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Rezensionsessay

 
       
   

Der Code des Herzens

 
       
   

Die Renaissance der Romantik durch die Pragmatiker der Liebe

 
       
     
       
   
     
 

Zitat:

Der Code des Herzens

"Betrachtet man (...) Liebe als ein gesellschaftliches Phänomen, sieht man nicht nur, dass Liebe eine relativ junge Erfindung ist, sondern auch, dass jedes Liebespaar eine Sonderwelt bildet. Liebende folgen ihren eigenen Regeln, die für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar sind. Sie nehmen die ganze Welt mit den Augen des anderen wahr, wodurch plötzlich alles auf eine neue Weise sinnvoll wird. So hält jeder Liebende seine Liebe für einzigartig - und hat damit zugleich Recht und Unrecht. Denn Liebe wird zwar stets einmalig erlebt, sonst könnte es nicht Liebe sein. Aber dieser Eindruck des Einmaligen ist zugleich nur möglich, weil alle Liebenden bestimmten Mustern folgen, einer Art Liebescode. Und dieser Code ist so komplex und wandlungsfähig, dass ihn jeder Einzelne dennoch auf einmalige Art und Weise erleben kann."
(2005, S.9f.)

Pure Vernunft darf niemals siegen

Der Buchmarkt wird immer noch von Publikationen überschwemmt, die uns eine gesellschaftliche Realität vorgaukeln, die längst nicht mehr existiert. Wer von Krisen redet, der hat die Hoffnung, dass diese Krise bewältigt werden könnte. Was aber, wenn wir gar nicht in einem Zeitalter der Krise leben, sondern unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen? Was, wenn sich die Lage nicht ändert, sondern stabil bleibt?

Im Gegensatz zu den gängigen Deutungsmustern, wird im vorgestellten Buch Der Code des Herzens davon ausgegangen, dass wir in Liebesdingen unter veränderten Bedingungen leben. Christian SCHULDT, ein Angehöriger der Generation Golf, beschreibt einen neuen gesellschaftlichen Liebescode, der die Geschlechterverhältnisse der Nach-68er-Generationen bestimmt. Im Anschluss an die kulturhistorischen Analysen von Niklas LUHMANN, der in dem Buch Liebe als Passion den Liebescode der funktional-differenzierten Gesellschaft entschlüsselt hat, entwickelt SCHULDT seine Fragestellung:

Der Code des Herzens

"In seinem Buch »Liebe als Passion« sah der Soziologe Niklas Luhmann eher schwarz für die moderne Liebe. (...). Die aktuelle Form des Liebescodes definierte Luhmann als Problem- und Verständnisorientierung: In Beziehungen gehe es darum, Probleme zu erkennen und zu lösen, mit Enttäuschungen fertig zu werden und damit eine dauerhafte Verständigung zu erreichen. Aber ist das immer noch der Stand der Dinge in Sachen Liebe?"
(2005, S.66)

 

Während Niklas LUHMANN 1982 die Liebe als Passion in der Krise sah, weshalb ihm die Liebe nur noch als Problemlösung galt, deutet SCHULDT die gesellschaftlichen Entwicklungen seit Anfang der 1990er Jahre als Eintritt in eine neue Ära des Liebescodes:

Der Code des Herzens

"Die Romantik feiert ein Comeback in eigenartiger Gestalt: als pragmatische Liebe. Nachdem die Grabenkämpfe der Geschlechter ausgefochten und die Problempotenziale ausdiskutiert sind, scheint der Weg frei zu sein für den Eintritt des Liebescodes in eine neue, gewissermaßen »postproblematische Phase«. Die Liebe auf Verhandlungsbasis ließ das Problematische an der Passion so weit ins kollektive Bewusstsein einsickern, dass jetzt ein Gespann aus Pragmatik und Romantik die Zügel übernommen hat."
(2005, S.104)

Christian SCHULDT hat hier also seine eigenen Ermittlungen im Krisengebiet betrieben, so der Titel einer Serie der Süddeutschen Zeitung seit dem 22.01.2005, deren Motto heißt:  "Feminismus war gestern, Patriarchat vorgestern. Heute begegnen sich Männer und Frauen auf Augenhöhe". Mit SCHULDT sind wir im Zeitalter des Postfeminismus angekommen.

