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Der Spätstart der sozialwissenschaftlichen
Forschung zur Kinderlosigkeit in Deutschland
Als im April 2001 das
Bundesverfassungsgericht das Pflegeurteil verkündete, durch das
Kinderlose zur Zahlung eines höheren Pflegeversicherungsbeitrags
als Eltern herangezogen werden konnten, herrschte in der
Öffentlichkeit Konsens darüber, dass in Deutschland ein Drittel
der Frauen des Jahrgangs 1965 lebenslang kinderlos bleiben
werden. Manche sprachen bereits von 40 Prozent Kinderlosen, die
es in den jüngeren Frauenjahrgängen geben wird
. Im
August 2003 forderte die ZEIT-Redakteurin Susanne GASCHKE
Kein Nachwuchs, keine Rente mit der Begründung: "Alle
Deutschen, die 60 Jahre und älter sind – von der Generation der
Achtundsechziger aufwärts –, haben beide Verpflichtungen
eingehalten: Sie haben für die Eltern die Rente gezahlt, und sie
haben sich bevölkerungspolitisch korrekt vermehrt."
Im
August 2005 rechtfertigte GASCHKE im ZEIT-Artikel Kinder,
Küche, Karriere? Nicht bei uns das Elterngeld damit, dass
bald die Hälfte der Akademikerinnen kinderlos bleiben werden.
Ob
Pflegeversicherung, Rentenversicherung oder Elterngeld: die
Befürworter einer Bevölkerungspolitik, die auch vor der
Bestrafung von Kinderlosen nicht zurückschreckt, konnten sich
bis vor kurzem fast uneingeschränkt auf das
nationalkonservative Deutungsmonopol um den
Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG stützen.
Es gab bis zum
Jahr 2006 nur ganz vereinzelte Gegenstimmen. Erst
im März 2005 berichtete der junge Soziologe Christian SCHMITT in
einem FAZ-Interview darüber, dass die Kinderlosigkeit in
Deutschland geringer sei, als bislang in den Medien angenommen
wurde.
Bereits im Herbst 2004 wagte sich die junge
Sozialwissenschaftlerin Michaela KREYENFELD mit der Nachricht an
die Öffentlichkeit, dass die Geburtenrate in Deutschland höher
sei, als offiziell ausgewiesen. Die Mitarbeiterin des
Max-Planck-Instituts für demographische Forschung in Rostock und
Mitherausgeberin des Buches
Ein Leben ohne Kinder hat mit
ihrer Dissertation schon im Jahr 2001 eine wichtige
Grundlagenarbeit zur Erforschung der Geburtenentwicklung in
Deutschland geleistet. Auf
den Webseiten single-dasein.de und
single-generation.de wurde die öffentliche Debatte zum
demografischen Wandel seit dem Jahr 2000 dokumentiert. Im Buch
Die Single-Lüge ist dies seit letztem Jahr auch
nachzulesen
.
Von einem Spätstart der sozialwissenschaftlichen Forschung muss
gesprochen werden, weil die Defizite der Forschung zur
Kinderlosigkeit in Deutschland bereits vor dem Pflegeurteil des
Bundesverfassungsgerichts bekannt waren. Eine intensivere
Forschung setzte jedoch erst nach dem Pflegeurteil ein, wie der
Bevölkerungswissenschaftler Jürgen DORBRITZ richtig schrieb
.
Ein Leben ohne Kinder
"Ausmaß
und Ursachen der Kinderlosigkeit in Deutschland sind
bislang nur unzureichend empirisch untersucht worden. In
der öffentlichen Debatte herrscht ein unkritischer und
missverständlicher Gebrauch statistischer Daten vor. Auf
der Grundlage eines lückenhaften empirischen Wissens
werden häufig voreilige Diagnosen über die Ursachen und
»Verantwortlichen« eines komplexen Aspekts des sozialen
und kulturellen Wandels getroffen.
