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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Bitterfeld-Wolfen im demografischen Wandel

 
       
   

Ein politisches Kunstgeschöpf im Kampf gegen das Negativimage (Teil 2)

 
       
     
   
     
 

Kommentierte Bibliografie (2016 - 2019)

2016

STEINLEIN, Eva D. (2016): Eine, die sich gewaschen hat.
ZEIT-Serie Unterschätzte Stadt: Bitterfeld ist eher als Umweltkatastrophe bekannt denn als Ort. Dabei ist die giftige Vergangenheit lange her, die Stadt hat sich gewandelt,
in:
ZEIT Online v. 18.01.

KÄMPER, Vera u.a. (2016): Wo der Frust wohnt.
AfD-Wahlerfolg in Bitterfeld: Die AfD hat in Sachsen-Anhalt die größten Erfolge eingefahren - am deutlichsten in Bitterfeld. Hohe Arbeitslosigkeit, Sozialneid und Angst vor Flüchtlingen bilden dort den Nährboden für Rechtspopulismus. Ein Ortsbesuch,
in:
Spiegel Online v. 15.03.

Der Spiegel berichtet über Bitterfeld (Wahlkreis 29), wo ein AfD-Direktkandidat mit 33,4 % der Stimmen bei der Landtagswahl 2016 vorne lag. Aber auch im Wahlkreis 28 (Wolfen) gewann die AfD das Direktmandat mit 31,0 %. Die AfD gewann insgesamt 15 der 43 Direktmandate in Sachsen-Anhalt. 

SCHRÖTER, Stefan (2016): Rückbau in Wolfen-Nord.
Die nächste Abrissrunde kommt,
in: Mitteldeutsche Zeitung v. 01.07.

2017

BMI (2017): Umgang mit Leerstand. Lokale Experten berichten, Januar

LOBENSTEIN, Caterina (2017): Hier herrscht Klassenkampf.
Sachsen-Anhalt: In der Arbeiterstadt Bitterfeld ist die AfD stärkste Partei. Ihre Wähler haben nicht nur mit Flüchtlingen ein Problem, sondern auch mit dem Kapitalismus,
in:
Die ZEIT Nr.2 v. 05.01.

"Hier blühte bis vor wenigen Jahren die Hoffnung Ostdeutschlands: ein Fabrikpark, in dem Tausende Arbeiter Solarzellen bauten und in die ganze Welt exportierten. »Solar Valley« nannten die Bitterfelder das Gelände, und damals fühlte es sich an, als habe es die Region endlich geschafft. Die Firmen, die hier produzierten, klangen nach Zukunft, sie hießen Q-Cells und Sovello, Solibro und Calixo. Die Stadt hatte heftig um sie geworben, mit niedrigen Steuerhebesätzen und hochflexiblen Arbeitskräften, mit millionenschweren Fördersummen und einer Autobahnzufahrt, die eigens für den Solarpark gebaut wurde. Die Bundesregierung setzte noch einen drauf: Mit Subventionen für Solarstrom sorgte sie dafür, dass die Nachfrage nach Solarzellen stieg. Die Unternehmen kamen – und brachten Tausende Jobs.
Es dauerte nicht lange, bis Konzerne aus China die gleichen Solarzellen billiger produzierten, bis sie die Firmen aus Bitterfeld schluckten und die Arbeitsplätze nach Asien verlegten. Tausende Menschen aus der Region verloren ihren Job",

beschreibt Caterina LOBENSTEIN den Aufstieg und Fall de Solarindustrie in Bitterfeld, der Monika MARON im Jahr 2009 eine vielgepriesene Reportage setzte.

Aber dies ist nur ein Aspekt des Aufstiegs der AfD in Bitterfeld, wo die Partei das beste Ergebnis in Sachsen-Anhalt erzielte:

"AfD-Politiker Daniel Roi (...). Bei den Landtagswahlen im März 2016 bekam er 31 Prozent der Stimmen, so viele wie kein anderer Kandidat in seinem Wahlkreis. (...). Die SPD kam hier bei der Landtagswahl auf acht Prozent der Stimmen. Die Linkspartei sackte ab auf 13 Prozent, was für ostdeutsche Verhältnisse ein desaströses Ergebnis ist. Und auch wenn bei der jüngsten Bürgermeisterwahl nicht die AfD gewann, sondern der von einem breiten Bündnis unterstützte Kandidat der CDU: Die Alternative für Deutschland könnte in Bitterfeld bei der Bundestagswahl im September die großen Parteien hinter sich lassen."

