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Einführung
Es war ziemlich langweilig
geworden im Literaturbetrieb. Kein Skandal nirgends. GRASS und
WALSER verblassen langsam aber sicher. Und wer kannte schon
Herta MÜLLER? Die Süddeutsche verabschiedete um die
Jahreswende die Popmoderne - ein wenig zu früh, wie sich nun
herausstellt. Das klappte bekanntlich auch schon vor zehn Jahren nicht
. Mit
Helene HEGEMANNs Axolotl Roadkill meldet sich im Jahr
2010 die Popmoderne
mit Macht zurück. Der Skandal um HEGEMANN schließt im Grunde
nahtlos an den Skandal um Michel HOUELLEBECQs
Elementarteilchen an, indem er ihn eine Generation weiter
treibt. HOUELLEBECQ ist gewissermaßen das uneingestandene
Vorbild für die "Rebellion gegen das linksresignative Milieu". Es
hätte so schön werden können, aber der Literaturbetrieb hat die
Rechnung ohne Helene HEGEMANN gemacht, wie im Folgenden gezeigt
werden soll.
Axolotl Roadkill
"Wir können so
unschlagbar sein zusammen und diese linksresignative
Kulturszenenscheiße auf eine Weise aufmischen, die allen
den Schweiß auf die Stirn treibt."
(2010, S.180) |
Hymnen und Verrisse - Der Literaturbetrieb und
Helene Hegemann
Tobias RAPP, der letztes
Jahr mit seinem Buch Lost and Sound einiges zum Hype um
Berlin, Techno und dem Easyjet beitrug
, eröffnete im Spiegel
mit Das Wunderkind der Bohème den Hype um Helene Hegemann.
RAPP legt nahe, dass die Protagonistin Mifti das typische Leben
derjenigen sei, die heute im angesagten Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg
als Kita-Kinder heranwachsen
und Eltern haben,
die im Musikbusiness tätig sind.
Das Wunderkind der Boheme
"Dass
Prenzlauer Berg schon mal als der kinderreichste Stadtteil
Deutschlands bezeichnet wird, liegt ja nicht daran, dass
dort pro Kopf mehr Nachwuchs gezeugt würde als anderswo.
Es liegt an einer regionaldemografischen Besonderheit: Ein
Stadtteil mit riesigem Leerstand wurde in wenigen Jahren
von vielen jungen Leute besiedelt, die nun Familien
gegründet haben. Helenes Eltern waren nur besonders früh
dran. Aber potentiell sind all die Kita-Kinder, die heute
einen Plattenspieler malen, wenn sie die Arbeit ihrer
Eltern zeigen sollen, kleine Miftis."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010) |
Für RAPP liegt die Stärke
des Buches nicht im Plot, sondern in der spezifischen
Atmosphäre.
Das Wunderkind der Boheme
"Das
Buch lebt allerdings von der Atmosphäre, nicht von einer
Geschichte. Von dem Gefühl existentieller Leere, die seine
Protagonisten mit Exzessen bekämpfen. Und von der Sprache,
die von Begriffen wie »Wohlstandsverwahrlosung«, »Duldungsstarre«
oder »pseudobelastungsgestört« lebt. Hegemann spricht auch
so. Sie benutzt Wörter wie etwa »linksresignativ«.
Linksresignativ ist das Milieu des Kulturschaffenden-Papas
und seiner Freunde. Die Menschen, die die Welt
zusammengezimmert haben, in der sowohl die reale Helene
als auch die erfundene Mifti leben."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010) |
RAPP lässt aber keinen
Zweifel daran, dass das Buch einerseits marketingtechnisch
verführerisch ist, aber andererseits auch stellenweise nicht
mainstreamtauglich ist. Es überwiegt jedoch letztlich ein
positiver Eindruck:
Das Wunderkind der Boheme
"Es
ist ein Buch, bei dem man sich wundert, wie es seinen Weg
zu einem Publikumsverlag wie Ullstein gefunden hat. Nicht
weil es von Drogen, Sex und Ausbruchsphantasien handelt -
das sind Themen, die sich mit einer 17-jährigen Autorin
immer gut vermarkten lassen. »Axolotl Roadkill« ist
radikal, sperrig, unfertig und streckenweise schlicht
unlesbar.
Und doch: Das ganze Buch wird von einer großen
Suchbewegung getrieben, streckt voll treffender
Beobachtungen und überraschender Gedanken."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010) |
Leise
Zweifel gibt es in fast allen Hymnen. Nur Maxim BILLERs
Glauben Lieben Hassen (FAS v. 24.01.2010) wischt alles weg,
angesichts der "großen, unvergesslichen Literatur". BILLER
stellt HEGEMANN in eine Ahnenreihe mit Jörg FAUSERs Rohstoff,
Rainald Goetz' Irre und Christian KRACHTs Faserland,
also die gesamte popkulturelle Debütantenszene der letzten
Jahre, die im Feuilleton für Aufregung sorgte.
Glauben Lieben Hassen
"Alle
zehn Jahre erscheint in Deutschland ein Buch, das nur die
lesen sollten, die es angeht - Fausers »Rohstoff«, Goetz' »Irre«,
Krachts »Faserland«. Am Anfang des letzten Jahrzehnts
schwiegen die jungen, schwarzen Romantiker aber plötzlich,
denn der Schock über den ausgebrochenen Twin-Tower-Krieg
war größer als die Angst, in einer bösen, bürgerlichen
Welt ein Erwachsener wie jeder andere Erwachsene werden zu
müssen. Aber jetzt ist wieder ein Roman da, vor dem sich
jeder, der über dreißig ist, hüten sollte."
(aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v.
24.01.2010) |
Im Gegensatz zu RAPP
entdeckt BILLER sogar eine richtige Geschichte "mit Konflikt,
Katharsis und süßer Schlussmelancholie". Der HEGEMANN-Sound wird
von BILLER hymnisch beschrieben.
Glauben Lieben Hassen
"Sie
zaubert Dialoge wie Mamet, schwärmt von einer Welt
jenseits dieser Welt wie Kerouac, hulluziniert so
sadistisch wie de Sade - und ist am Ende dann doch Helene
Hegemann, die ein Deutsch schreibt, das es noch nie gab
suggestiv wie Sowjetpropaganda, himmlisch rhythmisch, zu
Hause in der Hoch- und Straßensprache und so verführerisch
individuell, dass ab morgen bestimmt hundert andere
deutsche Schriftsteller - manche sogar gegen ihren Willen
- den Hegemann-Sound nachmachen und dabei natürlich
scheitern werden."
(aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v.
24.01.2010) |
BILLER prophezeit, dass
das Buch die Sichtweise auf die Jugend von heute verändern wird:
"Sollte das Leben der Jugend noch nicht so schrecklich sein wie
bei Hegemann - nach diesem Buch wird es das sein". Wir wissen
inzwischen, dass es anders gekommen ist. Durch
die Plagiate ist HEGEMANN - zumindest für die Mainstream-Presse
- als "Gesellschaftskritikerin" wertlos geworden. Der Focus
titelte am 13. Februar Jugend, Party, Alkohol! Generation
Vorglühen: Geht es nicht mehr ohne Rausch? Statt HEGEMANN
wurde der Arzt und Schriftsteller Jakob HEIN über die Jugend von
heute befragt. Diese bekam stattdessen ihren eigenen Artikel
weiter hinten: Wunderkind abgestürzt. Dort beschrieb dann
Rainer SCHMITZ den wahren Skandal, der nicht im Plagiat bestehe,
sondern darin, dass der Literaturbetrieb nicht gleich erkannt
habe, dass HEGEMANN als "Gesellschaftskritikerin" unbrauchbar
sei.
Wunderkind abgestürzt
"Der wirkliche Skandal aber besteht weder in Hegemanns
Buch noch in den Plagiaten. Die Feuilletons haben nicht
erkannt, dass die Obszönität von »Axolotl Roadkill« und
der geschilderte Verwahrlosungsexzess nicht authentisch
sind."
(aus: Focus Nr.7 v. 13.02.2010) |
Aber es soll hier nicht
weiter vorgegriffen werden, sondern wir machen weiter mit den
Hymnen.
Für
die Wochenzeitung Die ZEIT entdeckte, die auf
Schundliteratur spezialisierte, Ursula MÄRZ einen
"literarischen Kugelblitz". MÄRZ, seit Frank SCHIRRMACHERs
Methusalem-Komplott und Minimum zur Schutzpatronin der
heiligen Familie konvertiert, will im Roman das
"Grundgeräusch unserer Gegenwart" vernommen haben. MÄRZ
erkennt aber auch eine gewisse Doppelbödigkeit des Romans, die
sie zwischen einer "Entladung eines traumatisierten
Bewusstseins" und dessen "kalkulatorische, ziemlich komische
Parodie mit postmodernem Beigeschmack" ansiedelt. MÄRZ zieht
Parallelen zu Feridun ZAIMOGLUs Roman German Amok und
sieht im Überschuss an nicht verkraftbarem Erlebtem, das Motiv
des Verhaltens der Protagonistin Mifti.
Literarischer Kugelblitz
"In
der rhetorischen Abräumbewegung tendiert Axolotl
Roadkill zur apokalyptischen Rede, im literarischen
Gestus zur Albernheit, beides erinnert an Feridun
Zaimoglus manieristischen Schmähroman German Amok. Mifti
schreit ihren Schmerz heraus. Und kichert sich weg, wenn
sie sich dabei betrachtet. Sie hat mehr erlebt, als sich
ohne Selbstparodie und Selbstdistanz verkraften lässt. Das
ist der Kern des Debütromans. Axolotl Roadkill ist
kein Entwicklungsroman im üblichen Sinn, er besteht nicht
aus gereihten Szenen. Man merkt, dass Helene Hegemann von
Film und vom Theater kommt. Der plötzliche
Situationsentwurf ist ihre Stärke."
(aus: ZEIT Nr.4 v. 21.01.2010) |
MÄRZ geht jedoch noch
weiter und versucht nicht nur das Handeln der Protagonistin zu
erklären, sondern porträtiert auch noch die Autorin als
"typische Vatertochter", was sie zum Vergleich mit François
SAGANs Bonjour Tristesse veranlasst.
Während
BILLER sich über die Person HEGEMANN nicht näher auslässt,
spielt das Leben und das soziale Umfeld der Autorin in den
anderen Rezensionen eine mehr oder weniger überragende Rolle.
Das veranlasst zur Frage, ob nicht das ganze Getöse um den Roman
nur deswegen entstanden ist, weil hier die Tochter eines
umstrittenen Berliner Intellektuellen einen Schlüsselroman über
ein hermetisch abgeschlossenes Berliner Milieu verfasst hat.
Dies legt Georg DIEZ in der Süddeutschen Zeitung nahe.
Zum Glück
"Ihr
Vater ist der Dramaturg und Universalgelehrte Carl
Hegemann, eine Schlüsselfigur der Berliner Theaterszene,
eine schnell redende IQ-Maschine, Vordenker der Volksbühne
am Rosa-Luxemburg-Platz, die die Kultur des
Nachwende-Berlin prägte. Hier wurde der Theaterbegriff
erweitert, bis er platzte. »Axolotl Roadkill« ist - auch -
das böse Porträt dieses Milieus, eine Art letzte Feier.
Denn zugleich ist es ein Nachruf auf die sich für den
Nabel der Welt haltende, dabei rührend hermetische und von
sich selbst sogenannte: Berliner Bohème."
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 23.01.2010) |
Aber Georg DIEZ, der
letztes Jahr mit Der Tod meiner Mutter selber im
Authentizitätssujet debütierte, will im relativ unbekannten
Promikind HEGEMANN zuallerst die wahre Stimme der Generation @
sehen, wahrer jedenfalls als die Stimmen der medienbekannten
Promis Charlotte ROCHE ("Feuchtgebiete") und Sarah KUTTNER
("Mängelexemplar").
Zum Glück
"Helene
Hegemann ist (...) eine Stimme des wahrhaft rebellierenden
Teils ihrer Generation. Und da man meint, dass es ihr in
jeder Zeile, in jedem hingeworfenen Satz auch an diesem
Nachmittag im Café in Berlin, um nicht weniger als um
Leben und Tod geht, so ist sie, anders als zum Beispiel
Sarah Kuttner oder Charlotte Roche, sicher auch die
Stimme dieser Generation."
