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Forschungsüberblick

 
       
   

Neues aus der Forschung zu  Kinderlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Techno, doing Gender u. a.
in: BIOS - Zeitschrift für Biografieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1, 2009, Opladen & Farmington Hills: Barbara  Budrich Verlag

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift BIOS (Heft 1 des Jahrgangs 2009) werden relevante gesellschaftliche Themen wie Kinderlosigkeit, Arbeitslosigkeit, doing Gender u. a. behandelt. Dabei steht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Vordergrund. Die Beiträge zeigen, dass es notwendig ist, nicht nur die quantitativen Aspekte von Phänomenen zu betrachten, sondern erst die Berücksichtigung der subjektiven Motive und  Einstellungen der handelnden Personen ermöglichen sinnvolle Politikansätze.    

Mandy Boehnke - Gut gebildet = kinderlos?

In der politischen Debatte der vergangenen 10 Jahre stand lange Zeit die hohe Kinderlosigkeit der westdeutschen Akademikerinnen und ihre strukturellen Ursachen im Vordergrund. Eine tiefer gehende wissenschaftliche Erforschung der Kinderlosigkeit in Deutschland setzte erst nach dem Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2001 ein . Erst im letzten Jahr wurden erste Ergebnisse der Mikrozensuserhebung "Geburten in Deutschland" veröffentlicht. Damit werden nun die erheblichen statistischen Defizite des Mikrozensus sichtbar, die auf dieser Website seit Anfang des Jahrtausends kritisiert wurden . Im Beitrag von Mandy BOEHNKE werden diese neuen Zahlen noch nicht genannt, aber immerhin wird auf die diesbezüglichen Probleme hingewiesen und durch die Bezugnahme auf die Forschungen von Michaela KREYENFELD (Ein Leben ohne Kinder ) wird ein annähernd realistisches Bild von der Kinderlosigkeit in Deutschland gezeichnet.

Das Problem wird in der nachfolgenden Tabelle deutlich, in der die Ergebnisse des Mikrozensus 2000 und des Mikrozensus 2008 gegenübergestellt sind. Bei der Erhebung im Jahr 2000 wurde nur nach den Kindern im Haushalt gefragt, sodass Kinder, die den Haushalt bereits verlassen hatten oder gestorben waren, nicht erfasst wurden. Dagegen wurden auch Kinder erfasst, die ein Partner in den Haushalt mitgebracht hatte bzw. adoptiert wurden. 2008 wurde dagegen erstmals nach der Anzahl der Geburten gefragt. Welch gravierende Unterschiede sich aus dem unterschiedlichen Kinderlosenkonzept ergeben, zeigen anschaulich die Ergebnisse der Frauenjahrgänge 1955 und 1970. Bei ersterem verzerren hauptsächlich Kinder, die den Haushalt verlassen haben, die Ergebnisse, während im letzteren Fall die noch nicht geborenen Kinder zu falschen Schlüssen führen.

Tabelle: Kinderlosigkeit von Frauen in West- und Ostdeutschland im Jahr 2000 (2008)

Frauenjahrgang 2000 1)   Frauenjahrgang 2008 2)  
  West Ost   West Ost
1970 46 % 27 % 1969-73 27,9 (28) % 16,3 (16) %
1965 29 % 13 % 1964-68 24,0 (22) % 11,8 (11) %
1960 24 % 12 % 1959-63 20,6 (19) % 7,9 (7) %
1955 32 % 26 % 1954-58 18,5 (17) % 7,4 (7) %

Quellen: 1) Mandy Boehnke, BIOS, Heft 1(2009), S.14; 2) Jürgen Dorbritz, Bevölkerungsforschung aktuell v. 20.01.2010, S. 11; die Prozentangaben in Klammern stammen von Olga Poetzsch, Wirtschaft und Statistik, Januar 2010, S.35 

Auch die neue Erhebungsmethode bietet offenbar Interpretationsspielraum wie die unterschiedlichen Prozentzahlen von Jürgen DORBRITZ vom Institut für Bevölkerungsforschung und von Olga POETZSCH vom Statistischen Bundesamt zeigen. Die neue Erhebungsmethode wird aber sicherlich zur Versachlichung der politischen  Debatte um die Kinderlosigkeit in Deutschland führen, die in der Vergangenheit mehr als unfair geführt wurde .