LOBENSTEIN führt den Erfolg AfD nicht auf Identitäts- sondern auf Verteilungspolitik zurück und vergleicht ihre Erfolge mit anderen Gebieten, in denen rechtspopulistische Parteien in Europa erfolgreich waren:

"Im deindustrialisierten Norden Englands und im ländlichen Polen, im Osten Deutschlands und im Süden Frankreichs. (...). Und die AfD baut im Ruhrgebiet eine Arbeitnehmerorganisation auf, um SPD und Linken Wählerstimmen abzujagen, im einst roten Pott, im Milieu der Kohlekumpel und Stahlarbeiter."

Für LOBENSTEIN spiegeln die Daten nicht die Lebenswirklichkeit der Abgehängten wieder:

"Wo einst marode Fabriken standen, wird heute nach hohen Umweltstandards produziert. Wo nach dem Zusammenbruch der DDR-Industrie Zehntausende Menschen ihren Job verloren, ist die Arbeitslosenquote mittlerweile wieder gesunken: vom mehr als 20 Prozent im Jahr 2003 auf weniger als acht Prozent im Jahr 2016. Die Löhne in der Chemiebranche, dem wichtigsten Wirtschaftszweig der Region steigen (...).
Viele gut bezahlte Fachkräfte aber, die bei Bayer oder Guardian arbeiten, leben nicht in Bitterfeld, sie wohnen in Halle oder Leipzig - und geben dort das Geld aus, das sie in Bitterfeld verdienen. Auch die Arbeitslosenzahlen erscheinen bei näherem Hinsehen nicht mehr ganz so rosig: Viele Menschen sind einfach in Rente gegangen oder weggezogen."

LOBENSTEIN porträtiert eine Arbeiterin des Niedriglohnsektors, die sich abgehängt fühlt, Angst um ihren Arbeitsplatz und Vorbehalte gegen Migranten hat und mit der AfD sympathisiert.

"In Bitterfeld werden die Bedürfnisse der Bürger mit dem immergleichen Satz gestutzt: Es gibt kein Geld (...).
Bitterfeld-Wolfen ist die am höchsten verschuldete Kommune in Sachsen-Anhalt, ein extremes Beispiel für ein verbreitetes Problem: Während die deutsche Volkswirtschaft insgesamt prächtig gedeiht, geht es einzelnen Kommunen miserabel. Nicht nur in Ostdeutschland, auch im Ruhrgebiet, in Rheinland-Pfalz, im Saarland."

Kreisreformen sollen gemäß LOBENSTEIN nur über die Probleme der Kommunen hinwegtäuschen:

"Im Jahr 2007 gab es eine Kreisreform, Bitterfeld wurde mit der Nachbarstadt Wolfen zusammengelegt, gegen den Willen der Bürger. So machen es viele Kommunen hier: Sie verschmelzen, damit sie sich als Standort besser vermarkten können. Sie rücken zusammen, damit man nicht sieht, wie schnell sie schrumpfen und altern. (...).
Es gab in all den Jahren immer wieder Konzerne, die Jobs nach Bitterfeld brachten, aber nie waren diese Jobs sicher. Es gab Lokalpolitik, die Unternehmen bewusst anlockten. Aber dass sie auch blieben, stand außerhalb ihrer Macht."

LOBENSTEIN beschreibt hier den ruinösen Standortwettbewerb der Kommunen um die Gunst der Konzerne, den Neoliberale mit dem Etikett "Fortschritt" glorifizieren.

STADT BITTERFELD-WOLFEN (2017): Statistische Kurzinformationen der Stadt Bitterfeld-Wolfen (Stand 06.03.),
in: bitterfeld-wolfen.de v. 17.04.

