[ Übersicht der Themen des Monats ] [ Homepage ]

 
       
   

Winterthema

 
       
   

Die Stadt der Zukunft

 
       
   

Ein Beitrag zum gleichnamigen Buch von Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski  

 
       
     
   
     
 

Einführung

Das Buch Die Stadt der Zukunft ist bereits Ende 2018 erschienen. Die Autoren arbeiten beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Robert KALTENBRUNNER leitet die Abteilung II (Bau -und Wohnungswesen). Sein Co-Autor Peter JAKUBOWSKI ist Mitarbeiter der Abteilung I (Raumordnung und Städtebau) und leitet dort das Referat "Digitale Stadt, Risikovorsorge und Verkehr". Diese Tätigkeiten färben ab auf die Darstellung der Stadtproblematik. Zielgruppe des Buches sind die urbanen Kosmopoliten, weswegen es hier gegen den Strich gelesen wird. Das Buch knüpft an den Feuilletondebatten in der Mainstreampresse an, was über 300 Seiten hinweg ziemlich ermüdend ist und eher Small-Talk-Partygesprächen dient, aber kaum anregend ist für jene, die sich für aktuelle und zukünftige Entwicklungen der Stadtentwicklung interessieren. Es gilt also sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

In dem Buch finden sich zahlreiche Hinweise auf die Denkweise unserer urbanen, kosmopolitischen Elite und ihre Vorstellungen zur zukünftigen Stadtentwicklung. Es sind jedoch gerade die Widersprüchlichkeiten des Buches, das zwischen romantischem Idealismus und neoliberaler Realität mäandert, die aufschlussreich sind. Diese Widersprüchlichkeiten stehen deshalb im Mittelpunkt dieses Beitrags. Es geht dabei um die große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Stadtentwicklung in Zeiten des umkämpften Neoliberalismus.      

Der Titel ist für die Ausführungen der Autoren etwas großspurig, denn es geht hier nicht um Zukunftsforschung, sondern eher um die gegenwärtigen Denkweisen, die nach Meinung der Autoren auch unsere Stadtzukunft bestimmen werden. Das wird uns nicht in der Einleitung mitgeteilt, sondern erst auf Seite 316:   

Die Stadt der Zukunft

"(L)etztlich gibt es kaum Anknüpfungspunkte, an denen sich seriöse Vorhersagen festmachen lassen. Wir haben hier Facetten und Strömungen, Eigenlogiken und dominante Interessen aufgeblättert, die das Urbane ausmachen. Und wir gehen davon aus, dass eben dieses Kräfte- und Ideennetzwerk auch für die Zukunft prägend sein wird." (2019, S.316)

Von diesen Sätzen her, erschließt sich weitgehend der Inhalt des Buches. Einzig zur smarten Stadt wird uns auf den Seiten 304ff. eine Vision aus dem Jahr 2030 präsentiert.

Der starke Stadt als Dompteur des Neoliberalismus?

Die Zeiten, in denen Neoliberalismus alternativlos als Deregulierung und Privatisierung begriffen wurde, sind mittlerweile - zumindest rhetorisch - vorbei. Die Autoren setzen auf einen starken Staat, der dem Gemeinwohl zum Durchbruch verhelfen soll. Problematisch ist jedoch, dass dieser starke Staat weiterhin als schlanker Staat gedacht wird. Effizienz ist das Zauberwort, das neben Bürgerengagement die Kosten für den Staat niedrig halten soll. Der grassierende Ökonomismus wird oftmals unkritisch wiedergekäut, statt auf die Problematik hinzuweisen. So werden wirtschaftliche Interessen gerne durch stadtplanerische Grundsätze übertüncht. Etwa wenn es heißt:

Die Stadt der Zukunft

"Mobil gemacht werden soll das gesamte Stadtgebiet für dessen Bewohner: nicht durch ein Verkehrsnetz möglichst gleichmäßiger Schnellanbindungen, sondern durch abgestufte Erschließung, die dem Raum seine Topographie und seine entlegenen Stellen lässt."
(2019, S.16)

Dieser Stadtplanungsgrundsatz ist jedoch letztlich dem Ökonomismus geschuldet, wie er dann fast 40 Seiten später beschrieben wird:

Die Stadt der Zukunft

"Je mächtiger (...) eine Infrastruktur (...,) desto stärker unter dem ökonomischen Imperativ der Zwang, sie vor allem dort anzulegen, wo die Nutzer nicht nur zahlreich, sondern auch möglichst zahlungskräftig sind. Die Profitlogik verstärkt die Dichte, der die Infrastrukturen unterliegen, wobei Dichte eben nicht allein Dichte der Bevölkerung, sondern des Einkommens und Vermögens bedeutet."
(2019, S.53)

Der Leser des Buches wird immer wieder mit solcher stadtplanerischen Schönfärberei des Ökonomiedenkens konfrontiert. Nicht verschwiegen werden soll dabei jedoch, dass gerade das historisch gewachsene Verkehrsnetz die weitere Erschließung determiniert. Insbesondere beim Schienenverkehr führt dies dazu, dass absurde Umwege gefahren werden müssen, um von A nach B zu  kommen. Will jemand z.B. von der Großstadt Heidelberg nach Hockenheim reisen, einer Mittelstadt mit einer weltweit bekannten Motorsport-Rennstrecke ("Hockenheimring"), die rund 21.000 Einwohner zählt, dann kann er diese mit dem Auto in ca. 20 Minuten erreichen. Die Fahrtstrecke ist rund 20 Kilometer lang. Mit der Bahn ist dagegen ein Umweg über Mannheim notwendig. Weil die Fahrstrecke mehr als doppelt so weit ist, dauert die Fahrzeit rund eine Stunde und erfordert einen Umstieg. Die Alternative Bus ist ebenfalls nicht schneller, nur die Fahrstrecke ist etwas kürzer. Dieses Beispiel stammt nicht aus einer "abgehängten Region", sondern aus der Metropolregion Rhein-Neckar, zu der beide Städte gehören. Davon ist jedoch in Sachen öffentlicher Nahverkehr nichts zu spüren.

Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich, dass es zu einer echten "Verkehrswende", die zur Zeit überall - und auch im Buch - beschworen wird, mehr als nur Preissenkungen bedarf!

Die Rechtfertigung des Neoliberalismus der 1990er Jahre und der Investorenstädtebau als Ideal

Die Autoren sehen für die 1990er Jahre eine Notwendigkeit von Privatisierung und Deregulierung als gegeben und behaupten nun, dass die Städte aus den Fehlern gelernt hätten, sodass nun der Investorenstädtebau - unter bestimmten Bedingungen - durchaus sinnvoll sei:

Die Stadt der Zukunft

"Durchaus kompliziert war die Konstellation in Deutschland in den 1990er Jahren in Hinblick auf die Tatkraft des Staates. Weil ihre Haushaltssituation extrem angespannt, mitunter sogar prekär war, büßten viele Städte einen Großteil ihrer Gestaltungskraft ein. (...) Privatisierung und Liberalisierung schienen im damaligen politischen Mainstream das Gebot der Stunde. (...). Es galt, die Kräfte des privaten Kapitals und den Wettbewerb in den Dienst des Urbanen zu stellen. Und wie so oft: Erst (...) ex post (...) erkennen wir die Fehler: Die ausgleichenden Gemeinwohlziele für die Stadt lassen sich eben nicht ohne Staat erreichen. Sind die Kräfte des privaten Kapitals erst entfesselt, bedarf es in der Regel mehr Staat (...). So müssen öffentlich-private Verträge äußerst kenntnisreich aufgesetzt und aufwendig kontrolliert werden, damit auch der öffentliche Partner seine Vertragsziele erreicht sieht. Ausschreibungen, Wettbewerbe und Vergaben dürfen nur dem Gemeinwohl verpflichtet sein und nicht der Tatsache, dass jeglichem Privatkapital der Weg zum Investment zu ebenen sei. Und dann setzte sich die Einsicht durch, dass diejenige Stadt deutlich besser fährt (...), die eine ebenso klare wie starke und selbstbewusste urbane Entwicklungsstrategie verfolgt. (...). (D)as Kräfte-Parallelogramm dieses öffentlich-privaten Ringes ist so konstruiert, dass regelmäßig die auch ökonomisch lukrative Stadt eine starke Verhandlungsposition besitzt und ihre Konzepte entweder durchsetzen oder dem Ansinnen eines Investors, aus der Position der Stärke heraus, eine Absage erteilen kann. Was wiederum oft genug (...)(g)ute und innovative, städtebaulich ausgewogene Projekte (zeitigt), von privater Hand umgesetzt und finanziert. (...). Schwierig bis dysfunktional wird das Spiel, wenn die Stadt - weil sie unter multiplen Gebrechen leidet - den schwächeren Part innehat und sich den Investoren ausliefert."
(2019, S.254f.)

Das klingt gut, zumindest für die "ökonomisch starken" Städte, beschreibt aber nicht die Realität der meisten Städte, sondern das neue Ideal eines starken, aber schlanken Staates, dessen Schattenseiten weiter unten beleuchtet werden.

Urbaner Kosmopolitismus als Ideologie

Die Stadt gilt urbanen Kosmopoliten als die gesellschaftliche Avantgarde. Stadt ist dort, wo die Moderne ist. Oder wie es bei den Autoren heißt:

Die Stadt der Zukunft

"Heute deutet vieles darauf hin, dass die ganze Welt Stadt werden wird. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt nun in Städten, in weniger als zehn Jahren wird diese Zahl auf zwei Drittel angestiegen sein. Damit wird deutlich, dass sich die entscheidenden Herausforderungen der Weltgesellschaft tatsächlich am Städtischen festmachen werden. Dazu gehören ökologische Fragen ebenso solche der Versorgung, logistische Herausforderungen und schließlich auch die soziale Frage."
(2019, S.15)

Das Problem besteht jedoch darin, dass der Begriff "Stadt" umkämpft ist:

Die Stadt der Zukunft

"Stadt kann (...) nicht mehr als Synonym für eine klar definierte, baulich gefasste und kommunal administrierte Einheit gelten. Folgerichtig gibt es in der Fachwelt keinen rechten Konsens darüber, was Stadt heute ist. Bei den einen schwingt, wenn sie von Stadt sprechen, die Assoziation von der geschlossenen, kompakten Form mit, das Bild der »Europäischen Stadt« als regionales Zentrum. Für die anderen hat sich dieses traditionelle Image längst verflüchtigt. Für sie macht sich ein neuer Typus von Stadt breit, die Stadt ohne Eigenschaften, die Netzwerkstadt, die Zwischenstadt, die Regionalstadt - es kursieren eine Reihe von Begriffen, die meisten so unscharf wie missverständlich."
(2019, S.13)

Das Problem bei diesen Stadtbeschreibungen ist, dass sich empirische und normative Aspekte vermischen. Die Ausführungen der Autoren sind für ein besseres Verständnis kaum hilfreich, sondern fördern eher das Wirrwarr. Die Autoren sehen in der europäischen Stadt eine "kulturhistorisch und emotional" wichtige Brücke zwischen Zukunft und Vergangenheit (vgl. 2019, S.323). Dies bildet zugleich den romantisch-idealistischen Pol der Betrachtung. 

