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Thema des Monats

 
       
   

Axolotl Roadkill und die Mediengesellschaft

 
       
   

Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" ist nach Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" das meistdiskutierte Buch der Berliner Republik. Eine Annäherung an das Phänomen

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

Es war ziemlich langweilig geworden im Literaturbetrieb. Kein Skandal nirgends. GRASS und WALSER verblassen langsam aber sicher. Und wer kannte schon Herta MÜLLER? Die Süddeutsche verabschiedete um die Jahreswende die Popmoderne - ein wenig zu früh, wie sich nun herausstellt. Das klappte bekanntlich auch schon vor zehn Jahren nicht . Mit Helene HEGEMANNs Axolotl Roadkill meldet sich im Jahr 2010 die Popmoderne mit Macht zurück. Der Skandal um HEGEMANN schließt im Grunde nahtlos an den Skandal um Michel HOUELLEBECQs Elementarteilchen an, indem er ihn eine Generation weiter treibt. HOUELLEBECQ ist gewissermaßen das uneingestandene Vorbild für die "Rebellion gegen das linksresignative Milieu". Es hätte so schön werden können, aber der Literaturbetrieb hat die Rechnung ohne Helene HEGEMANN gemacht, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Axolotl Roadkill

"Wir können so unschlagbar sein zusammen und diese linksresignative Kulturszenenscheiße auf eine Weise aufmischen, die allen den Schweiß auf die Stirn treibt."
(2010, S.180)

Hymnen und Verrisse - Der Literaturbetrieb und Helene Hegemann

Tobias RAPP, der letztes Jahr mit seinem Buch Lost and Sound einiges zum Hype um Berlin, Techno und dem Easyjet beitrug , eröffnete im Spiegel mit Das Wunderkind der Bohème den Hype um Helene Hegemann. RAPP legt nahe, dass die Protagonistin Mifti das typische Leben derjenigen sei, die heute im angesagten Berliner Szenebezirk  Prenzlauer Berg als Kita-Kinder heranwachsen und Eltern haben, die im Musikbusiness tätig sind.

Das Wunderkind der Boheme

"Dass Prenzlauer Berg schon mal als der kinderreichste Stadtteil Deutschlands bezeichnet wird, liegt ja nicht daran, dass dort pro Kopf mehr Nachwuchs gezeugt würde als anderswo. Es liegt an einer regionaldemografischen Besonderheit: Ein Stadtteil mit riesigem Leerstand wurde in wenigen Jahren von vielen jungen Leute besiedelt, die nun Familien gegründet haben. Helenes Eltern waren nur besonders früh dran. Aber potentiell sind all die Kita-Kinder, die heute einen Plattenspieler malen, wenn sie die Arbeit ihrer Eltern zeigen sollen, kleine Miftis."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010)

Für RAPP liegt die Stärke des Buches nicht im Plot, sondern in der spezifischen Atmosphäre.

Das Wunderkind der Boheme

"Das Buch lebt allerdings von der Atmosphäre, nicht von einer Geschichte. Von dem Gefühl existentieller Leere, die seine Protagonisten mit Exzessen bekämpfen. Und von der Sprache, die von Begriffen wie »Wohlstandsverwahrlosung«, »Duldungsstarre« oder »pseudobelastungsgestört« lebt. Hegemann spricht auch so. Sie benutzt Wörter wie etwa »linksresignativ«. Linksresignativ ist das Milieu des Kulturschaffenden-Papas und seiner Freunde. Die Menschen, die die Welt zusammengezimmert haben, in der sowohl die reale Helene als auch die erfundene Mifti leben."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010)

RAPP lässt aber keinen Zweifel daran, dass das Buch einerseits marketingtechnisch verführerisch ist, aber andererseits auch stellenweise nicht mainstreamtauglich ist. Es überwiegt jedoch letztlich ein positiver Eindruck:

Das Wunderkind der Boheme

"Es ist ein Buch, bei dem man sich wundert, wie es seinen Weg zu einem Publikumsverlag wie Ullstein gefunden hat. Nicht weil es von Drogen, Sex und Ausbruchsphantasien handelt - das sind Themen, die sich mit einer 17-jährigen Autorin immer gut vermarkten lassen. »Axolotl Roadkill« ist radikal, sperrig, unfertig und streckenweise schlicht unlesbar.
Und doch: Das ganze Buch wird von einer großen Suchbewegung getrieben, streckt voll treffender Beobachtungen und überraschender Gedanken."
(aus: Spiegel Nr.3 v. 18.01.2010)