Die ehemalige Gemeinde Bitterfeld ist seit Mitte 2007 ein Ortsteil der Stadt Bitterfeld-Wolfen. Das Gebiet der Stadt Bitterfeld-Wolfen hat zwischen den Jahren 2000 und 2016 rund 14.000 Einwohner verloren. Der Aufstieg zum "Solar-Valley" nach der Jahrtausendwende ist an der Stadt als Wohnstandort also spurlos vorbeigegangen. Die Erfolgsgeschichte endete mit der ersten Insolvenz eines Solarmodulsherstellers Ende 2008. Zwischen den Jahren 2000 und 2008 verlor die Stadt Bitterfeld-Wolfen bereits rund 10.000 Einwohner.

RICHTER, Christoph D. (2017): Frustriert und vergessen in Bitterfeld.
Sachsen-Anhalt: Diesig, neblig, grau: Bitterfeld galt mal als die dreckigste Stadt Europas. Davon ist längst nichts mehr zu sehen – doch die Stimmung ist gedrückt. Eine ganze Generation entlassener Industriearbeiter sieht sich bis heute um ihre persönliche Lebensleistung gebracht,
in:
Deutschlandfunk v. 15.09.

"Bitterfeld wurde im aktuellen Raumordnungsbericht des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung als strukturschwach eingeschätzt. Und das, obwohl die Region in den vergangenen 27 Jahren auch einen Wirtschaftsaufschwung erlebt hat. Im Chemiepark Bitterfeld beispielsweise sind seit 1998 knapp 11.000 neue Jobs entstanden. 360 Firmen haben sich angesiedelt, 4,5 Milliarden Euro wurden investiert. Über allem schwebt das Bayer-Kreuz, denn fast jede Aspirin-Tablette in Europa kommt aus Bitterfeld. Die Arbeitslosigkeit liegt mit acht Prozent im einstelligen Bereich. 1991 lag sie noch bei 20 Prozent.
Die Erfolge kommen bei den Menschen aber wenig an, stattdessen herrscht noch immer das Bild, in Bitterfeld abgehängt und vergessen zu sein",

berichtet Christoph D. RICHTER aus Bitterfeld-Wolfen.

2018

BUNDESBAUMINISTERIUM (2018): Bundesprogramm Stadtumbau Ost 2018

Die folgende Tabelle zeigt die Wohnungsdaten zu Wolfen-Nord aus den Programmjahren 2009 bis 2018:

Jahr Wohnungs-
bestand
Leerstands-
quote

Geförderter Wohnungsabriss
bis Programmjahr

2009 9.155 WE 16,4 % -
2010 9.155 WE 16,4 % 5.185 WE
2011 9.155 WE 16,4 % 5.227 WE
2012 9.155 WE 16,4 % 5.435 WE
2013 9.155 WE 16,4 % 5.580 WE
2014 7.375 WE 16,4 % 5.733 WE
2015 7.183 WE 16,4 % 6.147 WE
2016 7.183 WE 16,4 % 6.190 WE
2017 7.183 WE 18 % 6.793 WE
2018 7.183 WE 18 % -

ROSTALSKY, Ulf (2018): Stadtentwicklung in Wolfen-Nord.
Das Sorgenkind braucht eine Zukunft,
in:
Focus Online v. 08.08.

2019

IfS (2019): Jahresbericht 2018 der Begleitforschung Stadtumbau Land Sachsen-Anhalt (Datenstand: 31.12.2017) im Auftrag der Stadt Halle, Juni

Vier der aktuelle 45 Stadtumbaustädte liegen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld:

Kommunen

Landkreis (Anzahl Kommunen) Gemeindegröße
(2018)
Typisierung
gemäß
dominierendem
Wohnungs-
bestand
Rang gemäß
Bevölkerungs-
entwicklung
(2002-2017
Bevölkerungs-
entwicklung
(2002-2007
Aken Anhalt-Bitterfeld
(bis 2007: Landkreis Köthen)
Kleinstadt k.A. 31 - 15 - 20 %
Bitterfeld-Wolfen Anhalt-Bitterfeld
(bis 2007: Landkreis Bitterfeld)
Mittelstadt Plattenbaustadt 45 - über 25 %
Köthen (Anhalt) Anhalt-Bitterfeld
(bis 2007: Landkreis Köthen)
Mittelstadt k.A. 27 - 15 - 20 %
Zerbst (Anhalt) Anhalt-Bitterfeld
(bis 2007: Landkreis Köthen)
Mittelstadt Altbaustadt 30 -15 - 20 %