Mandy BOEHNKE untersucht in ihrem Beitrag die deutsch-deutschen Unterschiede im Umgang mit dem Kinderwunsch. Die obige Tabelle zeigt, dass ostdeutsche Frauen nicht so häufig kinderlos bleiben wie westdeutsche Frauen. Dies gilt nicht nur für die gesamte Teilbevölkerung, sondern auch für Akademikerinnen. Mit der politischen Debatte um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde der Fokus auf die fehlende Kinderbetreuung in Westdeutschland gelegt. Dies wird dem komplexen Thema aber nicht gerecht. Das generative Verhalten wird von einem ganzen Faktorenbündel beeinflusst, das BOEHNKE folgendermaßen beschreibt.

Gut gebildet = kinderlos?

"Für eine potentielle Mutter oder auch einen potentiellen Vater sind verschiedene Rahmenbedingungen bedeutsam. Zunächst geht es hier um Bedingungen auf gesellschaftlicher Ebene, z.B. die Rechtslage eines Landes (in diesem Kontext etwa das Bundeserziehungsgeldgesetz, das staatliche Unterstützungen wie das Elterngeld regelt). Aber auch ein generelles Klima, ob Kinder an sich eher als problematisch gelten oder willkommen sind, gehört dazu. Akteure sind darüber hinaus in einen ganz konkreten sozialen Kontext eingebunden, der unterschiedliche Strukturen bereithält, z.B. kommunale Angebote für Kinder (Betreuungseinrichtungen, Spielplätze etc.). Besonders bedeutsam für das Handeln ist die konkrete Situation der Akteure, z.B. auf welcher Stufe sie im beruflichen Werdegang befinden oder ob ein Partner oder eine Partnerin vorhanden ist. Daneben verfügen Akteure über bestimmte Ressourcen wie den Bildungsstand, die finanzielle Ausstattung, die gesundheitliche Verfassung und das chronologische Alter. Es ist davon auszugehen, dass die Bewertung des Verhältnisses von Rahmenbedingungen und Ressourcenausstattung subjektiv erfolgt. (...). Persönliche Eigenschaften, eigene Erfahrungen mit Kindern (...) oder Erfahrungen der eigenen Kindheit, die je individuelle, in Kindheit und Jugend entwickelte Stärke des eigenen Kinderwunsches (...) und konkrete Vorstellungen über das Leben mit Kindern ("Ich möchte meinem Kind etwas bieten können") bedingen, ob Ressourcen und Opportunitäten so wahrgenommen werden, dass ein Kind in Frage kommt oder eher (noch) nicht.
(2009, S.15)

Mittels Leitfadeninterviews hat BOEHNKE je 8 kinderlose Frauen aus Bremen und aus Chemnitz befragt, die 25 - 30 Jahre bzw. 35 - 40 Jahre alt waren. Bereits die Probleme bei der Rekrutierung zeigen, dass in Chemnitz Kinderlose über 35 und in Bremen Kinderlose mit niedrigem Bildungsniveau die Ausnahme sind. Anhand der Interviews hat BOEHNKE die Ost-West-Unterschiede im Kinderwunsch und in die wahrgenommenen Folgen einer Mutterschaft herausgearbeitet. Die Ergebnisse zeigen, dass zwar generelle Ost-West-Unterschiede vorhanden sind, aber die Unterschiede innerhalb des Westens bzw. Ostens sind keineswegs zu vernachlässigen.

Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Akzeptanz für den Ausbau von Kinderkrippen und Ganztagsbetreuung in der westdeutschen Bevölkerung nach Bildungsniveau unterschiedlich ist. Die politische Vision einer kompensatorischen Kleinkinderbildung, insbesondere für die so genannten "Unterschichten", wie sie vor allem in der SPD von Familienministerin SCHMIDT propagiert wurde, trifft bei den Adressaten offenbar auf wenig Gegenliebe.

Gut gebildet = kinderlos?

"Fehlende Kinderbetreuung wird in Widerspiegelung der tatsächlichen Situation insgesamt in den alten Bundesländern immer wieder als Manko angesprochen. Interessant ist jedoch, dass im Westen überhaupt nur bei den Frauen mit Universitätsabschluss Kinderbetreuung, die über die altbekannte und als unzureichend charakterisierte Halbtagsbetreuung hinausgeht, nämlich Ganztagsbetreuung für unter Dreijährige, möglicherweise in Frage kommt. Frauen mit Haupt- oder Realschulabschluss und Ausbildung sprechen sich explizit gegen außerfamiliale Betreuung in den ersten drei Jahren aus. Hier wirkt in massiver Weise das westdeutsche Mutterideal fort.
(2009, S.28)

Der Ausbau der Ganztagskinderbetreuung kommt also insbesondere Akademiker(innen)familien zu Gute. Dass hier einiges im Argen liegt, wurde auf dieser Website bereits bei der Besprechung der Bücher Ein Leben ohne Kinder (2007) und Wissenschaft als Lebensform (2009) deutlich gemacht. Der Kinderlosigkeit von Nicht-Akademiker(innen)n wurde dagegen bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme ist hier das Buch Berufsbiografie und Familiengründung (2004) von Thomas KÜHN.