Im urbanen Kosmopolitismus überwiegen die normativen Aspekte des Stadtbegriffs, sodass die Analysen entsprechend einseitig sind, obwohl sie das Gegenteil vorgaukeln. Allein der Textaufbau, der von These, Antithese und anschließender Synthese geprägt ist, kaschiert den Konformismus des dahinter stehenden linksliberalen Weltbildes. Der Untertitel des Buches lautet Wie wir leben wollen. Dieses Wir aber wird nicht als Ideologie kenntlich gemacht, sondern bestimmt unter der Hand das Buchanliegen. Der normative Aspekt des zeitgenössischen Urbanismus, womit die Grundsätze der Stadtentwicklung gemeint sind, werden mit Verdichtung, Durchmischung, Mobilität und neue Landschaftsbildung beschrieben (vgl. S.16). Darauf wird später zurückzukommen sein. Zunächst geht es um die Rolle des Staates in der Stadtentwicklung.      

Der starke, aber schlanke Staat als Problemfall

Der Staat soll Hüter des Gemeinwohls sein und die Marktkräfte in diesem Sinne im Zaum halten. Die Autoren sehen zwar den Neoliberalismus der 1990er Jahre als erforderlich an. Doch die Deregulierung und Privatisierung sei inzwischen über das Ziel hinausgeschossen und das Gemeinwohl sei unter die Räder der Marktkräfte gekommen. Der starke Staat soll es deshalb richten. Der Begriff "Gemeinwohl" wird aber nirgends definiert und entsprechend schwammig kommt dieses Gemeinwohl daher. Das Gemeinwohl wird eher durch sein Gegenteil bestimmt: die Partikularinteressen derjenigen, die Ansprüche an die Stadtentwicklung stellen, ob das nun Unternehmen, Investoren oder Bürger sind. Im Prinzip sind also die Autoren diejenigen, die das Gemeinwohl verteidigen - was immer das ist. Dann wiederum erscheint Stadtentwicklung als ein romantisch-idealistisches Projekt der "Kooperation":

Die Stadt der Zukunft

"Abstrakt gesehen stellt Stadtentwicklung ein kooperatives kollektives Unternehmen dar, dessen Ziel (hoffentlich) ein systematischer Gewinn, eine Verbesserung im Sinne des Gemeinwohls ist."
(2019, S.327)

In dieser Beschreibung verwischen sich wieder normative (als Hoffnung kaschierte Aspekte) mit einer am Gemeinwohl ausgerichteten Kooperation. Diese Sicht übertüncht die Tatsache, dass Stadtentwicklung ein konfliktreiches Projekt ist. Dann wieder werden wir mit dem Einbruch der Realität in diese heile Welt konfrontiert:

Die Stadt der Zukunft

"Heute muss man konstatieren, dass eine Vielzahl verschiedener Akteure unterschiedliche Ansprüche an den Raum formuliert, und zwar so selbstbezogen wie synchron. Sie äußern sich beispielsweise in unternehmerischen Standortentscheidungen, Logistikkonzepten von Großverteilern, bodenrechtlichen Spezifikationen, verkehrsinfrastrukturellen Vorhaben, regionalplanerischen Leitbildern, wohnsoziologischen Präferenzen, Arbeitsmarktentwicklungen etc. Diese Aufzählung wäre unschwer zu verlängern. Eine gemeinsame Wirkung lässt sich aber wieder abschätzen noch unter Kontrolle bringen.
Nicht zuletzt deshalb ist der sinnliche Eindruck, den unsere heutigen Städte vermitteln, nicht besonders befriedigend. Allzuoft sind wir mit einem unbändigen Konglomerat maßstäblich nicht korrespondierender Bauten konfrontiert: am Bahnhof gähnende Ödnis (...). Nach wie vor herrscht eine auf die Optimierung einzelner Funktionen ausgerichtete räumliche Organisation. (...). Kriterien (...:) Minimierung der Kosten und Maximierung der Nutzbarkeit (...). Anmutungsqualität und Identitätsbildung schmilzt hinweg."
(2019, S.234)

Bereits diese drei Passagen vermitteln einen Eindruck von der Widersprüchlichkeit der Aussagen, mit denen der Leser konfrontiert wird. Die Autoren sprechen lieber von Kaleidoskop.

Der neoliberale Politikstil der 1990er Jahre zeitigt inzwischen Kollateralschäden, die folgendermaßen beschrieben werden:

Die Stadt der Zukunft

"Heute gibt es niemanden mehr, so wird vielerorts geklagt, der die Stadt gestalten könne. (...). Nicht einmal der Anspruch werde noch erhoben. Stattdessen gilt entweder Verwaltung des Status quo, oder, im besseren Fall, die politische und administrative Begleitung eines Veränderungsprozesses. (...). Viele Städte stehen, bildlich gesprochen, mit dem Rücken zur Wand. Finanzknappheit, Wohnungsnot, soziale Polarisierung sind einschlägige Stichworte. An sich sind Städte und Kommunen zuständig für die Bereitstellung wesentlicher Teile der sozialen Infrastruktur (...). Dieser Aufgabe kommen sie vielerorts immer weniger nach, weil ihnen Geld, Personal und Kompetenzen fehlen. Den so in die Enge Getriebenen geht dann zunehmend der Optimismus aus, Stadt positiv gestalten zu können.
Die Rahmenbedingungen städtischer Politik sind angesichts der vielfach nicht zu Ende gedachten Deregulierungs- und Privatisierungspolitik der 1990er Jahre und der damit verbunden - wohl übertriebenen - Ökonomisierung allzu vieler Lebensbereiche deutlich unklarer geworden."
(2019, S.262)

Mittlerweile - unter dem Druck der AfD-Wahlerfolge - haben auch die einstigen Euphoriker von Deregulierung und Privatisierung in der Mainstreampresse das Thema entdeckt. So widmete die Süddeutsche Zeitung in ihrer ersten Wochenendausgabe im neuen Jahr eine 3 Seiten lange Reportage mit dem Titel Komm zurück. Im Untertitel heißt es: Der Staat erfüllt viele seiner Aufgaben nicht mehr. Mit Bädern, Bahnhöfen und Schulen bröckelt auch das Selbstverständnis vom Vorzeigeland. Und für manche Bürger geht eine Welt verloren. Stefan BRAUN schreibt dort:

Komm zurück

"Die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen scheinen das alte Bild noch zu bekräftigen. (...).
Auf der anderen Seite ist ein Land zu sehen, das von der Substanz lebt. Verfallene Bahnhöfe, kaputte Schulklos, löchrige Straßen. Krankenhäuser müssen Stationen schließen. Lange Wartezeiten in Gerichten bringen Prozesse in Gefahr. Es ist kaum mehr zu übersehen, dass der Staat seine Grundaufgaben oftmals nicht mehr erfüllen kann. Dieser Rückzug des Staates wirkt sich verheerend auf sein Ansehen aus. (...) Es bröckeln (...) nicht nur Wände, sondern auch das soziale Fundament der Demokratie.
(...).
Und jetzt? Jetzt versucht die Politik umzusteuern. (...). Leicht geht das nicht, und schnell sowieso nicht. Denn der Staat hat sich selbst so geschwächt, dass er kaum noch gestalten kann. Es fehlen sogar die Strukturen, um wieder etwas aufzubauen."
(Süddeutsche Zeitung 04.01.2020)

Stefan BRAUN sieht im Neoliberalismus der 1990er Jahre das Problem. Aber das wäre zu einfach, denn die Blütezeit dieser Politik waren die Nuller Jahre. Und selbst die Finanzkrise brachte keine grundlegende Revision. Erst die AfD-Wahlerfolge nach 2015 ließen das Weltbild bröckeln. Oder wie es BRAUN umschreibt: Es bröckelt das "soziale Fundament der Demokratie". Im Gegensatz zu KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI sieht BRAUN eine Selbstschwächung des Staates. Das trifft es eher als die Schönfärberei, die im Buch betrieben wird. Entsprechend haben die Ausführungen der Autoren auch eher appellativen Charakter, der Hilflosigkeit ausstrahlt und den Idealismus Lügen straft:

Die Stadt der Zukunft

"Die öffentliche Hand muss es wieder schaffen, auf Augenhöhe mit den heute noch stärkeren Partnern zu verhandeln. (...). Um das zu erreichen, bedarf es so mancher Voraussetzung - ohne eine auskömmliche Finanzausstattung der Städte und Gemeinden, zu der auch ein wettbewerbsfähiges öffentliches Dienst- und Besoldungsrecht zählt, wird allerdings alles nichts sein."
(2019, S.264)

Man sollte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Personalausgaben im Neoliberalismus als konsumtive Ausgaben gebrandmarkt wurden, die der Kostensenkungspolitik zu allererst zum Opfer fielen. Investitionen galten zwar prinzipiell als sinnvoll, doch blieben sie meist aus, weil Schulden verteufelt wurden. 25 Jahre Spardiktat lassen sich nicht ungeschehen machen und die Rechtfertigungsversuche sind ein Scheinargument. Alle Bevölkerungsvorausberechnungen wurden bis vor kurzem als Freifahrtschein für marktradikale Politik betrachtet. Wachstumsschmerzen werden nun stattdessen diagnostiziert. Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme, wie sie durch den Neoliberalismus salonfähig gemacht wurde, hat zur Selbstschwächung des Staates geführt. Zu einer angemessenen Umsteuerung ist dieser Staat deshalb kaum mehr fähig.

