|
Gerontokratie? Nichts da! Bald kommt der Baby-Boom
"Auf die Jahrgänge
1967 bis 1969 entfallen die absoluten Minima der
altersspezifischen Geburtenziffern; in den jüngeren
Jahrgängen steigen die Geburtenzahlen wieder an. So hatten
1000 Frauen des Jahrgangs 1968 bis zu ihrem 25. Geburtstag
382 Kinder geboren - beim Jahrgang 1973 waren es zum
gleichen Zeitpunkt bereits 421. Die meisten absoluten
Tiefststände für einzelne Jahre liegen ebenfalls bereits
einige Zeit zurück, mit besonderer Häufung im Jahr 1995:
Von keinem Jahrgang wurden so wenige Frauen mit 23 Mutter
wie von den 72ern. Bei den 24-jährigen Müttern gebührt
diese zweifelhafte Ehre dem 71er-Jahrgang, bei den
25-jährigen den 70ern und bei den 26-jährigen den 69ern.
Belegen lässt sich damit bisher nur, dass der seit Mitte
der sechziger Jahre andauernde Trend zur Abnahme der Zahl
junger Mütter Mitte der neunziger Jahre gestoppt wurde.
Aus den bisher vorliegenden Daten ist natürlich nicht zu
entnehmen, ob die heute zwischen 20 und 30 Jahre alten
Frauen, die bisher mehr Kinder bekommen haben als die
vorangehenden Jahrgänge, auch insgesamt mehr Kinder
bekommen werden. Wenn sich allerdings herausstellen
sollte, dass auf die Jahrzehnte des andauernden
Geburtenrückgangs nun eine nachhaltige Steigerung der
Geburtenzahlen folgt, also ein zweiter demographischer
Übergang, wird als Wendepunkt der Entwicklung
wahrscheinlich das Jahr 1995 angegeben werden."
(Welt vom 19.08.2003) |
Einführung
Als Detlef
GÜRTLER im Jahr 2003 schrieb, dass bald der Baby-Boom kommt, da
sollte dieser Artikel ein ganzes Jahrzehnt über mehr oder
weniger die
einzige journalistische Gegenstimme gegen das Gerede vom
Geburtenrückgang sein, das damals zusammen mit der Angst vor dem
Aussterben der Deutschen bzw. dem Niedergang der deutschen
Intelligenz aufgrund der hohen Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen die Berliner Republik beherrschte.
Typisch war die Frage von Susanne GASCHKE:
Wo sind die Kinder? Deutschland galt als Land der
Egoisten und die Forderung (man könnte es auch als Prophezeiung
lesen) wurde laut:
Kein Nachwuchs, keine Rente.
Wie kam
GÜRTLER zu seiner abweichenden Meinung vom konformistischen
Mainstream? Im Gegensatz zur damals
üblichen Praxis in der nationalkonservativen
Bevölkerungswissenschaft, berief sich GÜRTLER nicht auf die
zusammengefasste Geburtenziffer (TFR), auch als Geburtenrate
bezeichnet, sondern auf die Kohortenfertilität (CFR), d.h. die
endgültige Kinderzahl von Frauenjahrgängen. Während ausländische
Demografen längst die Verzerrung der Geburtenrate durch das
ansteigende Erstgebäralter diskutierten, weigerte sich die
nationalkonservative Bevölkerungswissenschaft in Deutschland,
dessen herausragender Vertreter Herwig BIRG ist,
beharrlich diese Erkenntnisse zu popularisieren. Auf dieser Website wurde bereits im Jahr 2001
- im Zusammenhang mit dem Pflegeurteil des
Bundesverfassungsgerichts - auf diesen Aspekt hingewiesen. Die
Berliner Zeitung berichtete damals über die Sichtweise der
Demografen Ron LESTHAEGHE und David COLEMAN, wonach der
Geburtenrückgang keineswegs jene Ausmaße erreicht hat, die in
Deutschland diskutiert wurden. Tom LEVINE schreibt dazu:
Praktizierte Gleichberechtigung - größere Kinderzahl
"Die Frauen der
Jahrgänge 1957 bis 1961 etwa hätten zwar viel später mit
dem Kinderkriegen angefangen als ihre Vorgängerinnen, aber
dann aufgeholt: Die Geburtenrate ihrer Altersgruppe liegt
bei rund 1,6 Kindern pro Frau ; verglichen mit 1,8 für die
Jahrgänge 1942-1946. Die heute 35- bis 40-Jährigen hätten
bereits jetzt eine Rate von 1,5 erreicht - obwohl sie sich
durchschnittlich noch länger Zeit gelassen hätten, bevor
das erste Baby kam."
(Berliner Zeitung vom 14.04.2001) |
Mit den 35-
bis 40-Jährigen sind die 1961 bis 1965 geborenen Frauen gemeint.
Der Frauenjahrgang 1961 hat inzwischen eine endgültige
durchschnittliche Kinderzahl von 1,63, der Frauenjahrgang 1965 von 1,55 Kindern
pro Frau erreicht. Die Frauenjahrgänge 1961 bis 1965 erreichten
also eine durchschnittliche Kinderzahl von 1,59 (vgl.
Statistisches Bundesamt). Das sind 90
Geburten pro 1000 Frauen mehr als 2001 von den
fortschrittlichsten Demografen angenommen und 190 (TFR = 1,3)
bis 290 Geburten (TFR = 1,4) pro 1000 Frauen mehr als die
zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) der Nuller Jahre
suggerierte. Die damalige
Fehleinschätzung lag in erster Linie an der Überschätzung der
Kinderlosigkeit in den jüngeren Frauenjahrgängen.
Überhöhte Schätzungen der Kinderlosigkeit führten zu einer
Fehleinschätzung der Wirksamkeit bevölkerungspolitischer
Maßnahmen
In seinem
viel beachteten Bestseller
Die demographische Zeitenwende
(Die SZ benannte danach sogar eine ganze
Demografie-Serie) veröffentlichte
Herwig BIRG seine Schätzung der
Paritätsverteilung bei den Frauenjahrgängen 1940 - 1965. Ein
Vergleich mit der Paritätsverteilung des Mikrozensus 2012 zeigt
folgende Differenzen:
Tabelle 1: Vergleich der Paritätsverteilung der
Frauenjahrgänge
1940 - 1965 bei Herwig Birg und dem Mikrozensus 2012 |
Jahrgang |
Paritätsverteilung (Anteile in Prozent) |
Birg |
MZ |
Birg |
MZ |
Birg |
MZ |
Birg |
MZ |
Birg |
MZ |
0 |
1 |
2 |
3 |
4+ |
1940 |
10,6 |
12,2 |
26,4 |
23,3 |
34,1 |
37,9 |
18,5 |
17,1 |
10,4 |
9,5 |
1945 |
13,0 |
12,0 |
30,4 |
28,5 |
34,6 |
39,4 |
14,0 |
14,2 |
8,0 |
5,9 |
1950 |
15,8 |
13,7 |
29,4 |
27,8 |
34,3 |
39,8 |
13,1 |
13,5 |
7,4 |
5,2 |
1955 |
21,9 |
15,6 |
24,9 |
25,5 |
33,5 |
39,7 |
12,5 |
13,9 |
7,3 |
5,2 |
1960 |
26,0 |
17,9 |
21,6 |
22,5 |
32,4 |
41,3 |
12,4 |
13,0 |
7,7 |
5,3 |
1965 |
32,1 |
20,3 |
17,6 |
24,8 |
31,2 |
38,0 |
11,1 |
12,4 |
8,1 |
4,4 |
|
Quelle: Birg = Herwig Birg 2001, S.77; MZ = Martin Bujard & Detlev Lück
"Kinderlosigkeit und Kinderreichtum",
2015,
S.262; eigene Darstellung.
Bei Birg wurden die Werte je
1000 Frauen
angegeben, während sie hier
als Prozentanteile dargestellt
werden. Im Gegensatz
zu Bujard & Lück
wurden die Paritäten 4 und 5+ in dieser
Darstellung zu 4+
zusammengefasst. |
Vergleicht
man die Paritätsverteilung bei BIRG (2001) und BUJARD & LÜCK
(2015) so wird bei BIRG der Anteil der Kinderlosen bei den
jüngeren Frauen um bis zu 58 % überschätzt (Frauenjahrgang
1965). Der Anteil der Frauen mit 4 und mehr Kindern bei den
jüngeren Frauen wird sogar bis zu 84 % (Frauenjahrgang 1965)
überschätzt. Dagegen wird der Anteil der jüngeren Frauen mit nur
einem Kind um bis zu 29 % (Frauenjahrgang 1965) unterschätzt.
Der Anteil der Frauen mit zwei Kindern wird um 17,9 %
unterschätzt. Lediglich die Werte für Frauen mit 3 Kindern
wurden von BIRG annähernd richtig geschätzt.