Aber hier leben, nein danke

Bislang dominiert hierzulande in den Medien die Liebesgeschichtsschreibung der 68er-Generation. Kennzeichnend dafür ist die Individualisierungsthese von Ulrich BECK. In dieser Sicht erlebten wir in den 1990er Jahren den Zerfall von Liebe und Familie. Während die einen dies als Befreiung begrüßten, sahen die anderen darin den Untergang des Abendlandes. Beide Positionen berufen sich dabei auf die Daten der amtlichen Statistik: Anstieg der Einpersonenhaushalte, Anstieg der Scheidungszahlen, Anstieg der Kinderlosigkeit, Rückgang der Familienhaushalte, Rückgang der Eheschließungen, Rückgang der Geburtenzahlen. Die Tendenzen scheinen evident.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

Die Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
        
Das Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik.

Auch Christian SCHULDT, der seine Thesen vor allem mit der medialen Berichterstattung und statistischen Daten belegt, kann sich dem nur teilweise entziehen.

Der Code des Herzens

"Gegenüber der Kernfamilie ist die Patchworkfamilie eindeutig benachteiligt. Das spiegelt sich bereits in der Tatsache, dass die amtliche Statistik nur die lebenslange Ideal-Ehe adäquat erfasst. In Sachen Familienstand wird die Gesellschaft unter dem Schema »verheiratet/nicht verheiratet« durchsucht. Lebensformen jenseits der Normalfamilie fallen damit durch das staatstatistische Raster."
(2005, S.173f.)

Solche kritischen Einsichten in die Unzulänglichkeiten der amtlichen Statistik finden sich leider nur selten. Aufgrund dieser Tatsache ist eine nervende Lieblingsvokabel von SCHULDT das Wörtchen "scheint", das die Unsicherheiten über die im Buch beschriebenen Trends umso deutlicher hervortreten lässt. Die auf single-dasein.de und single-generation.de veröffentlichen Daten sprechen dagegen eine viel eindeutigere Sprache. Da die gegenwärtig empirisch verfügbaren Daten noch meist die Verhältnisse vor der Jahrtausendwende widerspiegeln, ist davon auszugehen, dass die von single-generation.de sichtbar gemachten Trends erst in den nächsten Jahren deutlicher zu Tage treten werden. Immerhin wird von SCHULDT - was immer noch nicht selbstverständlich ist - der Wandel des Single-Images auf den Anfang der 1990er Jahre vorverlegt. Eine solche Sicht hätte bis vor kurzem noch als ketzerisch gegolten.

Der Code des Herzens

"Die interessanteste Frage beim Single-Boom lautet aber: Sind die Singles freiwillig oder nur notgedrungen allein? (...) Aufschlussreich ist hierbei ein Blick auf den Wandel des Single-Images. Denn spätestens seit Anfang der 90er Jahre hat sich das Bild des Singles radikal verändert. Noch in den 80ern galt das Single-Dasein als wegweisend und schick. Wer allein lebte, durfte sich geradezu als gesellschaftliche Leitfigur fühlen, als autonom, emanzipiert und arbeitsaktiv. Hier schlug die Geburtsstunde des Yuppies, der lange als idealtypischer Single galt. Doch diese positive Perspektive auf die Single-Existenz, die bereits im Anschluss an die revolutionären 60er eingesetzt hat, scheint sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt zu haben. Singles werden heute eher bedauert als beneidet, eher kritisiert als idealisiert."
(2005, S.181)

Unter dem Stichwort "Wandel des Wertewandels" wird dieser Befund mittlerweile auch von der empirischen Forschung - mit immerhin 10jähriger Verspätung - bestätigt . In der neuesten Ausgabe des elitär-neokonservativen Magazins Cicero, hat die frühere Tempo-Journalistin Bettina RÖHL den Beginn des Wertewandels aus der Sicht der Single-Generation dargelegt:

Die Sex-Mythen des Feminismus

"Die achtziger Jahre bestanden daraus, Beziehungen zu beenden, kurzen Affären nachzujagen und oft ohne Anlass das Handtuch zu schmeißen, immer auf der Suche nach etwas Besserem und dem ultimativen Thrill. Warum sollte man in einer öden Beziehung feststecken, wenn es so schön war, frei zu sein? (...)
Die alten Emanzen jammerten damals, dass wir Jüngeren die Vorteile, die sie erkämpft hatten, undankbar genössen, und im Übrigen wieder dumme Hühner seien. Sie übersahen zunächst, dass wir längst weich verpackte Super-Feministinnen geworden waren und dies noch nicht mal selber wussten. Nur die Beziehungen zu Männern waren plötzlich unendlich kompliziert. Mal wegen zu weniger Worte, mal wegen zu vieler Worte, mal wegen der falschen Worte.
Das war die plötzliche Ernüchterung: die Singlegesellschaft. Während der Feminismus in neuem Kleid als Girlie-Bewegung seinen nächsten Höhepunkt feierte – die rotzfreche Göre löste in den neunziger Jahren die Karrierefrau ab – landete meine Generation mit Anfang dreißig im Single-Frust. Frust gab es nun nicht nur in der Ehe, sondern in der Einsamkeit der leeren Wohnung. Es war ganz anders, als die alten Feministinnen es uns vorausgesagt hatten.

