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Mythos: "Das bevölkerungspolitische Tabu muss
gebrochen werden"
Ein Manifest - Weil das Land sich ändern muss
"Bisher
waren in Deutschland bevölkerungspolitische
Fragestellungen geradezu tabuisiert. Die Folge sind
verbreitete Fehlvorstellungen über die
Bevölkerungsentwicklung. Wie empirische Untersuchungen
zeigen, meint die Mehrheit noch immer, die Bevölkerung
Deutschlands ruhe auf einem soliden demographischen
Fundament. Sie hält weder eine Veränderung der
Geburtenrate noch Zuwanderer für die langfristige
Stabilisierung von Bevölkerungszahl und -struktur
erforderlich."
(1992, S.46) |
Genau 10 Jahre nach dem
Manifest Weil das Land sich ändern muss, behaupten
höchstens noch bevölkerungspolitische Hardliner, dass es dieses
Tabu noch gibt. Stattdessen gibt es einen neuen politischen
Konsens, den Franz-Xaver KAUFMANN - eher widerwillig - auf die
Jahre seit 2002 datiert:
Weniger sind mehr
"Der
Soziologe Karl Otto Hondrich ist im Januar dieses Jahres
gestorben - allzu früh! So ist dieses Buch, dessen
Erscheinen er nicht mehr erlebt hat, sein letztes Wort
geworden. (...). Das Buch ist ein Manifest gegen einen,
wie ihm scheint, »umfassenden und unhinterfragten
Konsens«, den er in zwei Sätzen zusammenfasst: »Erstens,
es gibt zu wenig Kinder. Zweitens, die Politik muss mehr
dagegen tun«. Dieser Konsens, wenn es ihn denn tatsächlich
geben sollte, ist neuen Datums. Noch 2002 konnte ich einen
thematisch einschlägigen Vortrag unter dem Titel
»Bevölkerungsrückgang - Tabu und Investitionslücke«
ankündigen, noch damals kümmerte sich die Politik nur um
das Altern der Bevölkerung, nicht um den
Geburtenrückgang."
(Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, Heft 4, Dezember 2007, S.739) |
Der Widerwille von
Franz-Xaver KAUFMANN ist verständlich, denn schließlich erschien
von ihm noch im Jahr 2005 das Buch Schrumpfende Gesellschaft, das
er als Pionierleistung in Sachen Geburtenrückgang verstanden wissen wollte. Der Zeitgeist war jedoch längst weiter. Im März 2006 mündete
dieser Konsens in eine hysterische Kampagne. Das Buch
Minimum von Frank SCHIRRMACHER markiert vorerst den
Schlusspunkt einer breit angelegten Medienoffensive, die dem
Gebären und Zeugen zu seinem Recht verhelfen wollte und
Kinderlose an den Pranger stellte
. Es
schien so, als ob SCHIRRMACHER die Debatte um den
Geburtenrückgang entdeckt hätte. Weit gefehlt. Entgegen der weit
verbreiteten Meinung, dass die Debatte erst jetzt begonnen
hätte: das Gegenteil ist richtig. Seit 100 Jahren steht
Deutschland bevölkerungspolitisch am Abgrund! Und immer ist es
der Geburtenschwund, der die höchste mediale Aufmerksamkeit
garantiert
.
Der
bevölkerungspolitische Tabubruch wird seitdem mit ziemlicher
Regelmäßigkeit inszeniert. Die Drastik der
bevölkerungspolitischen Rhetorik hat in diesem Jahrzehnt -
entgegen der landläufigen Meinung - eher abgenommen.
Einwanderungsland Deutschland
"Wegen
der extrem niedrigen Geburtenzahlen in den letzten 30
Jahren könnte der Rückgang der Bevölkerung in den nächsten
40 Jahren nur über eine explosionsartige Steigerung der
Geburtenhäufigkeit ausgeglichen werden. Wie im
afrikanischen Gambia müßten die Frauen durchschnittlich
sieben bis acht Kinder zur Welt bringen."