Aus der von
BIRG geschätzten Paritätsverteilung ergibt sich
fälschlicherweise, dass der Geburtenrückgang hauptsächlich vom
Anstieg der Kinderlosigkeit bei den Frauenjahrgängen 1940 bis
1965 verursacht wurde. Konsequenterweise wurde deshalb in der
Bekämpfung der Kinderlosigkeit die Lösung für den Anstieg der
Geburtenrate in Deutschland gesehen. Diese Sichtweise wurde erst
in jüngster Zeit in Frage gestellt (vgl. z.B. BUJARD
& LÜCK "Kinderlosigkeit und Kinderreichtum",
2015, S.40).
Die
überhöhte Zahl von 40 Prozent kinderloser westdeutscher
Akademikerinnen führte zu einer weiteren Verengung
bevölkerungspolitischer Maßnahmen
Während
Herwig BIRG
das gesamte Niveau der Kinderlosigkeit in Deutschland
betrachtete, richtete sich das Hauptaugenmerk der Medien und der
Politiker auf die kinderlosen Akademikerinnen des
Frauenjahrgangs 1965, dem eine 40 %ige Kinderlosigkeit
zugeschrieben wurde. BUJARD et al. (2015) sehen überhöhte Werte
für diese Gruppe in den Jahren 1995 bis 2005 im Umlauf.
Tatsächlich heißt es noch in der 7. Auflage des 2008 erschienen
familiensoziologischen Fachbuchs Familienformen im sozialen
Wandel von Rüdiger PEUCKERT, dass sich die Kinderlosigkeit
der Akademikerinnen in Westdeutschland auf 40 % zu bewegt
(vgl.
2008, S.131). Erst in der 5. Auflage aus dem Jahr 2004 findet sich
bei PEUCKERT das Kapitel Steigende Kinderlosigkeit als
entscheidende Steuerungsgröße der Geburtenentwicklung.
Selbst in dem 2015 erschienenen Buch
Kritik des Familismus
von Gisela NOTZ werden mit Bezug auf einen Spiegel-Artikel
vom September 2005 noch die Zahl von 40 % kinderlosen
Akademikerinnen verbreitet ohne dass zumindest in einer Fußnote
darauf hingewiesen wird, dass diese Zahl weit überhöht war.
Dagegen war die Zahl von 40 % kinderlosen Akademikerinnen
nicht bereits 1995 im Umlauf wie BUJARD et al. (2005) behaupten,
sondern fand sich erst in einer wissenschaftlichen Publikation
1998 (vgl. DESTATIS "Kinderlosigkeit
von Akademikerinnen im Spiegel des Mikrozensus",
06.06.2006) und 1999 in der Spiegel-Titelgeschichte
Die Baby-Lücke.
Die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen stand im Mittelpunkt der
nachhaltigen Familienpolitik, in deren Zentrum wiederum die Durchsetzung des Elterngeldes
stand. Kurz nach der vorzeitigen Bundestagswahl 2005
wurde das Buch Die Emanzipationsfalle der ZEIT-Redakteurin
Susanne GASCHKE auf den Buchmarkt geworfen. Der Untertitel:
Erfolgreich, einsam, kinderlos. Damit waren die
Akademikerinnen gemeint. Das Buch suggerierte sogar, dass
zukünftig 50 % der Akademikerinnen kinderlos bleiben werden.
Die Emanzipationsfalle
"Bis
zu ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr bleiben laut
Mikrozensus des Statistischen Bundesamts inzwischen
zweiundsechzig Prozent der Hochschulabsolventinnen
kinderlos. Auch wenn es bei ihnen einen deutlichen Trend
zur »späten Mutterschaft« mit Mitte, Ende dreißig gibt:
Wie viele von ihnen werden bis Anfang vierzig wirklich
noch Kinder bekommen? Zehn Prozent? Zwanzig? Demografen
gehen für die Zukunft davon aus, dass etwa die Hälfte
aller Akademikerinnen für immer kinderlos bleiben werden."
(2005, S.72) |
Um eine
Vorstellung davon zu gewinnen um welche Größenordnungen es sich
bei den betrachteten Akademikerinnen handelt, ist ein Blick auf
die Fallzahlen des Mikrozensus 2012 für die Kinderlosen der
Frauenjahrgänge 1960 bis 1971 aufschlussreich:
Tabelle 2: Anteil der Kinderlosen an den
Frauenjahrgängen 1960 bis 1971 nach unterschiedlichen
Bildungsstufen (Mikrozensus 2012; N = 63.593) |
|
ISCED 1 |
ISCED 2 |
ISCED 3 |
ISCED 4 |
ISCED 5B |
ISCED
5A + 6 |
Anteil
Kinderloser
(in Prozent) |
15,96 |
14,85 |
17,66 |
25,62 |
21,31 |
26,76 |
Fallzahlen
(N) |
2.019 |
6.717 |
33.165 |
5.657 |
7.053 |
8.982 |
|
Quelle: Martin Bujard et al.
"Das unterschätzte Potenzial hoher Fallzahlen",
Zeitschrift für Familienforschung, Heft 3, 2015, S.352; eigene Darstellung
Anmerkungen:
ISCED 1 = ohne Abschluss; 2 = Haupt- bzw.
Realschulabschluss;
3 = Lehre oder Hochschulreife; 4 = Lehre und
Hochschulreife; 5 B = Meister; 5 A + 6 =
Hochschulabschluss (inklusive Promotionen)
|
Wer nur die Akademikerinnen (ISCED 5A + 6) im Blick hat, der
ignoriert die mehr als 3 mal so große Gruppe der Frauen mit
Lehre oder Hochschulreife, die eine fast gleich hohe
Kinderlosigkeit wie die Akademikerinnen aufweist. Mit den
Promotionen wird zudem eine Subgruppe von Akademikerinnen
erfasst, die besonders spät Kinder bekommt (mehr
hier). Jürgen DORBRITZ (vgl.
"Paritätsverteilungen nach Geburtsjahrgängen, Lebensformen und
Bildung bei besonderer Beachtung von Kinderlosigkeit und
Kinderreichtum", Zeitschrift für Familienforschung, Heft 3, 2015, S.306) beziffert den Anteil
der kinderlosen Akademikerinnen der Frauenjahrgänge 1964 bis
1968 mit 30,8 % (West: 33,1 %; Ost: 14,0 %). Martin BUJARD (vgl.
Kinderlosigkeit in Deutschland, Zeitschrift für
Familienforschung, Heft 3, 2015,
S.281) kommt dagegen für die Frauenjahrgänge 1960 bis 1969 auf
27,2 % (West: 29,1 %; Ost: 20,2 %). Die unterschiedlichen Werte
für West- und Ostdeutschland sind dem Umgang mit Berlin
geschuldet (vgl. Kinderlosigkeit und Kinderreichtum, Zeitschrift
für Familienforschung, Heft 3, S.263).
Statt
die Kinderlosigkeit der Nicht-Akademikerinnen in den Blick zu
nehmen wird nach Subgruppen von Akademikerinnen mit hoher
Kinderlosigkeit geforscht
Die Strategie
der Nuller Jahre setzt sich nun innerhalb der Subgruppe der
Akademikerinnen fort. Das Motto: Wer findet das höchste Niveau
an Kinderlosigkeit unter den Akademikerinnen?
Tabelle 3: Anteil der Kinderlosen an den
Frauenjahrgängen 1950 bis 1969 ohne Migrationshintergrund
in Großstädten nach unterschiedlichen Bildungsstufen
(Mikrozensus 2012 in: DESTATIS "Geburtentrends und
Familiensituation in Deutschland 2012. Begleitheft zur
Pressekonferenz", 07.11.2013) |
|
ISCED 1 + 2 |
ISCED 3 + 4 +
5B |
(ISCED
5 A + 6) |
1950-1954 |
21,6 % (N =
429) |
25,0 % (N =
2.067) |
34,9 % (507) |
1955-1959 |
20,1 % (N =
452) |
26,6 % (N =
2.374) |
38,7 % (628) |
1960-1964 |
23,6 % (N =
483) |
30,8 % (N =
2.676) |
38,4 % (780) |
1965-1969 |
24,6 % (N =
417) |
33,2 % (N =
2.642) |
37,5 % (920) |
|
Quelle: Martin
Bujard 2015, S.283; eigene Darstellung
Anmerkungen:
ISCED 1 = ohne Abschluss; 2 = Haupt- bzw.
Realschulabschluss;
3 = Lehre oder Hochschulreife; 4 = Lehre und
Hochschulreife; 5 B = Meister; 5 A + 6 =
Hochschulabschluss (inklusive Promotionen)
|
Betrachtet
man die Tabelle, dann fällt auf, dass die Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen an den westdeutschen Frauenjahrgängen 1955 bis
1959 in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern mit 38,7 %
ihren Höhepunkt hatte. Seitdem ist sie bis zu den Jahrgängen
1965 bis 1969 geringfügig zurückgegangen. Ausgeblendet werden
hier die in den 1970er Jahre geborenen Frauen, die verstärkt vom
Ausbau der Kinderbetreuung in Westdeutschland profitieren. Die
weitaus größte Gruppe der Frauen mit mittlerer Bildung (ISCED 3
+ 4 + 5B) mit mehr als doppelt so vielen Kinderlosen
verzeichnet einen Anstieg der Kinderlosigkeit von 8,2 %. Ein
Rückgang der Kinderlosigkeit bei den Akademikerinnen um 1 %
würde sich also auf die Geburtenrate wesentlich weniger
auswirken als ein Rückgang bei den Frauen mit mittlerer Bildung.