Die Industrie 4.0 als Hoffnungsschimmer am Stadtentwicklungshorizont

KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI haben wenig positive Stadtentwicklungsszenarien zu bieten. Die Industrie 4.0 gehört dazu. Die Utopie: Gibt es derzeit einen Interessenkonflikt zwischen Markt und Stadt, so löst sich dieser durch die Industrie 4.0 in Wohlgefallen ("Win-win-Situation") auf:

Die Stadt der Zukunft

"Stehen wir gar an der Schwelle zu einer modernen Industrie, die nicht nur stadtverträglich, sondern stadtaffin ist?
Denkbar und gar nicht unwahrscheinlich ist diese stadtaffine Ökonomie durchaus. Insbesondere zwei Aspekte locken die Produktion wieder näher an die Stadt: Smarte Technologien der Industrie 4.0 werden umfeldverträglicher und vermutlich weniger raumgreifend als bisher. (...). Die Produktion der Zukunft ist viel stärker mit Kreativität und Know-how verknüpft als in der Vergangenheit: Spannende und lukrative Produktionsstandorte müssen künftig weit stärker als bisher dort angesiedelt werden, wo das passende Personal leben möchte. (...). Wenn neue Gebäudekomplexe der Industrie 4.0 in die Stadt einziehen wollen, träte die industrienahe, Zukunft gestaltende Baukultur aus dem Schatten der (...) historischen Industriekultur. Nostalgie verlöre an Bedeutung. (...) In dieser Argumentation ließen sich gegebenenfalls sogar die Handlungslogiken der Fabrikanten mit denen der Stadtplaner nach langen Jahrzehnten wieder in Einklang bringen: Denn Urbanität scheint in dieser Denkrichtung eine Win-win-Konstellation zu sein. Dann wird Wirtschaft möglicherweise auch wieder ein wohlgelittener Aktivposten für die Stadtentwicklung."
(2019, S.271ff.)

In einer Dokumentation des BBSR wird der Begriff "Industrie 4.0" folgendermaßen beschrieben:

Neue Räume für die produktive Stadt

"Die unter dem Schlagwort »Industrie 4.0« zusammengefassten Transformationstendenzen der Industrieproduktion wie urbane Manufakturen, vernetzte Produktion, FabLabs oder Kleinfabriken der Recyclingbranche könnten eine Rückkehr neuer städtischer Industrien in kleinteilig gemischte Quartiere ermöglichen.
(Katharina Hackenberg & Andrea Jonas 11.12.2019, S.13)

Die geplante Gigafactory, ein Batteriezellenwerk von Tesla für E-Autos, die in der brandenburgischen Kleinstadt Grünheide errichtet werden soll, ist wie das geplante chinesische Batteriezellenwerk im thüringischen Arnstadt das Gegenteil dessen, was den Autoren vorschwebt. Das Beispiel Tesla und CATL deutet eher an, dass Standortpolitik noch stärker umkämpft sein wird als gegenwärtig! Ansiedlungen, wo das passende Personal leben möchten, sehen anders aus, und kleinräumig sind diese flächenfressenden Fabriken auch nicht.

Im Gegensatz zum Buch, das dieses wichtige Thema nur streift, befasst sich die Dokumentation Neue Räume für die produktive Stadt ausführlicher mit der Problematik.

Die smarte Stadt - ein Schauermärchen

Ein ganzes Kapitel widmet sich der Smart City als vermeintlicher Heilsbringer. Hier schlägt uns insbesondere die Abwehrhaltung der Feuilletondebatten in den Printmedien, und hier insbesondere im SCHIRRMACHER-Feuilleton ("Payback") entgegen, die sich von der Digitalisierung bedroht sehen, obwohl ihre Probleme in ganz anderen Aspekten zu suchen wären. Der Digitalisierung werden oftmals Zauberkräfte zugeschrieben. Zu Big Data wird Carlo RATTI zitiert:

Die Stadt der Zukunft

"»Big Data ist das, was man in großem aber nicht in kleinem Maßstab tun kann, um neue Erkenntnisse zu gewinnen oder neue Werte zu schaffen, so dass sich Märkte, Organisationen, die Beziehungen zwischen Bürger und Staat und vieles mehr verändern. Aber das ist nur der Anfang. Die Ära von Big Data wird sich auch auf unsere Lebensweise und unsere Weltsicht auswirken. Vor allem muss die Gesellschaft sich gewohnter Vorstellungen von Kausalität entledigen und stattdessen vermehrt auf Korrelationen verlassen. Man wird oft nicht mehr wissen warum, sondern nur noch was. Das ist das Ende jahrhundertelang eingeführter Prozesse und verändert tiefgreifend die Art, wie wir Entscheidungen treffen und die Wirklichkeit verstehen.«"
(2019, S.288)

Offenbar hat der Autor, ein Architekt, nicht mitbekommen, dass das Kausalitätsdenken höchstens noch in Teilen der Wissenschaft hochgehalten wird - was nichts mit Big Data zu tun hat. Die meisten empirischen Studien sind bereits jetzt Korrelationsstudien, weil Forschungsdesigns, die Kausalitäten erforschbar machen könnten, entweder zu teuer oder aufgrund der Datenlage unmöglich sind. Die Wissenschaft hat sich faktisch also längst von Kausalitäten verabschiedet, auch wenn manche Wissenschaftler suggerieren, sie könnten Kausalitäten nachweisen. In anderen Wissenschaftsbereichen wird gar nicht von Kausalität, sondern von Wechselwirkungen gesprochen.

Uns werden die aus den Feuilletons bekannten Dystopien von George ORWELL, Aldous HUXLEY und Jewgenij SAMJATIN ("Wir") präsentiert, wobei nur bei Letzterem überhaupt ein engerer Zusammenhang mit der Digitalisierung besteht. Diesen Rundumschlag hätten sich die Autoren sparen können und sich lieber ausführlicher auf die Smarte Stadt beschränkt. Diese wird folgendermaßen definiert:

Die Stadt der Zukunft

"Als Smart City kann man eine Stadt bezeichnen, in der neue Technologien in den Bereichen Infrastruktur, Gebäude, Mobilität etc. intelligent und systemübergreifend vernetzt werden, um Ressourcen wie zum Beispiel Energie oder Wasser hocheffizient zu nutzen und ihren Verbrauch zu reduzieren."
(2019, S.295)

Effizienz ist zuerst einmal nur ein Marketingversprechen, welche Ergebnisse solche "smarten Technologien" tatsächlich zeitigen, das wäre eine empirische Frage, aber dazu gibt es wenig zu lesen, sondern die Autoren beschreiben vor allem die Versprechen der Hersteller, um dann z.B. zu erläutern:

Die Stadt der Zukunft

"Das Versprechen zurückgewinnnender Flächen durch eine Verkehrswende in der Smart City klingt ja durchaus verheißungsvoll. Wie realistisch es freilich ist, bleibt abzuwarten."
(2019, S.296)

Statt empirischer Studien zu neuen Technologien werden uns also Meinungen präsentiert. Die Autoren hätten sich besser auf bereits eingeführte Projekte beschränkt. Beispielhaft wird das im Bereich von Melde-Apps gemacht, mit denen Bürger der Stadtverwaltung zu beseitigende Mängel melden können. Es zeigt sich jedoch, dass dies aufgrund der kommunalen Situation oft ins Leere geht:

Die Stadt der Zukunft

"Oft genug ist zur Behebung (...) deutlich mehr zu tun, als das Problem vor Ort mit zwei bis drei fachkundigen Handgriffen aus dem Weg zu schaffen. Und selbst das kann unmöglich werden, wenn die Personalausstattung der Stadt nicht ausreicht, alle erkannten Probleme tagtäglich aus dem Weg zu schaffen. Der Umstand klammer kommunaler Kassen hat dazu geführt, dass in vielen Mängelmeldern etwa das Anzeigen von Schlaglöchern nicht zum Programm gehört und gleichsam außer Konkurrenz läuft."
(2019, S.297)

Melde-Systeme gibt es nicht nur in Behörden, sondern auch in Unternehmen. Auch dort zeigen sich die gleichen Probleme. Smarte Technologien führen nur dort zu Verbesserungen, wo auch die Voraussetzungen zur Behebung gegeben sind, bzw. die Verbesserung überhaupt erwünscht ist. Den Anspruch an eine Smart City formulieren die Autoren folgendermaßen:

Die Stadt der Zukunft

"Wirklich smart wäre eine Lösung, die (den)(...) Akt in der Administration automatisiert und keinen zusätzlichen Verwaltungsaufwand erzeugt, sondern vielleicht sogar Personal einspart. Mit dem Geld könnten dann Menschen bezahlt werden, die sich vor Ort um Problemlösungen verdient machen."
(2019, S.298)

Die Autoren wünschen sich sozusagen einen modernen Geldesel. Überzogene Effizienzansprüche und unrealistische Erwartungen prägen die Sicht auf neue Technologien. Die Hersteller wissen das und werben deshalb mit Effizienz und Kosteneinsparungen. Es ist wenig hilfreich, wenn uns solche Versprechungen präsentiert werden, statt Verbesserungsmöglichkeiten zu nennen. Die Autoren präsentieren jedoch selten Fakten aus empirischen Studien, sondern ermüden uns mit Meinungen.

Im Zusammenhang mit der Smart City fällt dann der Begriff der "Responsive City". Hier begegnet uns dann der wahre Geldesel:

Die Stadt der Zukunft

"Smarte Systeme zeichnen sich durch eine engmaschige Echtzeitüberwachung von Zustands- und Leistungsvariablen aus, die - mit entsprechenden Reaktionsmustern gekoppelt - dazu führen, dass bei Über- oder Unterschreiten vorher definierter kritischer Kennwerte automatisch Anpassungsreaktionen erfolgen. Mit dem breiten Einsatz digitaler Technologien in den städtischen Infrastruktursystemen werden Monitoring, Reporting und Entscheidungen über die Durchführung vielfältiger Maßnahmen effizient: Das kann sogar so weit gehen, dass Maßnahmen gemäß den Vorgaben der für die Gesamtsystemsteuerung Verantwortlichen rational und automatisiert umgesetzt werden. (...).
Die Vernetzung von Infrastrukturen durch Informations- und Kommunikationstechnologien verbessert grundsätzlich die Steuerbarkeit städtischer Systeme. Zugleich eröffnen sich Möglichkeiten für zeit- und preisorientierte Anpassungen vielfältigster Angebote an die individuellen Bedürfnisse der Menschen in der Stadt.
(2019, S.309)

Dass solche Systeme per se die Transparenz auch in der Stadtentwicklung erhöhen, dürfte eher ins Bereich der Märchen gehören. Dass Kosten, Auswirkungen oder Akteursbetroffenheiten von Projekten transparent für Politik, Verwaltung sowie Bürger aufbereitet werden können, dazu bedarf es keiner smarten Technologien, sondern eher den Willen zur Transparenz. Bei der Darstellung von Projekten geht es schließlich nicht um Transparenz, sondern um die reibungslose Durchsetzung der Planung. Auch die Auflösung "asymmetrischer Information", um die Machtverhältnisse zu verändern, ist eher Märchenstunde. So funktioniert die Realität nicht.