(Dieter Oberndörfer im Sammelband Perspektiven für
Deutschland 1994, S.289) |
In seinem Buch Die
ausgefallene Generation aus dem Jahr 2005 schreibt der
Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG, dass die
Geburtenrate verdreifacht werden müsste, wolle man die
demographische Alterung stoppen (S.66). Dies entspräche einer
Steigerung von 1,4 auf 4,2 Kinder pro Frau. Dies wäre also nur
noch halb so viel wie der Migrationsforscher Dieter OBERNDÖRFER
noch 10 Jahre früher behauptet hatte (Schlauköpfe werden jetzt
natürlich sofort einwenden, dass ersterer sich auf das
Bevölkerungsniveau, letzterer jedoch auf die Altersstruktur
bezieht, aber Verschiebungen im Inhalt gehören eben auch zu den
rhetorischen Kniffen).
Mit der Erhebung Geburten in Deutschland
vom Herbst 2006, deren Ergebnisse inzwischen häppchenweise veröffentlicht werden, wird
diese Debatte nun auf einer sachlicheren Ebene möglich. Hier soll deshalb
gefragt werden, wie es so weit kommen konnte. Dies geschieht in
einem erstem Anlauf anhand diverser
Bevölkerungsvorausberechnungen, die sich auf das Gebiet des
wiedervereinigten Deutschland beziehen. Sobald
in den letzten Jahren eine alte durch eine neue Bevölkerungsvorausberechnung ersetzt wurde, war sie dem
Vergessen anheim gefallen. Es wurde bislang selten gefragt, wie
hoch die Treffsicherheit denn eigentlich war. Der Mohr hatte
seine Schuldigkeit getan! Ein Gesetz war durchgepeitscht worden.
Danach krähte kein Hahn mehr danach. Hier
soll deshalb aufgezeigt werden, welche Mythen im Laufe der
vergangenen 15 Jahre entstanden sind und wie die Entwicklung
tatsächlich verlief.
Mythos: "In Wahrheit ist die Geburtenrate
der nächsten Jahrzehnte weitgehend programmiert"
Der letzte Deutsche
"In
Wahrheit ist die Geburtenrate der nächsten Jahrzehnte
weitgehend programmiert. Weil die Zahl der potenziellen
Mütter bereits seit langem sinkt und Ungeborene nun mal
keine Nachfahren in die Welt setzen".
(Spiegel v. 05.01.2004) |
Auf den ersten Blick
klingt das einleuchtend, was der Spiegel hier schreibt.
Tatsächlich ist jedoch nicht die GeburtenRATE von den
potenziellen Müttern abhängig, sondern die GeburtenZAHLEN sind
es. Die GeburtenRATE war zwar in den letzten 30 Jahren recht
stabil, aber sie kann sich jederzeit sowohl nach oben als auch
nach unten ändern.
Nicht
nur das Beispiel Frankreich zeigt, dass sich die
zusammengesetzte Geburtenziffer (TFR), wie die GeburtenRATE im
Wissenschaftsjargon heißt, innerhalb von kürzester Zeit ändern
kann, sondern auch die neuen Bundesländer. Sie fiel dort
von 1,52 im Jahr 1990 auf 0,99 im Jahr 1991. Der Anstieg um
fast den gleichen Betrag von 0,78 (1994) auf 1,31 (2004) dauerte
dagegen ein ganzes Jahrzehnt. In Frankreich stieg die
Geburtenrate im gleichen Zeitraum nur von 1,66 (1994) auf 1,9 im
Jahr 2004. Beide Beispiele deuten jedoch darauf hin, dass eine
Steigerung der Geburtenrate schwieriger ist als die Menschen vom
Kinderkriegen abzuhalten. Dies muss offenbar nicht einmal eine
tief greifende Krise sein. Die letzten Jahre zeigten immer
wieder, dass Jahre mit Bundestagswahlen die Lust aufs
Kinderkriegen reduziert haben
. Auf dieser Website
wurde deshalb bereits seit langem aufgezeigt, dass die
Single-Lüge in der Vergangenheit fatal zur Unlust aufs
Kinderkriegen beigetragen hat. Im Buch Die Single-Lüge
wird dies ausführlich beschrieben
. Im
weiteren soll zudem gezeigt werden, dass die jungen
Frauengenerationen bereits heute mehr Kinder bekommen als dies
durch die Geburtenrate (TFR) zurzeit noch angezeigt wird. Ein
baldiges Ansteigen ist deshalb wahrscheinlicher als das
Gegenteil.
Ziel: "Kein Nachwuchs, keine Rente"
Die Alterslast steigt,
weil von den Nach-68ern zu wenig Kinder geboren werden, lautet
das Credo der Nationalkonservativen und ihrer Sympathisanten.
