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Gesellschaftlicher Klimawandel - Von der Rhetorik des
Alleinseins zur Einsamkeitsrhetorik
Im Oktober 2002 befasste sich
single-generation.de zum ersten Mal mit dem Thema. Einsamkeit wurde - unabhängig von der Lebensform als unerwünschter Zustand bezeichnet, der als "Diskrepanz zwischen
gewünschten gegenüber tatsächlichen sozialen Bindungen" (RÖHRLE
& OSTERLOW 1999, S.575) beschrieben werden kann
. Nun sind gleich mehrere Autoren angetreten, um dies
scheinbar zu bestreiten.
Einsamkeit
"Bisher
wird Einsamkeit vor allem als Problem begriffen. Wer unter
dem Stichwort Einsamkeit googelt, landet auf Seiten über
Depression, Isolation, Krankheit, Angst, Alter,
Selbstmord. Nicht gerade eine verlockende Umgebung.
Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das ist kein Wunder,
aber ungerecht.
Einsamkeit bedeutet eine Chance auf Selbstfindung und
Glück."
(2006, S. 7) |
Ersetzt man
den Begriff "Einsamkeit" einfach durch das Wort "Alleinsein",
dann könnten diese Sätze aus dem Buch Einsamkeit von Ulf POSCHARDT aus der Ratgeberliteratur
der End-1970er bzw. der 1980er Jahre stammen, wenn man einmal außer
Acht lässt, dass man damals noch nicht googlen konnte. Der
erste deutsche Ratgeber in dieser Tradition stammt von Jürgen
vom SCHEIDT und hieß Singles - Alleinsein als Chance des
Lebens (1979), der in der 2. Auflage einfach nur noch Alleinsein als Chance hieß. Ein
klassischer Einsamkeitsratgeber heißt dagegen
Einsamkeit
überwinden. Im Mittelpunkt stehen die klassischen
Probleme der unfreiwillig Einsamen: Kontaktschwierigkeiten
und mangelndes Selbstwertgefühl. Einsamkeit überwinden ist
jedoch nicht unbedingt gleichbedeutend damit das Alleinleben
überwinden zu wollen.
Einsamkeit überwinden
"Die
Psychotherapeutin
Doris Wolf zeigt in diesem Ratgeber,
- woher
Gefühle der Einsamkeit und der inneren Leere kommen,
- warum wir uns auch unter Menschen einsam fühlen können,
- weshalb eine positive Selbstachtung gerade für Singles
so wichtig ist,
- wie Sie auch als Single ausgefüllt und zufrieden leben
können,
- wie Sie Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen können,
- wie Sie sich anderen Menschen gegenüber öffnen können,
- wie Sie auch als Single ein Gefühl der Verbundenheit mit
anderen Menschen erfahren."
(2001, 8. Auflage) |
Das
zweite neue Buch heißt
Die hohe Schule der Einsamkeit und
wurde von Mariela SARTORIUS verfasst. Dieses Buch weist im
Untertitel Von der Kunst des Alleinseins auf die alte
Semantik hin.
Die hohe Schule der Einsamkeit
"Der
schlechte Ruf der Einsamkeit , der sie in die Nähe von
Tränen, Depression und Suizid rückt, ist meistens
ungerechtfertigt und gehört korrigiert.
Der
Leser findet in dieser Streitschrift die Einsichten einer
überzeugten Einzelgängerin, die sich sehr wohl auch der
ernsten Hintergründe der Einsamkeit bewusst ist und gerade
deshalb weiß, wie man Elend in Freude kippen lassen kann."
(2006, S. 9) |
Warum dieser
Begriffswandel? Warum werden nun die gleichen Phänomene unter
dem Oberbegriff "Einsamkeit" und nicht mehr unter dem
Oberbegriff "Alleinsein" behandelt? Man
darf getrost davon ausgehen, dass ein an der Popkultur
geschulter Autor wie Ulf POSCHARDT, der mit Büchern über die
DJ-Kultur und Cool, dem Zeitgeist immer hart auf den
Fersen war, ein sicheres Gespür für gesellschaftliche
Klimawandel aufbringt.
