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Rezensionsessay

 
       
   

Die Emanzipationsfalle

 
       
   

Oder: Wenn die Rechnung ohne die Normalos  gemacht wird

 
       
     
       
   
     
 

Milieu und Paarbildung

Im Buch Lebensphasen - Liebesphasen (1997) richtet der Soziologe Günter BURKART den Blick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der verschiedenen Milieus:        

Lebensphasen - Liebesphasen

"Die Kohabitation wurde (...) in den siebziger Jahren als neue Lebensform etabliert, zunächst nicht als Alternative zur Ehe im allgemeinen, sondern als Alternative zur frühen Ehe, zum Alleinleben und zum längeren Verweilen im Elternhaus. Ihre Träger waren die jungen Erwachsenen der Bildungsexpansionsphase.
Hier taucht die Frage auf, ob vielleicht diese Generation der Bildungsexpansion besonders anfällig ist für das Scheitern von Ehe und Familie, nicht nur, weil sie die erste ist, die das Experiment versucht, anders zu leben (erst mal nicht den gesicherten Weg zu Familie und Karriere einzuschlagen, aber dann, später, vielleicht nicht mehr dazu in der Lage zu sein), sondern auch weil es sich dabei häufig um soziale Aufsteiger handelt. Bei ihnen sind Probleme mit der habituellen Übereinstimmung in der Partnerschaft wahrscheinlicher, sind sie doch hin- und hergerissen zwischen dem Herkunftsmilieu (meist Arbeiter- oder kleinbürgerliches »Harmoniemilieu«) und dem durch den Gang ins Bildungsmilieu erworbenen Selbstverwirklichungsdiskurs."
(1997, S.90f.)

BURKART legt nahe, dass auch bei den Töchtern der Emanzipation strikt zwischen Geburtselite und Aufsteigern zu unterscheiden ist.  Wenn die Paarbildung jedoch immer noch eine entscheidende Voraussetzung für die Familiengründung ist, dann heißt dies auch, dass auch Elternschaft und Kinderlosigkeit in diesem Zusammenhang gesehen werden müssen.  Dass hier tatsächlich ein Zusammenhang besteht, hat Gert HULLEN in dem Beitrag Tempo und Quantum der Reproduktion (2003) deutlich gemacht. Nicht erst der Aufschub der Familiengründung, sondern bereits der Aufschub der Partnerbildung ist die Ursache des Geburtenrückgangs.  Für HULLEN beginnt die Partnerbildung jedoch erst beim Zusammenziehen, d.h. Partnerschaften ohne gemeinsamen Haushalt werden bei dieser Untersuchung nicht berücksichtigt.

Studienfachwahl und Kinderlosigkeit

Die Emanzipationsfalle

"Lange Zeit schien die Trennlinie innerhalb der Gesellschaft vor allem zwischen Familien und Kinderlosen zu verlaufen, doch die Schichtkomponente gewinnt an Bedeutung. Wenn wir den gegenwärtigen Trend der Kinderlosigkeit im akademischen Milieu fortschreiben, droht Nachwuchs tatsächlich zu einer Angelegenheit der Unterklasse zu werden - und zwar vor allem, weil die eine Seite aussteigt. Zynisch formuliert könnte das heißen: Kinder bekommen in Zukunft nur noch die Gefühlvollen und Blöden."
(2005, S.95)

GASCHKE ist vorzuwerfen, dass sie nicht innerhalb der Gruppe der Akademikerinnen differenziert, denn diese Gruppe ist keineswegs homogen. Klaus-Jügen DUSCHEK & Heike WIRTH haben für das Jahr 2004 das Leben mit Kindern von Akademikerinnen untersucht. Bei den 37 - 40jährigen westdeutschen Akademikerinnen sind 65 % der Ingenieurinnen und 64 % der Human- und Veterinärmedizinerinnen Mütter. Dagegen sind bei den Mathematikerinnen und Naturwissenschaftlern nur 50 % Mütter. Nicht untersucht wurde jedoch inwieweit die Studienfachwahl auch Ergebnis der Herkunft ist und inwiefern die Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die Familiengründung hat.