Die steigende Alterslast steht synonym für die Krise der
Sozialversicherung, insbesondere der Renten- und der
Pflegeversicherung. Auf
den Punkt gebracht hat diese Zielrichtung Susanne GASCHKE in der
Zeit vom 14.08.2003 mit der Forderung Kein Nachwuchs,
keine Rente
. Nicht
alle gehen bislang so weit und fordern gleich eine Rente nach
Kinderzahl
. Doch alle
Forderungen gehen in irgendeiner Weise in diese Richtung. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem umstrittenen
Pflegeurteil vom April 2001 jedenfalls die Übertragung des
Prinzips, dass Kinderlose höhere Beiträge als Eltern zahlen
sollten, auch für die Rentenversicherung nahe gelegt.
Es
wird hier die These aufgestellt, dass die
Bevölkerungsvorausberechnungen seit den 1970er Jahren in
steigendem Maße die reibungslose Durchsetzung des Umbaus des
Sozialstaats garantiert haben. Um
dies zu überprüfen, sollen in dieser Serie insbesondere die 11 koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnungen (BVB) herangezogen werden, die
das Statistische Bundesamt in Koordination mit den
Statistikämtern der Länder bislang erstellt hat. In der
nachfolgenden Übersicht wurde für die Geburtenhäufigkeit jeweils
jene Variante ausgewählt, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung
als diejenige Variante mit der höchsten
Eintrittswahrscheinlichkeit bezeichnet wurde. Das macht Sinn,
weil es jene Variante ist, mit der zum jeweiligen Zeitpunkt eine
Politik des Umbaus des Sozialstaats begründet wurde. Anhand
von Titelgeschichten des Spiegels und von Dossiers der Wochenzeitung Die
Zeit lässt sich überprüfen, welche Rolle die diversen
Bevölkerungsvorausberechnungen in der Öffentlichkeit gespielt
haben. Es lässt sich aufzeigen, dass bereits
seit
den 1980er Jahren die diversen Rentenreformen auch mit Verweis
auf die zukünftige Bevölkerungsentwicklung begründet wurden. Es waren
nicht immer die hier betrachteten
Bevölkerungsvorausberechnungen, die in den Medien publiziert
wurden. Aber in diesen Fällen können dann zumindest Vergleiche gezogen
werden.
Übersicht: Die 11 koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnungen im Nachkriegsdeutschland
BVB |
1 |
2 |
3 |
Basisjahr |
1965 |
1967 |
1969 |
Zeithorizont |
01.01.
2000 |
01.01.
1990 |
01.01.
1985 |
Gebiet |
früheres Bundesgebiet |
früheres Bundesgebiet |
früheres Bundesgebiet |
Annahmen
zu den Geburten |
Konstanz wie 1965 |
Konstanz wie für 1968 erwartet |
Konstanz wie für 1970 erwartet |
Fachveröffentlichung |
WiSt
H.11/1966 |
|
WiSt
H.11/1971 |
Publikation in den
Medien |
|
|
|
|
BVB |
4 |
5 |
6 |
Basisjahr |
1971 |
1974 |
1988 |
Zeithorizont |
01.01.
2000 |
1990 |
31.12.
2030 |
Gebiet |
früheres Bundesgebiet |
früheres Bundesgebiet |
früheres Bundesgebiet |
Annahmen
zu den Geburten |
Rückgang um 9 % bis 1975 (Variante 2) |
1976/77
Rückgang um 1,5/1 %; danach Konstanz |
Konstanz wie 1988 |
Fachveröffentlichung |
WiSt
H.2/1973 |
|
|
Publikation in den Medien |
Spiegel Nr.13 v.
24.03.1975*
|
Zeit-Dossier
v. 05. & 12.01.1979*
Zeit-Dossier
v. 22.02.1985*
Spiegel v.
04.03.1985*
4-teilige Spiegel-Serie
v. 23.12.1985 - 13.01.1986* |
|
|
BVB |
7 |
8 |
|
Basisjahr |
1989 |
1992 |
|
Zeithorizont |
31.12.
2030 |
31.12.
