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Die Bevölkerungsentwicklung im Spiegel der
Bevölkerungsvorausberechnungen
Bislang wurden 5
koordinierte Bevölkerungsvorausberechnungen für das
wiedervereinigte Deutschland erstellt. Im nachfolgenden
Schaubild sind die einzelnen Varianten (niedrig, mittel und
hoch) im Überblick dargestellt.
Die 7. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung wurde nur in einer einzigen
Variante berechnet. Es zeigt sich, dass die tatsächliche
Bevölkerungsentwicklung Ende der 1980er Jahre unterschätzt
wurde. Die Bevölkerung stieg in den 1990er Jahren stärker an
als vorausgesagt. Die
8. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung wurde in 3
Varianten erstellt, die für das Jahr 2030 alle einen höhern
Bevölkerungsstand errechneten als in der vorangegangene
Vorausschätzung. Die
Variante niedriger Bevölkerungsstand liegt bei jeder
nachfolgenden Bevölkerungsvorausschätzung für die Jahre 2030 bis
2050 höher als die vorangegangene. Die
mittlere Variante ist bis zur 10.
Bevölkerungsvorausberechnung ebenfalls steigend. Einzig die
letzte Vorausschätzung weist fallende Werte aus. Hier wäre
deshalb genauer zu untersuchen, welche Faktoren (Geburtenrate,
Wanderungssaldo oder Sterblichkeit/Lebenserwartung) hierfür
verantwortlich waren. Bei
der Variante hoher Bevölkerungsstand liegt die 10. BVB
mit über 81 Millionen Einwohnern an der Spitze. Die 11. BVB
liegt um ca. 3,7 Millionen niedriger, aber immer noch fast 6
Millionen höher als die 9. BVB. Die 8.
Bevölkerungsvorausschätzung endete dagegen mit dem Jahr 2040.
Bereits
die Tatsache, dass die Vorausschätzungen für das Jahr 2030
zwischen fast 70 Millionen (7. BVB) und fast 84 Millionen (10.
BVB hoch) schwanken, zeigt, dass die Bevölkerungsentwicklung in
den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten keineswegs so
vorprogrammiert ist, wie das die Bevölkerungswissenschaftler
behaupten. Eine Bevölkerungszahl, die um 14 Millionen Einwohner
differiert, obwohl zwischen der 7. und der 11. BVB nur 15 Jahre
liegen, deutet auf einen größeren Spielraum hin. Selbst
wenn man nur die mittlere Variante betrachtet, beträgt der
Korridor immer noch über 10 Millionen. Eine genauere Analyse der
Ursachen für diese Fehleinschätzungen wird es in einem der
folgenden Teile geben.
Die Geburtenentwicklung im Spiegel der
Bevölkerungsvorausberechnungen
Die Geburtenrate pendelte
in den alten Bundesländern seit ca. 30 Jahren um den Wert 1,4.
Aus dieser Tatsache wird abgeleitet, dass sich daran auch in den
nächsten 30 Jahren nichts ändern wird. Pessimisten gehen sogar
davon aus, dass die Geburtenrate weiter fallen wird, weil
Kinderwunschstudien des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung darauf hingedeutet haben, dass der
Kinderwunsch in den letzten Jahren zurückgegangen sei. Diese
Interpretation ist durchaus umstritten
. Ein Wandel des
generativen Wandels, ob positiv oder negativ, könnte die
ganzen Bevölkerungsvorausberechnungen der letzten Jahre
innerhalb kürzester Zeit veralten lassen, wie ein Blick in die
Vergangenheit zeigt.
Sterben wir aus?
"Noch 1966 ging man in
der Bundesrepublik Deutschland davon aus, daß im Jahre 2000
die Bevölkerung um 14 Millionen zunehmen werde. 1972 wurde
dann bereits ein Rückgang der Bevölkerung von 4,5
Millionen vorausgesagt. Dies bedeutet (...) einen Unterschied von über
18 Millionen Menschen!"
(1977, S.9) |
Obwohl die Geburtenrate
der letzten Jahrzehnte scheinbar keinerlei Überraschungen bot,
ist das nicht ganz richtig. Die Geburtenentwicklung in den neuen
Bundesländern wurde Anfang der 1990er falsch eingeschätzt. Dies
führte zu Dramatisierungen der Bevölkerungsentwicklung, die den
gegenwärtigen in Nichts nachstehen.
Ein Manifest - Weil das Land sich ändern muss
"Die
jüngsten Prognosen des Statistischen Bundesamtes über die
künftige Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands sind
eindeutig. Ohne Veränderung der Geburtenrate und ohne
Zuwanderungen wird sie bis Ende der neunziger Jahre um
rund eine Million Menschen, im dann folgenden Jahrzehnt um
2,8 Millionen, zwischen 2011 und 2020 um 4,4 Millionen und
zwischen 2021 und 2030 um 5,6 Millionen, insgesamt also um
etwa 14 Millionen Menschen abnehmen."
