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Thema des Monats

 
       
   

Demografische Niedergangsszenarien

 
       
   

Die Konvergenz von Neuer Mitte und Neuer Rechte

 
       
     
       
   
     
 

Oswald Spengler - Der Untergang des Abendlandes

"Über diesen Autor wird von fast allen übrigen Literaten des Landes so wild und heftig geschimpft, daß man ihn schon daraus liebgewinnt. In der Tat ist sein Buch das gescheiteste, geistvollste der letzten Jahre."
(Hermann Hesse über Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes", 1924)

Die Bebilderung der Demografiedebatte als Herausforderung der Mitte-Rechts Koalition

Die Süddeutsche Zeitung hat am 10. August 2002 mit einer Serie über die Zukunft der Altengesellschaft begonnen. Im Zentrum der ersten beiden Beiträge von Gustav SEIBT (SZ 10.08.2002) und Lothar MÜLLER (SZ 16.08.2002) steht der Versuch den Thesen von Herwig BIRG ("Die demographische Zeitenwende") und Meinhard MIEGEL ("Die deformierte Gesellschaft") mehr Nachdruck und eine breite Öffentlichkeit zu verschaffen. MÜLLER beklagt die mangelnde Anschaulichkeit von abstrakten Statistiken:

Der Fluch des Ibsenweibs

"Ihren Zugewinn an Wissenschaftlichkeit erkaufte die moderne Demographie mit einem Verlust an Anschaulichkeit. Ihren Statistiken über Alterung und Bevölkerungsschwund fehlt die allgemein zugängliche Hintergrundsprache. Bisher sind die Experten damit gescheitert, ihren dramatischen Kurven und Zahlen im Publikum mehr als episodische Aufmerksamkeit zu verschaffen. Mit den fahrigen Gesten einer eher vagen Irritation haben die Deutschen die Botschaft sogleich an die Ausschüsse der Rentenreformkommissionen verwiesen. Beharrlich unterwerfen sie die sich abzeichnenden lebensweltlich-kulturellen Konsequenzen von Alterung und Bevölkerungsschwund einem Bilderverbot."
(SZ 16.08.2002)

Damit hat MÜLLER das Problem definiert, um anschließend das konstatierte Bilderverbot selbst aufzubrechen. Das Ergebnis ist ein Update von Oswald SPENGLERs Der Untergang des Abendlandes . Seinen Gegnern möchte er den Wind aus den Segeln nehmen, indem er deren Einwände vorwegnimmt und seiner Position den Anstrich einer angeblich machtlosen Außenseiterposition verpasst:

Der Fluch des Ibsenweibs

"Es ist leicht, Spengler ideologiekritisch der Verklärung des Naturbanns, der Apologie des Gebärzwangs und der Denunzierung aller Frauen, die nicht Mütter sind, zu überführen. Aber heute erledigt eine solche Entlarvung einen Gegner, der seine Macht längst eingebüßt hat, auch in den konservativen Parteien."
(SZ 16.08.2002)

Danach kommt er zum Kern seiner Rehabilitierung von Oswald SPENGLER, den der Internetbuchhändler Amazon zur Zeit im Doppelpack mit Michel HOUELLEBECQs Roman Plattform vermarktet:

Der Fluch des Ibsenweibs

"Beunruhigend an Spengler ist nicht mehr sein dröhnender Anti-Modernismus. Beunruhigend ist, dass seine Gegenstände das Haltbarkeitsdatum seiner apokalyptischen Aperçus überlebt haben. Die 'Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen' hat durch ihre metaphysische Stilisierung als 'Wendung zum Tode' ihren empirischen Kern nicht verloren. Uns Heutigen demonstriert nicht mehr eine krude Geschichtsphilosophie, sondern die demographische Statistik diesen harten Kern, wenn sie die Kinderlosigkeit an die Parameter des Fortschritts koppelt."
(SZ 16.08.2002)

Die Kopplung von Kinderlosigkeit an die Parameter des Fortschritts

Die Untergangszenarien der Neuen Rechten und ihrer Adepten in der Neuen Mitte stehen und fallen mit der Richtigkeit der Annahmen zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung. Lothar MÜLLER behauptet z.B. einen weltweiten Trend zur lebenslangen Kinderlosigkeit:

Der Fluch des Ibsenweibs

"Weltweit und langfristig gilt: je höher die Lebenserwartung, desto niedriger die Kinderzahl pro Frau. (...).
Deutschland ist eines der Avantgarde-Länder im weltweiten Doppeltrend zunehmender Lebenserwartung und sinkender Geburtenrate."
(SZ 16.08.2002)

Ein solcher Trend ist jedoch selbst in der Bevölkerungswissenschaft umstritten.