Die in diesem Band versammelten Beiträge leisten eine
Bestandsaufnahme eines Phänomens, die über moralische
Schuldzuweisungen, mediale Kampagnen und kurzschlüssige
Lösungsvorschläge wie »Strafsteuern« für Kinderlose weit
hinausgeht. Sie zeigen das Ausmaß, die sozialen
Hintergründe und die Folgen von Kinderlosigkeit in
Deutschland und im internationalen Vergleich auf. Damit
bieten sie dem Leser einen fundierten Einblick in die
unterschiedlichen Ausprägungen und Dimensionen eines
zentralen Phänomens des gegenwärtigen demografischen
Wandels." (Klappentext) |
Warum es dann noch 6 Jahre
bis zur überfälligen ersten Bestandsaufnahme der
Sozialwissenschaften dauerte, dürfte eine spannende Frage für
zukünftige politikwissenschaftliche Arbeiten sein.
Ein Leben ohne Kinder
Der Titel des Buches
Ein Leben ohne Kinder könnte leicht missverstanden
werden, denn es geht den AutorInnen nicht um die Erforschung des
Lebensstils von Kinderlosen. Der Blick auf die Kinderlosigkeit
ist bevölkerungspolitisch motiviert, d.h. im Zentrum steht die
Frage nach der biologischen Elternschaft. Kinderlos ist also
derjenige, der kein eigenes Kind zur Welt gebracht oder gezeugt
hat
. In
fortschrittlichen Ländern, in denen Ehe und Kinderkriegen
sowohl normativ als auch faktisch entkoppelt sind,
gibt die Bevölkerungsstatistik über die tatsächliche Anzahl von
Kindern einer Frau Auskunft. Ausgerechnet in jenen beiden
europäischen Ländern, in denen das Niveau der Kinderlosigkeit am
höchsten sein soll, also in der Schweiz und in Deutschland, kann
die Zahl der Kinderlosen nur geschätzt werden. Es stellt sich
deshalb die Frage, ob die Schätzungen nicht an der Realität
vorbei gehen. Michaela KREYENFELD & Dirk KONIETZKA gehen
dieser wichtigen Frage in der Einleitung des Sammelbandes
ausführlich nach.
Bei
Deutschlands Eliten herrscht Konsens darüber, dass
Kinderlosigkeit ein gesellschaftlich unerwünschtes Phänomen ist.
Der renommierte Soziologe Karl Otto HONDRICH hat kürzlich in
seinem Buch Weniger sind mehr diesen unhinterfragten
Konsens "Wir brauchen mehr Kinder" grundlegend in Frage gestellt
.
Die AutorInnen des Sammelbandes Ein Leben ohne Kinder
betrachten dagegen den weiteren Geburtenrückgang als Problem.
Die zunehmende Kinderlosigkeit ist für sie die Hauptursache.
Kinderlosigkeit in Deutschland - theoretische Probleme und
empirische Ergebnisse
"Es
ist derzeit unklar, zu welchen Anteilen der anhaltende
Prozess der Verschiebung von Erstgeburten im Lebenslauf zu
einem endgültigen Verzicht auf Kinder oder zu
vermehrten späten Geburten führen wird. Im Lauf des
20. Jahrhunderts unterlag die Verbreitung von
Kinderlosigkeit in Deutschland erheblichen Schwankungen.
Diese Erfahrung zeigt zumindest, dass steigende
Kinderlosigkeit kein unumkehrbarer Prozess ist. In dem
Maße aber, wie sich die ganz und gar unbestreitbaren
strukturellen Probleme der Unvereinbarkeit von »Kind und
Beruf« in Deutschland zu einer Kultur der
Kinderlosigkeit verfestigen, ist eine weitere Zunahme
des endgültigen Verzichts auf Kinder im Lebenslauf
wahrscheinlich."