(aus: Cicero Nr.4, April)

Es waren Lifestyle-Magazine wie Wiener oder Tempo, die Ende der 1980er Jahre die Single-Gesellschaft zu Grabe trugen und die Lifestyle-Familie erfanden. Bei SCHULDT heißt es dazu: "Familienwerte (feiern) heute eine Renaissance. Diese Trendwende setzte bereits Ende der 80er Jahre ein, als Magazine wie »Tempo« die neuen Lifestyle-Familien propagieren". (2005 S.159)

In höchsten Höhen

Es bedurfte jedoch erst des Absturzes aus höchsten Höhen, bis sich längst überfällige Erkenntnisse durchsetzen konnten: "Die große Entzauberung des Single-Mythos hängt nicht zuletzt mit dem Untergang der New Economy zusammen, durch den die Yuppies ihr wirtschaftliche Grundlage verloren." (2005, S.182) Mit dem Ende der wirtschaftlichen Scheinblüte kommt die Familie wieder als Notgemeinschaft in den Blickpunkt:

Der Code des Herzens

"Angesichts wirtschaftlicher Krisenphasen und sozialer Kürzungen bildet das Althergebrachte eine attraktive Alternative, sodass die Familie ein Comeback als Notgemeinschaft feiert. Gerade weil sie sozusagen trendresistent ist, liegt die Familie im Trend: Die unauflöslichen Blutsbande bilden ein besonders sicheres soziales Netz. Dieses familiäre Sozialkapital kann sogar fehlendes Geldkapital ausgleichen. (...).
Vor allem großfamiliäre Verwandtschaftsbeziehungen werden heute wieder wichtiger. Untersuchungen belegen, dass die Sozialisation zunehmend in der »multilokalen Mehrgenerationenfamilie« stattfindet. In der mobilen Gesellschaft ist die Großfamilie nicht mehr an einen einzigen Haushalt gebunden, um zu funktionieren, stattdessen kann der innerfamiliäre Austausch auch auf Distanz erfolgen."
(2005, S.175)

Die multilokale Mehrgenerationenfamilie wird erst sichtbar, wenn man sich von der amtlichen Statistik nicht mehr blenden lässt.

Der achte Ozean

Der Code des Herzens

"So wie die Ur-Romantiker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gegen den Rationalismus der Spätaufklärung und den Formalismus der Klassik rebellierten, herrscht auch heute eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und »Echtheit«. Die Globalisierungs- und New-Economy-Träume sind geplatzt, der Sozialstaat bröckelt, die Angst um den eigenen Arbeitsplatz ist alltäglich geworden. Unter diesen unsicheren Umständen wächst, ähnlich wie vor zwei Jahrhunderten, der Wunsch nach einer Wiederverzauberung einer entzauberten Welt."
(2005, S.213)

Es sind die neuen gesellschaftlichen Realitäten, die auch im individualisierten Milieu Entwicklungen zu Bewusstsein bringen, die längst das Verhalten, aber nicht die öffentliche Debatte bestimmen. Für die 1990er Jahre mit ihrem Individualisierungsoptimismus galt:

Der Code des Herzens

"Gegen (...) Überschuss an vermeintlichen Chancen bietet das Konzept der romantischen Liebe ein sicheres Gegengift. So wie der Reiz einer Familiengründung heute auch in der selbst gewählten Verpflichtung bestehen kann, bietet auch die pragmatische Nutzung der Romantik eine Möglichkeit, das Zuviel an Eventualitäten einzuschränken. So gesehen, kann man geradezu von einer romantischen Rebellion sprechen. Die Berufung auf das romantische Schicksal befreit von den Schattenseiten der totalen Befreiung."
(2005, S.207)

Tocotronic liefert gegenwärtig mit Pure Vernunft darf niemals siegen den Soundtrack zur romantischen Rebellion.