(1992, S.40) |
Im Aufsatz
Demographische
Entwicklung in Ostdeutschland und in ausgewählten Regionen.
Analyse und Prognose bis 2010 legen Rainer MÜNZ & Ralf ULRICH
eine Bevölkerungsvorausberechnung vor. Sie steht ganz unter dem
Eindruck des "unerwartet drastischen" Rückgangs der Geburtenrate
(TFR).
Die
Autoren gehen davon aus, dass dieser Rückgang in erster Linie
auf den Aufschub von Geburten, aber auch auf einen Ausfall von
Geburten in den jüngeren Frauenjahrgängen zurückzuführen ist.
MÜNZ & ULRICH haben 3 Varianten der Geburtenentwicklung für die
neuen Bundesländer durchgerechnet.
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1962
und früher Geborene |
1963 -
1979 Geborene |
1980
und später Geborene |
Variante 1 |
Kinderzahl auf Niveau vor Wende |
Sofortige Angleichung auf Westniveau und 33 %
Geburtenausfall |
Geburtenrate auf Westniveau |
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TFR 2000
kleiner als 0,95 |
Variante 2 |
siehe
1 |
Angleichung auf
Westniveau zwischen 1992 und 2001; kein Geburtenausfall |
siehe
1 |
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TFR 2000 = 1,1 |
Variante 3
(wahrscheinliche Entwicklung) |
siehe
1 |
Angleichung auf
Westniveau zwischen 1992 und 2001; 33 % Geburtenausfall |
siehe
1 |
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TFR 2000 = 0,95 |
Noch 1998 beurteilte der
nationalkonservative Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG das
Geburtendefizit in Ostdeutschland folgendermaßen:
Die Gefahr ist groß, daß Europa als Kulturraum
verschwindet
"Die neuen Länder verzeichneten nach der Wende die
niedrigste Geburtenrate Europas: Sie betrug weniger als
ein Kind je Frau. Inzwischen ist ein leichter Anstieg auf
ein Kind pro Frau feststellbar. Aber gegenüber den 1,3
Kindern pro Frau im Westen macht das einen Unterschied von
30 Prozent aus. Das hat zur Folge, daß die Bevölkerung in
den neuen Ländern viel stärker schrumpft als in den alten."
(Welt-Gespräch von Adelbert Reif v. 24.08.1998) |
Inzwischen haben wir das
Jahr 2000 hinter uns, sodass sich die Annahmen von MÜNZ & ULRICH
teilweise
überprüfen lassen. Die Entwicklung der Geburtenrate deutet
darauf hin, dass - im Gegensatz zu den Ausführungen der Autoren - nicht die Variante 3, sondern die Variante 2 Realität
geworden ist:
Jahr |
tatsächliche Entwicklung TFR
(seit 2001 ohne Berlin-Ost) |
Vorausschätzung |
1990 |
1,52 |
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1991 |
0,98 |
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1992 |
0,83 |
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1993 |
0,77 |
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1994 |
0,77 |
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1995 |
0,84 |
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1996 |
0,95 |
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1997 |
1,04 |
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1998 |
1,09 |
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1999 |
1,15 |
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2000 |
1,21 |
0,95
(Variante 3) |
2005 |
1,30 |
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2010 |
1,46 |
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Michaela KREYENFELD & Dirk
KONIETZKA haben bereits seit längerem darauf hingewiesen, dass
Frauen in den neuen Bundesländern eine höhere Geburtenrate im
Vergleich zu Frauen in Westdeutschland aufweisen. Im Juli 2007
erschien in dem Newsletter Demografische Forschung aus erster
Hand (Max-Planck-Institut für demografische Forschung in
Rostock) der Aufsatz Mehr Kinder pro Frau in Ost- als in
Westdeutschland, in dem Dirk KONIETZKA und Michaela
KREYENFELD neue Zahlen zur Geburtenrate der jüngeren
Frauenjahrgänge vorlegten. Bis
zum Jahr 2005 brachten die 1965 geborenen Frauen im Osten
1,58 und im Westen nur 1,47 Kinder zur Welt. Es zeigt sich
zudem, dass diese kohortenspezifische Geburtenziffer (CFR) für
den Frauenjahrgang, der in den letzten Jahren in den Mittelpunkt
der demographischen Debatte geraten ist
, bereits jetzt über
der Zahl von 1,4 liegt, die in allen
Bevölkerungsvorausberechnungen der letzten Jahre für die Zukunft
unterstellt wurde. Die ersten Ergebnisse der Sonderhebung
Geburten in Deutschland deuten in die gleiche Richtung.
Der
Frauenjahrgang 1965 hatte im Jahr 2005 das 40. Lebensjahr
erreicht, d.h. er hat immer noch nicht das Ende der Gebärfähigkeit
erreicht. Auch wenn die Zahl der Geburten von über 40-jährigen
Frauen bislang sehr gering war, zeigt sich, dass gerade
Akademikerinnen nicht selten sogar noch ihr erstes Kind in
diesem Alter bekommen
.