Einsamkeit
"In
den vergangenen fünf Jahren hat sich das soziale Klima
stark zugunsten von Kindern verändert. Nach dem Anything
Goes der neunziger Jahre setzte sich ein humanistischer
Essentialismus durch; das Gerücht, daß Kinder glücklich
machen, zog immer weitere Kreise. Kinderkriegen wurde
schick, weil es nach all den Verlockungen von Luxus und
Konsum nachhaltigeres Glück versprach. Daß Elternsein
nicht uncool war, senkte die Hemmschwelle vor der neuen
Verantwortung.
Wenn die Zahl der Parties und Grillabende, auf denen
Heerscharen von Kindern durch die Menge toben, von Jahr zu
Jahr zunimmt, wächst der Druck auf jene Gäste, die noch
keine haben, aber instinktiv eine große Sehnsucht danach."
(2006, S. 80) |
Seit 5 Jahren
haben die Familienwerte und mit ihnen auch das Paarleben
für jeden spürbar starken Aufwind erhalten. Der letzte relativ geburtenstarke Jahrgang
der Generation Golf/Ally erreichte das Familiengründungsalter.
Keine Generation vorher wurde mit solch einem medialen Getöse
beim Übergang ins Familienlebensalter begleitet.
Der Frauenjahrgang 1965 bescherte der Republik einen ungeahnten Babyboom der Spätgebärenden
. Die coolen Mütter vom
Prenzlauer Berg avancierten zum Medienspektakel. Gleichzeitig
verstanden die Bevölkerungswissenschaftler und -politiker das
Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 als Startsignal für
bis dahin beispiellose Hetzkampagnen gegen Singles, mit
denen die soziale Sicherung grundlegend umgestaltet werden
sollte. Spätestens
seit dem Jahr 2003 gilt selbst für die schlafmützige
Lifestyle-Soziologie, was der Sozialstrukturforscher Stefan
HRADIL in seinem Beitrag Die Suche nach Sicherheit und
Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft
vermeldet:
Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der
individualisierten Gesellschaft
"Singles
(...) gelten nicht länger als Helden der Autonomie, sondern als
einsame Defizitwesen, die auf Partnersuche sind. Ehe, Treue und
Harmonie sind »angesagt«"
[mehr]
(2003, S.112) |
Der
Begriffswandel reagiert also auf das gewandelte Bild des
Alleinlebens. War 1978, als die erste deutsche Single-Serie im
Nachrichtenmagazin Spiegel erschien, das Alleinsein angesagt, so ist
jetzt das Zusammensein gefragt. Der
Begriffswandel ist nicht frei von aufmerksamkeitsökonomischen
Überlegungen. Konnte man 1978 mit Titeln wie Alleinsein als
Chance noch provozieren, so ruft das heute nur noch ein
müdes Lächeln hervor. Dagegen macht Einsamkeit als Chance
geradezu neugierig. Es wäre aber falsch, den Begriffswandel als
reinen Marketingkniff abzutun, wie im Weiteren gezeigt wird.
Die Zielgruppe der neuen Ratgeberliteratur
Die beiden
vorgestellten neuen Sachbücher richten sich an Menschen im mittleren
Lebensalter bzw. an jung gebliebene Alte, die noch nicht durch
chronische Krankheiten oder ernsthafte Gebrechen in ihren
Aktivitäten so sehr eingeschränkt sind, dass Zielvorstellungen
wie "souveräne" und "glückliche Einsame" blanker Zynismus wären. Während
Ulf POSCHARDT das Lebensgefühl der Generation Golf bzw. Ally
anspricht, richtet sich das Buch von Mariela SARTORIUS eher an
die 68er-Generation und die Single-Generation, d.h. an
jene Generationen, für die das Alleinleben das Stigma des
abweichenden Verhaltens verloren hat.
Die hohe Schule der Einsamkeit
"Sie
fühlen sich einsam. (...).