Kinderlosigkeit als deutscher Sonderweg

Zum einen ist Deutschland ein Sonderfall was den relativ hohen Anteil von lebenslang Kinderlosen betrifft. Gemäß dem Schweizer Demografen François HÖPFLINGER ist dieses Phänomen keineswegs historisch neu, sondern bereits die um 1900 geborenen Frauen erreichten einen Kinderlosenanteil, der unserem heutigen entspricht. Dies zeigt, dass es keine lineare Entwicklung der Kinderlosenanteile gibt, sondern dass das Gebärverhalten zyklischen Schwankungen unterliegt.

Das Problem von Bevölkerungsprognosen

Zum anderen sind die Berechnungen der Bevölkerungswissenschaftler spekulativ. Die immer wieder gern zitierten Kinderlosenanteile der 1965 geborenen Frauen sind nicht unbedingt als Trend zu lebenslanger Kinderlosigkeit zu interpretieren, sondern in erster Linie das Ergebnis eines höheren Erstgebäralters. Darauf hat z.B. der Bevölkerungsstatistiker Ron LESTHAEGHE hingewiesen . Wenn mehr Frauen aufgrund besserer Bildung und Problemen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ihren Kinderwunsch erst zwischen 35 und 45 Jahren verwirklichen, dann sind Vergleiche mit Frauen aus anderen Geburtsjahrgängen mit einem niedrigeren Erstgebäralter wenig aussagekräftig. Frühestens in 5 - 10 Jahren lässt sich genauer sagen, inwieweit der Geburtsjahrgang 1965 von früheren Kohorten abweicht. Über das Gebärverhalten von noch jüngeren Frauenjahrgängen sagt das aber noch nicht viel aus, denn Demografen ignorieren Verhaltensänderungen bzw. sind gar nicht in der Lage historische Besonderheiten in ihre Überlegungen einzubeziehen. Die Wiedervereinigung hat drastisch vor Augen geführt, dass das Gebärverhalten von Umweltveränderungen gravierend beeinflusst werden kann. Eine Geschichte der demografischen Irrtümer könnte davor bewahren, die Untergangsszenarien allzu ernst zu nehmen

Falsche Fragen ergeben keine richtigen Antworten

Auf Wiedersehen Schönheit

"Werden kritische Fernsehserien die Geschichte aufarbeiten und die Verbrechen der Selbstverwirklichung ums Jahr 2000 anprangern?"
(SZ 10.08.2002)

fragt SEIBT angesichts der Niedergangsszenarien von BIRG und MIEGEL. MÜLLER geht es deshalb um wirksame Methoden zur Dramatisierung der gegenwärtigen Kontroverse Familien contra Singles. Das späte 19. Jahrhundert, aus dessen Fundus bereits Oswald SPENGLER seine Untergangsvision nährte, erscheint ihm dabei als vorbildhaft für unser "Zeitalter der Nichtgeborenen":

Auf Wiedersehen Schönheit

"Spengler zitierte nicht von ungefähr die Dramen und Romane des späten 19.Jahrhunderts. In ihnen hatte die im Rückblick vergleichsweise schüchterne Erosion traditioneller Familienverhältnisse und Fortpflanzungsgewohnheiten Eruptionen vulkanischen Ausmaßes zur Folge. In der Essayistik lieferten sich reaktionäre Polemiker gegen die Emanzipation und Apologeten von Dekadenz und Hedonismus fürchterliche Schlachten."
(SZ 10.08.2002)

Angesichts der zyklisch wiederkehrenden Niedergangsszenarien und dem Ausbleiben des Untergangs stellt sich eine ganz andere Frage: Warum sind Untergangsszenarien immer noch attraktiv?

Demografie als Mittel der sozialpolitischen Demagogie

Stirbt 'das deutsche Volk' aus? hat Christoph BUTTERWEGGE einen Sammelband-Artikel überschrieben, in dem er den Demografie-Diskurs, d.h. das Reden und Schreiben über eine negative Bevölkerungsentwicklung, seit Mitte der 70er Jahre bis heute nachzeichnet. Sein Befund: Die politische Mitte rückt im Demografie-Diskurs nach rechts. Der "demografische Niedergang" hat nach BUTTERWEGGE die Funktion den "neoliberalen 'Um-' bzw. Abbau des Sozialstaats und drastische Leistungskürzungen zu legitimieren:

Stirbt "das deutsche Volk" aus?

"In den medialen Diskursen zur sozialen Sicherung erörtert man jedoch nicht, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur ggf. resultierende Schwierigkeiten solidarisch bewältigt werden können (z.B. durch die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, die konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote und/oder die Erleichterung der Zuwanderung). Stattdessen fungiert die 'immer ungünstigere Altersstruktur' als Grundlage der Rechtfertigung für Sozial- und Rentenkürzungen."
(aus: Themen der Rechten - Themen der Mitte 2002, S.203)

Der Umschlagspunkt von der Familien- zur Bevölkerungspolitik

Der Umschlag von der Familien- zur Bevölkerungspolitik lässt sich mit BUTTERWEGGE folgendermaßen beschreiben:

Stirbt "das deutsche Volk" aus?