Es
mag auf den ersten Blick unerheblich erscheinen, ob nun eine
Geburtenrate bei 1,4, 1,5 oder 1,6 liegt. Nationalkonservative
sehen erst bei 2,1 das Geburtensoll erreicht. Der
Soziologe Franz-Xaver KAUFMANN betrachtet in seinem Beitrag den
Einfluss, den unterschiedlichen Faktoren auf die
Bevölkerungsentwicklung haben, nur oberflächlich :
Bevölkerungsrückgang als Problemgenerator für alternde
Gesellschaften
"Für
das Verhältnis von Geburten und Zuwanderungssaldo kann man
davon ausgehen, dass eine Veränderung der langfristigen
Fruchtbarkeitsrate von 0,2 in etwa einer Veränderung des
langfristigen jährlichen Zuwanderungssaldos von 120.000
Personen entspricht."
(Franz-Xaver Kaufmann, WSI
Mitteilungen, Heft 3, 2007, S.109) |
Genauer haben
das Eckart BOMSDORF & Bernhard BABEL erforscht. In ihrem Beitrag
Annahmenflexible Bevölkerungsvorausberechnungen und die 11.
koordinierte Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen
Bundesamtes demonstrieren die Autoren, welche Auswirkungen
geringfügige Änderungen bei den Annahmen auf die zukünftige
Bevölkerungsentwicklung haben.
Annahmenflexible Bevölkerungsvorausberechnungen und die
11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnungen des
Statistischen Bundesamtes
"Es
lässt sich (...) feststellen, welche Konstellation der
Werte für die einzelnen Komponenten der
Bevölkerungsentwicklung notwendig wäre, um einen
vorgegebenen Bevölkerungsumfang in ausgewählten Jahren zu
erreichen. So wäre beispielsweise bei der mittleren
Variante hinsichtlich der Lebenserwartung (88,0 bzw. 83,5
Jahre bei weiblichen und männlichen Neugeborenen), der
Nettozuwanderung (150 000 Personen jährlich) sowie der
Sockelwanderung ( 400 000 Personen jährlich) eine Zunahme
der Fertilitätsrate bis 2010 (danach konstant) auf 1,76
erforderlich, um im Jahr 2050 einen Bevölkerungsumfang von
80 Mill. Einwohnern zu haben."
(Wirtschaft und
Statistik, Heft 9, 2007) |
Selbst
ein Wanderungssaldo von Null ist nicht so aussagekräftig,
wie es scheint, denn eine unterschiedliche Sockelwanderung kann
hier bereits mittelfristige Auswirkungen auf die
Bevölkerungsentwicklung haben.
Bereits
geringfügige Steigerungen der Geburtenrate um 0,1 haben in den
nächsten Jahren einen großen Einfluss auf das langfristig
erreichbare Bevölkerungsniveau. Ein starker Bevölkerungsrückgang
bis zum Jahr 2050 ist deshalb keineswegs vorprogrammiert. Die
Entwicklung der Geburtenrate der 1963 - 1979 Geborenen wird sich
abschließend erst in den nächsten Jahrzehnten beurteilen lassen.
Die pessimistischen Voraussagen der 1990er Jahren haben sich
bislang - insbesondere im Hinblick auf Ostdeutschland - jedenfalls nicht bestätigt.
Fazit: Die Bevölkerungsentwicklung der nächsten
Jahrzehnte ist offener als es die Debatte um den demografischen
Wandel nahe legt
Eine wichtige Frage wurde
in der Debatte um den demografischen Wandel meist
vernachlässigt. Ist ein weiterer Anstieg der Bevölkerung in
Deutschland überhaupt wünschenswert oder hat ein gemäßigter
Rückgang der Bevölkerung nicht auch Vorteile?
Der
Soziologe Karl Otto HONDRICH hat in seinem Buch Weniger sind
mehr eindrucksvoll aufgezeigt, dass die wirtschaftlichen und
sozialen Folgen der Bevölkerungsentwicklung weit weniger durch
die bloße Anzahl der Köpfe bestimmt sind, sondern durch
qualitative Faktoren wie bessere Bildung, Kreativität,
Innovationsfähigkeit, Lebensqualität usw. Der
Bevölkerungsstatistiker Gerd BOSBACH hat dargelegt, dass wir in
der Vergangenheit bereits einen weit größeren demografischen
Wandel erlebt haben als jener, der vor uns liegt. In weiteren Teilen dieser Serie werden deshalb die
Bevölkerungsvorausberechnungen und die auf ihnen beruhenden
Krisenszenarios noch genauer betrachtet werden. Viele
Zusammenhänge, die in der öffentlichen Debatte vorschnell
hergestellt werden, erscheinen bei genauerem Hinsehen als weit
weniger plausibel.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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