2040 |
|
Gebiet |
Deutschland |
Deutschland |
|
Annahmen
zu den Geburten |
West:
Konstanz wie 1989 (TFR 1,4, NRR 0,67
Ost:
Rückgang bis 1992; danach Anstieg bis 1995 auf West-Niveau |
West:
Konstanz (TFR 1,4, NRR 0,67
Ost:
Rückgang bis 1995 auf 0,38; danach Anstieg bis 2005 auf
West-Niveau |
|
Fachveröffentlichung |
WiSt
H.4/1992 |
WiSt
H.7/1994 |
|
Publikation in den
Medien |
|
Spiegel Nr.35 v. 30.08.1999* |
|
Rentenreform |
|
|
|
|
BVB |
9 |
10 |
11 |
Basisjahr |
1997 |
2001 |
2005 |
Zeithorizont |
31.12.
2050 |
31.12.
2050 |
31.12.
2050 |
Gebiet |
Deutschland |
Deutschland |
Deutschland |
Annahmen
zu den Geburten |
West:
Konstanz (TFR 1,4, NRR 0,67
Ost:
Jahr 1998 (NRR 0,52) Anstieg bis 2005 auf West-Niveau |
|
|
Fachveröffentlichung |
WiSt
H.1/2001 |
WiSt
H.8/2003 |
|
Publikation in den
Medien |
Vorstellung der Ergebnisse im Juli.2000
Zeit-Dossier v.
10.05.2001
Zeit-Serie v.
02.01.-13.02.2003*
|
Vorstellung der Ergebnisse am 06.06.2003
Spiegel Nr.2 v. 05.01.2004
|
Vorstellung der
Ergebnisse am 07.11.2006
|
Rentenreform |
|
RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 09.12.2003 (BT-Drucksache
15/2149) |
|
Abkürzungen:
WiSt = Wirtschaft & Statistik
Anmerkungen: * Medienbericht ohne direkten Bezug
auf die koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, aber
auf andere Vorausberechnungen |
Der Politikwissenschaftler
Simon HEGELICH hat in dem Buch Reformkorridore des deutschen
Rentensystems
die Rentenreformen von 1957 bis 2004 in 3
Phasen unterteilt:
|
1957 -1972 |
1973 -1988 |
1989 - heute |
Reformphase |
Ausbau des
Rentensystems |
Anpassung des
Rentensystems |
Umstrukturierung des
Rentensystems |
Reformprojekte (Auswahl) |
1957:
Einführung der dynamischen Umlagefinanzierung |
1973:
Beschränkung des Zuverdienstes
1977:
Aufschiebung der Anpassung
1983:
Rückkehrförderung für Gastarbeiter
|
Seit 1990:
Integration der neuen Länder
1992:
Einführung der Nettoanpassung; Anhebung der Altersgrenze;
Abschläge
1999:
Demografischer Faktor
2001:
Ausbau der 2. und 3. Säule
2004:
Nachhaltigkeitsfaktor |
In allen drei Phasen
spielte der demographische Wandel eine Rolle. Die 1950er Jahre
werden hier jedoch ausgeblendet, weil es vor der
Studentenbewegung keine breite öffentliche politische Debatte
gab.
In ihrem
aufschlussreichen Buch
Die Transformation der Sozialpolitik schreiben Frank
NULLMEIER und Friedbert W. RÜB über die demographischen
Debatten:
Die Transformation der Sozialpolitik
"Demographische
»Bedrohungen« haben die Rentenpolitik immer begleitet.
Prognostizierte »Rentenberge« spielten sowohl bei der
Reform 1957 eine Rolle wie auch Mitte der 60er Jahre.
Später argumentierten die Kritiker der Reformen von 1972
mit der Vernachlässigung eines Rentenberges Mitte/Ende der
70er Jahre, der zum Reformzeitpunkt absehbar gewesen wäre.
Bereits seit 1977/78 wurde die Folgen des
Geburtenrückgangs als Rentenberg nach dem Jahr 2010 für
restriktive Eingriffe in die Gesetzliche
Rentenversicherung angeführt. Steigende Alterslasten und
selbst die Warnung vor dem »Aussterben der Deutschen«
waren und sind keine Rezessionsthemen. Die Thematisierung
der demographischen Entwicklung verstärkte sich vielmehr
im langen Aufschwung der 80er Jahre."
(1993, S.362) |
NULLMEIER & RÜB datieren
die Enttabuisierung der Bevölkerungspolitik im
Zusammenhang mit der Rentenpolitik auf die 1970er Jahre. In der
öffentlichen Debatte nach der Jahrtausendwende wurde dieser
Tatbestand fast völlig ausgeblendet.