(aus: Ein Leben ohne Kinder 2007, S.39) |
Differenzen
ergeben sich jedoch hinsichtlich des Ausmaßes der
Kinderlosigkeit in Deutschland und der Einschätzung, ob die
Kinderlosigkeit gewollt oder ungewollt ist. Einig
sind sich die AutorInnen dagegen, dass ohne eine bessere
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Kinderlosigkeit weiter
zunehmen wird
. Im
Folgenden soll deshalb anhand der Beiträge des Buches Ein
Leben ohne Kinder näher beleuchtet werden, ob die
Kinderlosigkeit tatsächlich so hoch ist, wie die eingangs
zitierten Beispiele behaupten und ob es eine Kultur der
Kinderlosigkeit gibt bzw. warum die Kinderlosigkeit in der
Nachkriegszeit zugenommen hat.
Wie viele Kinderlose gibt es in Deutschland?
Ausgangspunkt der
öffentlichen Debatte um die Kinderlosigkeit in Deutschland war
ein Gutachten des nationalkonservativen
Bevölkerungswissenschaftlers Herwig BIRG, dem das
Bundesverfassungsgericht in seinem spektakulären Pflegeurteil
gefolgt ist:
In Deutschland
existiert eine zunehmende Polarisierung in Kinderlose und
Eltern
"Die jungen, nach 1960
geborenen Frauenjahrgänge in Deutschland bleiben zu einem
Drittel zeitlebens kinderlos, bei ihren Eltern lag dieser
Anteil erst bei rd. 10 Prozent. Der hohe und weiter
wachsende Anteil der Kinderlosigkeit ist der entscheidende
Grund für den niedrigen, langjährigen Durchschnitt von 1,2
bis 1,4 Lebendgeborenen je Frau im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts. Bei den zwei Drittel der Frauen unter den
jüngeren Jahrgängen, die nicht kinderlos bleiben,
entfallen 2,1 Kinder auf jede Frau - eine unter mehreren
Gesichtspunkten ideale Zahl."
(aus dem Gutachten Perspektiven der
Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und Europa -
Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme.
Unterlagen für den Vortrag bei der
Sachverständigenanhörung des Bundesverfassungsgerichts in
Karlsruhe am 4. Juni von Herwig Birg, 2000, S.32) |
Die Kontroverse um das
Ausmaß der Kinderlosigkeit entzündet sich insbesondere an der
Zählweise der amtlichen Statistik, die Herwig BIRG/Ernst-Jürgen
FLÖTHMANN/Iris REITER in dem Buch Biographische Theorie der
demographischen Reproduktion folgendermaßen erläutern:
Die Zahl der kinderlosen Frauen wird in Deutschland
unterschätzt
"Der Grund ist,
daß die amtliche Statistik, durch Gesetzesvorschrift
gezwungen, ausschließlich erstgeborene, zweitgeborene usw.
Kinder in der jetzigen Ehe der Frau registriert.
Hierdurch tritt eine Überschätzung der Zahl der Ersten
Kinder ein, da ein Teil der so definierten Ersten Kinder in
Wirklichkeit Zweit- oder Drittgeborene einer Frau sind.
Die Zahl der kinderlosen Frauen ist die Differenz zwischen
den Frauen insgesamt und der Zahl der Frauen, die Erste
Kinder zur Welt gebracht haben. Eine Überschätzung der
Zahl der Ersten Kinder bedeutet somit automatisch eine
Unterschätzung der Zahl der kinderlosen Frauen."
(1991, S.329)
|
Die Zahlen der
Nationalkonservativen zum Ausmaß der Kinderlosigkeit stützen
sich allesamt auf die Untersuchungen und Berechnungen von Herwig
BIRG. In der folgenden Tabelle sind einige Schätzungen dieser
Gruppe dargestellt, die in den Jahren 1991, 1996 und 2005
publiziert worden sind. Im
Gegensatz zum obigen Gutachten, beziehen sich die Zahlen nur auf
Westdeutschland. Es wird also von einer Angleichung des
ostdeutschen Geburtenniveaus an westdeutsche Verhältnisse
ausgegangen.