Sie sind nicht einsam, fürchten aber, es eines Tages oder
in ein paar Jahren (man weiß ja nie) oder im Alter (das
weiß man schon genauer) oder vielleicht sogar in ein paar
Stunden zu sein (...).
Es bleibt eine dritte Möglichkeit: Sie sind nicht einsam,
möchten es aber sein. Auch das gibt es."
(2006, S. 13f.) |
Keineswegs
ist Einsamkeit ein Thema, das nur Alleinlebende angeht. Im
Gegenteil! Gerade in den Mittelschichten, dort wo sich die
individualisierte Familie durchgesetzt hat, ist die Sehnsucht
nach Einsamkeit gestiegen. Gerade dort, wo Teamfähigkeit
zum A und O des beruflichen Aufstiegs geworden ist, gerade
dort, wo Networking als unverzichtbarer Teil der Karriere
angesehen wird , gerade dort wo die Vereinbarkeit von
Beruf, Partnerschaft und Familie auf gestiegene Ansprüche
trifft, ist die Sehnsucht nach Einsamkeit größer denn je.
Weniger
das Leiden am Alleinsein wird thematisiert, sondern das
Leiden an der (Zwangs-)Gemeinschaft. Die neuen
Eingebundenheiten in Teamarbeit, Netzwerke, Partnerschaft und
Familie haben ihren Preis. Nicht mehr zu kleine, sondern
ausufernde Netzwerke werden zum Problem. Mit dem Heiraten hat
man es nicht mehr geschafft, sondern gestiegene
gesellschaftliche und private Anforderungen erhöhen die
Sehnsucht nach Distanzierungstechniken. Einsamkeit kann als
eine solche Technik verstanden werden. Alleinlebende
werden hier auf eine gänzlich neue Art zur gesellschaftlichen
Avantgarde. Alleinlebende können in dieser Sicht als
Pioniere in Sachen moderner Selbsttechniken betrachtet
werden. Ihre New Frontier ist der Kampf an der
Selbstmanagement-Front. Dies hat seinen Preis, wie bei Reinhard
MOHR ("Generation
Z") deutlich wird.
Generation Z
"Auf
niemanden muss der moderne kinderlose Single letztlich
Rücksicht nehmen - außer auf sich selbst. Eine fast
übermenschliche Anstrengung, womöglich eine neue Form der
Überforderung. Der Single ist Geschöpf und Selbstschöpfer
in einem, Richter und Anwalt seiner selbst. Keine
Gewaltenteilung entlastet ihn von der Gesamtverantwortung
für sein eigenes Schicksal. "
(2003, S.105) |
Einsamkeit als Regulationsmechnismus
"Einsamkeit
ist wie Einatmen, Gemeinschaft wie Ausatmen. Es geht um die
richtige Balance", schreibt Ulf POSCHARDT. Wer auf eines von
beiden verzichtet, ist sozusagen nicht überlebensfähig. Die Nähe-Distanz-Problematik stellt sich heute in
verschärfter Form. Eine Stunde für mich allein heißt ein
Verwöhnbuch für gestresste Mütter. Ein Raum für mich
heißt ein Buch, das sich an Frauen wendet, die zu sich selbst
finden möchten. Der Anteil der Fernbeziehungen steigt
. Deregulierungsprozesse
auf allen Ebenen (Staat, Markt, Privatheit) haben einen erhöhten
individuellen Regulierungsbedarf erzeugt. Die Freiheiten wollen
genutzt werden. Der Alltag erzwingt Nähe, die schnell in Zwang,
Überlastung und Überforderung umkippen kann. Einsamkeit bzw.
Distanz, wie man bislang sagte, gewinnt dadurch
als
Schutzmechanismus an Attraktivität. Die
postindustrielle Gesellschaft, mit ihren neuartigen Anforderungen,
und das neue
Ethos des Einsamen, wie es in der neuen Ratgeberliteratur
seine Verbreitung findet, scheinen wie für einander geschaffen.