Fazit: Wenn die Sprache auf die Digitalisierung kommt, dann ist das Buch hochgradig spekulativ, wenig erfahrungsgesättigt und verfällt dem Feuilleton-Pessimismus. Der Digitalisierung werden andererseits Zauberkräfte zugeschrieben, während die Akteursinteressen dahinter verschwinden.

Schrumpfende Städte in Zeiten des neoliberalen Wettbewerbsstaats

Die Kluft zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten ist für die Autoren eher nebensächlich. Sie werden gewissermaßen abgeschrieben:

Die Stadt der Zukunft

"Viele Städte in Deutschland schrumpfen weiterhin. Und jeder Wegzug, jeder neue Leerstand lässt eher die Sorgen um die Stabilität urbaner Strukturen wachsen, als beseelte Utopien entstehen. Wenn alles in schnellen Wellen über uns kommt, wird die Zeit für pfiffige und tragfähige Anpassungen knapp. Gerade dort, wo es schrumpft, braucht es Kreativität für beinahe kein Geld, denn an diesen Orten lässt sich nicht groß verdienen. Hier fällt die Stadtentwicklung wieder auf seine Basics zurück."
(2019, S.322)

Der Neoliberalismus ist den Autoren in Fleisch und Blut über gegangen. Der Wettbewerbsstaat und sein Motto die Starken stärken kennzeichnet diese Sicht. Dazu wird uns zudem vorgegaukelt, dass wir von den Entwicklungen überrollt worden wären. Modische Etiketten wie die "beschleunigte Gesellschaft" sollen das suggerieren. Die Autoren nennen nur Hartmut ROSA, der den Begriff "Beschleunigung" ins Zentrum seiner Zeitdiagnose gestellt hat, aber ideologisch ist ihnen das zuerst 1999 erschienene Buch Die beschleunigte Gesellschaft von Peter Glotz näher. Wird die Stadtentwicklung von den Entwicklungen überrollt? Oder sitzt die Stadtentwicklung nicht eher unkritisch Moden auf? Während vor 10 Jahren noch die demografische Entwicklung als Hauptproblem gesehen wurde, ist es nun der Klimawandel. Angeblich stehen wir wie so oft in den letzten Jahrzehnten vor einem Kollaps! Die Beschwörung des permanenten Ausnahmezustandes ist kaum geeignet, um sinnvollen Fortschritt zu fördern. Und wem zu schrumpfenden Städten nicht viel mehr einfällt als die zitierten Sätze, der sollte über die Stadt der Zukunft schweigen!

Die Zunahme der Wohnfläche als Problem?

Die Autoren beschreiben die Zunahme der Wohnfläche als Problem der Nachhaltigkeit und diffamieren die Entwicklung im Bereich der Mietwohnungen als "Luxuswohnen":

Die Stadt der Zukunft

"Obgleich rund 47 Prozent der Deutschen zur Miete wohnen (...), sind sie ein Volk von »Luxuswohnern«. (...).
1998 wohnten - bei rund 39 Quadratmeter Wohnfläche pro Person - statistisch 2,2 Personen in einer Wohnung. Noch 1965 betrug die verfügbare Wohnfläche in der Bundesrepublik 22 Quadratmeter je Person, sie hat sich also in etwas mehr als 30 Jahren verdoppelt. Tendenz nach wie vor steigend."
(2019, S.70)

"Wir reden von nachhaltig und gleichzeitig (ver)brauchen wir immer mehr Fläche. Statistisch waren es 2017 in Deutschland pro Kopf bereits mehr als 46 Quadratmeter Wohnfläche. Während die durchschnittliche Wohnfläche je Haushalt 92 Quadratmeter betrug, wies die der Ein-Personenhaushalte sogar überproportionale 68 Quadratmeter auf. Bemerkenswert ist, dass die Wohnflächen pro Kopf mit zunehmendem Alter deutlich ansteigen. Dies ist nun kein Indiz für eine aktive Mehrnachfrage nach Wohnquadratmetern, es ist vielfach eine rechnerische Entwicklung, die dann greift, wenn in Familien die jüngere Generation flügge wird und die Eltern im angestammten Familiendomizil wohnen bleiben. Was dem Nachhaltigkeitsstreben vielleicht entgegensteht, ist stark durch psychologische Bindungen an Wohnungen und Häuser geknüpft. (...).
Neben dem weitverbreiteten Bedürfnis
»wohnen zu bleiben«, ist der Wohnflächenzuwachs andererseits auch ein Zeichen von Anspruch auf mehr Lebensqualität."
(2019, S.84f.)

Problematisch ist, dass der Begriff "Nachhaltigkeit" nicht definiert wird, sondern mit moralischem Unterton daher kommt. Impliziert wird, dass eine sinkende Wohnfläche nachhaltiger sei. Die Einpersonenhaushalte gelten dabei als die Problemhaushalte. Seit den 1980er Jahren sind die "Singles" das Feindbild und die Single-Gesellschaft wird als Schreckgespenst gezeichnet.

Faktisch zeigt sich jedoch, dass alleinlebende Witwen in der Familienwohnung die Hauptverursacher der steigenden Wohnflächen sind. Menschen im Eigentum leben auf größeren Wohnflächen als Mieter, die als "Luxuswohner" diffamiert werden. Das Statistische Bundesamt bietet differenzierte Daten nur für das Jahr 2014 an. Einpersonenhaushalte im selbstgenutzten Wohneigentum hatten mit 97,5 qm über 40 qm mehr zur Verfügung als Mieter (54,7 qm). Wenn überhaupt, dann ist die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen bzw. der Hausbau von Einfamilienhäusern das größte Nachhaltigkeitsproblem, wenn man sich die Sicht der Autoren zu eigen machen möchte.

Wenn die Autoren Virgina WOOLF zitieren, dann bezieht sich das keineswegs auf die Einpersonenhaushalte, sondern der Wunsch nach einem eigenen Zimmer gilt auch für jedes einzelne Familienmitglied. Individualisierung gilt urbanen Kosmopoliten als Megatrend, doch mit den Nationalkonservativen der 1990er Jahre und erst Recht mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist eine Gegenbewegung entstanden, die die Errungenschaften der Emanzipation zurückdrehen möchte. Die Autoren dagegen setzen ihre Hoffnungen auf einen Leitbildwandel bei den Kosmopoliten:

Die Stadt der Zukunft

"Ohnehin scheint ja nach wie vor die Auffassung dominant, dass sich die Individualisierung und Pluralisierung von Wohnbedürfnissen weniger gut im verdichteten innerstädtischen Zusammenhang und in massierter Bauweise realisieren lässt, sondern eher im Bau von Eigenheimen. So stößt man bei dieser Frage sehr schnell auf politische und kulturelle Grundwerte unserer Gesellschaft (...). Virginia Woolf hat ihrem Buch zur Frauenfrage nicht zufällig den Titel gegeben: Ein Zimmer für sich allein. Jeder Versuch, die Trends zu immer kleineren Haushalten und immer größeren Wohnflächen zu stoppen, die Inanspruchnahme von Siedlungsflächen zu bremsen, kämpft daher nicht nur gegen die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, sondern auch gegen die historische Errungenschaft individueller Unabhängigkeit an. (...). Nur wenn es gelingt, ein neues, identitätsstiftendes Bild vom Wohnen in einer breiten Gültigkeit zu formulieren, in dem das Streben nach einem angenehmen Leben mit den Grenzen seiner natürlichen Grundlage versöhnt ist, kann das ökologisch Notwendige auch politisch machbar, mehrheitsfähig werden."
(2019, S.86)

Wenn von der "Pluralisierung der Wohnbedürfnisse" gesprochen wird, dann gehört das Loft-Living als Wohnform der zahlungskräftigen Kosmopoliten dazu:

Die Stadt der Zukunft

"Beim Projekt »Carloft« im Berliner Stadtteil Kreuzberg können Pkws mit einem Lift auf die Ebene der Apartments befördert werden. Jede der elf Wohnungen hat eine Carloggia und eine üppige Wohnfläche von mindestens 224 Quadratmetern. "
(2019, S.203)

Gemäß dem Bundesumweltministerium ist die Wohnfläche von 2011 bis 2018 gerade einmal um 0,6 qm gestiegen (46,7 statt 46,1 qm). Die Zeiten rasanter Steigerungen der Wohnfläche sind also - zumindest derzeit - vorbei!