Frühe Mutterschaft

Susanne GASCHKE beschreibt ihre ungeplante Schwangerschaft als Ausnahme von der Regel:

Die Emanzipationsfalle

"Ich hatte einen neuen Freund und wurde (...) nach drei Monaten schwanger. Das war eine extrem eigenartige Situation für mich, die sich nie etwas aus »Familie« gemacht hatte, und passte ganz und gar nicht zum »erst mal«-Prinzip, wonach Kinderkriegen eine Leitersprosse ist, die man definitiv erst nach allen Examina und nach gelungenem Berufseinstieg erklimmt. Gleichzeitig stellte ich fest, dass theoretisch über Kinder nachzudenken und praktisch schwanger zu sein einen dramatischen Unterschied bedeutet: Während ich mich politisch vehement für ein liberales Abtreibungsrecht eingesetzt hatte, fand ich es nun eine scheußliche Vorstellung, tatsächlich einen Abbruch vornehmen zu lassen. Das war keine große moralische Frage: Ich fand es einfach traurig, deprimierend, irgendwie versagermäßig. Trotzdem hätte ich mich wohl nicht auf eine Karriere als Alleinerziehende eingelassen. Insofern war es spannend, was mein noch sehr neuer Freund zu dieser Entwicklung sagen würde. (...). Uns wurde sehr schnell klar, dass die zentrale Frage, die es zu entscheiden galt, lautete: »Können wir uns denn vorstellen zusammenzubleiben? Für einen nahezu unvorstellbar langen Zeitraum, nämlich immer?« Wir konnten, und deshalb konnten wir auch das Kind behalten."
(2005, S.55f.)

GASCHKE fühlte sich in dieser Situation von der Ratgeberliteratur allein gelassen:

Die Emanzipationsfalle

"Ich selbst wurde Anfang der neunziger Jahre dank politisch korrekter Verhütungsmethoden schwanger und war mehr mit mir selbst als mit feministischer Theorie oder praktischer Frauenpolitik beschäftigt.
(...).
Um mich auf die Geburt vorzubereiten, las ich als Studentin natürlich Bücher. Bei Frauen meiner Generation war eine Schwangerschaft mit Anfang zwanzig nicht sehr verbreitet, es gab also kaum erfahrene Freundinnen, die mich hätten beraten können. Und so informierte ich mich zum Beispiel aus Unser Körper, unser Leben, einem amerikanischen Frauengesundheitsbuch vom Boston Women's Health Collective aus den siebziger Jahren, das allerdings erst 1980 auf Deutsch erschienen war. Ich fühlte mich höchst beunruhigt durch die düsteren Warnungen". (2005, S.28f.)

Aus der Sicht von Katja KULLMANN stellt sich die Kinderfrage erst gar nicht:

Generation Ally

"Der erste Mensch, der mich fragte, ob ich Kinder haben wolle, war nicht mein Freund, nicht meine beste Freundin und auch nicht meine Mutter. Sondern der Chef eines privaten Radiosenders. Ich war 26, kurz vor Studienende und hatte mich bei mehreren Verlagen und Sendern um eine Volontariatsstelle beworben."
(2002, S.91)

Der Lebensentwurf von KULLMANN sieht Kinder erst - wenn überhaupt - in den Dreißigern vor:

Generation Ally

"Auf die Mutterschaftsfrage hatte ich mir keine pfiffige Antwort überlegt, denn ich hatte bis dahin noch nie ernsthaft darüber nachgedacht. Ich wollte beruflich durchstarten, wie es damals hieß. Ich freute mich auf glamouröse Jobs in aufregenden Städten, wollte die Nächte durchtanzen und tagsüber Karriere machen. Kinder kamen in diesem Panorama nicht vor, dieses Phänomen verbannte ich weit hinter meinen 30. Geburtstag. Und fast alle meine Freundinnen machten es genauso. wir düsten in dieser Zeit von Assessment Center zu Auswahlverfahren, wir sprachen bei Roland Berger und Young & Rubicam, dem Stern und der Commerzbank vor, einige gründeten gleich einen eigenen Hutladen (...) und immer, wenn wir erfuhren, dass eine frühere Bekannte, Kommilitonin oder Schulfreundin ein Kind bekommen hatte, schüttelten wir den Kopf und hatten kurz Mitleid. Sie waren zu früh dran, fanden wir. (...). Mütter in unserem Alter, zwischen 20 und 28, waren dies Ausnahme, die die Regel bestätigten. (...). Die Einsamkeit der postmodernen Frau vor der Familiengründung - wir haben sie anfangs genossen".
(2002, S.92f.)