Der achte Ozean

"Ich setze mich aufs Spiel, mein Ziel ist wahr:
Ich schenke Dir alles was ich hab', besieg Dich dadurch
Ganz und gar. Ich geb' soviel bis nichts mehr
Von mir übrig ist. Mein Schiff sticht jetzt in See
Und unentwegt verbeug' ich mich und bitte Dich

Gib mir Deine Hand
Wir sind verwandt
Küß mich Küß mich
Bis ich nicht mehr kann
Führ' mich in Treibsand"

Keine Angst für niemand

Der Code des Herzens

"Je »unpersönlicher« die Gesellschaft wird, desto »persönlicher« wird die Liebe, weil es umso wichtiger wird, die eigene Persönlichkeit bestätigt zu finden und sich selbst als ganzer Mensch zu erfahren. Eine solche Allround-Bejahung der eigenen Selbstdarstellung können berufliche, künstlerische oder auch sexuelle Erfolge nicht leisten, sondern nur die Liebe. Nur hier kann man das Bild, das man sich von sich selbst aufbaut, absolut bestätigt finden."
(2005, S.66)

Wir sind in der modernen Gesellschaft alle Rollenspieler, nur die Liebe verlangt nach Ganzheitlichkeit. Der Romantiker sucht die Anerkennung seiner Identität bei einer einzigen Person: "Erst die Romantik brachte Ehe, Sex und Passion auf den gemeinsamen Liebesnenner, der noch heute gilt." (2005, S.58) Die Romantik ist damit das Gegenkonzept zum Situationismus des swinging Single-Daseins, bei dem idealtypisch für jedes Bedürfnis eine andere Person existiert. Dieses Stereotyp des swinging Singles war jedoch keineswegs das Ideal der überwiegenden Mehrzahl der Alleinlebenden, sondern das romantische Motto war Lieber allein als gemeinsam einsam (Mario Hené). In diesem Sinne sind "Quirkyalones" nicht erst eine Reaktion auf einen Ansehensverlust der Singles, wie SCHULDT schreibt: 

Der Code des Herzens

"Die Reaktionen der Singles auf ihren Ansehensverlust reichen von der Einigelung bis zum Protest. So propagiert die US-Bewegung »Quirkyalones« (»Eigenartige Alleinstehende«) ein neues Wir-Gefühl für Singles und rebelliert gegen einen vermeintlichen Zwang zur Zweisamkeit. (...). Anführerin ist die Publizistin Sasha Cagen, deren Buch »Quirkyalone: A Manifesto for Uncompromising Romantics« zur Bibel der Schrulligen avanciert. Der Buchtitel verrät es bereits: Die Religion der selbstbewussten Singles ist erstaunlicherweise die Romantik. Die Quirkyalones sehen sich als »reine Romantiker«, weil sie an unverhoffte Liebeswunder glauben und dies stressige Partnersuche ablehnen."
(2005, S.182)

Geht man davon aus, dass das Alleinleben - abgesehen von den veränderten Rahmenbedingungen (bessere Wohnversorgung, längere Ausbildungszeiten, gestiegene Lebenserwartung)  - die Konsequenz unseres romantischen Liebesideals ist, dann sind Singlephasen als Phasen eines modernen Normallebenslaufes zu werten.

Gegen den Strich

SCHULDT erklärt die Attraktivität biologistischer Konzepte aus der Orientierungslosigkeit im Zuge der Feminisierung der Gesellschaft:

Der Code des Herzens

"Die neue Freiheit bedeutet (...) eine neue Verwirrung. Nachdem die meisten großen Schlachten der Emanzipation ausgefochten sind, ist auch eine nachhaltige Konfusion zurückgeblieben. Was »männlich« oder »weiblich« genannt werden kann, ist heute unbestimmter denn je.
(...).
Angesichts solcher Unklarheiten wächst zugleich die Nachfrage nach klaren Fronten. Und hier bieten sich die biologischen Geschlechterunterschiede an:
Der kulturelle und ideologische Überbau der Geschlechterdebatte ist auf dem Rückzug, jetzt kann die biologische Basis betont werden.
(...). Evolutionsbiologie (...) macht die Unterschiede zwischen Mann und Frau plausibel".
(2005, S.83)

SCHULDT dienen evolutionsbiologische und physiologisch-chemische Konzepte jedoch nicht nur zur Erklärung ihrer gesellschaftlichen Attraktivität, sondern sie erklären für ihn auch menschliches Verhalten. Hier verlässt der Autor seinen anfangs als soziologische Sicht der Liebe bezeichneten Ansatz und erweitert ihn zur Anthropologie der Liebe.