Dies soll im Folgenden
aufgezeigt werden.
Einsamkeit - Schicksal oder selbst
verschuldet?
Frauen ohne Männer
"»(...). Die wenigsten
Gäste sind ernsthaft krank. Die meisten sind einfach
einsam.«
»Wie traurig«, sagt Leonore und denkt: Ich bin es auch.
(...). »Ich beneide Menschen, die allein sein können «,
sagt sie offen. »Ich kann es nicht - es fällt mir schwer.
Ich leide darunter. Ich spüre, wie ich daran kaputt gehe.«
(...). Frau Dr. Mittenwald lehnt sich zurück. Ihr Gesicht
entspannt sich. »(...). Sie werden immer wieder einen
Menschen finden, der Sie aus Ihrer Einsamkeit herausholt.
(...). Sie sind eine sehr anziehende Frau. Ich sage das
nicht, um Ihnen ein Kompliment zu machen. Es ist einfach
so. Sie ziehen Menschen an. Menschen, Männer ... das ist
kein Verdienst, es ist ein Geschenk. (...).«
(...). »(...). Viele Frauen hier wirken eher abstoßend.
Oder sie haben Kontaktschwierigkeiten oder sind ganz
einfach langweilig. Und solche Frauen haben es natürlich
sehr viel schwerer, der Einsamkeit zu entgehen, als Sie.«
(..) »Sie sind sehr gut in der Lage und auch willens,
Veränderungen herbeizuführen, wenn Sie einen Zustand als
unerträglich empfinden. Und das«, schließt Frau Dr.
Mittenwald sachlich, »können die wenigsten Frauen.«"
(Evelyn Peters
1978, S.52f.) |
Als 1978 der
Roman Frauen ohne Männer von Evelyn PETERS erschien, war
das Bild der Frau als passives Wesen noch weit verbreitet.
Einsamkeit erscheint hier als Schicksal, dem man nur schwer
entgehen kann, wenn man nicht bereits in Kindheit und Jugend
jene Charaktereigenschaften erworben hatte, die notwendig waren,
um der Einsamkeit zu entgehen. Was Hänschen nicht lernt, das
lernt Hans nimmer mehr, war die gängige Meinung. Heutzutage
gilt auch der Erwachsene als lernfähig. Nicht nur das, es wird
erwartet, dass er lernt. Das Ich ist zum aktiven Zentrum
geradezu verdammt. Am
15. Dezember letzten Jahres widmete sich die Wochenzeitung
Die Zeit dem Thema Allein oder einsam? In dem Artikel
Einsamer nie? formuliert Sven HILLENKAMP das Credo der
individualisierten Gesellschaft:
Einsamer nie?
"Es
sind nicht mehr Menschen einsam, aber mehr sind selbst
schuld, wenn sie es werden. Nicht mit einer einsamen
Moderne haben wir es zu tun, nur mit einer Modernisierung
der Einsamkeit".
(Die Zeit Nr.51 v. 15.12.2005) |
Wurde
Individualisierung (Kritiker sprechen von Neoliberalismus
oder Deregulierung) noch in den 1990er Jahren als Befreiung
erlebt, so gerät Individualisierung seit der Jahrtausendwende
mehr und mehr zum Zwang. Im
Glossar der Gegenwart, herausgegeben von Ulrich
BRÖCKLING, Susanne KRASMANN und Thomas LEMBKE, schreibt Hermann
KOCYBA unter dem Stichwort Aktivierung:
Aktivierung
"Der
Staat garantiert nicht länger bestimmte Leistungen,
sondern offeriert »Hilfe zur Selbsthilfe«, die somit an
eine Eigenleistung geknüpft ist. Im Falle eines Scheiterns
der »Bürgeraktivierung« wird dies nicht länger dem Staat
oder der Politik angelastet, sondern den jeweiligen
Adressaten. Eigenverantwortlichkeit heißt dann, dass
Misserfolge jenen zugerechnet werden, denen es nicht
gelingt, erfolgreich im Sinne des Aktivierungsimperativs
zu handeln. Was dem aktivierten Bürger der
Zivilgesellschaft widerfährt, muss er als Ergebnis eigener
Entscheidungen begreifen. Er kann sich nicht länger darauf
berufen, Opfer sozialer Verhältnisse zu sein, da ihm der
»aktivierende Staat« ja nicht nur prinzipiell die
Möglichkeit bietet, sondern ihn darüber hinaus mit
Nachdruck auffordert, selbst Initiative zu entfalten.