Die Transformation der Sozialpolitik
"Sieht
man vom populären
»Pillenknick« ab, dann zeichneten sich seit 1972
nennenswerte Diskussionen über die Vermeidbarkeit von
Geburten- und Bevölkerungsrückgang bzw. Maßnahmen einer -
bis dato tabuisierten - Bevölkerungspolitik zur Steigerung
der Geburtenrate ab. Den Auftakt bildete im Herbst 1972
eine Tagung der Katholischen Akademie in Regensburg mit
dem Thema »Vom Geburtenrückgang zum Geburtendefizit« Der
Tagungsbericht (Gründel [Hg.]1973) erschien unter jenem
Titel, der als emotionsbesetzter und wertgeladener Topoi
die gesamte Debatte um Bevölkerungsentwicklung und
-politik dominierte: »Sterbendes Volk?«.
Im folgenden Jahr wurde ein Symposium der katholischen
Akademie Schwerte unter dem Titel »Bevölkerungsbewegung
zwischen Quantität und Qualität - Voraussetzungen einer
verantwortbaren Bevölkerungspolitik in der Bundesrepublik«
nicht zuletzt wegen ihrer Problematik als geschlossene
wissenschaftliche Arbeitstagung abgehalten.
Die Öffentlichkeit dagegen wurde durch mediale Ereignisse
wie die Sendung des ZDF vom 24.11.1972 »Sterben die
Deutschen aus?«, den gleichnamigen Spiegel-Titel des
Heftes 13/1975 und die ebenfalls gleichnamige Sendung der
ARD am 20.4.1978 auf das Thema Bevölkerungsentwicklung in
dramatisierter Form aufmerksam gemacht.
(...).
Mit der Verstärkung der öffentlichen Thematisierung und
den neuen Initiativen auf Länder- und Bundesebene kam es
schließlich 1977/78 zu einer explosiven Ausbreitung der
demographischen Diskussion (für die parteipolitische
Ebene: Dettling[Hg.] 1978) und zu Ansätzen einer
bevölkerungspolitischen Wendung (Vorläufer: Wingen 1975).
Die Katastrophenrhetorik setzte sich in Titeln wie »Keine
Kinder - keine Zukunft?« (Franke/Jürgens [Hg.] 1978).
Nunmehr wurde jedoch deutlicher als bisher auf die Politik
verwiesen: Sie sei es, die die Zukunftschancen der Nation
und des Volkes durch eine höhere Geburtenrate zu sichern
habe. Bevölkerungspolitik und/oder Familienpolitik galten
als neue Policies, die gegenüber der bisherigen
Sozialpolitik zu stärken seien."
Die bevölkerungspolitische Wende der demographischen
Diskussion erreichte das Parlament. Der Druck der
Unionsparteien führte bei der sozialliberalen Koalition zu
einer langsamen Akzeptanz gemäßigt bevölkerungspolitischer
Zielsetzungen: Mit der Regierungserklärung von Helmut
Schmidt vom 16.12.1976, die noch stark vom Rentendebakel
der Vortage gekennzeichnet war, richtete sich die
Aufmerksamkeit der Bundesregierung bereits auf
»Schwankungen im Bevölkerungsaufbau«."
(1993, S.363f.) |
Seit Ende der 1970er Jahren
geht es nicht mehr um die Enttabuisierung der
Bevölkerungspolitik, sondern um die Durchsetzung von
Bevölkerungspolitiken in den unterschiedlichen
Politikbereichen.
Mit der Gründung des Bundesinstituts für
Bevölkerungswissenschaft im Jahr 1973 hat die
Institutionalisierung der Bevölkerungspolitik einen sichtbaren
Ausdruck gefunden
.