Das Quartier als alte, neuentdeckte Grundeinheit der Stadtentwicklung

Das Quartier gilt den Autoren als Grundeinheit der Stadtentwicklung. Das hängt mit dem Bedeutungszuwachs von Nachbarschaft zusammen. Bereits die sozialökologische Chicagoer Schule hatte nach dem ersten Weltkrieg große Erwartungen in die Verhaltenssteuerung durch eine "menschengerechte" Bauweise gesetzt. Die damaligen Hoffnungen zeigten sich zwar alsbald als überzogen, doch im Zeichen des Neoliberalismus und dessen Kosteneinsparungsimperativ wird Nachbarschaft unter ökonomischen bzw. Herrschafts- und weniger unter sozialen Gesichtspunkten betrachtet. Quartiersmanagement in sozialen Brennpunkten und gated Communities können als die Pole der verschiedenen Varianten solcher homogener Quartiere betrachtet werden. Mit dem Aufstieg des Investorenstädtebaus werden nun für zahlungskräftige Milieus die entsprechenden Nachbarschaften erschaffen. Oder wie es die Autoren formulieren:   

Die Stadt der Zukunft

"Obgleich - oder gerade weil - das Quartier eine eher informelle Gebietstypisierung ist, die zwar nicht präzise räumlich abgegrenzt werden kann, in der aber ein starker Bezug zur Lebenswelt der Bürger und Bewohner zum Ausdruck kommt, stellt es für die meisten Städte längst die wichtigste Interventionsebene dar. (...). Nicht mehr nur Einzelobjekte oder das eigene Portfolio werden ins unternehmerische Visier genommen, sondern das ganze Quartier, welches eine Art Matrix zwischen den Gebäuden darstellt und manchmal die eigentliche unique selling proposition des Wohnungsangebots ausmacht."
(2019, S.91)

"Die einzige Leitlinie der neuen Quartiersentwickler ist eine optimierte Kapitalverwertung. (...). Es geht den neuen Akteuren jedenfalls nicht um Weltverbesserung, sondern um einen immer höheren Wirkungsgrad für eingesetztes Kapital. (...). Vermarktet wird nicht nur Wohnung oder Haus, sondern ein Lifestyle-adäquates Umfeld, de facto das gesamte Quartier. (...).
Ein (...) Beispiel stellt der (...)
»Marthashof« in Berlin-Mitte dar, der vom Entwickler »Stofanel« unter dem suggestiven Slogan »urban Village« beworben wird. (...): Das Projekt ist (...) ausgerichtet auf eine globale Mittel- bis Oberschicht, die ihre Lebensweise auf Nachhaltigkeit trimmen, eine salutogenetische Orientierung pflegen, dies mit einem hohen Wohnkomfort und mit Urbanität verbinden möchte und dafür das nötige Kleingeld bereitzuhalten in der Lage ist - ein sehr spezifisches neues »Quartier« für eine sehr spezifische Zielgruppe und im Übrigen ein voller Erfolg."
(2019, S.93)

In diesem Zusammenhang werden auch Segregations- und Gentrifizierungstendenzen problematisiert:

Die Stadt der Zukunft

"Segregations- und Gentrifizierungstendenzen werden durch Lifestyle-Quartiersentwicklung wohl eher getriggert als gehemmt (...). Augenscheinlich muss man die Entwicklung unserer Gesellschaft als Prozess fortschreitender Markterweiterung lesen, als äußere und innere »Landnahme« des Marktes gegenüber der sozialen Lebenswelt. (...). Neu ist, dass selbst auf einer vergleichsweise großmaßstäblichen Ebene nun Lebensstile zu einem wichtigen Baustein der Stadtwerdung avancieren: Die Präferenzen zahlungskräftiger Wohnkunden werden subtil ausgeleuchtet und daraufhin homogene urbane Quartiere gebaut und oft genug gegen die restliche Stadt abgeschirmt."
(2019, S.96)

Auf dieser Website wurde bereits im Jahr 2014 die Segregations- und Gentrifizierungsthematik ausführlich geschildert. Die Autoren haben dazu nichts Neues zu berichten. Sie behaupten jedoch, dass der Begriff neuerdings zum Kampfbegriff geworden sei:

Die Stadt der Zukunft

"Es ist bemerkenswert, dass sich das Kunstwort Gentrifizierung im deutschen Sprachraum durchsetzen konnte. (...) Die Veredlung von Quartieren auf Kosten der ärmeren Mieter ist kein neues Phänomen. Neu ist nur die Haltung dazu: Wer Gentrifizierung sagt, ist dagegen."
(2019, S.210)

Wer Gentrifizierung sagt, ist dagegen? Die Gentrifizierungsforschung ist bereits in den 1980er Jahren entstanden und sie beschäftigte sich mit den negativen Auswirkungen der Aufwertung von Stadtvierteln. Heutzutage benutzen sowohl Befürworter als auch Gegner den Begriff! Aus Sicht der Stadtplaner sind Gentrifizierungsproteste natürlich unerwünscht, denn schließlich gehört die Aufwertung von heruntergekommenen Stadtvierteln mit attraktiver Bausubstanz (Gründerzeitaltbauten und ehemalige, zentrumsnahe Industriebrachen) zu den Zielen gegenwärtiger Stadtplanung.

Der urbane Kosmopolit als ambivalente Sozialfigur

Mit Gentrifizierung und Segregation sind zugleich Leitbilder der Stadtplanung im Sinne von Durchmischung angesprochen. Den Autoren gilt ethnische Segregation als weniger problematisch als soziale Segregation, was dem urbanen Kosmopolitismus entspricht, der auch die Sozialwissenschaften dominiert. Mit der AfD ist dagegen ein zunehmend mächtiger werdender politischer Akteur auf den Plan getreten, der ethnische Segregation als "Parallelwelt" problematisiert. Hier deuten sich also neue Konfliktlinien an, die im Buch lediglich am Rande thematisiert wird, z.B. wenn es heißt:

Die Stadt der Zukunft

"Lässt man zu, dass nur noch die Mittelschicht - nicht unbedingt die heterogenste Gruppe von Stadtbewohnern - die Urbanität unserer Städte gestaltet, dann wächst, angesichts zunehmender ökonomischer Unsicherheit und politischer Machtlosigkeit, die Gefahr, dass diese Schicht den traditionellen urbanen Kosmopolitismus durch eine eher eindimensionale und defensive Haltung ersetzt. Und dies könnte leicht zu unterschiedlichen, gar riskanten Formen von Ausgrenzung führen."
(2019, S.171)

Die AfD wird im ganzen Buch kein einziges Mal erwähnt, sondern deren Erfolge lassen sich nur zwischen den Zeilen lesen. Schließlich wurden die großen Erfolge der Partei erst nach Drucklegung des Buches auch für die letzten Ignoranten sichtbar, wenngleich die Gefahr von urbanen Kosmopoliten immer noch unterschätzt wird. In der AfD spiegeln sich drei Strömungen: neoliberale, nationalkonservative und rechte. Der Nationalkonservatismus als Einfallstor in den Mainstream wird weiterhin negiert, was wohl daran liegt, dass Neoliberalismus und Nationalkonservatismus keine wirklichen Gegensätze darstellen (siehe z.B. den populären Ökonomen Hans-Werner SINN). Das Potenzial der AfD wird deshalb stark unterschätzt. Der Versuch die AfD auf die rechte Strömungen zu reduzieren, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Das wird spätestens 2021 bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg sichtbar werden.

Aber auch die Kosmopoliten betrachten die Autoren nicht unbedingt nur mit Wohlwollen:

Die Stadt der Zukunft

"(D)ass Widersprüche das Leben prägen, es sich viele Menschen aber nicht eingestehen wollen (...). Menschen also, die mit einem Bein bourgeoise sind, Stadtbewohner mit partikularen Interessen, mit dem anderen citoyen, Bürger der Stadt, am Gemeinwohl interessiert. Die globalisierte Stadt bringt einen neuen Typus dieses citoyen hervor, der zugleich sein Geschöpf und Widerpart ist."
(2019, S.221)

Die Ambivalenz der urbanen Kosmopoliten als Sozialfigur hat bislang die Soziologin Cornelia KOPPETSCH am prägnantesten beschrieben. Deren Bestseller Die Gesellschaft des Zorns aus dem Jahr 2019 wurde zwar inzwischen wegen Plagiaten aus dem Programm genommen und die Autorin geriet u.a. auch aufgrund ihrer Kritik am Kosmopolitismus in die Schusslinie (vgl. "In zorniger Gesellschaft", Spiegel v. 07.12.2019). Nichtsdestotrotz hat KOPPETSCH auch in früheren Abhandlungen bislang die beste Beschreibung des urbanen Kosmopolitismus mit seinen speziellen Ausgrenzungstechniken geliefert. Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass damit das Segment der oberen Mittelschicht gemeint ist, das von gutsituierten AkademikerInnen geprägt ist. In diesem Sinne wird auch vom progressiven Neoliberalismus gesprochen.

Der urbane Kosmopolitismus ist jedoch auch in anderen Milieus, die weniger zahlungskräftig bzw. ressourcenstark sind, beheimatet. Eine Kritik allzu schlichter Gleichsetzungen findet sich z.B. im Aufsatz Wer ist schuld am Rechtspopulismus? von Silke van Dyk & Stefanie GRAEFE im Heft 4/2019 der Zeitschrift Leviathan. Antifaschistische Medien (vgl. Tom UHLIG, "Deutschland steht Koppetsch", Jungle World v. 21.11.2019) werfen KOPPETSCH gar eine Kooperation mit der AfD vor. Dies zeigt, dass es in Deutschland mittlerweile zu einer extrem polarisierenden Lagerbildung gekommen ist, bei der kritische, differenzierte Auseinandersetzungen mit kosmopolitischen Milieus unter die Räder kommen könnten.

Die Verkehrswende als Luftschloss

Die Verkehrswende ist derzeit in aller Munde. Bei KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI bildet Jan GEHL den romantisch-idealistischen Pol ab:

Die Stadt der Zukunft

"Jan Gehl (...) ist wohl einer der aktuell einflussreichsten Stadtplaner weltweit geworden, weil er nur eine einfache Frage stellt: Wie wollen wir eigentlich leben? Doch da sie eher rhetorischer Natur ist, (...) drückt (er potentiellen Auftraggebern) Vorschläge in die Hand (...): Einschränkung des Autoverkehrs, verbesserte Anreize zum Fahrradfahren, Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und eine bessere Gestaltung des öffentlichen Raumes, der am Bewegungsspielraum der Menschen orientiert ist. Und keine Verkehrsinfrastrukturen, die allein fahrdynamischen Regeln folgen.
(...).
Die dänische Kapitale gilt heute als Blaupause für den fundamentalen Wandel von der autogerechten Stadt der Nachkriegszeit zu einer fußgänger- und radfahrerfreundlichen Metropole des 21. Jahrhunderts.
(...).
Man geht wohl kaum zu weit, wenn man sagt, dass Jan Gehl seine Planungsideale mit Jane Jacobs und Ralph Erskine teilt: Entschleunigung, Klein-Maßstäblichkeit und viel Stadtgrün. Und das Fernziel: die großen Metropolen in kleine, übersichtliche Nachbarschaften auflösen.
(...).
Als Leitsatz für die Stadtplanung verweist Gehl auf die Formel »8/80«: Eine Stadt sollte so gebaut sein, dass sich darin Achtjährige und über 80-Jährige ebenso sicher wie der Rest der Bevölkerung bewegen können."
(2019, S.36ff.)