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 23.01.2010) |
Die
Verrisse sind konsequenterweise nichts als die Kehrseite dieser
Erwartungen, die Helene HEGEMANN nach dem Bekanntwerden der
Plagiate nicht mehr erfüllen kann. Am deutlichsten wird das bei
Thomas STEINFELD, der das Image von Michel HOUELLEBECQ
maßgeblich designte und sich nun über den Triumph der
Erfahrungslosigkeit mokiert. Interessanterweise kritisiert
er an Helene HEGEMANN genau das, was er in seinen Rezensionen zu
den Büchern von HOUELLEBECQ selber praktizierte: die Schaffung
von Reflexion verhindernder Unmittelbarkeit.
Bei HOUELLEBECQ
wischte STEINFELD jeden Zweifel an der Authentizität weg
. Dies war möglich,
weil nur nach und nach herauskam, wie der französische Autor
seine Biografie frisierte, um die Identität von Leben und
Erzähler-Ich vorzutäuschen.
Ich bin in Berlin. Es geht um meinen Wahn
"»Axolotl«
(ist) keine Literatur, sondern Pornographie: ein Versuch,
die reflexive, ästhetische Distanz aufzuheben, mit
Bildern, die den Leser zum direkten unverstellten,
fassungslosen Hingucken zwingen sollen.
Und deswegen ist »Axolotl« ein aus vielen Versatzstücken
zusammengetragenes Plagiat, bei dem sich der ganze Umfang
des Kopierten wohl erst in einigen Tagen offenbaren wird.
Denn wenn man wenig erlebt hat, und wenn die Sprache nicht
ausreicht, man aber trotzdem Schriftstellerin sein will:
Was kann man dann tun, wenn man ein naseweiser, vielleicht
etwas altkluger und nach Geltung gierender Teenager ist,
der im Kulturbetrieb etwas erreichen will - was kann man
tun, außer abschreiben, im Internet (...) oder wo auch
immer?"
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 11.02.2010) |
Im Feuilleton regiert denn auch
eine unerträgliche Doppelmoral. Die ganze gute Erziehung wird
über Bord geworfen, wenn es um die eigene Enttäuschung geht. Verständlich
wird die tiefe Enttäuschung bei STEINFELD vor diesem Hintergrund.
Was ist eine verbrannte Gesellschaftskritikerin noch wert? Image
Design hilft da nicht mehr weiter. Dabei hätte sich das Buch
doch so gut geeignet, um wie bei Michel HOUELLEBECQ diese
verlotterte Berliner Republik so richtig vorzuführen. Dazu
später mehr.
Dorothea
DIECKMANN ist ein weiterer krasser Fall für die Verlogenheit des
Literaturbetriebs. In der NZZ bediente sie bereitwillig
den Hype um HEGEMANN noch kurz vor Bekanntwerden der
Plagiatsvorwürfe.
Nicht gesellschaftsfähig?
"Diese so extreme wie
repräsentative Opfergeschichte umgibt ein soziokulturelles
Panorama des ersten Millenniumsjahrzehnts, wie es nur eine
wirklich kluge, wirklich beschädigte und wirklich junge
Frau eröffnen kann."
(aus: Neue Zürcher Zeitung v. 04.02.2010) |
Danach wechselt sie die
Plattform, um sich sodann von der Täterrolle freizusprechen und
zum Opfer des Literaturbetriebs zu stilisieren.
Jüngstes Trauma der Kritik
"(Auch)
ich habe den Hype bedient wie viele abhängige Rezensenten,
die für eine dreistellige Summe über Hegemann schreiben,
die derweil eine mindestens achtstellige Summe anschafft.
(...)
(Auch) ich habe mich also mit Axolotl beschäftigt,
weil die NZZ, für die ich schreibe, es für nötig befand,
und das wiederum, weil das Buch beim Riesen Ullstein
erschien und nicht da, wo es hingehörte: in einen
Undergroundverlag wie der des Bloggers Airen"
(aus: Freitag Nr.7 v. 18.02.2010) |
Wie bereits in der NZZ
verschwimmen bei DIECKMANN die Grenzen zwischen Fiktion und
Realität.
Jüngstes Trauma der Kritik
"Was
nicht geklaut ist: Miftis Mutter ist so tot wie die von
Helene Hegemann. Miftis Vater ist kein Vater, sondern ein
spätpubertärer linker Kulturfuzzi, dem seine Kinder
wurscht sind; für Helene Hegemann ist ihr linkskulturell
aktiver Vater ein cooler, großartiger Typ, dem sie ihre
Schreib-Innereien als erstem unterbreitet hat. Diese
familiäre Unterwerfungsgeste ist nicht nur der Beginn,
sondern ein Strukturmerkmal der traurigen Obszönität, der
sie sich nun ausgesetzt sieht. Man braucht nicht viel
Psychoanalyse, um im Hass auf die tote Mutter und in der
Selbstentblößung vor einem gleichgültigen, abwesenden
Vater, hinter dem eine ganze gleichgültige, abwesende
Gesellschaft steht, die Verbindung zwischen Helenes/Miftis
Mädchenschicksal und dem Wahnsinn zu sehen, der über der
Autorin hereingebrochen ist."
(aus: Freitag Nr.7 v. 18.02.2010) |
Ist Helene HEGEMANN nichts
weiter als eine traumatisierte Halbwüchsige, die von ihrem Vater
im Stich gelassen wird, wie DIECKMANN vermutet?
Cleverer
geht Jürgen KAUBE die Sache an. Er will nicht über die PERSON,
sondern über die MARKE HEGEMANN sprechen, kommt dabei aber auch ganz
nebenbei auf die Rolle des Vaters bezüglich drastischer Szenen
im Text zu sprechen:
Germany's Next Autoren-Topmodel
"Ob er, der Dramaturg
und Texte-Arrangeur der Berliner Volksbühne, Carl Hegemann,,
(...) ihr solche Stellen hineingeschrieben hat? Das wäre
die naive Frage. Die viel näherliegende wäre, ob er oder
sonst jemand aus dem Umkreis ihrer Schutzberechtigten denn
überhaupt etwas herausgestrichen, von etwas abgeraten hat.