Bitterfeld-Wolfen gehört neben Hohenmölsen, Sangerhausen und Stendal zur Minderheit der "Plattenbaustädte" bei den näher betrachteten 25 Stadtumbaustädten ( vgl. S.74). Bitterfeld-Wolfen gehört gemäß den Stadtforschern zu den zehn Städten mit dem höchsten Anteil an geförderten Abrissen:

"Relativ hohe absolute Fördersummen von je mehr als 4 Mio. Euro entfallen im Zeitraum 2002 bis 2017 auf die 15 Mittelstädte Aschersleben, Bernburg, Bitterfeld-Wolfen, Burg, Dessau-Roßlau, Genthin, Halberstadt, Köthen, Merseburg, Sangerhausen, Schönebeck, Staßfurt, Stendal, Wittenberg und Zeitz. (...).
Im Zeitraum 2002-2017 wurde nach Angaben des Ministeriums für Landesentwicklung und Verkehr (MLV) in den 45 Stadtumbaustädten der Rückbau von insgesamt 81.699 Wohnungen bewilligt und der Rückbau von 78.438 Wohnungen umgesetzt (96,0 Prozent). Drei Viertel aller Rückbauten entfielen mit 58.647 der insgesamt 78.438 realisierten Rückbauten auf die zehn rückbaustärksten Städte (Halle, Dessau-Roßlau, Magdeburg, Bitterfeld-Wolfen, Stendal, Merseburg, Sangerhausen, Halberstadt, Wittenberg, Zeitz). Die Rückbautätigkeit ist allerdings auch in diesen zehn Städten stark rückläufig". (S.88)

BRANDT, Martina/DAHLBECK, Elke/FLÖGEL, Franz/GÄRTNER, Stefan/SCHLIETER, Dajana/SCHILCHER, Christian (2019) Raum und Unternehmen. Zur Funktionsweise von Unternehmensengagement in Regionen mit Entwicklungsbedarf, Nomos Verlag

Das Autorenteam legt u.a. Ergebnisse zu einer Fallstudie über Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt dar. Die Stadt wird mit Daten von Ende 2016 folgendermaßen charakterisiert:

"Wolfen bildet mit rund 16.641 (40,6 Prozent) Einwohnerinnen und Einwohnern den größten Ortsteil, dich gefolgt von Bitterfeld mit 15.250 (37,2 Prozent) Einwohnerinnen und Einwohnern. Die 45- bis 64-Jährigen bilden mit einem Anteil von 32,4 Prozent die am stärksten vertretene Altersgruppe, gefolgt von den 65-Jährigen und älter mit 28,9 Prozent. Hinsichtlich der Altersverteilung bestehen in den Ortsteilen der Stadt Bitterfeld-Wolfen große Unterschiede, so liegt der Anteil der 65-Jährigen und älter in der Stadt Wolfen bei 35,5 Prozent, in Reuden hingegen bei knapp 19,0 Prozent. Das Durchschnittsalter lag am 31.12.2016 bei 49 Jahren und stieg seit 2007 um zwei Jahre.
Bitterfeld-Wolfen verzeichnet seit der Zusammenlegung im Jahr 2007 einen Bevölkerungsrückgang um 10,6 Prozent zwischen den Jahren 2007 (45.830 Einwohnerinnen und Einwohner) und 2016 (40.964 Einwohnerinnen und Einwohner)." (S.81f.)