Kinder und Alte als Maßstab für eine Verkehrswende? Davon ist - selbst im Zeichen der Klimadebatte - und im Buch an anderen Stellen kaum etwas zu spüren. Ausgerichtet ist die städtische Mobilität dagegen auf den Berufspendler, der mit dem Auto unterwegs ist. Daran ändern E-Autos genauso wenig wie Flugtaxis, selbstfahrende Autos oder Car-Sharing-Projekte. Die autogerechte Stadt, die von den Autoren rhetorisch für obsolet erklärt wird, ist lebendiger als das Buch behauptet.

Der öffentliche Nahverkehr (ÖPNV) in Form der Erweiterung von U-Bahn-, Straßenbahn- und S-Bahnnetzen ist den Autoren zufolge unbezahlbar. Entsprechend werden über 80-Jährige und Kinder lediglich als Fußgänger im Mobilitätsangebot gedacht, aber nicht als Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs. Diese Sicht steht im Gegensatz zu gegenwärtigen betriebswirtschaftlichen (!) Lehrbüchern zum ÖPNV, der dort für Menschen gedacht ist, die sich ein Auto noch nicht bzw. nicht mehr leisten können (vgl. Monique DORSCH, "Öffentlicher Personennahverkehr", 2019). Die autogerechte Stadt ist also mehr als lebendig. Volkswirtschaftliche Analysen sind auf diesem Gebiet eine Fehlanzeige. In der Süddeutschen Zeitung berichtet Markus BALZER über die Folgen der Bahnprivatisierung:

Komm zurück

"Zahlen der Bundesregierung und der Bahn machen das ganze Ausmaß der Streckenstilllegungen seit der Bahnreform vor 25 Jahren klar. Mehr als 5.400 Kilometer ihres Streckennetzes fielen weg. Damit hat der Konzern etwa 16 Prozent seines gesamten Netzes aufgegeben.
Proteste gegen den Rückzug der Bahn aus der Fläche und die Konzentration auf die gewinnträchtigen Hauptstrecken gibt es schon lange. Doch erst der Klimawandel und das immer teurere Wohnen in den Städten forcieren nun ein Umdenken.
(...).
Die Bahn jedenfalls legt gerade den Schalter um. Bis auf Weiteres habe der Vorstand alle geplanten Stilllegungen von Strecken gestoppt, die sich wirtschaftlich nicht rechneten, heißt es aus dem Konzern. (...). Der Verband der Verkehrsunternehmen und der Verband Allianz pro Schiene haben dem Konzern schon mal Vorschläge gemacht und eine Liste möglicher Projekte (...) erstellt. Gesamtlänge der möglichen Reaktivierungen: etwa 3.000 Kilometer."
(Süddeutsche Zeitung 04.01.2020)

Diese Reduzierung der Problematik auf Streckenstilllegungen ist geradezu schmeichelhaft für die Akteure, denn es fehlen die nicht gebauten S-Bahn-Strecken, die kostspieligen Großprojekten wie z.B. Stuttgart 21 zum Opfer fielen. Beispielhaft steht dafür die fallengelassene Planung für eine S-Bahnstrecke Heidelberg - Plankstadt - Schwetzingen. Stattdessen wurde eine Straßenbahntrasse ins Auge gefasst, deren Realisierbarkeit von vorneherein Makulatur war. Hier zeigt sich, dass selbst in Metropolregionen sinnvolle Erweiterungen von Streckennetzen unterblieben sind. Von abgehängten Regionen ganz zu schweigen!

Fazit: Stadtentwicklungsplanung ist gerade im Verkehrsbereich zu engräumig gedacht. Eine Stadtentwicklung, die nicht in ein sinnvolles Regionalentwicklungskonzept eingebettet ist, ist unzulänglich. Dieses Problem bleibt bei den Autoren gänzlich ausgeblendet. Die "Schwarmstadt" Heidelberg ist zwischen 1990 (136.796) bis 2017 (160.601) um ca. 24.000 Einwohner gewachsen. Die Großstadt Mannheim ist im Zeitraum 1990 (310.411) bis 2017 (307.997) um fast 3.000 Einwohner geschrumpft. Diesen Entwicklungen wird jedoch der Verkehrsbereich in keiner Weise gerecht. Den Autoren zufolge müssten wachsende Städte im Gegensatz zu schrumpfenden Städten im Vorteil sein. Das jedoch ist nicht der Fall. Mannheim ist im ÖPNV bedeutend besser angebunden als Heidelberg, im Fernverkehr erst recht. Die Autoren machen es sich mit ihrer Gegenüberstellung von wachsenden und schrumpfenden Städten also zu einfach. Klamme Kassen sind kein hinreichendes Argument, um die Probleme von Städten in Deutschland zu erklären. Und fehlendes Bürgerengagement, das die Autoren gerne beklagen, kann die Unterschiede ebenfalls nicht erklären. Christian RADEMACHER hat z.B. in seinem Buch Deutsche Kommunen im demografischen Wandel auf Defizite der schlichten Sichtweisen auf die kommunale Vielfalt und ihre Ursachen hingewiesen. Es sind also multifaktorelle Analysen für die differentielle Situation von Städten erforderlich. Diese aber bleiben die Autoren schuldig. Vielmehr werden sie durch gängige Schlagworte ersetzt, deren Selbstverständlichkeiten durch jahrzehntelanges Mantra in den Mainstreammedien in den Köpfen verankert sind. Das aber verstellt den Blick auf die Realität. Typisch für diese Verschlagwortung ist folgende Passage:

Die Stadt der Zukunft

"Der Wandel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (als Stichworte mögen genügen: fortschreitende Alterung, kleinere Haushaltsgrößen, Veränderung der Arbeitswelt, zunehmende Mobilität, steigender Kostendruck, Individualisierung und Globalisierung, verschärfte Zweiteilung der Gesellschaft usw.) erzwingt ein Umdenken."
(2019, S.88)

Hinter jedem der genannten Begriffe stehen komplexe Sachverhalte, deren Auswirkungen keineswegs so klar erscheinen, wie dies von den Autoren suggeriert wird. Es ist die typische Sachzwang-Rhetorik des als alternativlos gedachten Neoliberalismus, die hier mitschwingt - aller Bürgerbeteiligungsrhetorik zum Trotz.

Der Immobilienmarkt als lukratives Geschäft internationaler Akteure

KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI beschreiben den Wandel des Immobilienmarktes durch neue Akteure folgendermaßen:

Die Stadt der Zukunft

"Während Immobilien naturgemäß standortgebunden sind, erweist sich das in Immobilien investierte Kapital als immer flexibler, mithin sogar flüchtiger. Durch die steigende geographische Ausdehnung der ökonomischen Verflechtungen werden die territorialen Immobilienmärkte aufgebrochen und von rein marktlichen Interessen invadiert. Private Gesellschaften haben seit der Jahrtausendwende in Deutschland 2.780.000 Wohnungen erworben und 1.990.000 verkauft. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Dynamik vielfach dadurch ausgelöst wurde, dass Bund, Länder und Kommunen ihre Bestände abgestoßen haben. (...).
(D)ie Handlungslogiken (...) dieser neuen Spieler am Immobilienmarkt (sind) oft extrem problematisch (...), da nur die gewinnträchtigen Differenzen zwischen Kaufpreis und unternehmensinternen Prognosen über die jeweilige regionale Immobilienpreisentwicklung interessieren. Dieses Finanzierungsmonopoly verschafft Banken, Versicherungen und anderen Geldgebern große Immobilienportfolios, da die Immobilie selbst eben die Kreditabsicherung schlechthin darstellt. Aus Stadtentwicklungssicht wird hier der Bock zum Gärtner (...). Anders ausgedrückt: In letzter Zeit ist die Zahl, vor allem aber die Bedeutung von Immobilieneigentürmern deutlich gestiegen, die für konkrete Stadtentwicklung, für kollektive Aufwertungsbemühungen in keiner Weise zugänglich sind. So werden Immobilien zum Teil (...) allein auf eine mathematische Renditeformel reduziert. (...).
Indes, statt eine gesellschaftspolitische Strategie des Umgangs damit zu entwickeln und durchzusetzen, resultiert daraus eher ein bemerkenswertes Wechselspiel: Auf der einen Seite suchen Anleger und Developer nach neuen, renditestarken Investitionszielen; auf der anderen Seite scheuen Städte und Regionen im internationalen Standortwettbewerb keinen Aufwand, um Investoren anzulocken."
(2019, S.274f.)

Die Autoren kritisieren den renditegetriebenen Immobilienmarkt, der auf Stadtentwicklungspläne keine Rücksicht nimmt:

Die Stadt der Zukunft

"Ziel der privaten Wirtschaft sind hocheffiziente Gebäude, die hohe Mieten erwirtschaften und in immer kürzeren Zeiträumen umgeschlagen werden können. Es kommt nicht von ungefähr, dass bei den meisten Bauherrn die Mentalität eines Bankers aufscheint, der nur die Finanzierung sieht, alle Risiken ausschalten will und idealtypisch unter Baukultur lediglich die Einheit von Baugenehmigung, Festpreis, Abnahme und Vollvermietung versteht.
All diese Aspekte machen vor allem eines deutlich: Längst befindet sich unser Kulturkreis im Übergang von einer politisch motivierten, nichtmonetären Stadtentwicklung hin zu einer privaten, an Gewinn und Rendite orientierten Steuerung. Das kann Chancen bieten: Wenn internationale Investoren (...) die baulichen Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Branchen schaffen, und wenn damit positive Beschäftigungseffekte ausgelöst werden. Unübersehbar gibt es indes auch die Kehrseite: nämlich eine weitaus stärkere Abhängigkeit von mobilem, stets abziehbarem Kapital."
(2019, S.278)

Die dahinter stehenden Ursachen werden jedoch genauso verschwiegen wie die Mitwirkung insbesondere der kosmopolitischen oberen Mittelschicht an diesem Renditenspiel. Die weltweit vorangetriebene Privatisierung der Rentensysteme ist mitverantwortlich für den Aufschwung eines renditegetriebenen Immobilienmarktes. Der Zwang zum Renditedenken wird mit der Privatisierung des Rentensystems und der privaten Altersvorsorge institutionell in den Köpfen immer breiteren Bevölkerungsschichten verankert. Hier zeigt sich also, dass Ausführungen ohne den entsprechenden Kontext blutleer bleiben.