Herwig Reiter - Die Arbeitslosen, der Staat und die Option der Abwanderung

Der Artikel von Herwig REITER befasst sich mit der Bedeutung von Arbeitslosigkeit für Jugendliche im postsowjetischen EU-Beitrittsland Litauen. Litauen hat aus Sicht der Weltbank die Transformation in eine westliche Volkswirtschaft erfolgreich gemeistert. Die neu geschaffene Institution des Arbeitsmarktes hat jedoch auch Schattenseiten. So wies die Arbeitsmarktstatistik 2001 fast 20 % Arbeitslose aus. Bei den Jugendlichen lag die Arbeitslosigkeit sogar bei 31 %. Mittels problemzentrierter Interviews haben REITER u. a. das Phänomen Arbeitslosigkeit typologisiert. Drei Dimensionen standen dabei im Mittelpunkt:

1) Wahrnehmung und Image des Arbeitslosen
2) die Einschätzung der wechselseitigen Beziehung zwischen Individuum, Arbeitslosen und Staat sowie
3) mögliche Reaktionsweisen auf die bestehende Arbeitsmarktsituation.

Anhand von Interviewaussagen beschreibt REITER den Nutzen der heuristischen Typologie. Wenn man bedenkt, dass in den sozialistischen Staaten die Figur des Arbeitslosen neu war, so erstaunt es doch, dass sich in Litauen die gleichen Stereotypen entwickelt haben wie sie z. B. aus der deutschen Debatte bekannt sind. So hat z. B. erst vor kurzem der Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar HEINSOHN den Hartz IV-Empfängerinnen vorgeworfen, dass sie Kinder nur bekommen, um staatliche Transferleistungen zu kassieren. Auch litauische Jugendliche argumentieren in dieser Weise.

Die Arbeitslosen, der Staat und die Option der Abwanderung

"Arbeitslose Frauen stehen (...) im Verdacht, Kinder zu bekommen, um staatliche Transferleistungen zu erhalten. Vereinzelt wird ihnen zudem vorgeworfen, sich dieser Kinder auch wieder zu entledigen, wie im folgenden Interviewabschnitt, in dem die positiven Seiten der sozialistischen Arbeitspflicht diskutiert werden.

I think that it was good, because now there are many people who drink, do not work at all. For example, those mothers ... When I look at them, they have many children in order to get those benefits for children. Well, it would be better if every person had to work and got money and provided for his family. Minimally, at least, but he would provide. Because, as is often the case, the live, they produce those children, then they get rid of them in different ways, bury (them) somewhere. I don't know, I think that every person must do something. (...). (Deida:4.37)
(2009, S.28)

Hartz IV und die Politische Ökonomie

"Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen."
(Gunnar Heinsohn in der FAZ v. 15.03.2010
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Angesichts des Sozialschmarotzerimages der Arbeitslosen stellt sich die Frage nach alternativen Optionen. REITER diskutiert in Anlehnung an Albert O. HIRSCHMAN  (Abwanderung und Widerspruch) drei Alternativen: Emigration, Arbeitsverweigerung und Betrug am Staat. Das Phänomen Abwanderung zeigt sich in Deutschland auch als Binnenwanderung von Ost nach West. Insbesondere der Wegzug von ostdeutschen Frauen steht hierzulande im Brennpunkt des Medieninteressen. In Litauen handelt es sich dagegen um Migration in andere europäische Länder wie z.B. Großbritannien. Das "Zeugen von Kindern zur Maximierung erhaltener Sozialleistungen" ordnet REITER als Betrug am Staat im Sinne eines Widerspruchs zum gegenwärtigen System ein. REITER versteht seinen Beitrag auch im Sinne der deutschen Debatte um die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, so ein Buchtitel von Berthold VOGEL aus dem Jahr 2007.