KULLMANN begründet dies damit, dass das Single-Dasein in den 1990er Jahren im Trend lag:

Generation Ally

"Das Singletum war (...) der gesamtgesellschaftliche Megatrend der 90er. Alles musste Event-Charakter haben, als Ausgleich für fehlende Gefühle. Singles machen zwar nur 17 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber sie verfügen über 21 Prozent des frei verfügbaren Einkommens. Es gab plötzlich Single-Bettwäsche, Single-Reisen - etwa auf dem Clubschiff Aida -, Single-Menüs im Tiefkühlregal, Single-Shows im Fernsehen und Single-Partys in jeder Stadt. Fisch sucht Fahrrad oder Konrad sucht Conny hießen die Kuppelveranstaltungen, die Anfang der 90er von linksalternativen Stadtmagazinen erfunden worden waren".
(2002, S.126)

Es stimmt zwar, dass in den 1990er Jahren die Singles ein mediales Modethema waren, dieser Single-Ästhetik in den Medien entspricht jedoch kein diesbezüglicher Anstieg der Einpersonenhaushalte. Ganz im Gegenteil: die anschwellende Single-Rhetorik muss als Abgesang auf das Single-Dasein gelesen werden. Der Wandel des Wertewandels und damit die Rückbesinnung auf die Familie ging in den 1990er Jahren mit einer aggressiven Single-Rhetorik einher . Rückblickend erweist sich das Reden über die Familie im Gewande der Single-Rhetorik als kontraproduktiv. Der Terror der Individualisierungsthese dürfte viel dazu beigetragen haben, dass Singles sich Illusionen über ihre Situation gemacht haben. Nicht der Feminismus hat - wie GASCHKE meint - Kollateralschäden verursacht, sondern die Single-Rhetorik, die den Umbau des Sozialstaats begleitet, ist für die Kollateralschäden verantwortlich.

Die Avantgarde der Mütterelite: Frühgebärende

Die Erfahrung von Susanne GASCHKE war kein Einzelfall, sondern offenbar typisch, zumindest für die Medienbranche. Elke BUHR schreibt dazu im Artikel Dieser Zustand ist nicht tanzbar:

Dieser Zustand ist nicht tanzbar

"Als ich schwanger wurde, war ich zwar im statistischen Durchschnittsalter für das erste Kind - 27 Jahre war es damals, demnächst dürfte es 30 Jahre erreichen -, aber in der studentischen Peer Group war das Kind der erste Fall dieser Art. Es gab Menschen mit Kindern in der Bekanntschaft, sie hatten sie mit siebzehn oder achtzehn bekommen, Resultate postpubertären Verhütungschaos. Alle anderen, so schien es, würden dann erst an Kinder denken, wenn das Studium abgeschlossen und der Job sicher war - nicht vor Mitte oder Ende Dreißig, wenn überhaupt. »Da ist jetzt das Kind drin?« fragte der Freund, der in der Schwulenbar kellnerte, und schaute skeptisch auf meinen dicken Bauch: »Ist das nicht irgendwie eklig?« Später umstanden die Freundinnen zu fünft das Krankenhausbett und staunten, als hätte ich gerade das Jesuskind auf die Welt gebracht."
(aus: Kursbuch 154 Die 30jährigen, 2003, S.138)

Dieser Beitrag erschien im Dezember 2003 im Kursbuch zum Thema Die 30jährigen. In den letzten Jahren hat sich jedoch einiges getan. Studieren mit Kind ist kein Exotenfach mehr. Es wird jedoch noch einige Jahre dauern bis sich dieser Trend auch bevölkerungsstatistisch sicher belegen lässt. So lange dürfen sich die früh gebärenden Elitemütter als Besonderheit inszenieren. Danach wird sie der Mainstream zu neuen Inszenierungen zwingen.

Das Ende der Single-Ästhetik ist längst eingeläutet

Die aktuelle Debatte um die Infantilisierung der Gesellschaft und die Rolle der Popmusik ist der verspätete Abgesang auf den Hipster-Pop . Statistisch gesehen, leben wir längst nicht mehr in der jugendlichen Gesellschaft, sondern in einer Gesellschaft der 30-40jährigen. Der neue Stern am Pop-Himmel heißt Adult-Pop. Es droht die Marius Müller-Westernhagenisierung der Republik: "Lass uns runterfahrn ans Meer/Und uns dort am Strand vermehrn" heißt es im Song Eins. Wir werden demnächst Demografie-Thriller als Lektüre vorgesetzt bekommen und Ildiko von KÜRTHY wird über die Panik der 35jährigen Singlefrau schreiben. Die Britin HELEN FIELDUNG lässt Bridget Jones schwanger werden  und in den USA löst Baby and the City die Serie Desperate Housewives ab.