Bürger als Störfaktoren und als Schmiermittel der Stadtentwicklung

Der Bürger ist - wie weiter oben bereits herausgestrichen - eine ambivalente Sozialfigur. Er gilt als Störfaktor, wenn er unnötige Kosten verursacht (Beispiel: Melde-Einrichtungen) oder partikulare Interessen verfolgt. Zugleich ist er kostensparender Sensor oder Ersatzpersonal, das die Lücken füllt, die der Neoliberalismus gerissen hat:

Die Stadt der Zukunft

"Unterhalt- und Pflegeproblematik (stellen sich) aus kommunaler Sicht heute weitaus schärfer denn je: Angesichts der städtischen Personalengpässe und Haushaltsnöte werden zum einen selbst solche Flächen nicht in öffentliche Obhut übernommen, die beispielsweise im Rahmen städtebaulicher Projekte von beteiligten Investoren angeboten werden (...). Zum anderen darben viele öffentlich gewidmeten Flächen."
(2019, S.140)

Da kommt die ältere Dame gerade wie gerufen:

Die Stadt der Zukunft

"Die einzelnen Gebäude, ihr Produktionsprozess ebenso wie ihr Zusammenspiel sind auch künftig Indikatoren für den Lebenswert eines Ortes. Dieser wird in dreifacher Weise wahrgenommen: funktional im alltäglichen Gebrauch (als Gebrauchswert), ökonomisch über die Nachfrage als Wohn- und Arbeitsort (als Tauschwert) und emotional über das Erscheinungsbild und die Atmosphäre des Ortes (als Inszenierungswert). Es ist nicht zu vermuten, dass sich das verliert.
Zumal sich das Bedürfnis nach Identifikation und Bewahrung auch in unspektakulären Alltagssituationen artikuliert - etwa jener älteren Dame, die die Baumscheibe vor ihrem Mietshaus wöchentlich zweimal wässert. Solche Identifikationen eröffnen die Chance, unser Städte (...) zu revitalisieren."
(2019, S.250)

Nachdem die Auslagerung von städtischen Arbeiten in den Niedriglohnsektor inzwischen Empörung und Gesetzgeber hervorruft, ist eine andere Auslagerung auf die Schultern der engagierten Bewohner im Gange, denn das Hauptproblem unserer Städte ist aus Sicht der Autoren die klamme Kasse, die zur Suche nach neuen Einnahmequellen zwingt:

Die Stadt der Zukunft

"Klar ist, dass bauliche Qualität ihren Preis hat, und dieser muss über rentable Nutzungen bezahlt werden. Insofern muss die Suche nach neuen Formen der Urbanität (...) auch die Suche nach einer neuen Ökonomie der Urbanität sein."
(2019, S.200)

Mit dem Bürger steht und fällt die Stadt. Aufgabe der Stadt ist es dann nur, den Bürger in seinem Engagement nicht zu entmutigen:

Die Stadt der Zukunft

"Stadtmachen ist (...) aufs Engste mit Macht und Raffinesse derjenigen verbunden, die Stadt nicht nur als Kulisse ihres Alltagsverstehen, sondern sich im urbanen Umfeld wirtschaftlich und gesellschaftlich verwirklichen. (...). Aufgabe der Planung ist und bleibt es, diese Interessen und Akteure zumindest im Ansatz zu sortieren. Die Stadt erhält ihre Glanzpunkte durch die proaktive Tat, die neue Idee, das verwegene Projekt. Die Stadt der Passiven hingegen droht im Dornröschenschlaf zu versinken (...). Dieses Verwelken kennt unterschiedliche Stadien und Formen. Ökonomische Einbrüche, Einwohnerrückgang oder klamme Stadtkassen sind oft genug die Symptome, die dazu führen, dass die Stadtmacher ermüden oder den Ort verlassen. Erst lange Zeit später, wenn (...) der Niedergang selbst (...) Verlockendes ausstrahlt, werden neue oder auch altbekannte Stadtmacher aktiv. (...). Unabdingbar bleibt, dass die öffentliche Seite der Stadt - insbesondere Stadtrat und Stadtverwaltung - sich ihrer Verantwortung nicht entzieht."
(2019, S.253)

Das Unheil fällt quasi von außen über die Städte herein und führt dort zu ökonomischen Einbrüchen, Einwohnerrückgang oder klamme Stadtkassen. Das klassische Bild der Abwärtsspirale, wird jedoch relativiert, indem der Stadt wie der Phönix aus der Asche neues Leben eingehaucht wird. Solche Mechanismen werden immer wieder ins Spiel gebracht, ohne dass deren Komplexität zur Sprache kommt, sondern es besteht immer wieder die Gefahr, dass die Autoren ins romantisch-Idealistische abgleiten, statt über die Zusammenhänge aufzuklären.

Auch wenn es um neue Formen der Stadtentwicklung geht, sollen die Interessen der Bürger kanalisiert werden:

Die Stadt der Zukunft

"Das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung wird auf der städtischen Bühne gerade neu austariert. Dazu gehört auch die These, dass die temporäre Nutzung das Gegenteil eines Masterplans sei (...). Darin artikuliert sich ein alternatives Stadtplanungsverständnis: Statt die Entwicklung der Verwaltung und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen die Zwischennutzer ein Aneignen der Stadt zu erproben. Eine Do-it-yourself-Mentalität tritt an die Stelle des bloßen Konsums von Stadtraum.
(...).
Will (die Planung)(...) ihre Rolle als steuernde Instanz zurückerlangen, muss die Improvisation - die im Kleinen durchaus Sinn macht - durch ein stabiles Konstrukt gestützt und in eine ganzheitliche Strategie eingebettet werden. Dabei kommt insbesondere der Frage, wie bisher vielleicht zu wenig beachtete soziale und situative Qualitäten freigesetzt und für eine nachhaltige Konzeption der Stadt fruchtbar gemacht werden können, eine entscheidende Bedeutung zu."
(2019, S.258f.)

Fazit: Der Bürger hat Rendite für die Stadt abzuwerfen. Die Interessen der Armen und derjenigen, die auf der Straße leben haben im Ökonomismus keinen Platz, sondern nur im romantisch-idealistischen Ideal der Stadtplanung.  

Alleinstellungsmerkmale, Events und Shoppingkultur als städtische Statussymbole im globalen Wettbewerb

KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI beschreiben die Bausteine, mit denen Städte ihre Konkurrenzfähigkeit im Wettbewerbsstaat herzustellen versuchen. Dazu gehören ikonographische Gebäude:

Die Stadt der Zukunft

"Ökonomische Markenbildung und Architektur haben in den letzten 20 Jahren eine Beziehung entwickelt, in der sie sich gegenseitig, doch recht ausschließlich, befruchten. (...). Längst sprichwörtlich geworden ist der Bilbao-Effekt, womit die gezielte Aufwertung von Orten durch iconic buildings bezeichnet wird. Städte wie Shanghai und Oslo, Seattle und Hamburg haben in den letzten Jahren die Architektur erfolgreich als Bestandteil einer umfassenderen Stadtmarketingstrategie eingesetzt. Und die vielzitierte Festivalisierung der Stadtentwicklung, die vornehmlich auf Großereignisse fokussiert und Manpower, Fach- und Entscheidungskompetenz sowie finanzielle Ressourcen in der Hoffnung bündelt, weithin sichtbare Erfolge zu erzielen, schwebt permanent in der Gefahr, zu Lasten eines breiter angelegten Urbanismus zu gehen."
(2019, S.277) 

Online-Handel, Filialisierung und Shopping-Malls führen vielerorts zur Verödung und zum Niedergang der traditionellen Einkaufsstraßen in Städten. Beispielhaft wird Schwerin beschrieben:

Die Stadt der Zukunft

"Was passiert mit den angestammten Einkaufsstraßen, mit den Haupt- und Nebenanlagen im historischen Stadtgrundriss, aus deren Prosperität sich auch die Erhaltung und Pflege der dort befindlichen Baudenkmale ergibt? Die Nebenlagen (...) brechen zuerst weg, es kann auch Hauptlagen treffen, wie am Beispiel der Stadt Schwerin zu beobachten ist, deren ehemalige zentrale Einkaufsstraße, die Mecklenburgstraße, seit der Einrichtung des neuen Centers verödet."
(2019, S.183) 

Die Autoren plädieren für Angebotsvielfalt, auch wenn sie mit der propagierten, romantisch-idealistischen Verkehrswende im Widerspruch steht:

Die Stadt der Zukunft

"Das Nebeneinander vom »Bäcker um die Ecke« und dem real-Markt am Stadtrand sollte nicht als Konkurrenz, sondern als Angebotsvielfalt begriffen (...) werden. (...). Erst durch die bewusste Kultivierung der vielfältigen Angebote des Einkaufens wie auch der unterschiedlichen städtischen Atmosphären können Städtebau und Einzelhandel der polyzentrischen Entwicklung der Stadt(region) gerecht werden."
(2019, S.185)

Der autogerechten Stadt wird immer wieder das Wort geredet, schließlich gilt: Es muss sich rentieren! Das stößt sich dann bisweilen mit den Stadtplanungsgrundsätzen. So wird Mobilität folgendermaßen definiert:

Die Stadt der Zukunft

"Mobilität umfasst im Wortsinne die Beweglichkeit und wird als die Möglichkeit des Einzelnen definiert, Aktivitäten raumübergreifend wahrnehmen zu können. Sie hat demnach (...) etwas mit (...) Aktivitäten wie Arbeiten, Einkaufen, Freizeitgestaltung und Wahlmöglichkeiten zu tun."
(2019, S.101)

Wenn Einkaufsstätten nur mit dem Auto erreichbar sind, dann hat das nichts mit Wahlmöglichkeiten zu tun, sondern mit dem Gegenteil! Beispielhaft für solche autogerechte Einkaufsstätten ist z.B. IKEA in Bielefeld. Die Großstadt wird übrigens gepriesen für ihre Nachhaltigkeit und vermarktet sich als "global nachhaltige Kommune"! So viel Tristesse in diesem Sondergebiet erträgt kein Fußgänger, Fahrradfahrer oder Nutzer des ÖPNV.