Der Blick auf die hohe Kinderlosigkeit von akademischen
Subgruppen verdeckt die Tatsache, dass die Akademikerinnen
aufgrund ihrer noch immer geringen Quantität keinesfalls einen
großen Beitrag zur Steigerung der Geburtenrate leisten konnten,
wenn die anderen Gruppen missachtet werden. Wie das jedoch bei
den in den 1970er Jahren geborenen Frauen aussieht, das wäre die
wichtigere Frage, bei denen uns die Analysen der Mitarbeiter des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung im Stich lassen.
Erst der Mikrozensus 2016 könnte hier ein genaueres Bild
liefern.
Wie schätzt das Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung die zukünftige Entwicklung der
Geburtenrate ein?
Im aktuellen
Heft der Zeitschrift für Familienforschung beurteilen DORBRITZ
sowie BUJARD et. al. auch die weitere Entwicklung des
Fertilitätsniveaus in Deutschland.
Paritätsverteilungen nach Geburtsjahrgängen, Lebensformen
und Bildung bei besonderer Beachtung von Kinderlosigkeit
und Kinderreichtum
"In den
Fertilitätsmustern der jüngeren Kohorten lassen sich keine
so deutlichen Veränderungen feststellen, die auf einen
anstehenden Wandel des Fertilitätstrends hindeuten."
(2015, S.310)
"Insgesamt gesehen besteht in Deutschland eine Kombination
von sozioökonomischen und kulturellen Einflussfaktoren, die
contra Kinderreichtum und pro Kinderlosigkeit wirken. Nach
diesen Ergebnissen kann davon ausgegangen werden, dass ein
soziales Klima entstanden ist, in dem ein deutlicher Anstieg
des Fertilitätsniveaus nur schwerlich realisierbar zu sein
scheint."
(2015, S.319) |
DORBRITZ ist
angesichts eines oberflächlichen Vergleichs der
Paritätsverteilung in den Frauenjahrgängen 1964-1968 und
1974-1978 eher skeptisch was einen nachhaltigen Anstieg der
Geburtenrate in Deutschland angeht. Aus der folgenden Tabelle
ist der Zusammenhang von Lebensform (verheiratet,
zusammenwirtschaftend; unverheiratet, zusammenwirtschaftend;
nicht zusammenwirtschaftend oder partnerlos) und die Verteilung
auf die Paritäten 0 (Kinderlose) und 3+ (Kinderreiche)
ersichtlich.
Tabelle 4: Anteil der Kinderlosen und Kinderreichen an
den
Frauenjahrgängen 1964-1968 und 1974-1978 nach Lebensform
in Deutschland, West- und Ostdeutschland
(Mikrozensus 2012 in: DESTATIS "Geburtentrends und
Familiensituation in Deutschland 2012. Begleitheft zur
Pressekonferenz", 07.11.2013) |
|
Deutschland |
|
Kinderlose |
Kinderreiche |
|
Ehe |
NELG |
Ohne |
Ehe |
NELG |
Ohne |
1964-1968 |
11,8 % |
34,7 % |
39,3 % |
19,4 |
9,8 |
11,3 |
1974-1978 |
14,5 % |
44,0 % |
58,3 % |
16,0 |
5,3 |
6,0 |
|
Quelle: Jürgen Dorbritz
"Paritätsverteilungen nach Geburtsjahrgängen, Lebensformen
und Bildung bei besonderer Beachtung von Kinderlosigkeit
und Kinderreichtum", Zeitschrift für Familienforschung,
Heft 3, 2015, S.306; eigene Darstellung |
Die Zahlen
suggerieren, dass sich der Trend zu Kinderlosigkeit und der
Rückgang fortgesetzt hat. Dies ist aber aus der Tabelle nicht
ersichtlich, denn die Frauenjahrgänge 1964-1968 waren im Jahr
2012 zwischen 44 und 48 Jahren alt, haben ihre endgültige
durchschnittliche
Kinderzahl fast erreicht, während die 1974-1978 geborenen Frauen
erst 34 bis 38 Jahre alt waren. Angesichts der Tatsache, dass
viele Kinderlose erst spät Kinder bekommen, ist die Aussagekraft
der Zahlen eher gering. Ein Vergleich zwischen dem Mikrozensus 2008
(vgl. Olga PÖTZSCH & Dieter EMMERLING "Neue Daten zu
Kinderlosigkeit und Geburten", DESTATIS 08.12.2008) und 2012 hinsichtlich der Altersgruppen 34
bis 38 Jahre wäre hier angebrachter gewesen - selbst bei etwas
geringerer Validität der Daten aus dem Jahr 2008. Aufgrund
fehlender Angaben zu den Fallzahlen lässt sich auch nicht die
Größenordnung der jeweils betrachteten Lebensformgruppe ersehen.
Höhere Kinderlosigkeit bei kleinen Fallgruppen beeinflusst die
Geburtenrate möglicherweise weniger als eine vergleichsweise
niedrigere Kinderlosigkeit bei einer großen Fallgruppe. Auch
Verschiebungen innerhalb der Paritäten 1 und 2 bleiben
unbetrachtet. Das größte Manko jedoch ist, dass der Mikrozensus
2012 den Anstieg der Geburtenrate von 2012 bis 2014 (2011: 1,39;
2012: 1,41;
2013: 1,42 [siehe DESTATIS 06.11.2015];
2014: 1,47 [siehe DESTATIS 16.12.2015]) nicht
widerspiegelt. Aktuelle Geburtentrends können hier also gar
nicht diskutiert werden.
Der Übergang vom ersten zum zweiten Kind
wurde in der deutschen Bevölkerungswissenschaft vernachlässigt
Im August gab
das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in
Rostock eine Pressemeldung heraus, nach der es einen Anstieg um
7 % bei den Ein-Kind-Familien gab:
Macht das erste Kind unglücklich, kommen seltener
Geschwister
"Tatsächlich liegt
die Zahl der Geburten pro Frau aber seit 40 Jahren unter
1,5. Während als Ursache häufig der steigende Anteil von
Kinderlosen diskutiert wird, wird vernachlässigt, dass
immer häufiger zwar ein erstes Kind kommt – dann aber
nicht mehr das ursprünglich gewollte zweite. Lag der
Anteil an Ein-KindFamilien noch bei 25 Prozent für
Mütter, die Ende der 1930er-Jahre geboren wurden, hat er
für die jetzt etwa 45-jährigen Mütter der späten
1960er-Jahrgänge schon 32 Prozent erreicht. Zum Vergleich:
In England und Wales liegt der Anteil für die späten
1960er-Jahrgänge nur bei 21 Prozent."
(Pressemeldung der Max-Planck-Gesellschaft v.
05.08.2015) |
Rachel
MARGOLIS & Mikko MYRSKYLÄ beziehen sich bei ihren Daten auf
einen Beitrag von Michaela Kreyenfeld & Dirk KONIETZKA, in dem
es heißt:
Parental Well-being Surrounding First Birth as a
Determinant of Further Parity Progression
"In Germany,
relatively low transition rates to parity 2 is an
important component of persistent low fertility. The
proportion of mothers who stopped at having one child has
been increasing rapidly, from 25 % for the 1935–1939 birth
cohort to 32 % for the 1965–1969 birth cohort (Kreyenfeld
and Konietzka forthcoming)."
(Demography, 04.08.2015) |
Der
Mikrozensus 2012 zeigt, dass der Anteil von Frauen mit nur einem
Kind bei den Frauenjahrgängen 1937 bis 1971 (vgl. BUJARD & LÜCK
"Kinderlosigkeit und Kinderreichtum", 2015,
S.262) fast unverändert geblieben ist. Der Anteil beim
Frauenjahrgang 1938 markiert mit 22,2 % den niedrigsten Wert,
während der Jahrgang 1945 mit 28,5 % den höchsten Wert markiert.
Der Frauenjahrgang 1971 liegt mit 25,2 % zwischen diesen Polen.
Der Anteil der Frauen mit 2 Kindern bewegt sich zwischen 35,2 %
(Jahrgang 1937) und 42,5 % (Jahrgang 1953). Der
Jahrgang 1971 liegt auch hier mit 38,1 % zwischen diesen Polen.
