seit
dem Mauerfall hat sich das Berliner Koordinatensystem
verschoben, aber wer wissen will, wie die Westberliner
Gesellschaft der 1980er Jahre funktionierte, der ist mit FAUSER
als Stadtführer gut bedient.
Rebell im Colahinterland
"Gerade
weil das sorgsam kartografierte Westberlin nicht mehr
besteht, zugleich seine Ecken und Eigenschaften mit und ohne
Mauer wuchern, ist Lutz Hagestedts anlässlich der
Wiederveröffentlichung 1997 geäußerte Diagnose nicht zu
verachten: Rohstoff und Schlangenmaul seien
"aktuell wie noch nie – und sie sind zugleich historische
Romane aus der alten Bundesrepublik geworden".
(Matthias Penzel und Ambros Waibel 2004) |
Wäre
Das Schlangemaul ein Film und Berlin ein weites Land,
dann wäre der Berlin-Krimi ein Roadmovie. Bei seiner Suche nach
der vermissten Tochter durchstreift Harder die mythischen Orte
dieser Stadt. Sicher, die Berliner Subkultur sucht man im Krimi
vergeblich. Das mag Poplinke wie Diedrich DIEDERICHSEN stören.
Aber ansonsten liefert FAUSER eine Milieustudie, die fast nichts
auslässt, was damals den Zeitgeist bestimmte.
1985 - Jörg Fauser als unverzichtbare Stimme des
popkulturellen Individualisierungsschubs
Vor kurzem ist das Buch
Deutschlandvermessung von Christian SCHÜLE erschienen. Der
Angehörige der Generation Golf macht am Jahr 1985 einen
Paradigmenwechsel fest, den Beginn der Postmoderne.
Deutschlandvermessung
"Ab
1985 gab es außer dem wohlfahrtsstaatlich abgesicherten
Hedonismus keine einheitsstiftenden Ereignisse mehr, weil zu
viele Erlebnismöglichkeiten miteinander konkurrierten, deren
Verwirklichungen zu viele divergierende Verhaltensmuster
hervorriefen." (S.30)
"Die Entertainmentepoche begann 1985. Das duale
Rundfunksystem war der sinnbildliche Ausdruck des
postmodernen Pluralismus (...). Mit Sat.1 war Ende 1984 in
Deutschland der erste aus dem Kabel kommende,
werbefinanzierte Privatsender an den Start gegangen, wenig
später folgte RTL plus Deutschland (heute RTL), sodann PRO
7. (...). Seither kämpfen auch ARD und ZDF nicht mehr allein
um Mittelschicht oder Bildungsbürgertum, sie ringen mit den
Privatsendern um die entintellektualisierte,
entkontextualisierte, enthemmte Neue Mitte. Die
ambitionierte Vergeistigung der siebziger Jahre ist bis auf
weiteres erfolgreich ausgemerzt."
(2006, S.51) |
Im Krimi Das
Schlangenmaul ist dieses Umkippen deutlich spürbar. FAUSER
ist an der Schnittstelle zwischen alter und neuer Mitte
anzusiedeln. Mentalitätsgeschichtlich ist er ein
Gesellschaftskritiker alter Schule, sein Stil ist dagegen von
der Popkultur geprägt. FAUSER
verortet seine Figuren im damaligen Lifestyle-Kosmos. Der
Lebensstil lässt sich - wie in der jungen Popliteratur - an den
Markennamen fest machen. Es wird nicht einfach geraucht, sondern
es wird eine Kool angezündet oder Gitanes geraucht. Es wird
nicht einfach Auto gefahren, sondern ein schwerer Mercedes oder
ein schneller BMW fährt durch die Straßen. FAUSER ist da ganz
popmodern. Harder
wirkt dagegen regelrecht altmodisch. Während seine Ex-Frau
erfolgreich in der Kunstszene tätig ist, kann sich Harder mit
den neuen Zeiten nicht so recht anfreunden. FAUSER beschreibt
sensibel die damaligen Grenzverläufe, auch wenn man seinen
Figuren Eindimensionalität vorgeworfen hat. Die damaligen
Kritiker saßen offensichtlich der Verwendung moderner
Poptechniken und der Dramaturgie des Plots auf. FAUSER war in
dieser Hinsicht seiner Zeit voraus. Wenn
Christiane RÖSINGER den FAUSERschen Roman als Rock- und nicht
als Poproman charakterisiert, dann kann man ihr nur zustimmen.