IKEA in Bielefeld, Foto: Bernd Kittlaus 2019

Wer in Google z.B. nach der Route vom Hauptbahnhof zum Möbelhaus sucht und öffentliche Verkehrsmittel wählt, dem wird mitgeteilt, dass die Route nicht berechnet werden kann. Wen wundert das?

Die Autoren erzählen uns, dass Einkaufen obsolet ist und Shopping an dessen Stelle getreten ist. Gemeint sind hier nicht die Städte, sondern nur die Altstädte, die von den  Einheimischen eher gemieden werden - außer es kommt Besuch oder man verreist als Tourist. Wir wollen Erlebnisse konsumieren statt shoppen heißt es:

Die Stadt der Zukunft

"Die alten Stadtzentren werden nicht mehr allein wie bisher über ihr Warenangebot Attraktivität entwickeln können, sondern müssen dies über ihre Aufenthalts-, Kommunikations- und Erlebnisqualität tun. Sie brauchen also ein Stück weit die Inszenierung. Zugleich wird man akzeptieren müssen, dass die in den letzten Jahren und Jahrzehnten entstandenen Handelsstandorte an den Ausfallstraßen und an der Peripherie schon durch ihre Frequentierung zu selbstverständlichen Orten (...) geworden sind. (...). Wenn die Modernisierungsschübe des Handels und das Einkaufsverhalten der Menschen die alte am Handel klebende Vitalität der Innenstädte auszuhöhlen drohen, dann umfasst die Aufgabe für Städte und Gemeinden zweierlei: Erstens, das Shopping für die Stadt - so weit es geht - zu »kultivieren«! Und zweitens, sich vom Gängelband von Konsum und Handel zu emanzipieren!"
(2019, S.190)

Dieser Zwang zur Aufrüstung der Städte ist jedoch folgenreich, meinen die Autoren:

Die Stadt der Zukunft

"Gerade weil die städtische Identitätspolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen einer verschärften kommunalen Konkurrenz um Wachstum an Wirtschaftskraft und Einwohnern unterliegt, schwebt sie in Gefahr, sich nur an ausgesuchten innerstädtischen Orten stadtgestalterisch zu engagieren. Ebenso unübersehbar wie bedenklich ist heute der Trend, dass manche Kommunen allein die Bereichr entwickeln, die sich imagekompatibel vermarkten lassen, während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig Interesse besteht."
(2019, S.247)

Das dürfte so wohl kaum stimmen, denn so mancher Problemstadtteil erfährt in den Medien eine symbolische Gentrifizierung, die der eigentlichen Gentrifizierung vorauseilt. Städte inszenieren geradezu ihre Interventionen in Problemstadtteilen. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich jedoch selten auf Problemstadtteile mit unbeliebter Bausubstanz, sondern auf solche soziale Brennpunkte, die sich aufgrund ihrer Bausubstanz ideal für Aufwertungen eignen. Solche soziale Brennpunkte heißen deshalb inzwischen auch "Stadtteil mit Entwicklungspotenzial". So manch verruchter Stadtteil wie z.B. der Mannheimer Jungbusch (vgl. Spiegel v. 29.05.1995) wird dann als Szeneviertel gefeiert. Zwölf Jahre später schreibt der Spiegel nicht mehr über Mafia-Morde, sondern über die beginnende Gentrifizierung im Jungbusch:

New Yorks Zwilling am Rhein

"Die Popakademie ist einzigartig in Deutschland und bietet auf drei Jahre angelegte Studiengänge in Musikbusiness und Popmusikdesign. Das benachbarte Existenzgründerzentrum für die Musikbranche ist ebenfalls ein voller Erfolg. Beide Einrichtungen befinden sich im Stadtteil Jungbusch. Das Quartier an der Schnittstelle von Innenstadt und Hafen war einst ein Nobelviertel von Reedern und Kapitänen. Später wurde es zum sozialen Brennpunkt mit brachliegenden Industrie- und Wohnbauten. Seit einigen Jahren ist der Jungbusch jedoch ein Stadtteil im Umbruch. Viele Bauten sind renoviert worden. In ihnen entstanden Lofts, Ateliers und Gewerbeflächen sowie erste Szenekneipen."
(Detlef Berg, Spiegel Online v. 15.01.2007)

Mannheimer Jungbusch, Foto: Bernd Kittlaus 2019

Die Singles werden als Pioniere dieser neuen Erlebnisgesellschaft beschrieben:

Die Stadt der Zukunft

"Dass es gerade in den Städten ein starkes Bedürfnis nach einem ritualisierten Spektakel gibt, darauf hat der Situationist Guy Debord in seinem Buch Die Gesellschaft des Spektakels bereits 1967 hingewiesen. Daraus hat sich nun eine Theorie entwickelt, der zufolge insbesondere die Singles auf der Suche nach inneren und äußeren Erlebnissen die traditionelle Sesshaftigkeit und die sozial- und realräumliche Bindung an den Wohnort abgestreift hätten. Wie spätmoderne Stadtnomaden würden sie die Stadt als Kulisse ihrer eigenen Darstellung und als Bühne ihrer Selbstinszenierung benutzen. Ihr Wohnraumbedarf würde dabei die stadtspezifische Teilung der Lebenswelten in öffentliche und private Sphären sprengen: Singles beschlagnahmten den Stadtraum und machten ihn zu ihrem Wohnzimmer, zum Repräsentations-, Spiel- und bei Bedarf auch zum vernetzten Arbeitsraum."
(2019, S.196f.)

Natürlich sehen die Autoren das kritisch. Würde man für Singles den Begriff "Migrant" einsetzen, dann würden diese Passagen einen völlig anderen Tenor erhalten. Man würde sich dann an die Kölner Sylvesternacht erinnern und daran, dass in anderen Kulturen die nomadische Lebensweise Tradition hat. Es zeigt sich also hier, dass historische Bezüge durchaus ganz andere Assoziationen wecken können. Es ist ja auch kein Zufall, dass die Autoren das südländische Flair von italienischen Piazzas beschreiben. Wenngleich sie dabei nicht ans touristische Treiben, sondern an den Verfall der Öffentlichkeit denken. Richard SENNETT ist einer der Säulenheiligen dieser Sicht.

Fazit: Die Stadt der Zukunft im Zangengriff von Standortkonkurrenz, Effizienzdenken und Nachhaltigkeit

Die Autoren präsentieren uns die Transformation der Infrastrukturen als eine Herkulesaufgabe:

Die Stadt der Zukunft

"(E)s geht um die ganz große Transformation der stadttechnischen Systeme - eine Aufgabe wie gemacht für einen Herakles der Postmoderne. Denn es gilt zum einen die Augiasställe des urbanen Industriezeitalters auszumisten: Erstens Energiewende und Verkehrswende mit infrastrukturellen Implikationen wie zum Beispiel smart grids, Elektromobilität im Verein mit einer neuen Multimodalität des Mobilitätsangebotes. Zweitens Modernisierung, Effizienzsteigerung im Bereich der übrigen Ver- und Entsorgungssysteme. Drittens, Schaffung hochleistungsfähiger Grundlagen für die digitale Transformation unserer Städte. All das wohlgemerkt für gut 12.000 Städte und Gemeinden in Deutschland, die nach dem im Grundgesetz normierten Prinzip gleichwertiger Lebensbedingungen cum grano salis in vergleichbarer Weise infrastrukturell auszustatten sind."
(2019, S.68)

Die Entdeckung der Infrastruktur als politischer Zentralbegriff datiert auf das Jahr 2017. Im April widmete die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte dem Begriff erstmals ein ganzes Themenheft der Infrastruktur. Während der Begriff im Rahmen der Debatten um den demografischen Wandel nur als Kostenproblem thematisiert wurde (vgl. die Themenhefte Kommunalpolitik, Städtepolitik, Städtepolitik und Kommunen im Wandel), so hat der Begriff mit der Gründung und dem Erfolg der AfD eine neue Bedeutung erlangt: er soll sozusagen die Demokratie retten. Der Begriff erfährt damit eine hohe emotionale Aufladung.

KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI knüpfen an diese emotionale Aufladung des neuen politischen Zentralbegriffs an, akzentuieren jedoch die gerade gehypten Megatrends. Wenn man bedenkt wie schnell das Megathema demografischer Wandel vom Megathema Klimaschutz in den Hintergrund gedrängt wurde, dann zeigt sich, dass Themenkonjunkturen unterschätzen, dass Zukunft keine lineare Fortsetzung der Gegenwart ist. Transformationen könnten schnell ihr Ziel abhanden kommen, während ungeahnte Probleme auf der Bildfläche andere Prioritäten erfordern. Der Planer weiß, dass Planungen selten genauso umgesetzt werden, wie sie geplant worden sind.

Die Ausführungen der Autoren zur Stadt der Zukunft wechseln zwischen romantisch-idealistischen Idealen und der Realität neoliberaler Denkmuster. Wie hier gezeigt wurde, besteht deshalb eine große Kluft zwischen Anspruch und Realität der Stadtentwicklung. Die Zukunft wird uns zeigen, was in 10, 20 oder gar 30 Jahren übrig bleiben wird von den im Buch gehegten Hoffnungen und Befürchtungen zur Stadtentwicklung.

Eines scheint jedoch gewiss: Wenn Standortkonkurrenz, Effizienzdenken und Nachhaltigkeit Stadtentwicklungsprojekte dominieren, dann wird es keine echte Verkehrswende geben und der Öffentliche Personennahverkehr wird weiterhin ein Stiefkind der Mobilitätsvielfalt bleiben. Wenn zudem Stadtentwicklung - wie im Buch - als städtisches Einzelkämpferprojekt gedacht wird, dann bleibt die Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen auf der Strecke. Städte und Gemeinden benötigen neue politische Konzepte auf regionaler, Landes- und Bundesebene jenseits der Leuchtturmrhetorik neoliberaler Provenienz. Dies aber ist die entscheidende Leerstelle bei den Autoren. Die Forderung nach einem starken Staat bleibt dann nur eine Beschwörungsformel ohne Substanz.   

 
     
 
       
   

weiterführender Link

 
       
   

Übersicht - Themen des Monats

 
       
   
 
   

Bitte beachten Sie:
single-generation.de ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten

 
   
 
     
   
 
   
© 2002 - 2020
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 29. Januar 2020
Update: 29. Januar 2020