Tabelle 1: Der Anteil Kinderloser (in Prozent) einzelner
westdeutscher
Frauenjahrgänge aus Sicht der Nationalkonservativen
|
Frauen-
jahrgang |
1991
1) |
1996
2) |
2005
3) |
1950 |
14,76 |
15,8 |
15,8 |
1955 |
20,26 |
21,9 |
21,9 |
1960 |
|
26,0 |
26,0 |
1965 |
|
32,1 |
32,1 |
1970 |
|
|
32,6 |
|
Quellen: 1)
Herwig Birg/Ernst-Jürgen Flöthmann/Iris Reiter
"Biographische Theorie der demographischen Reproduktion",
S.340; 2) Birg und Flöthmann, zit. nach Jürgen Dorbritz &
Kerstin Ruckdeschel im Sammelband "Ein Leben ohne Kinder",
S.50; 3) Franz-Xaver Kaufmann "Schrumpfende Gesellschaft",
S.125
|
Die Berechnungen von
Jürgen DORBRITZ und des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung (BIB) deuten jedoch darauf hin, dass für
die jüngeren Frauenjahrgänge das Ausmaß des Spätgebärens
unterschätzt worden ist. Die Tabelle 2 zeigt wie sich in
verschieden Publikationen, die zwischen
1996 und 2004 veröffentlicht wurden, die Einschätzung des Anteils Kinderloser einzelner
Frauenjahrgänge verändert hat.
Tabelle 2:
Der Anteil Kinderloser (in Prozent) einzelner
westdeutscher Frauenjahrgänge aus Sicht des
BIB
|
Frauen-
jahrgang |
1996
1) |
1998
2) |
2001
3) |
2003
4) |
2004
5) |
1950 |
|
14,9 |
14,75 |
14,8 |
14,8 |
1955 |
18,1 |
19,4 |
|
19,2 |
19,2 |
1960 |
24,1 |
23,2 |
|
21,5 |
21,3 |
1965 |
|
|
27,55 |
27,6 |
26,5 |
|
Quellen: 1)
Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz "Kinderlosigkeit in
Deutschland - ein Massenphänomen?
Analysen zu
Erscheinungsformen und Ursachen", Zeitschrift für
Bevölkerungswissenschaft, Heft 3/1996,
S.235; 2) Jürgen Dorbritz "Trends der Geburtenhäufigkeit in
Niedrig-Fertilitäts-Ländern und Szenarien
der
Familienbildung in Deutschland, Zeitschrift für
Bevölkerungswissenschaft, Heft 2/1998, S.200; 3)
Jürgen Dorbritz "Familienbildungsverläufe der Generationen 1950
und 1965 im Vergleich, BIB-Mitteilung
Nr.1/2001, S.11; 4)
Jürgen Dorbritz "Polarisierung versus Vielfalt.
Lebensformen und Kinderlosigkeit in
Deutschland - eine
Auswertung des Mikrozenus, Zeitschrift für
Bevölkerungswissenschaft,
Heft 2-4/2003, S.406; 5)
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2004(Hg.)
Bevölkerung. Fakten -
Trends - Ursachen - Erwartungen. Die
wichtigsten Fragen, 2. überarbeitete Auflage, S.25
|
Im Buch Leben ohne
Kinder präsentieren Jürgen DORBRITZ und Kerstin RUCKDESCHEL
in ihrem Beitrag Kinderlosenzahlen für den westdeutschen
Frauenjahr 1965, die zwischen 25,6 und 27,6 % liegen. Nimmt
man noch die Berechnungen des österreichischen Demografen
Tomáš SOBOTKA
hinzu, dann ergibt sich sogar eine Spannbreite der
Schätzwerte von 23,3 % bis 32,2 % für den westdeutschen
Frauenjahrgang 1965. Sowohl
die Zahlen der Nationalkonservativen als auch die Zahlen von
Jürgen DORBRITZ und dem BIB scheinen überhöht zu sein,
besonders wenn man noch sozialwissenschaftliche Erhebungen hinzuzieht. Eine
zentrale Kontroverse im Buch verläuft deshalb zwischen den
Anhängern der amtlichen Datensätze und denjenigen, die sich auf
nicht-amtliche, also sozialwissenschaftliche Datensätze,
stützen. Heike WIRTH begründet ihre Abneigung gegen das
Sozio-ökonomische Panel oder den Familien-Survey des DJI
folgendermaßen:
Kinderlosigkeit von hoch qualifizierten Frauen und
Männern im Paarkontext
In" wissenschaftsbasierten Bevölkerungserhebungen (wird) die
Frage nach den insgesamt vorhandenen Kindern inzwischen