Wenn sich Susanne GASCHKE über die Single-Ästhetik echauffiert, dann hat das höchstens noch historischen Wert. Die historische Singleforschung wird sich damit beschäftigen müssen. Die Kultur ist dagegen längst weiter. Single-generation.de wird diesen Aspekt in einem späteren Beitrag näher beleuchten.

Doppelkarriere-Familien erobern die Stadt zurück

Global Players

"Ich verlasse das Haus. Es ist kurz nach sechs, im Umkreis von 500 Metern gibt es hier mindestens vier Coffeeshops, aber keiner beginnt mit dem Aufschäumen von fettfreier Milch und dem Verkauf von Trendgebäck vor acht Uhr. Zwischen sechs und acht trinkt Deutschland noch real-überbrühten Filterkaffee mit Glücksklee und ißt Hackepeterbrötchen oder Bockwurst. Ungetoastete Bagels mampfende New-York-Simulanten stehen später auf."
(aus: Sascha Lehnartz "Global Players", 2005, S.23)

Die Emanzipationsfalle

"Wenn man selbst die Einzige ist, die morgens blass und unausgeschlafen aussieht, weil man nachts dreimal wachgeschrien wurde und um halb sieben endgültig aufstehen musste, hasst man die Ganztagsfrühstücker."
(2005, S.170f.)

Lief man Anfang der 1980er Jahre durch die innenstadtnahen Wohngebiete, konnte man den Beginn der Aufwertung dieser Gebiete feststellen. Hausbesetzer und Punks, Künstler und Studenten - Kinderlose also - eroberten damals diese Quartiere. Dieser Vorgang wurde später als Yuppisierung beklagt .

Nun - 25 Jahre später - sind diese Quartiere Keimzellen einer Entwicklung, die in den Medien bislang kaum Beachtung findet. Erst das Phänomen der Prenzlauer Berg-Eltern lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass sich in den schicken Quartieren eine neue Elternelite etabliert.

Familienfundamentalisten versuchen zwar noch, diese Entwicklung zu verleugnen. Es wird behauptet, dass es sich dabei um Ausnahmen handelt oder es werden Statistiken herangezogen, die belegen sollen, dass sich hier keineswegs ein neuer Baby-Boom anbahnt. Zuviel Aufmerksamkeit hätten nämlich die Pläne der mächtigen Elternlobby durchkreuzen können. Inzwischen ist das Elterngeld in den Koalitionsvereinbarungen von Schwarz-Rot festgeschrieben worden. Dies bedeutet, dass die Kinder der Erfolgreichen besser gefördert werden als die Kinder der Erfolglosen. Wer hat, dem wird noch gegeben!

Die Geburtseliten werden durch diese Maßnahme gegenüber den Aufstiegswilligen privilegiert. Diese bevölkerungspolitische Maßnahme stärkt also den Trend zur Klassengesellschaft. Das Elterngeld wird auch den Trend zur Doppelkarriere-Familie stärken. Diese Familienform wohnt eher in der Stadt statt weit draußen auf dem Lande. Die Soziologin Monika ALISCH hat diese Entwicklung bereits 1993 als Konsequenz der Durchsetzung des Feminismus beschrieben . Nun wird auch in einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik diese Entwicklung bestätigt (Welt 22.10.2005)

Der Normalo: Fehlanzeige!

Das Buch von Susanne GASCHKE widmet sich lediglich den Problemen, die unsere extremistischen Milieus betreffen: das Niveaumilieu der Geburtselite und das "hedonistische" Milieu der erfolgreichen Aufsteigerinnen. Wer nicht zu diesen Mitte-Eliten gehört, der muss sich sagen lassen:

Die Emanzipationsfalle

"Die Netten (...) sind längst verheiratet. Übrig bleiben diejenigen, die sich nicht festlegen mögen und ihre Freiheit mit Klauen und Zähnen verteidigen. Und natürlich die absoluten Zumutungen, über die wir gar nicht weiter zu reden brauchen."
(2005, S.59)

Jenseits der Geburtseliten und den erfolgreichen Aufsteigern beginnt für GASCHKE sozusagen die Unterschicht. Das Problem unserer schreibenden Zunft ist, dass sie weit weg ist vom Rest der Gesellschaft. Eine frei schwebende Intelligenzia, die Selbstreferenzialität für eine Tugend hält. Der Kulturkampf zweier extremistischer Milieus verhindert einen vorurteilsfreien Blick auf die Gesamtgesellschaft. GASCHKEs Buch liest sich in weiten Teilen wie eine verspätete Antwort auf Katja KULLMANNs Bestseller Generation Ally. Manche Passagen sind auch lottmannesk, wenn sie Die Jugend von heute beschreiben.