Für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld wird die 6. regionalisierte Bevölkerungsprognose 2014 bis 2030 herangezogen:

"Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld wird einer Prognose zufolge bis zum Jahr 2030 einen Bevölkerungsrückgang von 14,7 Prozent verzeichnen, wobei insbesondere die Altersgruppe 67 Jahre und älter zunehmen wird (+ 17,1 Prozent). Diese demographische Veränderung stellt eine der zentralen Herausforderungen Bitterfeld-Wolfens dar. Neben dem Rückgang der Bevölkerung insgesamt, wird dem Raum Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung bis zum Jahr 2035 ein Rückgang der Erwerbspersonen um bis zu 40 Prozent prognostiziert (BBSR Raumordnungsprognose 2035). (...).
Der Zahl der Arbeitslosen ist im Landkreis Anhalt Bitterfeld seit dem Jahr 2014 (8.788 Arbeitslose) um über 30 Prozent zum Jahr 2017 (6.119 Arbeitslose) gesunken." (S.82f.)

Die gute Verkehrsanbindung soll dazu führen, dass viele Pendler in Bitterfeld-Wolfen arbeiten, entscheidender dürfte jedoch das schlechte Image der Stadt sein:

"Bitterfeld-Wolfen ist verkehrstechnisch gut erschlossen: Die Städte Halle (Saale), Leipzig und Dessau-Roßlau sind in kurzer Zeit erreichbar, wobei insbesondere die gute Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln hervorzuheben ist. Die Autobahn A 9 sowie die Bundesstraßen 183 und 184 verbinden Bitterfeld-Wolfen mit größeren Städten wie Halle (Saale), Magdeburg, Leipzig und Berlin. Die gute Anbindung an nahe liegende Großstädte, der relativ hohe Besatz an industriellen Arbeitsplätzen und das relativ schlechte Image der S6adt haben unter anderem zur Folge, dass Bitterfeld-Wolfen einen Pendlerüberschuss von 5.191 (12.316 Einpendlerinnen und Einpendler bei 7.125 Auspendlerinnen und Auspendlern; Stand 2015) aufweist." (S.84)

Das Autorenteam beschreibt die Industriegeschichte des Landkreises, wobei der Braunkohleabbau, die Chemie- und Filmindustrie sowie die Versuche eines "Solar Valleys" hervorgehoben werden. Das Resümee:

"(D)er Raum Bitterfeld-Wolfen (wurde) zu DDR-Zeiten zunächst mit hohem finanziellem Aufwand zu einem zentralen Industriestandort ausgebaut (...). Diese industrielle Basis brach mit der Wiedervereinigung zu großen Teilen weg, was hohe Einwohnerverluste, Brachflächen und Wohnungsleerstand zur Folge hatte. Der Versuch eines weiteren industriellen Standbeins - der Solarenergie - konnte keinen anhaltenden Erfolg bieten. Am Standort durchgesetzt hat sich ein Branchenmix mit Fokus auf der Chemieindustrie. Hinzu kam eine »massenmediale Stigmatisierung als ökologische Katastrophenregion« (...) - ein Image, das sich in Teilen bis heute trotz aller positiven Entwicklungen hält. Hinsichtlich dieser anhaltenden Herausforderungen zeigt sich ein Druck für Akteure auf allen Ebenen, sich in der Region zu engagieren und strategische Allianzen zu bilden." (S.88)

Als Strategie gegen die Probleme wird uns der Stadtumbau Ost beschrieben:

"Im Jahr 2002 startete die erste Förderperiode des Bund-Länder-Programms »Stadtumbau Ost - für lebenswerte Städte und attraktives Wohnen«. In Bitterfeld-Wolfen konzentriert sich das Programm »Stadtumbau Ost« auf verschiedene Stadtteile (Anhaltsiedlung, Dichterviertel, Grppin-Gagfah, Innenstadt, Kraftwerksiedlung, Länderviertel, Mittlere Vorstadt, Krondorf, Musikerviertel und Wolfen-Nord) mit den Schwerpunkten Aufwertung und Rückbau, wobei bisher nahezu 80 Prozent der Mittel auf Rückbau verwandt wurden (STEG 2015).
Stadtentwicklung bedeutete zu DDR-Zeiten, insbesondere für den Stadtteil Wolfen-Nord, Neubau von Wohnungen in der sogenannten »Plattenbauweise«. Nach massiver Abwanderung wurden hier insbesondere Rückbaumaßnahmen notwendig. Von 2002 bis 2015 wurden 6.090 Wohnungen zurückgebaut (IfS 2017). Rückbaumaßnahmen bedeuten in diesem Zusammenhang, die Entkernung der Wohnung, der Abriss und daran anschließend die Gestaltung der entstehenden Freifläche (STEG 2015). Seit 2016 wurden diese vor allem in Wolfen-Nord durchgeführt. Die Begleitung und Organisation dieser Umbaumaßnahmen ist ein Hauptaufgabenfeld der Standentwicklungsgesellschaft Bitterfeld-Wolfen mbH (STEG)." (S.89)