meist gestellt. Diese Erhebungen weisen jedoch einen zum
Teil beträchtlichen Unit-Nonresponse auf, da die Teilnahme
auf freiwilliger Basis erfolgt. Ein wesentlicher Aspekt
hierbei ist die Erreichbarkeit von Haushalten. So
berichtet Klein (2003) von einem Frauenüberschuss im
Familiensurvey als Folge der besseren Erreichbarkeit von
Frauen mit Kindern im Haushalt. Dies legt umgekehrt die
Schlussfolgerung nahe, dass kinderlose Frauen, da sie in
der Regel erwerbstätig sind, schlechter erreichbar und
deshalb in sozialwissenschaftlichen Erhebungen eher
unterrepräsentiert sind. Bezogen auf die zu erklärende
Variable Kinderlosigkeit wären solche Stichprobenausfälle
nicht zufällig und können zu verzerrten Schätzungen
führen. Allerdings stehen Analysen, die sich mit dieser
Frage beschäftigen, bislang noch aus."
(aus: Ein Leben ohne Kinder 2007, Fn S.176) |
Michaela
KREYENFELD & Dirk KONIETZKA kommen in ihrem Einführungsbeitrag
aufgrund einer eigenen Berechnungsmethode und der ausführlichen
Abwägung von Vor- und Nachteilen einzelner Schätzmethoden
jedoch
zu dem Schluss, dass in Westdeutschland "voraussichtlich mehr
als 20 Prozent der 1965 geborenen Frauen und möglicherweise 30
Prozent der höher gebildeten Frauen des gleichen Jahrgangs ohne
eigene Kinder bleiben".
Ein
Aspekt, der ebenfalls auf eine Überschätzung des Anteils der
Kinderlosen hinweist, aber im Buch Ein Leben ohne Kinder
nur am Rande gestreift wird, weil sich die Beiträge auf
kinderlose Paare konzentrieren, ist die Bewertung des
Anstiegs der Einpersonenhaushalte in Westdeutschland. Im
Buch Die Single-Lüge wird nachgewiesen, dass die
Polarisierungsthese, die nur zwischen einem Nicht-Familiensektor
mit der Kerngruppe Singles und einem Familiensektor mit der
Kerngruppe Ehepaare differenziert (z.B. Jürgen DORBRITZ und
Heike WIRTH), zur Überschätzung des Anteils Kinderloser im
Nicht-Familiensektor führt.
Der
steigende Anteil der Single-Haushalte ist nicht gleichzusetzen
mit einem Anstieg der Kinderlosen in gleicher Höhe.
Bei den
Alleinlebenden im Familienlebensalter dominieren nicht die
partner- und kinderlosen Karrierefrauen - wie man in den Medien
immer wieder liest und hört -, sondern die Männer
. Die
Kinderlosigkeit der Männer aber lässt sich mit den üblichen
Haushaltsansätzen gar nicht angemessen erfassen wie Jan ECKHARD
& Thomas KLEIN belegen. Hier zeigt sich die Überlegenheit von
sozialwissenschaftlichen Längsschnittdaten gegenüber den
Momentaufnahmen der amtlichen Datensätze besonders
eindrucksvoll.
Zusammenfassend
lässt sich also festhalten: Aufgrund
der unerwarteten Zunahme der Spätgebärenden in Westdeutschland
und einer wesentlich niedrigeren Kinderlosigkeit in den
neuen Bundesländern, die wegen der hohen Zahl unehelicher Geburten
lange Zeit unerkannt blieb
, wird in
Deutschland das Ausmaß der Kinderlosigkeit deutlich unter dem
von Herwig BIRG geschätzten ein Drittel lebenslang Kinderloser
bleiben. Die
Beiträge von Michaela KREYENFELD & Dirk KONIETZKA sowie - mit
Abstrichen - von Jürgen DORBRITZ & Kerstin RUCKDESCHEL machen
durch ihre ausführliche Darstellung der diversen Schätzmethoden
und eine Diskussion der Vor- und Nachteile verschiedener
Datensätze das Buch Ein Leben ohne Kinder für jeden
unentbehrlich, der sich eine eigene Meinung zum Thema bilden
bzw. selber zum Thema forschen möchte.