Auf den ersten Blick, also mit den Augen derjenigen, die sich
lediglich auf den Anstieg bzw. Rückgang innerhalb von Paritäten
konzentrieren, ergibt sich kein Anlass zur Besorgnis. BUJARD et
al. schreiben zu den Voraussetzungen eines Anstiegs Folgendes:
Paritätsverteilungen nach Geburtsjahrgängen, Lebensformen
und Bildung bei besonderer Beachtung von Kinderlosigkeit
und Kinderreichtum
"Voraussetzung für einen nachhaltigen Fertilitätsanstieg ist
ein Wandel in den Paritätsstrukturen, getragen von einem
Rückgang bei der Parität 0 und Zuwächsen bei den Paritäten 2
und 3. Ein solcher Wandel hat noch nicht grundsätzlich
eingesetzt, ist aber in Ansätzen zu erkennen. In der Gruppe
der Ungelernten sind ein Rückgang der Kinderlosigkeit und
ein Anstieg bei den Anteilen dritter sowie vierter und
weiterer Kinder zu erkennen. Generell scheint der Anstieg
der Kinderlosigkeit in allen beruflichen Ausbildungsgruppen
gestoppt zu sein. Diese Erkenntnis ist vor allem bei den
Hochqualifizierten, die maßgeblich zum hohen Niveau der
Kinderlosigkeit in Deutschland beitragen, von Bedeutung."
(2015, S.365) |
In dieser
Formulierung wird davon ausgegangen, dass die Anteile der
Parität 1 gleich bleiben sollen. Dies ist auf zwei Wegen
möglich: Zum einen, wenn Frauen, die bislang kinderlos geblieben
sind,
mindestens zwei Kinder gebären. Zum anderen dadurch, dass
bislang kinderlos bleibende Frauen ein Kind gebären. Dann
müssten aber jene, die bislang nur ein Kind bekommen haben,
zukünftig im gleichen Verhältnis mindestens zwei Kinder
bekommen. Genau auf diese Umverteilung zielt die Studie von MARGOLIS & MYRSKYLÄ ab. Die Autoren haben mittels
Ereignisanalysen, die mit den Mikrozensen nicht möglich sind,
weil dazu ein Längsschnittdesign erforderlich ist (z.B. SOEP),
die Übergangswahrscheinlichkeiten berechnet und nach möglichen
Ursachen gesucht. Auch solche Ursachensuche ist mittels
Mikrozensus nicht möglich, der lediglich Korrelationen, aber
keine Kausalitäten aufzeigen kann. Wenn also z.B. DORBRITZ (vgl.
Tabelle 4) den Zusammenhang von Lebensform und Kinderlosigkeit
in den Blick nimmt, dann bleibt offen, ob die Lebensform
Ausdruck der Kinderlosigkeit ist oder deren Ursache.
Fallbeispiel: Frauenjahrgang 1968 - Späte Mutter mit 43 Jahren
Im Jahr 2013
erschien das Buch Ansichten einer späten Mutter der
Journalistin Susanne FISCHER. Angesichts der
bevölkerungspolitischen Debatte um die Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen in den Nuller Jahren verwundert die folgende
Selbstbeschreibung nicht:
Ansichten einer späten Mutter
"Ich habe der Statistik
ein Schnäppchen geschlagen, hurra! Im jüngsten Fachbericht
der Bundesregierung, dem »Familienreport
2011«, zählte ich noch zu den
22 Prozent meines Jahrgangs (1968), die im Jahr 2009
41 Jahre alt und kinderlos waren.
Mit mir haben die deutschen Demografen nicht mehr
gerechnet. Und meine Familie auch nicht. Wie sagte so
charmant meine 80-jährige (kinderlose) Tante, als ich ihr
von meiner Schwangerschaft erzählte? »Ich dachte ja eher,
du kommst jetzt in die Wechseljahre«.
Mutter mit 43 - darf frau das? (...).
Zu meiner Beruhigung kann ich sagen: Ich bin nicht allein.
(...). Die Zahl der Frauen, die mit über 35 Jahren (noch)
ein Kind bekommen, steigt von Jahr zu Jahr, vor allem in
Westdeutschland und da vor allem in den Städten und unter
den
Akademikerinnen. Jede vierte Frau in Deutschland
bringt inzwischen mit über 35 Jahren ihr erstes Kind zur
Welt. Schaue ich mich unter meinen Freundinnen um, kommt
es mir sogar vor, als müssten es noch viel mehr sein.
Und auch die Zahl der (Erst-)-Mütter über 40 wächst.
2008 lag der Anteil der verheirateten Frauen, die bei der
Geburt ihres ersten Kindes 40 Jahre oder älter waren, bei
3,4 Prozent, Tendenz steigend. In München machen die
Mütter über 40 sogar schon fünf Prozent aus, in anderen
Großstädten sieht es ähnlich aus."
(2013, 22f.) |
Selbst bei
der von Martin BUJARD et. al. vorgeschlagenen Herangehensweise
zur Schätzung der Kinderlosenanteile anhand der Kinder im
Haushalt, bliebe das Kind von Susanne FISCHER unerfasst, weil
der Auszug von Kindern die Interpretation verzerrt. Beim
Mikrozensus 2012 und anhand der Geburtenfrage könnte das Kind
erfasst werden. Jedoch lebt Susanne FISCHER in Beirut und ist
nur noch zeitweise in Deutschland. Erfasst würde sie nur, wenn
sie in Deutschland einen Hauptwohnsitz angemeldet hätte. Von
daher hat sie zwar recht, dass die deutschen Demografen mit ihr
eher nicht rechnen, ob ihr Kind jedoch nach 2011 in die Rechnung
der Demografen eingeht, ist dagegen fraglich.
Susanne
FISCHER, Jahrgang 1968, sieht sich als typisch für
hochqualifizierte Frauen ihrer Generation (vgl. 2013, S.28), die
nicht vor der Frage stehen: früh oder spät zu gebären, sondern
ein spätes Kind zu haben oder gar keines:
Ansichten einer späten Mutter
Für "viele von uns
lautet die Alternative nicht »Kind mit 25 oder 40«,
sondern eher »Kind mit 40 oder gar kein Kind«. Weil wir
uns nicht entscheiden wollen zwischen Kind und Karriere,
brechen wir den Normallebenslauf - Studium, kurze
Berufstätigkeit, Kinderpause, Endstation Teilzeit - auf
und entzerren zeitlich Karriere und Familie. Entstanden
ist so ein neues biographisches Muster, das der Statistik
zufolge an Popularität gewinnt, bei allen damit
verbundenen Risiken (...). Die Demografen sprechen von
Postponement und Recuperation, vom Phänomen der
aufgeschobenen und später im Lebenslauf nachgeholten
Geburten, das in allen Industrieländern zu beobachten ist.
Die späte Mutterschaft als neue Antwort auf die Frage, ob
Frauen alles haben können: Ja, aber wann wir welchen Teil
von diesem »alles« wollen, entscheiden wir!"
(2013, 30f.) |
FISCHER
beschreibt sich also als Aufschieberin (mehr
hier). Die
Journalistin sieht sich nicht als Egoistin, wie viele andere
(vor allem Journalistinnen) den späten Müttern vorwerfen,
sondern als Pionierin (vgl. 2013, S,31). Die früheren
Fehleinschätzungen zur Kinderlosigkeit der Akademikerinnen in
Deutschland wendet FISCHER ins Positive:
Ansichten einer späten Mutter
"Wenn durch uns späte
Mütter eben nur 30 Prozent der Akademikerinnen kinderlos
bleiben und nicht 40 Prozent, ist das
bevölkerungspolitisch gesehen doch ein Plus. Und zwar
eines, das inzwischen selbst die Aufmerksamkeit der
Forscher errungen hat: Dank der wachsenden Zahl später
Geburten sei der Abwärtstrend unter Akademikerinnen
gestoppt, berichtete im September das Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung. Während die Anzahl der Kinder aller
Frauen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren
konstant blieb, bekamen Akademikerinnen wieder etwas mehr
Kinder - aber dies eben vor allem als späte Mütter"
(2013, 32) |
Diese
Sichtweise übersieht, dass die Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen nur falsch eingeschätzt worden ist, denn sie
blieben in Deutschland nie zu 40 Prozent lebenslang kinderlos,
sondern die Bevölkerungswissenschaft hat die späten Mütter
lediglich ignoriert. Anders formuliert: Man hat ein Phantom
bekämpft und dadurch viel mehr Schaden angerichtet als mancher
glaubt. Dazu später mehr.