Oder ob wir hier einfach nur eine teils zusammengeklaute,
teil selbst hervorgebrachte Phantasie lesen, die gar kein
Individuum zum Autor hat, sondern das Kulturestablishment
selber, das sich so ein Wunderkind vorstellt und einer
solchen Phantasie eventuell sogar ein tatsächliches Kind
zum Opfer bringt"
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.02.2010) |
Im Literaturbetrieb wird
dies dann auf verschiedene Weise ausgelegt. Jörg SUNDERMEIER
versteht das in der taz v. 13.02. als heimliches
Ko-Autorentum des Vaters, durch den die Sex- und Drogennächte
dann wieder wahr wären. Im Focus vom gleichen Tag hält
dagegen Rainer SCHMITZ nur die "linksresignativen Sprechblasen"
für das Produkt von Carl HEGEMANN.
Alles nur geklaut? Ein Blogger wird gejagt
Die Frage, ob Helene
HEGEMANN das Geschriebene selbst erlebt oder abgeschrieben hat,
wurde am 5. Februar - also kurz vor der offiziellen Nominierung
des Romans für den Leipziger Buchpreis - von dem Blogger Deef
PIRMASENS im Blog Gefühlskonserve aufgeworfen. Ins Rollen
kommt die Sache aber erst montags den 8. Februar als alle großen
Zeitungen über den Fall Hegemann berichten. AIREN heißt der
große Unbekannte, der damit zur Metapher für das wahre Leben wird.
Die Exzesse, die HEGEMANN beschreibt, soll
nun AIREN wirklich erlebt
haben. Erst am 12. Februar bringt die FAZ ein Interview
mit AIREN, das mit Helene Hegemann hat das nicht erlebt
betitelt ist. Flankiert wird das Gespräch von einem Porträt und
dem Manifest eines literarischen Bloggers: Selber leben! Selber
Schreiben! Einen Tag später bringt die SZ einen Bericht über
AIREN, den Schattenmann. Die Berliner Zeitung titelt in
der Samstagsausgabe vom 13. Februar auf Seite 1: Der
Identitätsspender der Bestsellerautorin. Am gleichen Tag bringt
der Spiegel das erste Foto, auf dem AIREN unverfälscht zu
sehen ist. Danach flaut das Interesse am Original wieder ab. Bereits
am 9. Februar vergleicht Andreas KILB das Buch Strobo von AIREN
mit Axelotl Roadkill. Sieger bleibt für KILB die Autorin
HEGEMANN.
Entriegelung der Sinne
"»Strobo«
ist eine gleichmäßig dahinfließende Litanei, deren
Grellheiten auf die Dauer etwas Lähmendes haben. »Axolotl Roadkill«
dagegen erzählt eine Geschichte. Die Figur, die Hegemann
entwirft, gewinnt mit jeder Seite an Kontur, während
Airens Jüngling verschwommen bleibt - auch wenn seine
Erfahrungen echt sind und die der Hegemann-Heldin
abgekupfert. Denn in der Literatur geht es nicht um das
Leben, das in die Bücher fließt. Sondern um das, was aus
ihren herausströmt."
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.02.2010) |
Große Literatur ist also
nicht das Ergebnis des eigenen Erlebens. Damit schließt sich
KILB dem an, was bereits im Buch von HEGEMANN nachlesbar ist.
Axolotl Roadkill
"»Berlin is here to mix
everything with everything, Alter!«
»Ist das von dir?«
»Berlin is here to mix everything with everything, Alter?«
Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und
beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde,
Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume...«
»Straßenschilder, Wolken...«
»...Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein
Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele
berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig
ist, wohin ich sie trage.«
»Es ist also nicht von dir?«
»Nein. Von so'nem Blogger.«"
(2010, S.15) |
Und auch HEGEMANN wird in
Interviews nicht müde, das immer wieder zu wiederholen: "Es ist
egal woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie
trage". Wie ist HEGEMANN aber auf AIREN gestoßen? Auf
buchmarkt.de vom 7. Februar findet sich eine erste
Stellungnahme:
"Ich
bin nur Untermieter in meinem eigenen Kopf. Airen, von dem
ich insgesamt eine Seite, ohne sie groß verändern zu
müssen, regelrecht abgeschrieben habe, ist ein großartiger
Schriftsteller, dessen Blog im Internet einen Teil der
alternativen Lebensweise, über die ich berichten wollte,
auf den Punkt gebracht hat, und mit dem ich über das Buch
auch ein Stück weit versuche, in Kommunikation zu treten."
(aus: buchmarkt.de v. 07.02.2010) |
Felicitas von LOVENBERG
berichtet zwei Tage später, dass Helene HEGEMANN am
Telefon erklärt habe, dass sie das Buch Strobo nicht
kenne, sondern nur den Blog von Airen. An dieser Stelle kommt
nun bereits der "heimliche Ko-Autor" Carl HEGEMANN ins Spiel,
der nachweislich das Buch beim SuKuLTur-Verlag für seine Tochter
bestellt haben soll.
Originalität gibt es nicht - nur Echtheit
"Das
Merkwürdige an der Sache ist: Während Hegemann sagt, dass
sie das Buch nicht kenne, kann der Verlag SuKuLTur einen
Beleg vorweisen, aus dem hervorgeht, dass Carl Hegemann
den Roman Airens am 28. August 2009 über Amazon
Marketplace bestellt und an seine Tochter Helene hat
liefern lassen."
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.02.2010) |
Krieg der Welten: Münchner Bildungsbürgertum
contra Berliner Bohème
Dem Krieg der Welten
nähert man sich am besten von Frankfurt aus. Für die
Frankfurter Rundschau hat der Theaterkritiker Peter
MICHALZIK das Buch gelesen, der bereits in der Debatte um das
Regietheater für die Berliner Szene eingetreten ist. Seine ganze
Besprechung ist hymnisch. Herausgegriffen deshalb nur jene
Passagen, in denen es um die Sprachgewalt der Autorin geht.
Ein Fall finsterster Romantik
"Die Welt, durch die
Mifti zugleich surft und stolpert, ist die sogenannte
Berliner Bohème. Hier weiß man Miftis psychotischen
Zustand im allgemeinen zu schätzen. Zwischen absoluter
Toleranz und noch größerer Indifferenz ersäuft das Mädchen
dazwischen in seinem durchreflektierten Irrsinn.