Aktivierung meint somit die Zuschreibung von Verantwortung
auch unter Bedingungen, unter denen wir nach üblicher
Betrachtung gerade nicht in der Lage sind, wirklich
Verantwortung zu übernehmen. Aktiviert ist nicht nur der,
der tatsächlich »aktiv« und erfolgreich zu agieren
versteht, sondern auch derjenige, der dabei scheitert,
resigniert und sich dies nun zurechnen lassen muss."
(aus: Glossar der Gegenwart, 2004, S.20f.) |
Der
so genannte aktivierende Sozialstaat setzt genauso wie der
moderne Arbeitsmarkt den Selbstunternehmer und
Selbstmanagement voraus.
Eigenverantwortung oder Selbstsorge (Michel FOUCAULT) sind die
Schlüsselbegriffe dieses neuen Gesellschaftsverständnisses, das sowohl
von der alten als auch von der neuen Mitte getragen wird. Das
neue Ethos des Einsamen, das in der neuen Ratgeberliteratur
vermittelt wird, basiert auf diesem
modernen Selbstunternehmertum. Die Ratgeberliteratur reagiert
also auf eine neu entstandene Marktlücke, die durch den Rückzug
des Sozialstaats, den veränderten Arbeitsmarkt und das moderne
Partnerschafts- und Familienideal geschaffen wurde. Es
darf vermutet werden, dass die unterentwickelten Fähigkeiten
zur Selbstsorge in der Bevölkerung zugleich einen Ansatzpunkt für
einen neuen Boom auf dem Dienstleistungsmarkt bilden werden. Denkbar
ist aber auch, dass neue zivilgesellschaftliche Lösungen
entstehen
.
Bei Ulrich BRÖCKLING heißt es unter dem Stichwort Prävention:
Prävention
"Im
Zuge der gegenwärtigen Ökonomisierung des Sozialen
verwandelt sich der »Vorsorgestaat« (Ewald 1993) zum
»aktivierenden Staat«, der seine Bürger und Bürgerinnen
aus der fürsorglichen Belagerung in die Freiheit der
Selbstsorge entlässt und ihnen zumutet, ihre Lebensrisiken
eigenverantwortlich zu managen. Prävention wird wichtiger
denn je, aber sie wird zunehmend zur Sache der Individuen,
die gehalten sind, sich selbst ökonomisch zu regieren.
(...).
Aktuelle
Kampagnen ersetzen die traditionellen Mechanismen des
Überwachens und Strafens deshalb durch ein Regime
freiwilliger Selbstkontrolle. (...). Ohne Drohszenarien
kommt indes auch der Appell an die Selbstverantwortung
nicht aus: Wer es an Einsicht fehlen lässt (...), der hat
auch die Folgen selbst zu tragen - sei es in Form höherer
Versicherungsprämien, sei es in Form geringerer
Lebensdauer. (...). Vorbeugung avanciert zum moralischen
Imperativ, dessen Unabweisbarkeit gerade darauf beruht,
dass er nicht an hehre Ideale, sondern an das
Eigeninteresse appelliert. Weil dieser Imperativ sich auf
alle Lebensbereiche erstreckt, ist ihm eine ebenso
universelle Schuldzuweisung eingeschrieben. Welche kleinen
Katastrophen den Einzelnen auch ereilen mögen, in letzter
Konsequenz sind sie stets ein Ergebnis seiner
unzureichenden Sorge um sich."