Astrid Seltrecht - Handeln Ärzte pädagogisch

In einer Gesellschaft der Langlebigen spielt Gesundheit eine wichtige Rolle. Unser Lebensstil gilt als einer der Ursachen für viele Krankheiten, insbesondere bei den so genannten Zivilisationskrankheiten. Aufklärung und Prävention ist mittlerweile zum Bestandteil des ärztlichen Handelns geworden. Dies ist jedoch noch nicht lange so, wie Astrid SELTRECHT in ihrem Beitrag zeigt.

Handeln Ärzte pädagogisch?

"Aus gesellschaftlich-historischer Perspektive ist die Aufklärungspflicht des Arztes zu Diagnose und Behandlungsmaßnahmen erst seit wenigen Jahrzehnten gesetzlich geregelt. Noch neuer in der Geschichte ist das Gebot der Prävention: Lag die Krankheitsvorbeugung zunächst in der Hand der staatlichen bzw. öffentlichen Gesundheitsaufklärung (erinnert sei an die umfangreiche, über Jahrzehnte hinweg und in der Reichweite kaum zu übertreffende Aufklärungs- und Präventionsarbeit ab Ende der 1980er Jahre zum Thema HIV/AIDS), so wurde im Jahr 2000 den Gesetzlichen Krankenversicherungen ein gesetzlicher Auftrag zur Prävention erteilt".
(2009, S.70f)

Am Beispiel der ersten deutschen Frauenärztin Hermine HEUSLER-EDENHUIZEN verdeutlicht SELTRECHT aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive, inwiefern die Frauenärztin bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts pädagogisch handelte. Anhand der Autobiographie von HEUSLER-EDENHUIZEN analysiert SELTRECHT den Kampf der kinderlosen Frauenärztin gegen das Kindbettfieber, das zur Zeit von HEUSLEN-EDENHUIZEN noch nicht effizient behandelbar war. In dem Beitrag von SELTRECHT wird sichtbar wie biografisches Lebensthema, eine spezielle Eigentheorie über die Ursachen des Kindbettfiebers, Medizingeschichte und Errungenschaften der Frauenbewegung ineinander greifen. SELTRECHT beleuchtet in ihrem Beitrag ein spannendes Kapitel der Medizin- und Frauengeschichte.       

Maren Brandt - Techno-Biographien

Techno gehörte im öffentlichen Bewusstsein in den 1990er Jahren zum Mainstream. Der seit 1993 in den Medien kursierende kulturpessimistische Begriff der Spaßgesellschaft  war  auf den Hedonismus gemünzt, wie er z.B. bei den Ravern insbesondere bei Großereignissen wie der Loveparade sichtbar wurde. Anfang des Jahrtausends machte dann die Rede vom Ende der Spaßgesellschaft die Runde . Techno gab es zwar in den Nullerjahren auch noch, aber er ging in den Underground und erneuerte sich in Clubs wie dem Berliner Berghain. Seit letztem Jahr ist Techno wieder in aller Munde. Filme wie Berlin Calling von Hannes Stör über das Leben eines DJs, das Buch Lost and Sound von Tobias RAPP und der Literaturskandal um Helene HEGEMANN Buch Axolotl Roadkill zeigen, dass Techno immer noch sehr lebendig ist.

Auch die Wissenschaft hat sich mit der Techno-Szene beschäftigt . Maren Brandt analysiert in seinem Beitrag die Biographieverläufe erfolgreicher deutscher Techno-DJs. Um den Lebensstil eines international arbeitenden deutschen Techno-DJs zu erforschen hat BRANDT sechs narrative Interviews durchgeführt. DJs wie Sven VÄTH oder WESTBAM avancierten in den 1990er Jahren zu Superstars der Techno-Szene. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift de:bug befasst sich mit der Frage, ob der DJ in der Krise ist. Es wird ein Hochzeits-DJ, ein Ex-DJ und der Buchautor Bill BREWSTER (Last Night a DJ Saved My Life: The History of the DJ ) interviewt. Für letzteren ist der Hype um DJs vorüber.

Ist Gott immer noch DJ?