Gibt es in Deutschland eine Kultur der
Kinderlosigkeit?
Diese Frage wird einzig
von Jürgen DORBRITZ & Kerstin RUCKDESCHEL eindeutig mit ja
beantwortet. Die AutorInnen sehen die gewollte Kinderlosigkeit
insbesondere in Westdeutschland auf dem Vormarsch. Eine solch
weitreichende Schlussfolgerung ziehen die Autoren aus einer
Untersuchung des Kinderwunsches in Deutschland. Das Konstrukt
einer "gewollten Kinderlosigkeit" ist jedoch in mehrfacher
Hinsicht fragwürdig
.
Michaela
KREYENFELD & Dirk KONIETZKA verstehen unter ungewollter
Kinderlosigkeit einzig die biologisch bedingte Unfruchtbarkeit.
Da diese altersabhängig ist und meist erst erkannt wird, wenn
ein Kinderwunsch realisiert werden soll, kann ungewollte
Kinderlosigkeit durch Umfragen zum Kinderwunsch nicht erfasst
werden. Egoismus,
Selbstverwirklichung oder konsumorientierte Spaßgesellschaft
sind die Standardvorwürfe, die den Aufschub von Geburten in
spätere Lebensalter begleiten. Nationalkonservative und ihre
Sympathisanten klagen damit das Frühgebären ein. Journalistinnen
aus der Generation Golf wie z.B. Susanne GASCHKE und Elke
BUHR haben ihre frühe Mutterschaft als Ausnahmesituation
beschrieben
. Die
Untersuchungen im Buch zeigen, dass einerseits gesellschaftliche
Werte (Rabenmutter-Klischee vs. deutsche Mutter
) und andererseits
gesellschaftliche Strukturen wie das Bildungssystem oder der
Arbeitsmarkt einer frühen Mutterschaft entgegen stehen. Für den
Soziologen Karl Otto HONDRICH ist deshalb die moderne
Mutterschaft eine späte. Eine
Kultur der Kinderlosigkeit - wenn es sie denn gäbe - müsste sich
zuerst bei Akademikerinnen finden lassen, weshalb die hohe
Kinderlosigkeit unter Frauen mit Hochschulabschluss nicht nur in
der öffentlichen Debatte, sondern auch im Buch Ein Leben ohne
Kinder im Mittelpunkt zahlreicher Beiträge steht.
Sind kinderlose Akademikerinnen Pioniere
einer Kultur der Kinderlosigkeit?
Frankreich gilt in
Deutschland derzeit als familienpolitisches Musterland. Katja
KÖPPEN, Magali MAZUY und Laurent TOULEMON zeigen in ihrem
deutsch-französischen Vergleich zwar auf, dass die
Kinderlosigkeit in Frankreich geringer ist als in Deutschland.
Aber auch in Frankreich bleiben Akademikerinnen
überdurchschnittlich kinderlos. Der
Beitrag von Gerda NEYER, Jan M. HOEM und Gunnar ANDERSSON über
die Kinderlosigkeit in Schweden zeigt des Weiteren, dass weniger
das Bildungsniveau als solches, sondern die Bildungsrichtung und
das Berufsfeld das Ausmaß der Kinderlosigkeit bestimmt. Der
Beitrag von Hildegard SCHAEPER belegt zudem, dass
Akademikerinnen auch in Deutschland keine homogene Gruppe sind.