In den so
genannten "Mütterkriegen" sieht FISCHER einen Grund für die
niedrige Geburtenrate:
Ansichten einer späten Mutter
"Warum nur sind
Debatten rund ums Kind in Deutschland so verdammt
ideologisch? Ob Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die
Frage der richtigen Kinderbetreuung, das beste Alter zum
Kinderkriegen oder die Grenzen und Möglichkeiten der
modernen Fortpflanzungsmedizin: Die eigene Position gilt
als die allein selig machende. Die anderen sind wahlweise
Egoisten, Glucken, Rabenmütter, Karrierezicken, Heimchen
am Herd oder pfuschen gottlos der Natur ins Handwerk. Da
überrascht es wenig, dass Deutschland ein »Niedrig-Fertilitätsland«
ist, wie es im Deutsch der Demografen heiß. Weltweit gibt
es kein zweites Land mit einer über einen so langen
Zeitraum konstant so niedrigen Geburtenrate: Seit vierzig
Jahren (!) kommen wir über 1,3 bis 1,4 Kinder pro Frau
nicht hinaus. Weltmeister ist Deutschland auch bei der
Zahl dauerhaft kinderloser Frauen."
(2013, 32) |
FISCHER sieht
das Feinbild "späte Mutter" als Hindernis für einen Rückgang der
Kinderlosigkeit in Deutschland (vgl. 2013, S.38). Das ist ein
Aspekt, der beim Leitbildsurvey des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung fehlt - möglicherweise, weil das Institut
selber dieses Feindbild aus bevölkerungspolitischen
Strategiegründen pflegt.
FISCHER
kritisiert auch die mediale Panikmache bezüglich später
Geburten, die bis zur aktiven Desinformation reicht:
Ansichten einer späten Mutter
"Niemand behauptet,
dass es ideal sei, sein erster Kind mit über 40 zu
bekommen. Schon weil es sehr viel schwieriger ist,
schwanger zu werden. Die vielen Geschichten aber von
Frauen, die problemlos und unauffällig mit Anfang 40
schwanger werden und gesunde Kinder zur Welt bringen,
bleiben unerzählt. Über all die Warnungen (...) verlieren
wir eines leicht aus dem Blick: 96 Prozent aller Kinder
von Müttern über 40 kommen gesund und ohne Komplikationen
zur Welt. (...).
Eine regelrechte »Panikmache in Sachen Fruchtbarkeit«
diagnostizierte die amerikanische Autorin Elizabeth
Gregory in den Medien. »Sie übertreiben oder stellen die
Risiken falsch dar«, und das in einem Ausmaß, das an
aktive Desinformation grenze."
(2013, 41) |
In dem
Fachbuch
Zukunft mit Kindern werden aufgrund der
Desinformation in Sachen Fruchtbarkeit Regeln formuliert, die
auch in deutschen Medien nicht immer eingehalten werden. FISCHER
sieht auch in der Klassifizierung "Spätgebärende" ein Relikt aus
vergangen Zeiten, das angesichts der Fortschritte der Medizin
nicht mehr zeitgemäß sei:
Ansichten einer späten Mutter
"Die künstliche
Schreckensschwelle 35 wurde in den siebziger Jahren von
den Krankenkassen eingeführt, um festzulegen, ab welchem
Alter die Kosten für spezielle Vorsorgeuntersuchungen
übernommen werden. Angesichts des Fortschritts der
Pränatalmedizin halten viele Ärzte den Begriff für
überholt, jedenfalls in der praktizierten breiten
Anwendung.
Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin
an der Berliner Charité, rät Frauen über 35, sich »vom
Damoklesschwert des Alters zu befreien«. Nicht auf das
biologische Alter kommt es an, »sondern auf den
tatsächlichen Gesundheitszustand«."
(2013, 43) |
Breiten Raum
nimmt der Aspekt der Partnerwahl bzw. der Partnerschaft im
Zusammenhang mit dem Kinderkriegen ein. FISCHER beschreibt wie
der Kinderwunsch durch eine Partnerschaft aufgeschoben wird.
Nicht der falsche Partner, sondern der fast richtige Partner
wird in dieser Sicht zum Hindernis für die Umsetzung eines
Kinderwunschs. FISCHER lernt mit 24 Jahren ihren gleichaltrigen
Partner kennen, der ebenfalls Journalist ist. 13 Jahre, also bis
zu ihrem 37. Lebensjahr dauert diese Partnerschaft. Und immer
wieder stellt sich die Frage: Bleiben oder Gehen. Mal leben die
beiden in einer Fernbeziehung (Dresden - München; Bonn -
Berlin), dann Living apart together, d.h. in der gleichen Stadt,
aber mit getrennten Wohnungen. Erst nach vier Jahren beziehen
sie eine gemeinsame Wohnung, die aus beruflichen Gründen immer
wieder Fernbeziehungen weichen muss. Der Mikrozensus kennt keine
Partnerschaften mit getrennten Wohnungen, diese werden als
Partnerlose angesehen. Bei DORBRITZ (vgl.
Tabelle 4) wird von
"ohne Partner im Haushalt" gesprochen, d.h. selbst Paare, die
zusammenwohnen, aber nicht zusammenwirtschaften, werden als zwei
Partnerlose (neudeutsch: "Single") gezählt.
Problematisch
wird es, wenn FISCHER ihre Situation in den 1990er Jahren mit
Statistiken aus den Nuller Jahren unterfüttert. So heißt es bei
FISCHER:
Ansichten einer späten Mutter
"Wir sind, mit anderen
Worten, ein typisches junges Akademikerpaar, young
urban professionals, die sich bereitwillig einlassen
auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt und mit dem
Gefühl leben, das wir offenbar mit vielen in unserem Alter
teilen: 65 Prozent der deutschen Frauen zwischen 26 und 30
sind kinderlos."
(2013, 49)
|
Die Zahlen
stammen aus der Titelgeschichte der Januarausgabe der Zeitschrift Neon aus
dem Jahr 2012 (vgl. Patrick
BAUER & Patrick &
Meredith HAAF "Jetzt ein Baby?")!
Den Mikrozensus 2012 konnte FISCHER nicht mehr zitieren. Der
ergab für die 25-29jährigen Akademikerinnen (Jahrgang 1983 bis
1987) sogar einen Anteil von 83 % Kinderlosen. Aber wie sah es
aus, als FISCHER in den 1990er Jahren in diesem Alter war?
Exkurs:
Die 1990er Jahre und die Debatte um Yuppies und die
Single-Gesellschaft
Anfang der
1990er Jahre popularisierte der Bestseller
Das ganz normale
Chaos der Liebe von Ulrich BECK & Elisabeth GERNSHEIM die
Rede von der
Single-Gesellschaft. Young urban professionals
hieß damals schlicht
Yuppie
und war ein Schimpfwort.
Fernbeziehungen waren weitgehend
unerforscht, stattdessen wurde die einsame, alleinwohnende
Karrierefrau zum Klischeebild. In der unveröffentlichten
Magisterarbeit
Das Single-Dasein von Bernd KITTLAUS heißt es dazu:
Das Single-Dasein
"Wiener und
Tempo, in denen die Welt der Yuppies beschrieben
wird (vgl.
BLASIUS 1993, S.78) (haben) längst die wohlhabende
Familie (»Yappies« für Young Affluent Parents als Thema
entdeckt:
»Zurück zur Familie:
Als eine coole Single-Generation an ihrer selbstgewählten
Einsamkeit zu ersticken drohte, verkündete TEMPO im
Februar 1988 das Comeback der Familie« (TEMPO 1990, S.78).
Im Anschluß an die
amerikanische Debatte Mitte der 80er Jahre greifen
auch westdeutsche Zeitgeist-Magazine das Thema beruflich
erfolgreicher, aber privat unzufriedener Frauen auf. Im
Wiener erscheinen Reportagen über vereinsamte
Karrierefrauen im fernen New York (MOYNIHAN 1987) oder
hierzulande (STRASSER 1989), die sich nichts sehnlichster
wünschen als eine feste Liebesbeziehung. Dies geht so
weit, daß das Single-Dasein mit Einsamkeit und Krankheit
gleichgesetzt wird:
»Vor 15 Jahren brach
der große Single-Kult aus. doch was einst Freiheit
versprach, mündete in einem Krüppelballett auf dem Ball
der einsamen Herzen. Eva Strasser fordert die totale
Ent-Singelung der Gesellschaft: Denn Einsamkeit mach
krank!« (STRASSER 1990, S.77)
Ein Jahr später greift
das Nachrichtenmagazin Der Spiegel das Thema in
einem Bericht mit dem Titel
Dauerhaft ist nur die Trennung (SCHÖPS 1991) auf.
Darin wird auch die amerikanische Heiratsstudie in der
Newsweek-Version von 1986 zitiert. Das
Nachrichtenmagazin Focus sieht in der Einsamkeit
den »Preis der Ich-Sucht« von Eremiten in ihrem
Single-Appartement (KLONOWSKY
1993).
(1998, S.15f.)
|
In Zeitgeistmagazine wie
Tempo und Wiener, Stadtmagazine wie
Prinz,
die Werbebranche und Trendforscher als Wegbereiter des flexiblen
Kapitalismus vermittelten aber auch das coole Bild einer Liebe auf Distanz. So hieß es z.B. in
einer Werbebeilage im Wiener vom Mai 1994:
People on the move - Eine Generation unterwegs
"SIE arbeitet im Team
der schrillen Designerin Vivienne Westwood in London, ER
ist DJ aus Hamburg. Beide sind sehr szenige Typen, die es
genießen, in der ganzen Welt zu Hause zu sein. Die
Entfernung spielt keine Rolle, denn die Beziehung lebt
davon."