Alles deutet darauf hin, dass Rock eine Renaissance erlebt.
Die Poplinke jedenfalls,
die seit Mitte der 1980er Jahre mehr und mehr den Mainstream der
Minderheiten verkörperte, ist seit einiger Zeit in der Krise.
Rock ist eine der Antworten und sicherlich nicht die
Schlechteste.
Jörg Fauser - Rebell im Colahinterland
An dieser Stelle gilt mein
besonderer Dank dem FAUSER-Biografen Matthias PENZEL, dem ich
das fast fertige Manuskript dieser Rezension geschickt hatte. Es
hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass sich unsere
Einschätzungen zu FAUSER und Das Schlangenmaul in
wichtigen Punkten decken. Ich wusste bis dahin auch nicht, dass
Matthias PENZEL (und nicht sein Co-Autor Ambros WAIBEL)
derjenige war, der die Passagen zum Krimi Das Schlangenmaul
persönlich verfasst hatte. Ein doppelter Glücksgriff also für
mich, auch wegen der hilfreichen Anmerkungen zu meinem
Manuskript.
Alles Rohstoff
"Matthias
Penzel und Ambros Waibel gehen in ihrer hervorragend
recherchierten, spannenden, allemal würdigen Biografie
»Rebell im Cola-Hinterland» ihrem Hausheiligen denn auch
nicht auf den Leim. Sie erzählen skrupulös und detailreich
sein Leben, das mit einem Spaziergang auf der Autobahn am
17. Juli 1987, ausgerechnet an seinem 43. Geburtstag ein
frühes und legendenträchtiges Ende nimmt, machen aber
nicht den Fehler, das Werk auf die Vita zu reduzieren.
Vielmehr beharren sie immer wieder mit guten Beispielen
auf dem vielseitigen Stilisten, begnadeten Melancholiker,
eben dem Künstler."
(Frank Schäfer in der TAZ vom
13.07.2004) |
Wenn hier aus der
Biografie Rebell im Colahinterland zitiert wurde, dann
stammen diese Zitate aus einer der
"allerletzten Versionen der Biografie", in die mir Matthias PENZEL
dankenswerterweise Einblick gewährt hat. Im Abschnitt Die
Berlin-Hannover-Achse wird darin der Krimi Das
Schlangenmaul gewürdigt. Allen
FAUSER-Fans sei diese lesenswerte Biografie besonders empfohlen.
Die beiden Autoren Ambros WAIBEL und Matthias PENZEL haben sich
viel Mühe damit gegeben. Sie haben mit vielen Personen aus dem
Umfeld von FAUSER persönlich gesprochen. Gerade auch der Krimi
Das Schlangenmaul ist stark autobiographisch geprägt.
FAUSER wusste also genau worüber er schrieb.
Fazit: Ein Buch für Männer, die keine Lust auf
faule Kompromisse haben
Das Schlangenmaul
von Jörg FAUSER bietet neben Spannung und Action auch Einblicke
in eine Welt, die scheinbar vergangen ist, aber nichtsdestotrotz
ist die heutige Welt ohne diese alte Republik nicht verstehbar.
Wenn im Krimi neben Berlin auch Hannover, die SCHRÖDER-Stadt,
eine Rolle spielt, dann zeigt dies, dass FAUSER den Weg in die
Berliner Republik instinktiv gespürt hat. Es
ist die Generation Golf, die gerade ihre Wurzeln
entdeckt. Der Wandel des Wertewandels hat Mitte der 1980er
Jahre seinen Ursprung
. Der popkulturelle
Individualisierungsschub hat, ganz in der Tradition der
Dialektik, seine eigene Gegenbewegung hervorgebracht. Die
Geschichte des Individualisierungsschubs muss neu geschrieben
werden. FAUSER hätte einiges dazu zu sagen gehabt, wäre er noch
am Leben. Dem
Alexander Verlag ist zu danken, dass FAUSER nun auch der
jüngeren Generation zugänglich gemacht wird. Der Band 7 der Jörg-Fauser-Edition macht neugierig auf das Gesamtwerk. Die
FAUSER-Liebhaber dürfen sich auf 2007 freuen, denn Band 8 und 9
der Edition stehen dann auf dem Programm des Alexander Verlags.
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