"De:bug: Der Status des DJs als Fixpunkt der Party ist mittlerweile globalisiert. Es gibt Video-Spiele wie »DJ Hero«. Er ist Teil der Mainstream-Kultur georden.
Brewster: Die DJ-Kultur hat auf jeden Fall mittlerweile fast den ganzen Globus erobert. Was meiner Meinung vor allem daran liegt, dass die meiste elektronische Tanzmusik instrumental ist. Es ist an so ziemlich alles anschließbar. Auch an lokale, traditionelle Musikarten. Das Bild vom DJ hat sich besonders in den 90er Jahren massiv verändert. Es gab diesen Punkt Mitte der 90er, als mehr Plattenspieler als Gitarren verkauft wurden und der Wunsch DJ zu werden in all diesen Umfragen und Statistiken an erster Stelle auftauchte. Die letzten zehn Jahre waren dann eher wieder eine Entwicklung in die Zeit vor diesem Hype um DJs."
(2010, S.42)

Fakt ist, dass Techno und damit DJs inzwischen zu einer globalen Feierkultur gehören. Deren Schattenseiten werden von Soziologen eher selten zum Thema gemacht, wie der Literaturbericht Blood on the Dance Floor - Eine Soziologie des spätmodernen Nachtlebens anhand neuerer Ethnographien zu Night Time Economy, Gewalt und Gender von Sascha SCHIERZ in der Sozialwissenschaftlichen Literatur Rundschau zeigt.

Blood on the Dance Floor

"Lediglich die deutschsprachigen Geschichtswissenschaften haben sich im Kontext der Elektrifizierung der Städte mit entsprechenden Fragen des »Nachtlebens« ausführlicher befasst (vgl. Schlör, 1991). Lag der Nacht im klassischen Verständnis die Idee zu Grunde, dass sich die respektablen Klassen dort wohl kaum bewegen würden und der nächtliche Verkehr im öffentlichen Raum dementsprechend einzuhegen sei, ändert sich dies im Kontext der voranschreitenden Urbanisierung. (...). Wenn man so will, ist das moderne Nachtleben auch ein Kind des Kapitalismus (...). Vergleichbare Studien für die spätmoderne Nacht lassen sich zumindest hierzulande nicht finden. Dabei ließe sich das Nachtleben aktuell auch als ein kommunaler Standortfaktor verstehen, der innerhalb der post-fordistischen Ökonomie und der entsprechenden Stadtpolitik zu fördern und zu bewerben wäre. Erst die differenzierte Existenz eines verheißungsvollen Nachtlebens macht die spätmoderne Stadt zur urbanen Metropole"
(Heft 58, 2009)

Maren BRANDT widmet sich dem DJ, der typischerweise männlich und zwischen zwanzig und fünfundvierzig Jahre alt ist. Ausführlich werden im Beitrag von BRANDT zwei der vier DJ-Biographieanalysen vorgestellt und typische Charakteristika herausgearbeitet. Für BRANDT ist der Zugang zum DJ-Job vergleichsweise klassenlos, d.h. es haben sich noch keine Laufbahnen entwickelt, die Einstiegsvoraussetzung sind.

Techno-Biographien

"Die untersuchten Biographien belegen, dass weder eine besondere Schul- oder Berufsausbildung noch ein Musikstudium notwendig sind, um als DJ oder mit Seitenunternehmungen erfolgreich zu sein. Die Do-it-yourself-Mentalität der Techno-Szene, insbesondere mit kleinen Unternehmungen ohne viel Personal arbeiten zu können, ermöglicht trotz kaufmännischem Bildungsmanko die Freiheit, Projekte nach dem eigenen Geschmack durchzuführen. Keiner der vier DJs verfügt über eine abgeschlossene Ausbildung oder ein Studium. Direkt nach Schulschluss erschienen ihnen die üblichen Bildungskonzepte weder passend noch attraktiv, dennoch begonnene Ausbildungen und Studiengänge wurden nicht zu Ende geführt. Für drei von ihnen fiel die Zeit ihres Schulabschlusses zudem mit dem Aufkommen von Techno zusammen. Der Sog der neuen Musik, aber auch der Reiz der Techno-Bewegung an sich war stark genug, ihre Lebensführung ausschließlich mit diesen Inhalten zu füllen, abseits der klassischen Abfolge Schule, Ausbildung/Studium, Beruf.
(2009, S.97)

Die sehr ähnliche Lebensführung international erfolgreicher deutscher Techno-DJs sieht BRANDT als Beleg für einen "starken Effekt der Mechanismen der Lebenswelt »Techno« auf den jeweiligen biographischen Verlauf". Die Studie zeigt, dass die Techno-Szene noch ein lohnendes Objekt für weitere soziologische Forschungen ist. Eine Frage wäre z.B. ob für jüngere DJs der Weg zum Erfolg den gleichen Mechanismen folgt oder ob sich Hierarchien herausgebildet haben bzw. gerade bilden, die den Zugang schwieriger gestalten oder verändern, z.B. durch die Digitalisierung.