Während die traditionelle Familiensoziologie vielfach die unauflösbare Einheit von Partnerschaft, Ehe und Familie als das Ergebnis des romantischen Liebesideals beschrieben hat, geraten bei SCHULDT in der modernen Familie die Dimensionen Partnerschaft, Ehe und Familie tendenziell in Widerspruch: "Im Gegensatz zur traditionellen Familie ist die moderne Familie (...) eine intime Angelegenheit, weil sie auf der romantischen Liebe aufbaut." (2005, S.156) Die moderne Familie wird von SCHULDT als eigenständiges privates Intimitätssystem neben Wirtschaft, Staat und Recht betrachtet. Dies übersieht, dass die moderne Familie in vielfacher Weise mit den anderen Gesellschaftssystemen verbunden ist. Gerade die sozialpolitische und bevölkerungspolitische Debatte seit den 1990er Jahren kann deshalb von SCHULDT nicht angemessen berücksichtigt werden. Einzig das Vereinbarkeitsproblem zwischen Ökonomie und Familie wird behandelt. Den Medien wird in Sachen Liebescode von SCHULDT eine Steuerungsfunktion zugestanden: "Die Medien schaffen einen Fundus von »Standardsituationen« gelingender Kommunikation, der sich durch Wiederholung immer weiter festigt und damit das Unwahrscheinliche doch möglich macht, auch in der Liebe." (2005, S.23) Die Familie wird bei SCHULDT zum letzten Bollwerk der Gesellschaft:

Der Code des Herzens

"Jede Familie ist eine verschworene Gemeinschaft, die auf Persönliches und Privates programmiert ist und sich damit von der Umwelt abgrenzt. (...). Dieser intime familiäre Zusammenhalt ist so mächtig, dass auch in heutigen individualisierten Zeiten nicht von einer Krise der Familie gesprochen werden kann. Im Gegenteil: Gerade in einer Gesellschaft, die immer älter und komplexer wird, werden intensivere Kontakte zwischen den Generationen bedeutsamer. (...). Je großmaschiger die staatlichen Sozialnetze werden, umso attraktiver wird das private Unterstützungsnetzwerk Familie. Das Verwandtschaftsnetz (...) bietet Hilfe in jeder Lebenslage, von Kinderbetreuung über Haushaltsführung bis hin zur Invalidenversorgung. Heute umfassen diese familiären Dienstleistungen zunehmend auch die Pflege und Betreuung alter Menschen. Und umgekehrt sind die Großeltern auch wichtiger geworden für das funktionierende Familienleben doppelt verdienender oder alleinerziehender Eltern." (S.158)
(2005, S.158)

Aus romantischen Gefühlen folgt gemäß dem geltenden Liebescode die Familiengründung.  SCHULDT beschreibt das Verhältnis zwischen Romantik und Familie als gefährdet:

Der Code des Herzens

"Romantische Gefühle sind eine notwendige Voraussetzung zur Familiengründung, aber die Familienliebe dauert auch ohne Romantik an. Eine leidenschaftliche Liebe, die man sich auf Lebenszeit schwört, kann schon beim ersten großen Krach vorbei sein. Die Liebe zum Nachwuchs dagegen hält tatsächlich lebenslang. So gesellt sich mit einem Kind eine neue Liebesform hinzu, die wesentlich haltbarer ist als die Liebesbeziehung selbst. Als »Erweiterung« der romantischen Liebe kann die Familie damit sowohl eine Stütze bilden, die die Beziehung stabilisiert, als auch eine Belastung, unter der die Leidenschaft leidet."
(2005, S.160)

Probleme ergeben sich bei SCHULDT durch Kommunikationsstörungen. Während Familie problemorientierte Kommunikation verlangt (Was), geht es in der Liebe um Identitätsbestätigung (Wie). Die Verwechslung der beiden Kommunikationsformen führt dann zu Missverständnissen:

Der Code des Herzens

"In der Familie kommen sich (...) zwei verschiedene Arten von intimer Kommunikation in die Quere. Während es in einer Liebesbeziehung vor allem darum geht, wie etwas mitgeteilt wird, drehen sich die familiären Gleichheitsverhandlungen eher um das Was. Dieses Aufeinandertreffen von Wie- und Was-Kommunikation eignet sich (...) besonders gut für Missverständnisse und Beschuldigungen und kann damit auch eine Beziehung in Schwierigkeiten bringen."
(2005, S.161)