"ER ist bei der
Bild-Zeitung in Hamburg leitender Politikredakteur,
SIE studiert gerade in New York Politik und Fernsehen.
(...). Die extreme Kommunikation ersetzt den Alltag. Kai,
29, sagt: »Das Telefonmanagement in einer Beziehung muß
man lernen. Wir haben Regeln, zum Beispiel wird beim
Streit nie aufgelegt. Und wir besuchen uns spätestens alle
vier Wochen«"
(Beilage zum Wiener, Mai 1994)
|
Eine
zahlenunterfütterte Debatte um die
Kinderlosigkeit der Akademikerinnen war bis Ende der 1990er
Jahre gar kein Thema in den deutschen Medien. Erstmals werden im
Spiegel im Jahr 1999 Zahlen zur Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen genannt:
Der Kinder-Crash
"Je
höher die berufliche Qualifikation einer Frau, desto
größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie kinderlos bleibt.
40 Prozent der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen haben
keinen Nachwuchs, fast doppelt so viele wie bei den
gleichaltrigen Frauen mit Hauptschulabschluss.
Karriere-Männern
schadet Familie nicht, im Gegenteil: Sie gelten als sozial
gefestigt, verlässlich und verantwortungsbewusst.
Führungsfrauen sind zumeist kinderlos, »weil es schlicht
nicht anders geht«, sagt Silvia, 39, gut bezahlte
Angestellte eines Versicherungskonzerns in Bayern. »Wer
als Frau Kinder zu Hause hat, kann einfach nicht richtig
konkurrieren mit den Männern.«"
[mehr]
(Spiegel Nr.35 vom 30.08.1999) |
Im Jahr 1993
gab es eine Spiegel-Titelgeschichte, in der lediglich
ein genereller Anstieg des Erstgebäralters erwähnt wird, während zur
Anzahl der Kinderlosen keine Zahlen genannt werden:
Milde Form des Irreseins
"Von
1950 (1,1 Millionen) sank die Zahl der Geburten auf rund
800 000 im Jahr 1992. (...) Auffallend fanden die
Soziologen vom Deutschen Jugendinstitut die Tendenz, die
Kinderfrage zu vertagen, sich auf ein Kind zu beschränken
oder den Wunsch schließlich ganz aufzugeben. In der
Bundesrepublik hat bereits jedes dritte Erstgeborene eine
Mutter über 30, pro Jahr bekommen rund 50 000 Frauen ihr
erstes Baby, wenn sie ihren 35. Geburtstag schon gefeiert
haben."
[mehr]
(Spiegel Nr.35 vom 30.08.1999) |
Anfang der
1990er Jahren sorgte sich die Öffentlichkeit vor allem um
kinderlose Ehen. Der Focus brachte am 14. August 1995 die
Titelgeschichte Singles contra Familien und fragte:
Wer lebt auf wessen Kosten? Kinderlose Paare galten als
Double Income No Kids (DINKs) und Alleinlebende wurden als
einkommensstarke Yuppies dargestellt. Die kinderlose
Akademikerin stellte sich der Focus hier als Teil eines
kinderlosen Paares vor. Dagegen repräsentierte ein männlicher
Cabrioletfahrer die Single-Yuppies (mehr
hier),
obwohl die Einkommensverhältnisse innerhalb dieser Gruppe der
männlichen Alleinlebenden stark differierte.
Singles contra Familien
"Paare
ohne Kinder
Ehepaare ohne Nachwuchs stellen mit drei Millionen den
größten Anteil. Plus eine Million unverheiratet
zusammenlebende Kinderlose ergibt 4 Mio.
Rentner:
Die ältere Generation hat ihr Soll für die Gesellschaft
erfüllt. Senioren leben in Deutschland 20 Mio."
Singles:
Es existieren 12,4 Millionen Einpersonenhaushalte. Echte
Singles sind davon 6,7 Mio."
"Jungdynamiker sind
gefragt in der modernen Leistungsgesellschaft. Die Werbung
propagiert sie, nach ihnen richten sich die Trends: Zwölf
Stunden am Tag arbeiten, flexibel allerorten einsetzbar,
abends im Roadster auf dem Hedonistentrip, am Wochenende
aufs Surfbrett, im Urlaub auf die Malediven. Während die
Single-Gesellschaft zum Kurztrip nach San Francisco
fliegt, fahren die Familien nach Kalifornien - an der
Ostsee, gleich hinter Kiel, 800 Einwohner." [mehr]
(Focus Nr.33 vom 14.08.1995) |
1995 erschien
das Gutachten
Die "Single-Gesellschaft" von Stefan HRADIL.
Zu den Einkommensunterschieden von erwerbstätigen Alleinlebenden
gab es damals lediglich Daten aus dem Jahr 1988, denn eine
Singleforschung, die diesen Namen verdient hätte, existierte
Mitte der 1990er Jahre nicht. HRADIL unterschied 4
Einkommensgruppen. Immerhin verdiente mehr als ein Fünftel der
männlichen Alleinlebenden und fast ein Viertel der weiblichen
Alleinlebenden unter 1200 DM, während der Anteil der Yuppies,
die über 3000 DM verdienten, bei den Frauen gerade einmal 9 %
betrug. Bei den Männern waren es dagegen mit 18 % doppelt so
viele.
Auf dieser
Website wird davon ausgegangen, dass viele der einkommensstarken
Einpersonenhaushalte keine alleinwohnenden Partnerlosen waren,
sondern getrenntwirtschaftende Paare, die entweder
zusammenwohnten oder in getrennten Wohnungen wohnten. Die
amtliche Statistik kennt keine Paare, die getrennt wirtschaften
und führt sie deshalb als Alleinlebende (besser:
Alleinwirtschaftende). In der Stadtforschung, die sich mit der
Aufwertung von innenstadtnaher Stadtviertel beschäftigte, wurden
deshalb von Jörg BLASIUS (1993) die Alleinlebenden
differenzierter betrachtet (mehr
hier).
Inzwischen wird auch eingeräumt, dass nicht so sehr die
Alleinwohnenden, sondern in erster Linie Wohngemeinschaften, die
vielfach als mehrere Einpersonenhaushalte gezählt werden, um den
lukrativen Wohnraum mit Familien konkurrieren. Der
Single-Begriff verdeckt eher die Heterogenität der Lebensformen
als dass er eine genaue Analyse ermöglicht.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Debatte um die
kinderlose Akademikerin erst Ende der 1990er Jahre entbrannte.
Wenn Detlef GÜRTLER in seinem eingangs erwähnten Artikel vom
Wendejahr 1995 spricht, dann hat das weniger mit einem
Wendepunkt beim Geburtenrückgang zu tun, sondern mit einem
Wendepunkt in der Single-Debatte. Denn im Gegensatz zu den
frühen 1990er Jahren kommen die Singles nun weniger als
Alleinwohnende in den Blick, sondern als Kinderlose. Von daher
verwundert es kaum, dass FISCHER sich nicht als kinderlose
Problemgruppe erkennt, sondern erst Daten aus dem Jahr 2012 ihre
damalige Situation rückwirkend deutlicher erscheinen lässt:
Ansichten einer späten Mutter
"Wir sind Herr und
Frau unserer Zeit, kurzfristig verfügbar und damit
perfekte Kandidaten für einen oft nicht planbaren
Redaktionsalltag. Vermutlich kein Zufall, dass Publizisten
die Berufsgruppe mit der niedrigsten Geburtenrate sind.
Fast zwei Drittel der Männer (57,1 Prozent) in diesem
Beruf haben mit 40 Jahren noch keine Kinder (und der Rest
vermutlich eine nicht berufstätige Ehefrau zu Hause). Die
Frauen in meiner Branche schneiden ein wenig besser ab:
Ein gutes Drittel (36,7 Prozent) ist mit 40 Jahren noch
Kinderlos. Weitaus besser wären meine Chancen auf
(zeitigen) Nachwuchs gewesen, hätte ich mich in einen
Arzt, einen Gymnasiallehrer oder noch besser in einen
Bauern verguckt. Aber ein Journalist mit einer
Journalistin, noch dazu beide gleich alt - babytechnisch
nicht empfehlenswert."
(2013, S.52)
|
Die Zahlen,
die FISCHER zitiert, stammen aus der Broschüre
Talsohle bei Akademikerinnen durchschritten? von Martin
BUJARD und beziehen sich nicht auf kinderlose
Männer und Frauen, sondern auf Personen ohne Kinder im Haushalt.