Im Ost-West-Vergleich zeigt sich eine geringere Kinderlosigkeit
bei ostdeutschen Akademikerinnen, die sich jedoch aufgrund der
strukturellen Zwänge des Bildungssystems im wiedervereinigten
Deutschland anzugleichen scheint. Der
Unterschied wird deutlich, wenn man wie im Beitrag von Mandy
BOEHNKE den Frauenjahrgang 1960 vergleicht. In Westdeutschland
lebten 36 % der 40jährigen Akademikerinnen ohne Kinder im
Haushalt, während es in den neuen Bundesländer nur 8 % waren.
Statt
von einer
Kultur der Kinderlosigkeit zu reden, ist es deshalb
angebrachter von einer Kultur des Zweifels zu sprechen,
wie dies der Soziologe Günter BURKART im abschließenden Beitrag
des Sammelbandes tut. Im Gegensatz zu einer Kultur der
Kinderlosigkeit trägt eine Kultur des Zweifels nicht direkt zu
einer höheren Kinderlosigkeit bei, sondern nur unter speziellen
historischen Bedingungen:
Eine Kultur des Zweifels: Kinderlosigkeit und die Zukunft
der Familie
"Der
Diskurs der Selbstverwirklichung ist nicht grundsätzlich
gegen Familie und Gemeinschaft gerichtet, aber er fordert
zur Reflexion und Problematisierung dieses Verhältnisses
auf. Die Kultur der Selbstreflexion ist also eine Kultur
des Zweifels. Man reflektiert über Risiken von
Lebensentscheidungen, man problematisiert den
Selbstverständlichkeitscharakter der Elternschaft und des
Familienlebens und der eigenen Position in diesem Gefüge.
Es gibt eine systematische Problematisierung der
Paarbeziehung; Zweifel hinsichtlich der Stabilität der
Paarbeziehung und des Zusammenhangs zwischen Paarbeziehung
und Elternschaft sind normal geworden."
(aus: Ein Leben ohne Kinder 2007, S.411) |
Die Kultur des Zweifels
ist in erster Linie medienvermittelt. Wie sehr, das macht z.B.
Iris RADISCH in ihrem Buch Die Schule der Frauen
deutlich:
Die Schule der Frauen
"Mein
vergangenes Lebensjahrzehnt hat sich in übervollen
Kinderläden abgespielt, in prallen Vorschulklassen, auf
aus allen Nähten platzenden Einschulungsfeiern, auf
ungezählten Kindergeburtstagen und auf Familienfeiern, bei
denen kaum ein Erwachsener mehr zu Wort kam. Mein Leben
ist bis heute voller Kinder, nicht nur im eigenen Haus,
sondern auch rechts und links, bei meinen Geschwistern
genauso wie bei meinen Freundinnen, auf dem Land, wo wir
jetzt leben, genauso wie in der Vorstadt, in der wir
einige Jahre verbracht haben.
Ohne
die Bücher von Herwig Birg, Meinhard Miegel, Franz-Xaver
Kaufmann, (...), Frank Schirrmacher (...), ohne die immer panischer
formulierten Gebärkampagnen in den deutschen Printmedien
wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass irgendjemand in
Deutschland zu wenig Kinder haben könnte."
(2007, S.19) |
Im Buch Die Single-Lüge
wird aufgezeigt, dass die wissenschaftliche
Individualisierungsdebatte und die familienpolitische
Interessenlage sowohl konservativer als auch fortschrittlicher
Parteigänger dazu geführt hat, dass Singles ihre Lage falsch
eingeschätzt haben. Denn was Iris RADISCH beschrieben hat, das
ist nur die eine Seite. Die Kehrseite der
nationalkonservativen Medienkampagne ist viel gravierender. Die
hysterische Dramatisierung des Zerfalls der Familie wie sie im Bild der
Singlegesellschaft aufscheint, aber in Wirklichkeit so gar nicht
existiert, hat die Attraktivität kinderloser Lebensstile über
jenes Maß hinaus gesteigert, das ohne diese Dramatisierung niemals
möglich gewesen wäre. Es gibt seit Ende der 80er Jahre kaum
einen Medienbericht, in dem der Anstieg der Einpersonenhaushalte
angemessen dargestellt wurde. Die Single-Lüge kann
deshalb auch als Kern der problematischen Aspekte einer
Kultur des Zweifels angesehen werden.