Und genau da liegt
dann Hegemanns Stärke. Da rattert es kluge, authentische
und rasante Sätze. Bang, macht es. Und wieder hat den
Leser ein Blitz von hellem Jetzt getroffen. Sätze, die
durch das trübe Tröpfeln der Gegenwart wie ein Sturzbach
herabrauschen. So beginnt´s: »O.k., die Nacht, wieder mal
so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen des angstgequälten
Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern
erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen
aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen
schreien.«"
(aus: Frankfurter Rundschau v. 03.02.2010) |
Erste Sätze gelten in der
Literatur als besonders wichtig, denn sie sollen den Leser in
den Roman hineinziehen. Dumm gelaufen also, dass gleich der
erste Satz von HEGEMANN geklaut ist, nämlich aus Unter dem
Vulkan von Malcom LOWRY. Mit Durs GRÜNBEIN gesprochen,
handelt es sich dabei um einen Sound der Väter, der etwas
upgedatet wurde. Der Satz wird sowohl von Georg DIEZ also auch
von Ursula MÄRZ zitiert.
Tobias
WENZEL hat Helene HEGEMANN für den DeutschlandRadio
interviewt. Am Tag als alle Welt über die Plagiatsvorwürfe las,
preist WENZEL den Satz noch als authentisch an und die Autorin
widerspricht dem nicht, sondern erzählt brav eine Story dazu.
"Ich bin eine totale Spießerin"
"Wieder ein Beleg dafür, dass viel weniger, als man ihr
unterstellt, autobiografisch ist in »Axolotl Roadkill«.
Dann schon eher der Satz, den Mifti gleich zu Beginn in
ihr Tagebuch schreibt: »O.k., die Nacht, wieder mal so ein
Ringen mit dem Tod«:
»Seit ich sechs bin, habe ich panische Angst vorm Tod,
weißt du? So wöchentlich einmal mindestens einen
hysterischen Anfall, weil ich es einfach nicht verstehe
und nicht verstehe, warum man so ein Bewusstsein
angeeignet kriegt und die wichtigste Information aber
einfach fehlt, wie man mit diesem Tatbestand umgeht, dass
alles sinnlos offenbar ist.«"
(aus: DeutschlandRadio v. 08.02.2010) |
Peter MICHALZIK ist der
erste Rezensent, der nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe
ausführlich Stellung nimmt.
Mieter im eigenen Kopf
"Wer ehrlich ist, wird
das Gefühl, jemandem auf den Leim gegangen zu sein, nicht
verleugnen wollen. Der Fall erinnert daran, dass Helene
Hegemanns wesentliche Leistung vielleicht darin besteht,
eine Erfahrung von der Sub- in die Hochkultur (schau an,
die beiden gibt´s ja doch noch!) transponiert zu haben.
Deswegen haben wir Kulturzirkel davon überhaupt Notiz
genommen. Auch das bedeutet: Das Buch bleibt das gleiche,
aber wir schauen es jetzt mit anderen Augen an."
(aus: Frankfurter Rundschau v. 09.02.2010) |
Die Einschätzung von
MICHALZIK bezieht sich jedoch nur auf die von AIREN
abgeschriebenen Passagen. Selbst die Leistung, Erfahrung aus der
Sub- in die Hochkultur transformiert zu haben, ist angesichts
des ersten Satzes und weiterer Plagiate zu hoch gegriffen. Am
20. Februar ruft MICHALZIK sogar die Leser um Hilfe. Da weiß er
bereits darüber Bescheid, dass der erste Satz geklaut ist. Kein
Wort dazu, sondern nur: ich selbst mag ihr Buch sehr. Nach der
Nominierung des Buches für den Leipziger Buchpreis, fordert ein
anonymer Kritiker in der Frankfurter Rundschau, dass HEGEMANN den Buchpreis erhalten soll.
Pikanterweise sitzt die FR-Literaturredakteurin Ina
HARTWIG in der Kritikerjury.
Ganz
anders die Süddeutsche Zeitung. Nach Bekanntwerden der
Plagiatsvorwürfe darf erst Willi WINKLER und dann Thomas
STEINFELD die Autorin geißeln. Am 24. Februar dann der Showdown,
bei dem Lothar MÜLLER das Bürgertum gegen die Boheme antreten
lässt und ersterem einen Punktsieg verschafft: Musterschüler
schlägt Wunderkind!
Das Drama des begabten Kindes
"Erstaunlich ist in diesem Fall die prompte Bereitschaft
des Publikums, hinter der »Intertextualität« sogleich
ästhetische Souveränität zu vermuten und mindestens
Büchner, Brecht und Thomas Mann als Schutzheilige der
jungen Autorin zu bemühen. Es gibt aber seit je nicht nur
aus ästhetischer Souveränität und Unbedenklichkeit
geborene »Intertextualität«, sondern auch die aus der Not
geborene, die panische Kompilation. Ein solches
Zusammenraffen aller möglichen fremden Textbausteine kann
auch Wunderkindern beim Anreichern eines Manuskriptes
helfen, auf dessen Fertigstellung ein Verlag - oder ein
ehrgeiziger Vater - drängt."
(aus: Süddeutsche v. 24.02.2010) |
Weil ich ein Mädchen bin: Der
geschlechterverwirrte Literaturbetrieb
Bevor es zum Münchner
Showdown kam, brachte die Wochenzeitung Die ZEIT eine
dreiseitige Titelgeschichte zur Kunst des Täuschens. Iris
RADISCH ("Die Schule der Frauen") beschäftigt sich mit den alten
Männern und dem jungen Mädchen, das einen Auffahrunfall
provoziert hat.