Die Jugend von heute

"Die von mir so bewunderte und angagierte Jugend von heute war vollkommen krank. Und zwar in einem Ausmaß, das noch keiner vor mir erkennt hatte. Mehr noch: Definierte man die Jugend als die Zeit nach der Kindheit und vor der Berufstätigkeit, so gab es seit den 90er Jahren gar keine Jugend mehr. Keiner erreichte mehr postpubertäre Reife. Ich war der letzte lebende Teenager. Ich hatte es noch erlebt: Petting, Matratzenpartys, Pink Floyd, Liebesbriefe, nackt im Wald liegen und sich stundenlang in die Augen schauen. Derartiges ist der Jugend von heute ganz und gar unbekannt. Das kennen sie noch nicht einmal aus dem Kino."
(2004, S.48f.)

Die Emanzipationsfalle

"Einzelne Männer aus ihrem politischen Bekanntenkreis sind vor Sehnsucht nach Susi fast wahnsinnig geworden. Sie gehört zu einer neuen Generation von Frauen, die es wahrscheinlich selbst glauben, wenn sie sagen, sie hätten mit einem Typen bei Vollmond am Strand gesessen, »als Freunde«. Frauen, die ehrlich überrascht sind, wenn ihnen jemand zu Leibe rückt, mit dem sie »nur so« in einem Bett übernachten wollten.
(2005, S.136.)

Obwohl GASCHKE durchaus repräsentative Lebensverlaufsstudien durchgesehen hat, bevorzugt sie doch lieber fragwürdige Meinungsumfragen, die ihre Vorurteile bestätigen. Es würde hier zu weit führen, die Zahlen zu widerlegen. Single-Generation.de wird jedoch in einem späteren Beitrag die Entwicklung der Einpersonenhaushalte in den 1990er Jahren näher unter die Lupe nehmen. Im Beitrag Die Anzahl der Einpersonenhaushalte - Mythen und Fakten haben wir zwar die generelle Entwicklung aufgezeigt, nicht jedoch die Entwicklung einzelner sozialer Gruppen. Das Buch von GASCHKE ist zugespitzt auf Entscheidungssituationen. Wer sich nicht entscheidet, der gehört zur Gruppe der Unentschiedenen. Diese Perspektive negiert das Vorhandensein von Entwicklungen zwischen zwei Entscheidungszeitpunkten. Die punktuelle Betrachtungsweise ignoriert Entwicklungsprozesse wie sie z.B. bei der Paarbildung notwendig sind. GASCHKE geht es darum, Entscheidungen zu erzwingen. Dahinter steht durchaus ihre eigene Erfahrung, dass ungeplante Ereignisse entweder revidiert oder angenommen werden können.

Der Soziologe Günter BURKART hat eine Entscheidungstheorie entwickelt, bei der die Elternschaft als biografische Entscheidung betrachtet wird. Entscheidungen im Lebensverlauf sind demnach sehr komplex, weil sowohl unterschiedliche Lebensbereiche (Beruf, Freizeit), strukturelle Restriktionen (Arbeitsmarktsituation, Finanzsituation), die Bedürfnisse des Partners usw. berücksichtigt werden müssen. Dieses Arrangement ist bei zwei grundsätzlich gleichberechtigten Partnern nun einmal problematischer als wenn sich ein Partner den Entscheidungen des anderen fügt. Je nach Milieuzugehörigkeit ist diese Entscheidung also einfacher oder schwieriger zu fällen. Es ist also gar nicht nötig mit Begriffen wie Hedonismus oder Selbstverwirklichung, also Egoismus herumzufuchteln.