(aus: Glossar der Gegenwart, 2004,
S.214f.) |
Exkurs: Die Rezeption der neuen
Ratgeberliteratur in den Medien
Das Buch
Einsamkeit von Ulf POSCHARDT löste in den Medien zum Teil
harsche Kritik von Gleichaltrigen aus. Die Kritik kommt dabei
aus zwei Richtungen. Das
offene Bekenntnis von POSCHARDT zur FDP und seine wöchentliche
Kolumne, in der er des Öfteren den Missbrauch des Sozialstaats
und die Entsolidarisierung der Unterschichten mit den Reichen
anprangert, hat bei Poplinken reihenweise Empörung
hervorgerufen. Jan ENGELMANN hat dies im Märzheft der
Literaturen als die Aufkündigung der "Allianz zwischen
hedonistischem Lebensstil und linken Überzeugungen"
angeprangert. Man
darf jedoch fragen, ob es da wirklich noch etwas aufzukündigen
gab oder ob die Poplinke nicht längst jeglichen Bezug zu den
neuen Realitäten
verloren hat. Robert MISIK hat dieses Problem im taz-Artikel
Eine
harte Lehre für metropolitane Kulturlinke: Gleichheit, nicht
Differenz ist das Problemfeld der Stunde (03.05.2005) zumindest angesprochen,
mehr ist da jedoch momentan nicht zu erwarten.
Die Emanzipationsfalle
"Wir
müssen Argumente finden für die Avantgarde der
Kinderlosen, für gut ausgebildete Singlefrauen und FDP
wählende Erfolgsjungmänner, für entschiedene Nichteltern,
für Unentschlossene und Schwankende. Dabei geht es um
nicht weniger als um ein neues Menschen-, vor allem wohl ein
neues Frauenbild. Diese Bewusstseinsarbeit wird nicht ganz
leicht in einer Gesellschaft, in der (...) große
Bevölkerungsgruppen gar keinen Kontakt mehr zu Kindern
haben und gerade ein erheblicher Teil der Multiplikatoren
in den Medien zu dieser kontaktlosen Gruppe gehört."
(2005, S.156) |
Die andere
Richtung aus der die Kritik kommt, ist dem offenen Bekenntnis
zum Single-Dasein geschuldet. POSCHARDT gehört zur Avantgarde
der Kinderlosen, die nach dem Willen von Postfeministinnen
wie Susanne GASCHKE ("Die
Emanzipationsfalle") mit gutem, d.h. bevölkerungskorrektem,
Beispiel vorangehen sollen oder sich zumindest ohne wenn und
aber in den Dienst der Vermehrungskampagnen stellen sollen.
Felicitas
von LOVENBERG ist hier jedoch in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung zu einem vernichtenden Urteil
gekommen:
Der Mensch ist ein Tier mit sehr vielen Stacheln
"Mit Poschardts Fibel verlernt der
Single endgültig, von sich selbst einmal abzusehen und auf die
anderen zu achten - also genau jene Tugenden, die Familien
hervorbringen und zusammenhalten."
[mehr]
(FAS v. 07.05.2006) |
Schützenhilfe
für POSCHARDT kommt dagegen von Ursula MÄRZ und der Süddeutschen Zeitung:
Oh, dieses durchgelüftete Dasein
"Das längst
routinierte Dauergespräch über die Single-Gesellschaft mit ihren
vielen - ja tatsächlich - einsamkeitskranken Individuen hat das
Gesundungspotential des Fürsichseins in Verruf gebracht. Da hat
(...) Ulf Poschardt, Shrimps hin, Schaumbäder her, ganz einfach
Recht."
(SZ v. 31.05.2006) |
Mehr
Schwierigkeiten hat MÄRZ dagegen mit Mariela SARTORIUS. Kein
Wunder, denn ein Bekenntnis zur Familie wie bei POSCHARDT sucht
man bei SARTORIUS vergebens. Es gibt keine tickende biologischen
Uhren. Die Zielgruppe von SARTORIUS hat die
Familiengründungsphase, wenn überhaupt, hinter sich.
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