Die alten Männer und das junge Mädchen
"Ihr Vergehen besteht (...) darin, das Chaos und die
Bedenkenlosigkeit einer noch nicht hierarchisierten, noch
nicht durch Männerkartelle kontrollierten Medienkultur in
den Machtbereich der alten literarischen Leitkultur
überführt und dabei einen ziemlichen Auffahrunfall
provoziert zu haben. Hegemanns Beharren darauf, aus einem
Milieu der Postpostauthentizität und der ungeregelten
Lebensperformance zu entstammen, ist nur als Notlüge, als
nachgereichte Entschuldigung aus Papas
Volksbühnen-Programmheften abgetan worden. Dabei war der
Kitsch, der ihr von ihren Anklägern vorgehalten wurde –
sie wolle mit beiden Händen ins echte, verruchte
Jugendleben greifen –, nur der Kitsch der allzu flüchtigen
Leser. Wenn man ihr etwas glauben darf, dann ist es
vielleicht einzig dies: dass das Verschwinden des
Authentizitätsgefühls in der Kultur, für die sie steht,
mehr als eine Derridasche Stilübung ist. Von uns aus
gesehen, von der Welt der Subjektphilosophie, der
Eigentumsrechte und der mündigen Bürger ist das eine
Tragödie. Von ihr aus gesehen eine Notwendigkeit. "
(aus: Die ZEIT Nr.8 v. 18.02.2010) |
Ist RADISCH eine alte
Frau? Denn wie Matthias HEINE, der bereits in der Welt
vom 12. Februar fragte Warum alte Männer sie hassen,
setzt sich RADISCH mit Altersgenossen auseinander. Helene
HEGEMANN würde das als Ausdruck einer "geschlechterverwirrten"
Generation abtun.
"Ich beraube schonungslos meine Freunde und mich selbst"
"Hegemann: (...) Ernsthaft benachteiligt fühlt man sich da
nicht mehr als Mädchen. Aber viele Leute, die gezwungen
sind, über mich und mein Buch zu schreiben, sind mit
anderen Standards sozialisiert worden."
(aus: Welt v. 09.02.2010) |
Die gesellschaftspolitische Dimension: Mifti
als Zeitgeistfigur der Berliner Republik
Es wird Zeit den
Literaturbetrieb hinter uns zu lassen und die entscheidende
Frage zu stellen: An welche gesellschaftspolitischen Debatten ist
das Buch und seine Protagonisten anschlussfähig? Die Kontroverse
ist ohne diese Frage nicht vollständig zu verstehen, denn es
geht auch um die Frage: In welcher Republik leben wir und wohin
soll diese Republik in Zukunft treiben? Axolotl Roadkill
ist in dieser Hinsicht als Debattenbeitrag einzuordnen.
Wohlstandsverwahrlosung
Der Begriff
"Wohlstandsverwahrlosung", der den Klappentext von Axolotl Roadkill
ziert und in Rezensionen aufgegriffen wird, wurde in
den 1990er Jahren in zwei Büchern der Schweizer Psychologin
Ulrike ZÖLLNER popularisiert. 1994 erschien das Buch Die Kinder
vom Zürichberg, das 1997 um Erziehungsratschläge ergänzt als
Die armen Kinder der Reichen erschien. In der Debatte um das
Buch Die Erziehungskatastrophe (2001) von Susanne GASCHKE fiel
dieser Begriff im Zusammenhang mit der Erziehung von
Akademikerinnenkindern, die zwar im materiellen Überfluss leben,
aber aufgrund der Elternabwesenheit emotional unterversorgt
seien. In
Axolotl Roadkill wird dieser wissenschaftlich wenig
gebräuchliche Begriff, der bislang eher in populistischen Reden
gebräuchlich ist, aufgegriffen, um z.B. die Situation in der
Kommune der Halbgeschwister Mifti, Annika und Edmond zu
beschreiben.
Axolotl Roadkill
"Ich
öffne unserer neuen Haushälterin die Wohnungstür, und in
ihrem dümmlichen Gesicht macht sich gerade der Schock über
diesen ganzen Verwahrlosungsprozess breit. Die guckt mich
an, als hätte sie Angst davor, hier auf irgendwelche
verwesenden Tiere zu stoßen.
»Warum willst du eine Haushälterin, Annika?«
»Weil es doch total geil ist, wenn die Bettwäsche gebügelt
ist und überhaupt.«
»Aber findest du es denn nicht wahnsinnig schlimm, diese
vielen Menschen in deinem Besitz zu haben?«
»Weißt du, Mifti, früher warst du einfach nur
verwahrlost, und jetzt bist du halt wohlstandsverwahrlost.
In zwei Monaten hast du dann vor lauter
Wohlstandsverwahrlosung sogar vergessen, dass
Haushälterinnen Menschen sind, ehrlich.«"
(2010, S.16) |
Letztlich können fast alle
im Buch vorkommenden Kinder in irgendeiner Weise als "wohlstandsverwahrlost"
kategorisiert werden. Ein Begriff also, der nicht wirklich
weiterführt, sondern nur ein Label aufklebt. Zum Abschluss zwei
Passagen, die das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung
umkreisen.
Axolotl Roadkill
"Äneas' Vater ist (...)
überfordert und hat keine Ahnung, wie man diesem sozial
gestörten Kind zuliebe ein Familienleben
aufrechtzuerhalten vortäuscht, das an seinem Mangel an
Intelligenz und den überschwänglichen
Emanzipationsambitionen seiner Exfrau gescheitert ist."
(2010, 20f)
"Um 8 Uhr 10 steht Lars
gemeinsam mit seinem zweijährigen Scheißblag und einer
unübertrefflichen Erwartungshaltung in unserem
Wohnungsflur. Das zweijährige Scheißblag trägt einen
weißen Häckelponcho aus Chile, wurde nie in seiner
Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und hat deswegen
innerhalb von zwanzig Sekunden zuerst eine komplette
Packung Nordseekrabben aus unserem Kühlschrank geholt und
den Inhalt derselbigen dann auch auf der Stelle
aufgefressen." (2010, 90) |
Alleinerziehende als Heldinnen und
Produkte des Wohlfahrtsstaats
Alleinerziehende konnten
in der Vor-Hartz-Gesellschaft auf hohe Wertschätzung hoffen.
Doch seit einigen Jahren regt sich nicht nur aus der rechten
Ecke Widerstand. Der Medienwissenschaftler Norbert BOLZ ("Die
Helden der Familie") gehört z.B. zu den Kritikern einer
Wertehierarchie, die die klassische Familie unten statt oben
sieht
. Der Anstieg der
Alleinerziehendenzahlen wird zunehmend als
Sozialstaatsmissbrauch wahrgenommen.