Mit
der Single-Lüge geht die Überschätzung des Anteils der Partnerlosen bzw.
die weit übertriebene Klage über die Instabilität moderner Partnerschaften
einher. BURKART sprach deshalb bereits frühzeitig vom Mythos
Single. In einem Beitrag
in Wirtschaft und Statistik vom April 2007 kommen Andrea
LENGERER & Thomas KLEIN anhand der Mikrozensen 1962 - 2004 zum
Schluss, dass in diesem Zeitraum keine generelle Abkehr von
verbindlichen Partnerschaften stattgefunden hat. Die
Gründung eines gemeinsamen Haushaltes findet jedoch heutzutage
in einem höheren Alter statt als noch in den 1960er Jahren, was
in erster Linie auf die Zunahme von Partnerschaften ohne
gemeinsamen Haushalt, und weniger auf die Zunahme von
Partnerlosen zurückzuführen ist, wie z.B. die Untersuchungen von
Norbert F. SCHNEIDER zeigen.
Der langfristige Wandel partnerschaftlicher Lebensformen
im Spiegel des Mikrozensus
"Entgegen
weit verbreiteten Auffassungen kann ein genereller Trend
zur Abkehr von festen, verbindlichen partnerschaftlichen
Beziehungen nicht festgestellt werden. Ein Vergleich der
Lebensverläufe verschiedener Kohorten zeigt aber, dass
partnerschaftliche Bindungen zunehmend später und bis zum
mittleren Erwachsenenalter auch seltener eingegangen
werden. Im höheren Alter nimmt hingegen der Anteil derer,
die in einer Ehe oder Lebensgemeinschaft leben, zu, was
vor allem auf die Veränderung der Alters- und
Geschlechterstruktur der älteren Bevölkerung
zurückzuführen ist."
(2007, S.433) |
Auch frühere Beiträge von
Thomas KLEIN haben gezeigt, dass von einer Single-Gesellschaft
keine Rede sein kann, sondern wir leben - entgegen den Prognosen
der Individualisierungstheoretiker - weiterhin in einer paar-
und familienorientierten Gesellschaft
.
Hinzu
kommt eine Familienpolitik, die lange Zeit ihre Hauptaufgabe in der
moralischen Aufladung des gesellschaftlichen Klimas sah.
Seit den 1990er Jahren ist durch diese Symbolpolitik eine
steigende Feindseligkeit gegen Kinderlose entstanden. Um die
Jahrtausendwende wurde im Umfeld der Pflege- und Rentenreform
sogar eine richtiggehende Hetzjagd auf Kinderlose veranstaltet. Statt die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, setzte die
Politik auf die Bestrafung von Kinderlosen, d.h. potentiellen
Eltern. Für jeden Kinderlosen einleuchtend hieß dies:
Elternschaft ist derart unattraktiv, dass Kinderkriegen um jeden
Preis zu vermeiden ist. Der
Erfolg dieser Symbolpolitik lässt sich deutlich feststellen.
Jahre, in denen Bundestagswahlen stattfanden, waren in
Westdeutschland Jahre, in denen Geburten vermehrt aufgeschoben
wurden
.
Der
Streit um den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung zeigt, dass
nicht etwa Kinderlose das Problem sind, sondern die
Erneuerung des Familienbildes. Zwei Wertsysteme, die beide
für sich beanspruchen die einzig wahren Familienwerte zu
repräsentieren, prallen in Westdeutschland weitgehend unversöhnt
aufeinander. Der Versuch reaktionärer nationalkonservativer
Kräfte, die sich zunehmend auf christliche Werte berufen, ist
gegen die Modernisierung der Familie gerichtet. Das
Buch Ein Leben ohne Kinder zeigt, dass insbesondere die
fehlende Modernisierung der Familie in Westdeutschland zu einer
zunehmenden Kinderlosigkeit geführt hat.
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