Im Jahr 2002 wurde außerdem die IBA Stadtumbau 2010 in die Wege geleitet. Während die Kommune in der Plattenbausiedlung Wolfen-Nord nur Abrisspotential sah, haben sich dort alternative Akteure engagiert. Das Autorenteam nennt hier den Verein Freundeskreis Herzensgemeinschaft Wolfen e.V., der sich im "Quartier 4.4" für ein ökologische Stadtteilprojekt engagiert.

Die Unternehmen in Bitterfeld-Wolfen engagieren sich lediglich im Bereich Fachkräftemangel. Das Autorenteam sieht ein unterdurchschnittliches Engagement im Vereins- Kultur- und Gaststätten-Bereich.

Im Grunde ist nicht der demografische Wandel das Hauptproblem, sondern das massive Imageproblem der Stadt Bitterfeld-Wolfen. Dieses resultiert aus drei Faktoren: Erstens in den ökologischen DDR-Altlasten, zweitens in der Unattraktivität als Wohnstandort und nicht zuletzt darin, dass diese ungelösten Probleme dazugeführt haben, dass die Stadt heutzutage eine AfD-Hochburg ist. Das Fazit des Autorenteams ist dagegen eher milde:

"Die Übernahme von Verantwortung für die Region kann dadurch erschwert werden, dass verhältnismäßig viele Personen aufgrund der Nähe zu Großstädten (...) nach Bitterfeld-Wolfen einpendeln. Somit bleibt nicht nur die in Bitterfeld-Wolfen erwirtschaftete Kaufkraft fern, auch die Identifikation der Personen mit der Region kann erschwert werden. (...).
Der bis Anfang der 2000er Jahre geleistete Aufbau neuer Strukturen hat durch das schnelle Ende der Solarindustrie und das damit verbundenen Webbrechen zahlreicher Arbeitsplätze erneut einen Rückschlag erlitten. (...). Deshalb ist es wichtig, (...) das Image sowohl nach außen als auch nach innen zu ändern - weg von der einst stark umweltbelasteten Region hin zu einer, die vielfältige Möglichkeiten, Sehenswürdigkeiten und touristischen Attraktivitäten bietet. Erschwert wird dies noch durch die erst im Jahr 2007 stattgefundene Zusammenlegung der sieben Ortsteile. Weiterhin hat Anhalt- Bitterfeld durch die Medien das Image einer »AfD-Hochburg« (...). Kooperatives und strategisch gegen rechtes Gedankengut gebündeltes Unternehmensengagement kann ein wichtiger Baustein oder sogar der Aufhänger für Imagekampagnen sein.
Für eine positive Regionalentwicklung, im Besonderen im Kontext von Fachkräftegewinnung, erscheint es notwendig, das zuvor beschriebene, teilsweise noch negativ konnotierte Bild zu verbessern und die positiven Eigenschaften Bitterfeld-Wolfens hervorzuheben. Zu nennen seien hier insbesondere die durch die Neuansiedlung und Festigung der Unternehmen bestehenden Zukunftsaussichten junger Menschen. Eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang nehmen die Bau- und Wohnungsgesellschaften in Bitterfeld-Wolfen ein. Mit der Modernisierung und Sanierung sowie dem Rückbau maroder Wohngebäude tragen sie zur Steigerung der Wohnqualität bei. (...).
Als zentrale Herausforderungen bleiben festzuhalten: der demographischen Wandel, die Akquise von Fachkräften und die Verbesserung des Images, insbesondere als attraktive touristische Region."

Die Zukunft wird zeigen müssen, ob diese Sicht der tatsächlichen Lage in der Stadt gerecht wird.