Leise Zweifel gibt es in fast allen Hymnen. Nur Maxim BILLERs Glauben Lieben Hassen (FAS v. 24.01.2010) wischt alles weg, angesichts der "großen, unvergesslichen Literatur". BILLER stellt HEGEMANN in eine Ahnenreihe mit Jörg FAUSERs Rohstoff, Rainald Goetz' Irre und Christian KRACHTs Faserland, also die gesamte popkulturelle Debütantenszene der letzten Jahre, die im Feuilleton für Aufregung sorgte.

Glauben Lieben Hassen

"Alle zehn Jahre erscheint in Deutschland ein Buch, das nur die lesen sollten, die es angeht - Fausers »Rohstoff«, Goetz' »Irre«, Krachts »Faserland«. Am Anfang des letzten Jahrzehnts schwiegen die jungen, schwarzen Romantiker aber plötzlich, denn der Schock über den ausgebrochenen Twin-Tower-Krieg war größer als die Angst, in einer bösen, bürgerlichen Welt ein Erwachsener wie jeder andere Erwachsene werden zu müssen. Aber jetzt ist wieder ein Roman da, vor dem sich jeder, der über dreißig ist, hüten sollte."
(aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 24.01.2010)

Im Gegensatz zu RAPP entdeckt BILLER sogar eine richtige Geschichte "mit Konflikt, Katharsis und süßer Schlussmelancholie". Der HEGEMANN-Sound wird von BILLER hymnisch beschrieben.

Glauben Lieben Hassen

"Sie zaubert Dialoge wie Mamet, schwärmt von einer Welt jenseits dieser Welt wie Kerouac, hulluziniert so sadistisch wie de Sade - und ist am Ende dann doch Helene Hegemann, die ein Deutsch schreibt, das es noch nie gab suggestiv wie Sowjetpropaganda, himmlisch rhythmisch, zu Hause in der Hoch- und Straßensprache und so verführerisch individuell, dass ab morgen bestimmt hundert andere deutsche Schriftsteller - manche sogar gegen ihren Willen - den Hegemann-Sound nachmachen und dabei natürlich scheitern werden."
(aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 24.01.2010)

BILLER prophezeit, dass das Buch die Sichtweise auf die Jugend von heute verändern wird: "Sollte das Leben der Jugend noch nicht so schrecklich sein wie bei Hegemann - nach diesem Buch wird es das sein". Wir wissen inzwischen, dass es anders gekommen ist. Durch die Plagiate ist HEGEMANN - zumindest für die Mainstream-Presse - als "Gesellschaftskritikerin" wertlos geworden. Der Focus titelte am 13. Februar Jugend, Party, Alkohol! Generation Vorglühen: Geht es nicht mehr ohne Rausch? Statt HEGEMANN wurde der Arzt und Schriftsteller Jakob HEIN über die Jugend von heute befragt. Diese bekam stattdessen ihren eigenen Artikel weiter hinten: Wunderkind abgestürzt. Dort beschrieb dann Rainer SCHMITZ den wahren Skandal, der nicht im Plagiat bestehe, sondern darin, dass der Literaturbetrieb nicht gleich erkannt habe, dass HEGEMANN als "Gesellschaftskritikerin" unbrauchbar sei.

Wunderkind abgestürzt

"Der wirkliche Skandal aber besteht weder in Hegemanns Buch noch in den Plagiaten. Die Feuilletons haben nicht erkannt, dass die Obszönität von »Axolotl Roadkill« und der geschilderte Verwahrlosungsexzess nicht authentisch sind."
(aus: Focus Nr.7 v. 13.02.2010)

Aber es soll hier nicht weiter vorgegriffen werden, sondern wir machen weiter mit den Hymnen. Für die Wochenzeitung Die ZEIT entdeckte, die auf Schundliteratur spezialisierte,  Ursula MÄRZ einen "literarischen Kugelblitz". MÄRZ, seit Frank SCHIRRMACHERs Methusalem-Komplott und Minimum zur Schutzpatronin der heiligen Familie konvertiert, will im Roman das "Grundgeräusch unserer Gegenwart" vernommen haben. MÄRZ erkennt aber auch eine gewisse Doppelbödigkeit des Romans, die sie zwischen einer "Entladung eines traumatisierten Bewusstseins" und dessen "kalkulatorische, ziemlich komische Parodie mit postmodernem Beigeschmack" ansiedelt. MÄRZ zieht Parallelen zu Feridun ZAIMOGLUs Roman German Amok und sieht im Überschuss an nicht verkraftbarem Erlebtem, das Motiv des Verhaltens der Protagonistin Mifti.