"Wenn man etwas für die (armen) Kinder tun will, kann man zwischen reichen und weniger begüterten Familien umverteilen; will man dagegen das Gebären als solches fördern, muss man zwischen Kinderlosen und Familien umverteilen, ganz unabhängig davon, wie gut es den Letzteren finanziell geht."
(aus: Themen der Rechten - Themen der Mitte 2002, S.201f.)

Während Familienpolitik ohne das Feindbild Single auskommt, ist die Bevölkerungspolitik notwendigerweise auf die Dramatisierung der Bevölkerungsentwicklung und die Zuspitzung der Kontroverse Familien contra Singles angewiesen. BUTTERWEGGE skizziert die Konsequenzen der Rückkehr zur Bevölkerungspolitik:

Stirbt "das deutsche Volk" aus?

"Wenn die Familie zum Fetisch, das Kind zum Kultobjekt und die Mutterschaft zum Mythos wird, hat der Rechtsextremismus mit seiner Ideologie, die soziale Zusammenhänge, Hintergründe und Beziehungen naturalisiert, relativ leichtes Spiel. Familienfetisch, Kinderkult und Muttermythos sind bestens geeignete Instrumente zur Durchsetzung einer unsozialen Politik (....).
Mit der Aufwertung bzw. Überhöhung 'des Kindes' im öffentlichen Diskurs über den modernen Wohlfahrtsstaat korrespondiert eine Verteufelung der Kinderlosigkeit; das alt-neue Feindbild der 'Doppelverdiener' und 'hedonistischer Singles' ohne Nachwuchs feiert fröhlich Urständ. Da sie nicht für eine 'normale' Reproduktion der Gesellschaft sorgen, gibt man ihnen die Schuld an den staatlichen Finanzproblemen, besonders hinsichtlich der Alterssicherung."
(aus: Themen der Rechten - Themen der Mitte 2002, S.209)

Das Bundesverfassungsgericht spielt bei der Durchsetzung der Bevölkerungspolitik eine zentrale Rolle. Das Urteil über die Pflegeversicherung vom 3. April 2001 - das bereits im Vorfeld durch eine Flut singlefeindlicher Berichterstattung begleitet war - stellt einen Meilenstein auf dem Weg familienfundamentalistischer Vorstellungen dar, wie BUTTERWEGGE darlegt:

Stirbt "das deutsche Volk" aus?

"Mit diesem BVG-Urteil und der Forderung, seine Grundzüge auf die anderen sozialen Sicherungssysteme zu übertragen, wurden die Menschen - unabhängig davon, welcher (Einkommens-)Schicht sie jeweils angehören - in ein angeblich privilegiertes Lager (der Kinderlosen) und ein vermeintlich benachteiligtes Lager (der Eltern) eingeteilt."
(aus: Themen der Rechten - Themen der Mitte 2002, S.210)

Es gehört keine besondere prophetische Begabung dazu, wenn man die Behauptung wagt, dass die Demografie-Debatte die Medienöffentlichkeit künftig noch stärker beeinflussen wird. Die Süddeutsche Zeitung forciert mit der Serie über die Zukunft der Altengesellschaft die Etablierung der bevölkerungspolitischen Debatte im öffentlichen Raum. Nicht mehr nur in bevölkerungswissenschaftlichen Kreisen oder randständigen Zirkeln der Neuen Rechten, sondern in den einflussreichen Selbstverständigungsblättern der Neuen Mitte wird nun die Bevölkerungspolitik debattiert.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
          
 Die Rede von der "Single-Gesellschaft" rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden, entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen Modernisierungsverlierer."

 
     
 
       
   

SZ-Serie: In der demographischen Zeitenwende

 
       
   

SEIBT, Gustav (2002): Auf Wiedersehen Schönheit.
In der demographischen Zeitenwende: Die gealterte Gesellschaft,
in: Süddeutsche Zeitung v. 10.08.

MÜLLER, Lothar (2002): Der Fluch des Ibsenweibs.
Demographische Zeitenwende: Der Aufstieg der Nicht-Geborenen,
in: Süddeutsche Zeitung v. 16.08.

MOTHS, Eberhard (2002): Vor Sonnenuntergang.
Demographische Zeitenwende: Ökonomik der Altengesellschaft
in: Süddeutsche Zeitung v. 22.08.

BISKY, Jens (2002): Angenehm leer.
In der demographischen Zeitenwende: Ziellos mobil,
in: Süddeutsche Zeitung v. 04.09.

KISSLER, Alexander (2002): Abstieg ins Nirgendwo.
In der demographischen Zeitenwende: Die Erfindung des Alters,
in: Süddeutsche Zeitung v. 16.09.

SEIBT, Gustav (2002): Gelebter Pessimismus.
Demographische Zeitenwende: Wird Europa sich allmählich in einen Geschichtspark verwandeln?
in: Süddeutsche Zeitung v. 27.09.

 
       
   

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© 2002 - 2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 16. August 2002
Update: 13. November 2019