Das Kinderkriegen ist in der gegenwärtigen Gesellschaft gemäß SCHULDT nicht nur das Ergebnis romantischer Liebesideale, sondern Kinder werden zum Statussymbol:

Der Code des Herzens

"Kinder (...) (können) zu einem neuartigen Statussymbol avancieren. Waren früher meist die kinderreichsten Familie die ärmsten, zählen heute jene zur Oberschicht, die mehrer Kinder und einen gutbürgerlichen Lebensstandard vorweisen können.
Auch deshalb finden lokale Familienboom-Phänomene wohl vor allem in angesagten Metropolenbezirken statt, also dort, wo man es sich leisten kann. Während die Geburtenzahl generell niedrig bleibt, nimmt sie in den wohlhabenden Gegenden Deutschland zu."
(2005, S.163)

Darüber hinaus ist Elternschaft in der Neuen Mitte zum Pop-Phänomen geworden, das der Inszenierung von Individualität dient:

Der Code des Herzens

"Prenzlauer Berg (ist) kein klassischer Wohlhabenden-Bezirk und zeigt damit auch, dass Kinderkriegen nicht zwangsläufig gebunden sein muss an finanzielle Mittel. (...). Im Prenzlauer Berg setzen die Eltern verstärkt auf Selbstorganisation, zum Beispiel in Form von eigenständig finanzierten Kindertagesstätten.
Gerade das Berliner Beispiel zeigt aber auch, welche Funktionen das Kinderkriegen heute neben der reinen Fortpflanzung erfüllen kann. So ist das Elterndasein im Szenebezirk Prenzlauer Berg zu einem regelrechten Pop-Phänomen geworden, zu einer Möglichkeit, die eigene Individualität zu inszenieren."
(2005, S.163)

Gemäß SCHULDT kann auch die Ehe angesichts der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neue Attraktivität gewinnen: 

Der Code des Herzens

"Religiöse Vorgaben sind passé, und ob man verheiratet ist oder ledig, spielt gesellschaftliche gesehen kaum mehr eine Rolle. Allerdings kann die Ehe heute eine neue Funktion erfüllen: Sie schafft eine langfristige Verbindlichkeit und vermittelt damit ein Sicherheitsgefühl, das umso attraktiver ist, je unsicherer die Zukunft erscheint. In unüberschaubaren Zeiten kann die Ehe damit auch strategisch als komplexitätsreduzierende Maßnahme eingesetzt werden."
(2005, S.198)

Die Ehe ist für SCHULDT jedoch kein notwendiger Bestandteil der modernen Familie:

Der Code des Herzens

"Auch wenn die Statistik Kindern nur wenig Bindungspotenzial attestiert: Aus systemtheoretischer Sicht ist die Entscheidung für gemeinsame Kinder die wichtigste in einer Beziehung. Sie ist das sichtbare Signal dafür, dass die Zweisamkeit dauerhaft anvisiert wird, so dauerhaft, dass sie, im Gegensatz zur Ehe, wirklich unauflöslich ist. Diese Bedeutung wächst, je freier die Entscheidung für oder gegen die Bildung einer Familie getroffen werden kann, egal, ob im Rahmen einer Ehe oder nicht. Betrachtet man die skandinavischen Länder als Vorreiter in Sachen Familienpolitik, geht der Trend heute eher zum vorehelichen Kinderkriegen."
(2005, S.197f.)

Angel

Das moderne Intimitätssystem ist durch die Entkopplung von Sex und Liebe gekennzeichnet. Dies hat Folgen für den Liebescode:

Der Code des Herzens

"Dadurch, dass Liebe zwar weiterhin an Sex gebunden ist, aber Sex nicht mehr an Liebe, hat sich die Dramaturgie von Liebesgeschichten umgekehrt. Musste man früher zunächst zusammenkommen, um sexuell aktiv zu werden, läuft es heute eher andersherum."
(2005, S.64)

Der französische Soziologe Jean-Claude KAUFMANN hat in dem Buch Der Morgen danach das moderne Liebesskript beschrieben. Für SCHULDT könnte das Internet hier zu einer tendenziellen Umkehrung führen:

Der Code des Herzens

"Im Netz steht die körperliche Vereinigung nicht am Anfang, sondern am Ende des Kennenlernens. Bilden sich heutige Beziehungen zunehmend aus Bettgeschichten, steht das Liebesspiel im Internet notgedrungen nicht an erster Stelle. (...).
         Dem Jammern über die Last der ungezügelten Lust und dem Klagen über eine Rationalisierung der Romantik steht eine Vielfalt von neuen Qualitäten und Chancen gegenüber. Und gerade der virtuelle Raum bietet dem modernen Menschen maximale Möglichkeiten, seinen persönlichen Weg in einer unübersichtlichen Gesellschaft zu finden, auch und ganz besonders in der Liebe. So überlebt der Liebescode auch im Zeichen der Massenmedien. Seine Form hat sich den aktuellen Gegebenheiten angepasst: Die Liebe ist in den Zeiten des Internets so pragmatisch geworden, dass sie wieder romantischer werden kann".
(2005, S.135)

Auch die Medienberichterstattung könnte nach SCHULDT zur Stärkung von Liebesbeziehungen führen:

Der Code des Herzens

"Gerade die mediale Befreiung der Sexualität schafft (...) eine stärkere Nachfrage nach Vertrautheit und Zweierbeziehung. So scheint die Sexualisierung des öffentlichen Raumes auch zu einem Umdenken geführt zu haben. Für viele gilt Lust heute nicht mehr als eine Sache, die unendlich steigerbar ist, sondern eher als eine wichtige und knappe Ressource, die zum Aufbau und Erhalt von Beziehungen genutzt werden kann und muss."
(2005, S.120)

Der wichtigste Halt der romantischen Liebe liegt jedoch in der Liebesgeschichte selber begründet:

Der Code des Herzens

"Die Erinnerung an das gemeinsame Liebesleben symbolisiert (...) den eigentlichen Eigenwert einer Liebesbeziehung. Damit wirkt sie wie ein Airbag für Beziehungscrashs. (...). Die Erinnerung der eigenen Liebesgeschichte macht die Beziehung fit für Krisenfälle. Das ist umso wichtiger, als die Liebe, im Gegensatz zu allen anderen Gesellschafsbereichen, keine eigenen Organisationen ausbildet, die der Liebe zusätzliche Sicherheit geben würden.
(...).
Der Liebesmythos der gemeinsamen Geschichte scheint so tiefenwirksam zu sein, dass die Geschichte nach einer Fortsetzung verlangt, auch wenn sie eigentlich schon zu Ende ist."
(2005, S.98f.)

In den Zeiten des Internets kann sich die Selbstbindung über die unmittelbare Sozialwelt hinaus auf die virtuelle Welt ausdehnen:

Der Code des Herzens

"Das Internet kann Beziehungen (...) Halt verleihen, als es eine öffentliche, für alle Welt sichtbare Zurschaustellung und »Rahmung« ermöglicht. So werden auf persönlichen Paar- und Familien-Homepages Liebesgeschichten erzählt und mit Fotogalerien dokumentiert, und in Online -Tagebüchern wird der individuelle Liebesalltag ins Netz geschrieben. Diese Möglichkeit zur Memorierung der eignen Liebesgeschichte und zur öffentlichen Fortschreibung des privaten Liebescodes lässt das Internet fast schon als einen modernen Nachfahren der traditionellen Liebesromane erscheinen: Wurden früher die übergreifenden Liebescodierungen in Buchform unter die Liebenden gebracht, kann heute jeder seine persönliche Love-Story online stellen."
(2005, S.132)

Alles in allem

Wie sieht sie nun aus: die pragmatische Liebe?

Der Code des Herzens

"Die pragmatische Liebe ist romantischer als ihre Vorgänger, gerade weil sie bewusst betrieben wird. Gerade das gesteigerte Selbst-Bewusstsein und die erhöhten Ich-Ansprüche machen heute wieder Lust auf Leidenschaft und Hingabe. Denn weil sich die Liebenden ihrer eigenen Interessen bewusster denn je sind, wissen sie auch, das ihre Wünsche nur dann befriedigt werden können, wenn die Leidenschaft an erster Stelle steht. (...).
Die neue Liebesform profitiert von der Grundparadoxie, dass ein Mehr an Distanzierung zugleich ein Mehr an Nähe bedeuten kann. Wie dieses Wissen praktisch umsetzbar ist, zeigt der heutige Liebesnachwuchs, denn die jungen Liebenden scheinen Spezialisten in Sachen distanzierter Nähe zu sein: Sie leben lange in getrennten Wohnungen, wahren ihre finanzielle Unabhängigkeit und binden sich unter den Vorzeichen der Freiheit."
(2005, S.208)

Die pragmatische Liebe bringt neue Liebesformen hervor. Living apart together nennen Soziologen solche amtsstatistisch unsichtbaren Lebensverhältnisse. Eine weitere Konsequenz des modernen Liebesmodells ist die serielle Monogamie, die der Optimierung der Partnerfindung dient.