IZAH (2019): Das andere Bauhaus-Erbe: Leben in den Plattenbausiedlungen Sachsen-Anhalts heute, Halle, 01.07.

In der folgenden Tabelle sind die Plattenbausiedlungen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld aufgeführt (vgl. S.6f.):

Kommunen

Landkreis Gemeinde-
größe

Name des Plattenbaugebiets

Anzahl
Wohnungen
1991
Anzahl
Wohnungen
nach Rückbau
ab 2000
(Jahr)
Aken Anhalt-Bitterfeld Kleinstadt Dessauer Chaussee/Dessauer Landstraße k. A. k. A.
Bitterfeld-Wolfen Anhalt-Bitterfeld Mittelstadt Krondorf (Wolfen) k. A. k. A.
Wolfen Nord 11.100 8.282 (2008)
Köthen (Anhalt) Anhalt-Bitterfeld Mittelstadt Rüsternbreite 3.600 k. A.
Zerbst (Anhalt) Anhalt-Bitterfeld Mittelstadt Zentrum-Nord 1.200 k. A.

Das Stadtentwicklungskonzept der Stadt Bitterfeld-Wolfen (Stand: August 2007) nennt mit 13.400 Wohneinheiten für Wolfen-Nord höhere Zahlen, wobei dort nicht nur Plattenbauten betrachtet werden.

Bitterfeld-Wolfen (2019): Leitbild 2030 Wolfen-Nord und Krondorf, Städtebauliches Leitbild 4. Fortschreibung (finaler Entwurf)

Das Wohngebiet Wolfen-Nord soll in drei neue Stadtteilviertel umbenannt werden: Fuhnetalviertel, Akademikerviertel und Autorenviertel (vgl. S.6) Der Wohnungsbestand für 2017 wird mit 6.015 WE angegeben. Bis Mitte 2018 sollen weitere 640 WE abgerissen werden. Bis 2025 ist ein weiterer Abriss um 1.030 WE, auf dann nur noch 4.000 WE, geplant (vgl. S.16).

WINTER, Steffen (2019): Der Ost-Komplex.
Landtagswahlen: Nirgendwo sonst im Land ist die AfD so stark wie im Osten, nirgendwo sonst fühlen sich die Menschen so benachteiligt und abgehängt - dabei geht es den meisten besser denn je. Ein Blick in die ostdeutsche Seele,
in: Spiegel
Nr.35 v. 24.08.

Am Ende des Artikels kommt Steffen WINTER auf  Bitterfeld-Wolfen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld zu sprechen:

"Wohnten in der inzwischen fusionierten Kommune Bitterfeld-Wolfen 1989 fast 80.000 Menschen, sind es heute nur noch die Hälfte. Selbst der Kulturpalast soll abgerissen werden. Im DDR-Vorzeigeplattenbau Wolfen Nord wohnten einst 35.000 Menschen. Zuletzt waren es weniger als 7.000. Ganze Straßenzüge werden dem Erdboden gleichgemacht. Die Versorgung der verbliebenen Menschen bereitet Mühe. Gerade beklagte die Kassenärztliche Vereinigung, dass elf Hausarztstellen nicht besetzt werden könnten.
(...). Bei der Europawahl im Mai wählten im Landkreis Anhalt-Bitterfeld 22,6 Prozent der Stimmberechtigten die AfD. (...).
Nachdem Chemie und Kohle weitgehend aus Bitterfeld verschwunden waren, versuchte die Stadt, neue Industrien anzusiedeln. Mit 40 Millionen Euro Fördermitteln kam die Solarfirma Q-Cells, doch wenige Jahre später war sie pleite und waren die gut bezahlten Industriearbeitsplätze wieder verschwunden. Im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen arbeiten heute noch 11.000 Menschen, die Arbeitsquote liegt bei sieben Prozent."

Das sollen die Ostdeutschen bitte positiv sehen wie der zitierte westdeutsche Direktor des Kreismuseums der Stadt, der z.B. die Marina für Segelboote lobt. Aber welcher Normalo kann sich schon ein Segelboot in einer Marina leisten?

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 01. März 2020
Update: 21. März 2020