Die Probleme, um die es GASCHKE geht, entspringen dem individualisierten Milieu, denn nur dort ist gemäß BURKART die Elternschaft optional und keine kulturell normierte biographische Selbstverständlichkeit. GASCHKE dagegen sieht das individualisierte Milieu als stilprägend auch für andere Milieus:

Die Emanzipationsfalle

"Die Kinderabstinenz der weiblichen Bildungsavantgarde wirkt übrigens doppelt und dreifach, denn es geht ja nicht nur um die Zahl der nicht geborenen Kinder, sondern auch um eine Trend- und Vorbildfunktion.
(...).
Die Konsumforschung hat herausgefunden, dass der Lebensstil der Privilegierten den gesellschaftlichen Trend prägt: Was, wenn dieser Lebensstil Kinderlosigkeit zur Norm erhebt?"
(2005, S.79)

fragt GASCHKE. Angesichts der Tatsache, dass selbst die Mittelschichten Angst vor dem Absturz haben und Überflüssigkeit nicht allein die Lebenssituation der Unterschichten bedroht, ist Individualisierung keineswegs mehr so verheißungsvoll. Vielmehr wird Individualisierung heutzutage eher als Zwangsindividualisierung erlebt . Urlaub oder Kind, eine solche Entscheidung stellt sich für viele in Zukunft möglicherweise gar nicht mehr, weil - entweder das Geld oder die Zeit fehlt. Durch den forcierten Arbeitsplatzabbau, die Durchsetzung von Niedriglöhnen und die Kürzung von sozialstaatlichen Leistungen, verändern sich die Bedingungen von Lebensentscheidungen rapide. Kinderlosigkeit wird zukünftig weniger eine Frage der Optionsvielfalt, sondern eine Frage der Chancengleichheit sein. Wenn bei GASCHKE das Frühgebären zur generellen gesellschaftlichen Problemlösung verkommt, gerät der aktuelle gesellschaftliche Wandel völlig aus dem Blick. Die Verengung auf eine kleine Elite führt dazu, dass deren Probleme als gesamtgesellschaftliche Probleme erscheinen. Dies ist aber nicht der Fall.

Fazit: Die Avantgarde der Mütterelite ist vergangenheitsfixiert

Liest man im Jahr 2010 das Buch Die Emanzipationsfalle von Susanne GASCHKE noch einmal, wird man sich fragen, wie es dazu kam, dass damals solch gravierende Fehleinschätzungen an der Tagesordnung waren.  Man wird dies auf die damals weit verbreitete Single-Rhetorik zurückführen, die sowohl Singles als auch Eltern ein falsches Bild ihrer Lage vermittelt hatte. Bis zur Jobkrise der Generation Golf kurz nach der Jahrtausendwende konnte man sich als aufstiegswillige Singlefrau noch an die Single-Ästhetik klammern, die von erfolgreichen Aufsteigerinnen - als Gegengift zur zunehmend geschlosseneren Gesellschaft - in Umlauf gebracht wurde. Sozialpolitiker werden ihre damalige Single-Rhetorik damit rechtfertigen, dass die damit verbundenen Kollateralschäden der notwendige Preis waren, um die neue Klassengesellschaft zu etablieren. Die dritte Mütterbewegung wird GASCHKEs Buch als frühes Manifest feiern, das ihren Belangen Ausdruck verliehen hatte, bevor offensichtlich wurde, dass Singles die wahren Modernisierungsverlierer waren. Im Jahre 2010 ist für jeden klar, dass lebenslang Kinderlose eine quantitativ zu vernachlässigende Randgruppe sind. In den schicken Großstadtquartieren dominieren Doppelkarriere-Familien mit einem Kind, während die Mehrzahl der männlichen Kinderlosen in tristen Quartieren oder Wohnwagensiedlungen haust, weil sie sich die Mieten in Arbeitsplatznähe nicht mehr leisten können. Der Geburtenrückgang konnte jedoch nicht gestoppt werden, denn es stellte sich heraus, dass lebenslange Kinderlosigkeit gar nicht die Hauptursache des Geburtenrückgangs war. Susanne GASCHKE hatte deshalb im Jahr 2007 das Buch Die Ein-Kind-Falle geschrieben.

Die Emanzipationsfalle

"Freundin Tanja, wie ich Mutter einer Vierzehnjährigen. »Hast du eigentlich mal über ein zweites Kind nachgedacht?«, fragte sie am Ende eines weinseligen Abends. Ich sah sie entgeistert an: »Jetzt noch?« - »Vielleicht würde es uns jünger machen«, sagte sie."
(2005, S.60)

 
     
 
       
   

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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 06. November 2005
Update: 22. November 2018