Die
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Januar,
in der auch Maxim BILLER das Buch von HEGEMANN vorstellt, widmet
sich den Alleinerziehenden sowohl auf der Titelseite als auch im
Wirtschaftsteil. Sie werden von Rainer HANK & Georg MECK als die
Hätschelkinder der Nation bezeichnet. Ein "perverses
Anreizsystem" verhindere, dass Alleinerziehende sich Arbeit und
Partner suchten, bzw. führe dazu, dass ein vorhandener Partner
verheimlicht werde. Der
Anteil an Akademikerinnen an den Alleinerziehenden ist mit 23,8
% eher gering. Mit Britta könnte man fragen: Wo beginnt
die Unterschicht und wo endet die Bohème? Und ist Mifti typisch
für das Kind einer Alleinerziehenden? Oder eher für eine
Halbwaise? Der Begriff Scheidungswaise gaukelt ja vor, dass
zwischen Waisen- und Scheidungskindern kein Unterschied bestehe.
Ist der Tod einer Mutter für eine 13Jährige nicht ein viel
außergewöhnlicheres Ereignis als eine Scheidung, bei denen die
Eltern nicht unbedingt aus der Welt sein müssen?
Bevor
Mifti zur Halbwaise wird, wird sie zum Schlüsselkind. In einer
der wenigen Erzählpassagen, die über mehrere Seiten gehen,
beschreibt HEGEMANN wie Mifti als 10Jährige aus der Wohnung
ausgeschlossen ist und aus Furcht, dass ihrer Mutter etwas
zugestoßen ist, ihren Vater anruft, der wiederum eine
benachbarte Lehrerin ("alleinerziehende Elternteil meiner
Klassenkameradin") alarmiert. Die Schlusssequenz bringt den
Begriff der Duldungsstarre auf den Punkt.
Axolotl Roadkill
"Frau
Kaplitz-Pittkowski röchelte: »Weinst du jetzt? Ey, Mifti,
nicht weinen!«
Sie nahm mich in den Arm. Ich wehrte mich nicht, weil ihr
meine Widerborstigkeit einen zu großen Einblick in mein
Innenleben verschafft hätte. Ich hasste sie. Ich hasste
meinen Vater, weil er sie angerufen hatte.
»Passiert so was öfter?«
»Natürlich nicht.«
Was übrig blieb, war ein Muskelbündelriss im linken
Oberschenkel und ein Sehnenanriss, der eigentlich hätte
operiert werden müssen. Meine Mutter schenkte mir zwei
Tage später kommentarlos einen Schlüssel und einen
Goldfisch aus Metall als Schlüsselanhänger. Sonst
passierte nichts."
(2010, 129) |
Nach dem Tod ihrer Mutter
lebt Mifti in einer Kommune mit ihren Halbgeschwistern in
Berlin, wo auch ihr Vater lebt. Die "Jahre der Duldungsstarre"
sind vorbei und der Kampf um Anerkennung beginnt. Was dies
heutzutage bedeutet, wird das ganze Buch hindurch verhandelt,
wie die nachfolgenden Passagen verdeutlichen.
Axolotl Roadkill
"Ich bin sechzehn Jahre
alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als
mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen
etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu
tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin.
Ich bin in Berlin.
Es geht um meine Wahnvorstellungen."
(2010, S.24)
"Selbst wenn du
heutzutage verhaltensgestört bist und selbst wenn du eine
gewisse Notfallnormalität aufrechtzuerhalten imstande
bist, stellt sich Erfolg nicht von selbst ein - obwohl
deine abweichende Persönlichkeitsstruktur dich zu einer
Besonderheit hat werden lassen."
(2010, S.52)
"Ich war in Salem.
Salem ist im Endeffekt total armselig. Ich habe alles
richtig gemacht, es funktioniert aber nichts. Ich habe
meine Asozialität, die sich unter der Fassade meiner
Empathie tarnt, dort perfektioniert."
(2010, S.77)
"Du bist nicht mehr die
misshandelte Dreijährige, die du ununterbrochen
pseudobelastungsgestört zu sein vorgibst."
(2010, S.85)
"Mein Kopf blutet. Ich
bin ausgeglichener denn je. Ich liege als klar zu
erkennendes Opfer mit blutendem Hinterkopf auf dem Bauch
und genieße den Zustand der totalen
Verantwortungslosigkeit. Der totalen Unschuld, weil es
sich bei der ganzen Scheiße um eine besonders schwere
Verletzung des Kindeswohls handelt. Offenbar steht mir ein
Kindeswohl zu, offenbar wird mir mein Kindeswohl vor Augen
geführt, indem es verletzt wird."
(2010, S.87)
"es gibt eine Seite im
Netz, da kann man sich dann solche Songs downloaden, und
gleichzeitig downloadet man dann auch noch ein gewisses
Exklusivitätsgefühl, weil man ja denkt, die wären außer
von einem selbst noch nie von irgendjemandem gehört
worden."
(2010, 116f)
"Von mir werden
Orakelsprüche erwartet, ich soll den Teufel performen, das
Vakuum, Erwachsenenwörter aneinanderreihen, ohne sie zu
verstehen. Es ist megahart, ein Individuum zu sein."
(2010,
S. 162) |
Das linksresignative Milieu
In welchem Milieu spielt
eigentlich Axolotl Roadkill? Ist es ein (Techno-)Clubkultur-Roman
wie es die Debatte im Feuilleton und Gerrit Bartels im
Tagesspiegel v. 15. Februar vermuten lässt? Sicherlich spielt
der Roman auch in Techno-Clubs wie dem Berliner Berghain
oder im Weekend. Die Debatte um die von AIREN
abgeschriebenen Passagen um Sex, Drogen und Musik täuscht
darüber hinweg, dass dies nur ein Teilaspekt ist. Ist
es ein Roman über die Berliner Bohème wie Georg DIEZ und Lothar
MÜLLER in der Süddeutschen Zeitung behaupten? Wenn ja,
dann nicht nur über jenen Teil, der in den Debatten im
Mittelpunkt steht: Die Theaterszene um die Berliner
Volksbühne, die mit Namen wie Carl HEGEMANN, Christoph
SCHLINGENSIEF oder Frank CASTORF verbunden ist. Dieser Teil ist
auch nicht gerade besonders angesagt: die analoge Bohème. Sie
kommt im Grunde nur noch über Skandale in den Blick. Im
Roman steht dagegen die digitale Bohème im Mittelpunkt. Die
Protagonisten bedienen sich der IT-Technik und des Internets und
anderer modernen Kommunikatstechniken. Mifti, die sich in dieser
Szene etablieren möchte, wohnt mit ihren Halbgeschwistern Annika
("durchtriebene Marketing-Bitch") und Edmond, der eine
Onlineplattform im Social-Commerce-Bereich betreibt, zusammen.