Die Zahlen sind deshalb nur als Obergrenze zu sehen. Das höhere Niveau der
Kinderlosigkeit bei Publizisten im Gegensatz zu Publizistinnen,
könnte damit zusammenhängen, dass die Kinder der geschiedenen
Publizisten bei den Frauen wohnen. Es handelt sich dann nicht um
"noch" Kinderlose, sondern um Frauen und Männer, deren Kinder
bereits ausgezogen sind. Hier fehlen also präzisere Studien.
Bereits in den 1990er Jahren ist die Situation für
Journalistinnen nicht mehr so rosig, sondern wer Karriere bei
den großen Verlagen machen will, der muss flexibel sein:
Ansichten einer späten Mutter
"Es ist nicht
einfach nur Ehrgeiz, der uns treibt. Zwar gehören wir noch
nicht zur Generation Praktikum, die sich von einem
schlecht bezahlten Zeitvertrag zum nächsten hangeln muss.
Doch feste Redakteursverträge mit Betriebsrente und
Gewinnbeteiligung sind auch nicht mehr selbstverständlich.
Wir gehören zu den ersten Jahrgängen der Hamburger
Journalistenschule, die nicht gleich im Anschluss an die
Ausbildung komplett von einem der großen Hamburger oder
Münchener Verlage übernommen werden. Aus meinem Kurs haben
am letzten Schultag fünf oder sechs von 18 einen
Redakteursvertrag in der Tasche, die anderen suchen noch
oder arbeiten erst einmal frei. Trotz Ausbildung an einer
sogenannten Eliteschule begleitet ein Gefühl der
ökonomischen Unsicherheit die ersten Jahre im Beruf. Ein
Gefühl, das immer prägender werden soll für unsere
Branche."
(2013, S.52)
|
Während in
den 1990er Jahre noch viel mehr als heute von
Multioptionsgesellschaft und Wahlfreiheit gesprochen wurde,
zeigt sich schon bei FISCHER, dass mehr und mehr die Umstände
des Arbeitsmarktes den Lebensverlauf vorgeben. Und ganz deutlich
wird hervorgehoben, dass die Partnerwahl entscheidenden Einfluss
auf die Realisierung eines Kinderwunsches haben kann. Nicht das
Fehlen eines Partners wird von FISCHER als Problem gesehen, sondern die
Partnerschaft mit einem fast richtigen Partner, sodass der
Kinderwunsch immer weiter aufgeschoben wird, bis es fast zu spät
ist.
Fallbeispiel: Die kinderlose Karrierefrau gerät in ihrem Milieu
ins Abseits
Bettina
WÜNDRICH, Jahrgang 1960, ist 8 Jahre älter als Susanne FISCHER
und ebenfalls Journalistin. Im Jahr 2011 schreibt sie ein Buch
über ihre Situation als kinderlose Karrierefrau. Der provokante
Untertitel: Warum berufstätige Frauen glücklicher sind.
Ausschlaggebend für ihr Buch war ein Klassentreffen, bei dem ihr
das schlechte Image kinderloser Karrierefrauen bewusst wurde:
Einsame Spitze
"Für Beobachter
war es ein heiteres Treffen, ein fröhliches Hallo. Aber
für uns standen an diesem Vormittag unsere Lebensentwürfe
auf dem Prüfstand. Ich kam mir vor wie das
Schreckgespenst, das wir auch aus Zeitschriften, Zeitungen
und TV-Serien kennen: erfolgreich, einsam, kinderlos.
Erstaunlich, welch schlechtes Image Karriere hierzulande
immer noch hat: Karriere macht, dass Frauen die Männer
weglaufen. Sie formt uns zu gehetzten, geldgeilen
Egoistinnen. Und im Alter, wenn es denn zu spät ist für
privates Glück, lässt sie uns verrunzelt links liegen. So
entstand die Idee zu diesem Buch: das hartnäckige Klischee
der hässlichen »einsamen Spitze« anzugreifen."
(2011, S.14)
|
Das Buch ist
kein Beitrag zu einer Kultur der Kinderlosigkeit (wenngleich
auch mehr Toleranz gegenüber Kinderlosen gefordert wird),
sondern ein Plädoyer für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie. Vor allem sollen die Männer ihren Teil dazu
beitragen.
WÜNDRICH
beschreibt sich als
Frühentscheiderin ("early articulators"),
weil Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch gar nicht als
Option für Karrierefrauen erschien. Von daher wäre zu fragen, ob
es diese Gruppe heutzutage unter veränderten Rahmenbedingungen
in dieser Form überhaupt noch gibt oder ob es sich hier um ein
historisches Phänomen handelt, das zukünftig keine Rolle mehr
spielen wird. WÜNDRICH, die Älteste von drei Geschwistern, zog
mit 16 zuhause aus und profitierte von der Bildungsexpansion
insofern, dass sie als Erste in ihrer Familie studieren konnte:
Einsame Spitze
"Als ich 1979 mit
dem Studium begann, hatte von allen beschäftigten Frauen
nur knapp jede zweite eine Berufsausbildung (heute sind es
immerhin 68 Prozent, die eine Qualifikation nachweisen
können). Nur 27.000 Akademikerinnen gab es zu jener Zeit,
heute sind es fünfmal so viele. In meiner Familie war ich
die Erste, die studierte. Meine Mutter hatte die
Handelsschule besucht und arbeitete danach als Sekretärin,
mein Vater machte seine Ausbildung zum Kontakter in der
Werbeagentur meines Großvaters, wo er auch sein Geld
verdiente, als ich geboren wurde. (...) Über das Schicksal
meiner zwei Jahre jüngeren Schwester entschied ich mit:
Für ein zweites Studium war erst mal kein Geld da. Ich war
privilegiert. Meine Zukunft war mir von niemandem aus
meinem Umkreis vorgelebt worden. Die Gebrauchsanweisung
für mein Leben musste ich selber schreiben."
(2011, S.32)
|
2005 wurden
auf dieser Website
zwei Typen von Karrierefrauen vorgestellt: Die
"Geburtselite", also Frauen, die aus einem Akademikerhaushalt
kamen, und die Aufsteigerinnen. Es wurde von einer
Milieutheorie der Kinderlosigkeit ausgegangen, d.h. vor
allem Karrierefrauen aus Nicht-Akademikerelternhäusern sahen in
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie keine Option. Das galt
für Katja KULLMANN, Jahrgang 1970, genauso wie für WÜNDRICH. Die
Journalistin meint, dass es damals nur zwei Gruppen von Frauen
gab:
Einsame Spitze
"Viele Frauen, mit
denen ich studierte, teilen sich in zwei Gruppen: Die, die
sehr früh Kinder bekamen, mit Mitte zwanzig, und das »aus
Versehen« (...) oder sie nicht wieder eine Abtreibung über
sich ergehen lassen wollten. Und jene, die wie ich
kinderlos sind, darunter auch welche, die das bedauern.
(...). Beruf und Kind - ich hätte mir das auch nie
zugetraut. Es gab auch keine guten, selbstbewussten
Vorbilder, die Mut gemacht hätten. Die, die ihr Kind
allein großzogen, taten das aus der Not heraus, weil der
Vater des Kindes sich verdrückt hatte oder sich nicht in
der Lage sah, die Rolle eines Familienvaters einzunehmen."
(2011, S.38f.)
|
WÜNDRICH
beschreibt ihr Leben im Studium, während der Ausbildung und des
Berufseinstiegs als kinderfreie Zone. Führt aber ein Leben ohne
Kind zur Konkurrenz zwischen Kinderlosen und Müttern oder
verläuft die Konfliktzone nicht eher zwischen berufstätigen
Müttern und Müttern, die zuhause bleiben? Oder stimmt gar
beides, weil hier zwei unterschiedliche Konfliktzonen
angesprochen werden: Konkurrieren kinderlose Frauen mit Müttern
in der Arbeitswelt, während sich die Mütterkriege eher auf die
familienpolitischen Lösungswege beziehen? Hier lassen uns auch
die Empiriker eher im Stich.
Welche Rolle
spielt die Partnerschaft für das Kinderkriegen? Sind die Männer
im Zeugungsstreik? Fehlt der Partner oder ist es der falsche
Partner, der zur Kinderlosigkeit führt? Bei WÜNDRICH werden
diverse Studien und Interviewauszüge sowie eigene Erfahrungen
aufgeführt, um das Thema, speziell unter dem Gesichtspunkt von
"Powerpaaren" zu erörtern.
Dass die
kinderlose Karrierefrau ein schlechtes Image hat, das hat auch
eine Auftragsstudie des Bundesfamilienministeriums ergeben. Der
Soziologe Carsten WIPPERMANN beschreibt in der Broschüre
Kinderlose Frauen und Männer unterschiedliche Milieus
und ihre Einstellung zur Kinderlosigkeit:
Kinderlose Frauen und Männer
"Soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung aufgrund
ihrer Kinderlosigkeit erfahren (nach »Traditionellen«)
vor allem Frauen in den Milieus Etablierte,
Postmaterielle und Performer. Diese in der Regel
beruflich gut und höchst qualifizierten Frauen stehen –
mehr als Männer dieser Milieus – unter erheblichem Druck,
nicht nur aufgrund persönlicher Ambitionen beruflich
erfolgreich zu sein, sondern auch Familie zu haben.