Der Code des Herzens

"So wie verschiedene berufliche Erfahrungen die eigene Professionalität optimieren und neue Fähigkeiten zutage fördern, erweitert jede Liebesbeziehung die eigene Persönlichkeit. Damit scheint die Monogamie in Serie dem neuen pragmatischen Liebesideal zu entsprechen: Sie ist sowohl romantisch als auch realistisch, sie lässt sowohl Raum für große Gefühle als auch für Rückzüge. Und sie ist, wenn es gut geht, ausbaufähig für die Ewigkeit."
(2005, S.209)

Serielle Monogamie und Liebe auf Distanz sind Ausdruck eines pragmatischen Liebesmodells, das der gegenwärtigen Gesellschaft entspricht.

Fazit: In tiefsten Tiefen

Das Buch Der Code des Herzens leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubewertung der Liebesverhältnisse. Entgegen der weit verbreiteten kulturpessimistischen Sicht in der öffentlichen Debatte ist weder die Liebe noch die Familie ein Auslaufmodell. Die dominante Liebesgeschichtsschreibung der 68er-Generation verstellt bisher den Blick auf die veränderten Liebes- und Familienrealitäten der Nach-68er-Generationen. Im Gegensatz zu familienfundamentalistischen Positionen, bei denen die Rückkehr zu einer vormodernen Gesellschaftsordnung propagiert wird, gehen für SCHULDT in der neuen Bürgerlichkeit der Individualismus und Familialismus eine neuartige Verbindung ein:

Der Code des Herzens

"Der neue Boom der Bürgerlichkeit ist (...) eine Wiederkehr alter Werte in neuem Gewand. Die alten Tugenden sind nicht mehr normativ, sondern narzisstisch, nicht mehr dogmatisch, sondern ego- und erlebnisorientiert."
(2005, S.216)

Wichtig für die Debatte um das Single-Dasein ist, dass bei SCHULDT auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Alleinleben hingewiesen wird:

Der Code des Herzens

"Konzentrierte sie sich in den 90er Jahren noch auf das Miteinander von Singles und Nicht-Singles, ist die Spezies Single mittlerweile gesellschaftlich so weit etabliert, dass nun verstärkt die Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Singles in den Fokus rücken: Und da schneiden die Frauen schon finanziell besser ab: Im Durchschnitt verdienen sie besser als ihre männlichen Mitstreiter."
(2005, S.184)

Zukünftig ist mit einem Themenwechsel zu rechnen, der von single-generation.de schon länger gefordert wird:

Der Code des Herzens

"Die Schattenseiten der männlichen Single-Existenz sind heute so sichtbar, dass Trendforscher bereits den Trend der »New Spinsters«, der »männlichen Frustsingles« ausgemacht haben. In unseren Großstädten entstehe eine Schicht aus frustrierten, mindergebildeten Männern zwischen 25 und 45 Jahren, die von den anspruchsvollen neuen Frauen nicht mehr wahrgenommen werden. Es mag also etwas dran sein, dass Single-Männer eher als ihre weiblichen Pendants für ein tristes Dasein zwischen Fastfood, Videos und Computerspielen prädestiniert sind. Single-Frauen dagegen sind schon dadurch vor Vereinsamung geschützt, dass sie - siehe »Sex and the City« - Netzwerke bilden und stärker sozial eingebunden sind."
(2005, S.187)

Die Fallhöhe zwischen den höchsten Höhen und den tiefsten Tiefen hat sich in der Hartz-Gesellschaft verändert. Bei SCHULDT sind diese Veränderungen erst in Ansätzen sichtbar. Der Druck auf Singles wird sich erhöhen, auch wenn deren Zahl aufgrund externer Faktoren nicht zurückgehen wird:

Der Code des Herzens

"Im Zuge der demographischen Zeitenwende und umkippender Bevölkerungspyramiden geraten sie mehr und mehr unter Verdacht, ein parasitäres Dasein zu fristen. In einer Gesellschaft, die den Gürtel enger schnallen muss und Geburten fördern will, erscheinen selbstgenügsame Solisten wenig zeitgemäß."
(2005, S.183) 

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 03. April 2005
Update: 22. November 2018