Helga Amesberger - Zur Produktion von Geschlecht in lebensgeschichtlichen Interviews

Helga AMESBERGER beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Produktion von Geschlecht ("Doing Gender"). Dieser Aspekt wird nach Ansicht der Autorin in der Geschichtsschreibung und -wissenschaft vernachlässigt. Anhand von lebensgeschichtlichen Interviews mit männlichen und weiblichen Überlebenden von Konzentrationslagern arbeitet AMESBERGER die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf der inhaltlichen Ebene und in der Interaktion von Interviewer und Interviewten heraus. Gefragt wird, ob Männer und Frauen bei den Themen Bindungen/Netzwerke, Solidarität contra Aggression/Gewalt, Familie und Kinder andere Akzente setzen. Werden gewalttätige Frauen von Frauen anders beschrieben als von Männern?
Die Vergleichbarkeit von Leitfadeninterviews setzt voraus, dass Interviewer sich in ihrer Vorgehensweise bei weiblichen und männlichen Interviewten nicht unterscheiden. Die Untersuchung von AMESBERGER zeigt jedoch, dass Frauen und Männern tendenziell andere Fragen gestellt werden.

Zur Produktion von Geschlecht in lebensgeschichtlichen Interviews

"Obwohl alle Interviewerinnen und Interviewer das gleiche Trainingsprogramm absolviert hatten und mit den gleichen Interviewleitfäden ausgestattet waren, war das Ergebnis sehr unterschiedlich. So fragten beispielsweise nicht alle nach der Befreiung, insbesondere was das so genannte private Leben betraf - Kinder und Familie. Und es gibt eine Tendenz, dass männliche Überlebende seltener nach der Familiengründung gefragt wurden, Frauen hingegen weniger häufig nach ihrem späteren beruflichen Leben. Ein ziemlich gängiges Muster ist, dass nach dem politischen Leben des Vaters gefragt wurde, aber nicht nach jenem der Mutter.
(2009, S.114)

AMESBERGERs Beitrag zeigt, dass die Produktion von Geschlecht in der Geschichtsforschung stärker reflektiert werden sollte.

Piotr Filipkowski & Anna Wylegala - Kreuz Ostbahn

Kreuz Ostbahn, eine Siedlung, die erst im 18. Jahrhundert entstand, hat eine bewegte Geschichte, der sich FILIPKOWSKI & WYLEGALA in ihrem lesenswerten Beitrag zuerst aus der Sicht der offiziellen Geschichtsschreibung annähern, wie man sie auf der Homepage der Stadt dargestellt findet. Interessant ist jedoch, was die offizielle Geschichtsschreibung verschweigt und was die Autoren anhand von Interviews mit polnischen und deutschen Zeitzeugen herausgefunden haben. Zu diesem Projekt gibt es eine Website der Stiftung Zentrum Karta, die einen Einblick in das Forschungsprojekt gewährt.

In ihrem Beitrag stellen die Autoren vier typische Erzählungen  - jeweils zwei aus deutscher und polnischer Sicht - vor, sodass eine andere Stadtgeschichte erkennbar wird.

Gernot Böhme - Biographie als Gestaltwandel

In einem Essay widmet sich Gernot BÖHME der Sicht Goethes auf die menschliche Biographie. Im Gegensatz zur antiken Vorstellung vom menschlichen Leben als Gestaltwandel, d.h. als Abfolge der Lebensalter von Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter, interpretiert BÖHME Goethes Vorstellung vom Leben als Entwicklungsaufgabe.

Biographie als Gestaltwandel

"Zwar ist es richtig, dass Goethe in seinem Gedicht Metamorphose der Pflanzen das menschliche Leben als Gestaltwandel darstellt, doch ist Goethe vielmehr bekannt als Autor des Entwicklungsgedankens. Dieser Eindruck speist sich vor allem aus seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, und ebenso indirekt aus seiner Förderung von Jung-Stilling (...) und Karl Philipp Moritz mit seinem Roman Anton Reiser (Erstdruck 1785-90)."
(2009, S.7)

Fazit

Das aktuelle Heft 1/2009 der Zeitschrift BIOS gibt einerseits einen guten Einblick in ein breites Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten qualitativer Methoden und zum anderen wird deutlich, dass gesellschaftspolitisch relevante Fragestellungen nicht allein das Gebiet quantitativer Sozialforschung sind. Auch was die Themenpalette betrifft, bietet das aktuelle Heft eine gelungene Mischung. 

 
     
 
   

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© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 14. April 2010
Stand: 02. Februar 2019