Dahinter steht die in vielen Unternehmen subkutan
bestehende Haltung, dass man Spitzenleistungen im Rahmen
einer globalisierten Wirtschaft mit steigenden
Anforderungen an Flexibilität, Mobilität und Verfügbarkeit
nur auf dem Fundament von Sicherheit und Ordnung erbringen
kann. Wenn eine Frau in eine Führungsposition will, ist
für sie einerseits dieses Fundament notwendig,
andererseits ist es suspekt, wenn sie ihre Familie im
Alltag hintanstellt oder nur (professionell)
»organisiert«. Die Umkehr der traditionellen
Rollenverteilung wird im Spitzenmanagement der Wirtschaft
nicht so selbstverständlich akzeptiert wie bei Männern.
Und wenn Frauen die Konsequenz ziehen und zugunsten ihrer
Karriere auf Kinder verzichten, haben sie den Makel der
radikalen, i. w. S. »unordentlichen« und »unberechenbaren«
Einzelkämpferin, die keine Sphäre zur Balance hat."
(2014, S.175)
|
Der
nationalkonservative Bevölkerungswissenschaftler DORBRITZ
konstatiert dagegen eine Diskrepanz zwischen der Akzeptanz der
Kinderlosen durch Eltern und der Sicht der Kinderlosen, die sich
im Gegensatz dazu weniger akzeptiert sehen. Auch DORBRITZ sieht,
dass mit steigender Bildung Kinderlosigkeit weniger akzeptiert
wird:
Paritätsverteilungen nach Geburtsjahrgängen, Lebensformen
und Bildung bei besonderer Beachtung von Kinderlosigkeit
und Kinderreichtum
"Mit
steigendem Bildungsabschluss wird seltener davon
ausgegangen, dass Kinderlosigkeit etwas Normales ist, dass
man sich ohne Kinder viel mehr leisten kann und dass vor der
lebenslangen Verantwortung zurückgeschreckt wird. (...).
Frauen, die in einer Partnerschaft ohne Kinder leben,
stimmen deutlich seltener der Aussage zu (33,1 %), dass
Kinderlosigkeit etwas Normales ist. Dies trifft auch auf die
alleinlebenden Frauen zu, wenn auch in einem schwächeren
Ausmaß (59,7 %). Die höchste Zustimmung erfährt die
Aussage von Frauen in einer Partnerschaft mit Kindern
(69,5 %). Die Unterschiede sind hochsignifikant. Damit
bestätigt sich der Befund (...), nach dem die Kinderlosen
Kinderlosigkeit am wenigsten als normal ansehen."
(2015, S.315) |
Im Gegensatz
zum Milieuansatz von WIPPERMANN führt DORBRITZ diesen
Widerspruch darauf zurück, dass ungewollt Kinderlose ihren
kinderlosen Lebensstil als weniger normal ansehen als gewollt
Kinderlose. Ganz offensichtlich gibt es hier weiteren
Forschungsbedarf. Auf dieser Website wird davon ausgegangen,
dass das mediale Bild der Kinderlosen, das sich im Rahmen der
öffentlichen Debatte über die Single-Gesellschaft seit Anfang
der 1990er Jahre entwickelt hat, großen Schaden angerichtet hat,
weil in dieser Debatte weder ein realistisches Bild über das
Single-Dasein noch über die Kinderlosigkeit gezeichnet wurde.
Der
Terror der Individualisierungsthese und die
Rede vom Familien-Sektor haben ein Zerrbild der
gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen lassen.
Ausschlaggebend war dafür der
Deutungskrieg um die Normalfamilie. Singles wurden als
Sündenböcke benötigt, um von einer verfehlten Familienpolitik
abzulenken.
Kinderlose Männer, das untererforschte Objekt
der Sozialwissenschaft
Ist unsere
Arbeitswelt - wie WÜNDRICH (vgl. 2011, S.213) schreibt -
tatsächlich auf den Single-Mann ausgerichtet oder nicht viel
mehr auf den Ehemann, dem die Hausfrau und Mutter den Rücken
frei hält? Dazu gibt es leider keine aktuellen Studien, sondern
Ideologien beherrschen dieses Themenfeld. In ihrem Beitrag
Väter zwischen Wunsch und Realität über neue
Vereinbarkeitsprobleme bei Männern beschreiben Martin BUJARD &
Lars SCHWEBEL (2015) kinderferne Männer als Konkurrenten zu
Vätern. Kinderferne wird dabei lediglich mit Haushaltszahlen
(Leben ohne Kinder im Haushalt) belegt. Weder werden
Einkommensverhältnisse, noch die Art der Kinderlosigkeit und der
Partnerstatus berücksichtigt. Betrachtet wird die Altersgruppe
der 35 bis 50-jährigen Männer, wobei nicht danach unterschieden
wird, ob die betrachteten Männer (noch) kinderlos sind oder die
Kinder bereits ausgezogen sind bzw. es sich um partnerlose
Scheidungsväter handelt. So werden Vorurteile gegen eine
heterogene Gruppe von Männern gefördert. Seriöse Forschung sieht
dagegen anders aus. Sie müsste zu allererst fragen: Ist
Karriereorientierung überhaupt noch das dominante Muster
angesichts der Tatsache, dass immer mehr Männer eher gegen den
beruflichen Abstieg kämpfen müssen? WÜNDRICH schreibt z.B., dass
Väter bei Gehaltsverhandlungen nicht etwa mit ihren beruflichen
Leistungen argumentieren, sondern mit ihrer Ernährerrolle (vgl.
2011, S.97).
Fazit: Die Beurteilung der weiteren Entwicklung
der Geburtenrate werden erschwert durch die Versäumnisse der
Bevölkerungswissenschaft
Zusammenfassend kann
gesagt werden, dass die Forschungen zu Kinderlosigkeit und
Kinderreichtum bislang kaum dazu geeignet sind, zuverlässige
Prognosen über die weitere Entwicklung der Geburtenrate zu
ermöglichen. Die einzige zuverlässige Quelle, die Rückschlüsse
auf die Paritätsverteilung in den jüngeren Frauenjahrgängen
zulässt, ist der Mirkozensus, der jedoch nur im vierjährigen
Turnus Aufschluss über die Paritätsverteilung gibt. Die
Bevölkerungswissenschaft hat sich zu lange nur auf den Anstieg
der Kinderlosigkeit - und hier besonders auf die Kinderlosigkeit
der Akademikerinnen - konzentriert und dadurch
Entwicklungen im Bereich des Kinderreichtums, des Übergangs vom
ersten zum zweiten Kind und der Kinderlosigkeit von
Nicht-Akademikerinnen vernachlässigt. Ganz zu schweigen davon,
dass über den kinderlosen Mann wenig harte Fakten, dafür umso
mehr ideologisch gefärbte Meinungen vorliegen.
Die Vereinbarkeit von
Beruf und Partnerschaft als Voraussetzung der Familiengründung,
die Partnerwahl und ihr Einfluss auf die Familiengründung sowie
die Diskriminierung derjenigen, die nicht ins Bild des
heterosexuellen Paares mit Kinderwunsch passen (Partnerlose und
gleichgeschlechtliche Paare) spielen in der
Bevölkerungswissenschaft gar keine oder eine zu geringe Rolle.
Die Fallbeispiele zweier Journalistinnen zeigen, dass zum einen
die Partnerwahl und zum anderen die Karrierewünsche und die
Einschätzung ihrer Verwirklichung eine große Bedeutung für die
Kinderfrage haben. Ausgeblendet wird in diesen Fallbeispielen
dagegen die Milieuzentriertheit dieser Sichtweisen. Die
Konzentration auf kinderlose Akademikerinnen vernachlässigt
Binnendifferenzierungen genauso wie Milieuunterschiede.
Inwiefern spielt z.B. die Herkunft eine Rolle bei der
Einschätzung von Verwirklichungschancen? Ist der Mengeneffekt
für den Anstieg der Geburtenrate nicht bedeutender als die
Erforschung des Kinderlosenniveaus von Kleinstgruppen?
Wir werden wohl bis zur
Veröffentlichung der Ergebnisse des Mikrozensus 2016 warten
müssen. Erst dann ist es möglich genauere Aussagen zu treffen.
Der Anstieg der Geburtenrate in den letzten Jahren seit dem
Mikrozensus 2012 zeigt, dass es Veränderungen gibt, die jedoch
unsere Bevölkerungswissenschaftler (noch) nicht (?) analysieren.
Die vorgestellten Publikationen bleiben durch die Konzentration
auf die Analyse der endgültigen Kinderlosigkeit hinter den
Möglichkeiten zurück, die Vergleiche der Entwicklungen von
Erst-, Zweit, Dritt- usw. Geburten jüngerer Frauenjahrgänge
bieten würden.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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