NULLMEIER
& RÜB datieren den entscheidenden Umbruch in der
Rentenpolitikdebatte auf das Jahr 1978:
Die Transformation der Sozialpolitik
"Eine
Zuspitzung erfuhr die Debatte durch eine Kehrtwende bei
der Ursachenanalyse: Die Veränderungen in der
Bevölkerungsstruktur galten im korporatistischen Nez der
Rentenpolitik bis dahin als externe Größe, auf die die GRV
weder Einfluß hatte noch bekommen konnte. Dies legte eine
reaktive Politik nahe, die bestenfalls die jeweils
erforderlichen Anpassungsreaktionen vornahm. Dagegen
entfaltete sich eine demographische Argumentation, die den
Geburtenrückgang auch als Folge der institutionellen
Ausgestaltung der GRV verstand. Die
Bevölkerungsentwicklung stellte sich der GRV danach als
selbsterzeugtes Problem dar. Eine Rentenpolitik, die den
Geburtenrückgang mitverursacht, wäre zumindest unbewußt
Bevölkerungspolitik. Der Einbau explizit
bevölkerungspolitischer Elemente ist dann nur Explikation
einer immer schon wirkenden Kausalität. Indem die GRV für
den Geburtenrückgang kausal verantwortlich gemacht wird,
verschlechtern sich argumentationsstrategisch die
Möglichkeiten, Bevölkerungspolitik mit den Mitteln der
Rentenversicherung zurückzuweisen. Die Betrachtung der
Bevölkerungsentwicklung als externe Größe vermag den
politischen Kurs einer Anpassung der Rentenversicherung
bei durchgehaltenen Grundprinzipien zu stützen, während
eine Theorie der GRV als Verursacherin des
Geburtenrückgangs dazu führt, die bisherige
institutionelle Form der GRV in frage zu stellen und
Umbauten zu fordern.
Diese (...) Argumentationsrichtung trat erst in den späten
70er Jahren in politisch bedeutsamem Umfang auf."
(1993, S.367f.) |
NULLMEIER & RÜB haben
damit jene theoretische Unterfütterung auf den Punkt gebracht,
die bei Simon HEGELICH, wie weiter oben dargelegt, zur
Unterscheidung zwischen Anpassungs- und Umstrukturierungsphase
in der Rentenpolitik führt. Im
Beitrag Der subsidiäre Sozialstaat aus dem Jahr 2004 hat
single-generation.de diesen Aspekt ausführlicher
dargestellt
. Die Individualisierungsthese von Ulrich BECK, die Lutz
LEISERING ("Sozialstaat und demographischer Wandel") seit Mitte der 1980er Jahre speziell im Hinblick auf
die Sozialstaatsproblematik konkretisiert hat , kann als
eine von drei Lösungsversuchen für die Umstrukturierungsphase
gesehen werden
.
Sozialstaat und demographischer Wandel
"Ab
Mitte der 70er Jahre bildete sich in der politischen
Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ein
Bewußtsein aus, daß ein radikaler Bruch in der Entwicklung
der Bevölkerung eingetreten war. Der (...)
Geburtenrückgang hatte sich nicht auf einem niedrigen
Niveau eingependelt wie allgemein angenommen, sondern ging
ab 1967 in einen weiteren Absturz über. Zu Beginn der 80er
Jahre begannen die Folgen aktueller und für die nächsten
Jahrzehnte abzusehender Bevölkerungsveränderungen für
Staat und Gesellschaft Besorgnis auszulösen. Der
Bevölkerungsbericht der Bundesregierung, dessen erster
Teil (1980) die demographische Entwicklung und dessen
zweiter Teil (1984) die gesellschaftlichen und politischen
Folgen analysierte, spiegelt die Stufen öffentlicher
Problemwahrnehmung wider. Ängste vor einer Überalterung
der Gesellschaft und einer fiskalischen Überlastung von
Rentenversicherung und Gesundheitswesen zirkulierten in
den 80er Jahren (...).
Naturgemäß hat sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit,
aber auch der politischen Planung und der Wissenschaft
primär an handgreiflichen Problemen einzelner sozialer
Sicherungssysteme und einzelner Bevölkerungsgruppen (Alte
bzw. Junge) festgemacht. Auf dieser Basis wurden
Vorschläge institutionentechnischer Adjustierungen
vorgelegt (besonders im Fall der gesetzlichen
Rentenversicherung), mit denen man glaubte, der Probleme
Herr zu werden. Demgegenüber soll in dieser Studie die
These vertreten werden, daß die aktuelle diskutierten
Probleme grundsätzlicherer Art sind und nur durch eine
Sicht auf den Gesamtzusammenhang aller relevanten
Institutionen und Bevölkerungsgruppen verstanden erden
können. Eine solche Perspektive soll hier erstmals
theoretisch und empirisch ausgearbeitet werden."
(1992, S.1f.) |
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