Ihre "Bezugspersonen" arbeiten als DJ im Techno-Club (Alice)
oder sind HIV-positiv wie die überdurchschnittlich verdienende
Ophelia, die in einem Loft wohnt.
Es
geht in dieser digitalen Bohème immer auch darum, was wirklich
zählt im Leben: Status und/oder Liebe und/oder Lifestyle. In der
Soziologie würde man von Statusinkonsistenz sprechen, die in
diesem neuen gesellschaftlichen Sektor noch vorherrscht. Das
wird z.B. in einer Aussage von Ophelia klar.
Axolotl Roadkill
"es
gibt keine allgemeingültige Hierarchie, die alle Aspekte
mit einbezieht. Das ist ein urdeutscher Irrglaube.
Natürlich stehst du meterweit über mir, aber das weißt du
doch. Ich bin in der deutschen Kultur weniger als
vorhanden. Aber das ist mir ganz gleich. Ich lasse dir
deine Welt und du lässt mir meine."
(2010, S.181) |
Der Vater von Mifti und
seine Freund(inn)(e)n sind Teil der alten Welt, also die von
Erwachsenen vorstrukturierte Welt, in die Mifti hineinwachsen
soll. Aber sie will nicht hineinwachsen in diese "Peter
Pan"-Welt dieses linksresignativen Milieus.
Axolotl Roadkill
"Meine Familie ist ein
Haufen von in irgendeiner frühkindlichen Allmachtsphase
steckengebliebenen Personen mit Selbstdarstellungssucht.
Im äußersten Fall wird von deren Seite aus mal ein
popkultureller Text über die Frage verfasst, weshalb die
Avantgarde TROTZDEM bauchtanzt, aber das war's dann auch
schon." (2010, S.12)
"»Meine Mutter ist
schon lange tot.«
»Und dein Vater?«
»Der ist eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen
Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die
ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und
in der Auguststraße wohnen«"
(2010, S.13) |
Mifti lehnt auch die
Therapiekultur ab, die mit dieser alten Welt aufs engste
verquickt ist. Sie beharrt darauf, dass Therapien nicht wirklich
etwas an den Beschädigungen, die ein Kind bzw. Heranwachsender,
abbekommt, ändern. Außerdem ist die populäre Erziehungskultur
auf eine Welt eingestellt, in der es keine (Techno-)Drogenprobleme
gibt.
Axolotl Roadkill
"Ich bin ein
misshandelter Teenager. Meine Schwester als einfühlsame
Interpretin kann ohne weiteres eine zutiefst
traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg
abgekommene Person in mir erkennen, die den berühmten
stummen Schrei nach Liebe/Hilfeschrei vom Rande des
Abgrunds aussendet. Ich hingegen erfreue mich an der von
mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten,
misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten
Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes
gleich mit entlarvt."
(2010, S.49)
"Heroinabhängig zu
werden ist damit vergleichbar, Kinder in die Welt zu
setzen"
(2010, S.141)
Es werden die
unterschiedlichsten Familienkonstellationen analysiert,
aber alleinerziehende drogenabhängige Elternteile mit
Einzelkindern zwischen drei und dreizehn kommen schlicht
und ergreifend nicht vor."
(2010, S.176)
"Ich kann ohne Probleme
über alles sprechen, was mir jemals zugestoßen ist und
traumatische Belastungsstörungen hinter sich herzieht,
aber weißt du, das ist ein totaler Irrglaube, dass es
möglich ist, alle persönlichen Missstände mit so einem
Psychologiescheiß bearbeiten zu können. Das führt zu
nichts. Was man unabhängig davon sagen kann ist: Ich bin
für den Rest meines Lebens behindert, und niemand kann was
daran ändern."
(2010, S.177) |
Daneben stellen sich aber
auch Fragen, die sich durch die Agenda 2010-Gesetzgebung
verschärft stellen.
Axolotl Roadkill
"Mein Leben, meine
Disziplinlosigkeit, mein Hausschaf, meine Tendenz zur
Autoaggression, meine Selbstzweifel, meine Angst davor,
nicht rechtzeitig vor eine harte Prüfung gestellt zu
werden oder vor eine schwierige Entscheidung und natürlich
auch die Angst davor, nie wieder das Bett verlassen zu
müssen, außer um gelegentlich Zigaretten zu organisieren
und dann in wenigen Jahren den Antrag auf Hartz IV in den
Briefkasten zu schmeißen."
(2010, S.48) |
Axolotl Roadkill
verhandelt also im Grunde viel mehr als in den Rezensionen und
Literaturdebatten bislang deutlich geworden ist.
Fazit: Der Erlöserposten bleibt weiterhin
unbesetzt und das ist gut so
Der Literaturbetrieb hat
auch in Helene HEGEMANN keinen deutschen Michel HOUELLEBECQ
gefunden und das ist gut so für beide Seiten
. Der Erlöserposten
ist keineswegs erstrebenswert, das sieht man an dem, was aus
Michel HOUELLEBECQ geworden ist: jemand, der die Rolle des
Volksfeindes spielen muss.
Helene HEGEMANN
wird ihren Weg gehen und vielleicht wird sie in ein paar Jahren
oder auch erst in einem, zwei Jahrzehnten jenes Werk schreiben,
das jetzt bereits von ihr erwartet wurde. Dann nämlich, wenn sie
auch reif dafür ist. Wenn
diese überhitzte Stimmung im Literaturbetrieb vorüber ist, also
nach der Verleihung des Leipziger Buchpreises an einen
Konsensautor, dann werden sich jene Menschen dem Roman zuwenden
und seine Dimensionen ausloten können, die mit größerer und
professionellerer Distanz an das Werk herangehen. Hier konnte
nur eine erste Annäherung versucht werden, nicht aus
literaturwissenschaftlicher, sondern aus
sozialwissenschaftlicher Perspektive.
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