Literarischer Kugelblitz

"In der rhetorischen Abräumbewegung tendiert Axolotl Roadkill zur apokalyptischen Rede, im literarischen Gestus zur Albernheit, beides erinnert an Feridun Zaimoglus manieristischen Schmähroman German Amok. Mifti schreit ihren Schmerz heraus. Und kichert sich weg, wenn sie sich dabei betrachtet. Sie hat mehr erlebt, als sich ohne Selbstparodie und Selbstdistanz verkraften lässt. Das ist der Kern des Debütromans. Axolotl Roadkill ist kein Entwicklungsroman im üblichen Sinn, er besteht nicht aus gereihten Szenen. Man merkt, dass Helene Hegemann von Film und vom Theater kommt. Der plötzliche Situationsentwurf ist ihre Stärke."
(aus: ZEIT Nr.4 v. 21.01.2010)

MÄRZ geht jedoch noch weiter und versucht nicht nur das Handeln der Protagonistin zu erklären, sondern porträtiert auch noch die Autorin als "typische Vatertochter", was sie zum Vergleich mit François SAGANs Bonjour Tristesse veranlasst. Während BILLER sich über die Person HEGEMANN nicht näher auslässt, spielt das Leben und das soziale Umfeld der Autorin in den anderen Rezensionen eine mehr oder weniger überragende Rolle. Das veranlasst zur Frage, ob nicht das ganze Getöse um den Roman nur deswegen entstanden ist, weil hier die Tochter eines umstrittenen Berliner Intellektuellen einen Schlüsselroman über ein hermetisch abgeschlossenes Berliner Milieu verfasst hat. Dies legt Georg DIEZ in der Süddeutschen Zeitung nahe.

Zum Glück

"Ihr Vater ist der Dramaturg und Universalgelehrte Carl Hegemann, eine Schlüsselfigur der Berliner Theaterszene, eine schnell redende IQ-Maschine, Vordenker der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die die Kultur des Nachwende-Berlin prägte. Hier wurde der Theaterbegriff erweitert, bis er platzte. »Axolotl Roadkill« ist - auch - das böse Porträt dieses Milieus, eine Art letzte Feier. Denn zugleich ist es ein Nachruf auf die sich für den Nabel der Welt haltende, dabei rührend hermetische und von sich selbst sogenannte: Berliner Bohème."
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 23.01.2010)

Aber Georg DIEZ, der letztes Jahr mit Der Tod meiner Mutter selber im Authentizitätssujet debütierte, will im relativ unbekannten Promikind HEGEMANN zuallerst die wahre Stimme der Generation @ sehen, wahrer jedenfalls als die Stimmen der medienbekannten Promis Charlotte ROCHE ("Feuchtgebiete") und Sarah KUTTNER ("Mängelexemplar").

Zum Glück

"Helene Hegemann ist (...) eine Stimme des wahrhaft rebellierenden Teils ihrer Generation. Und da man meint, dass es ihr in jeder Zeile, in jedem hingeworfenen Satz auch an diesem Nachmittag im Café in Berlin, um nicht weniger als um Leben und Tod geht, so ist sie, anders als zum Beispiel Sarah Kuttner oder Charlotte Roche, sicher auch die Stimme dieser Generation."
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 23.01.2010)

Die Verrisse sind konsequenterweise nichts als die Kehrseite dieser Erwartungen, die Helene HEGEMANN nach dem Bekanntwerden der Plagiate nicht mehr erfüllen kann. Am deutlichsten wird das bei Thomas STEINFELD, der das Image von Michel HOUELLEBECQ maßgeblich designte und sich nun über den Triumph der Erfahrungslosigkeit mokiert. Interessanterweise kritisiert er an Helene HEGEMANN genau das, was er in seinen Rezensionen zu den Büchern von HOUELLEBECQ selber praktizierte: die Schaffung von Reflexion verhindernder Unmittelbarkeit. Bei HOUELLEBECQ wischte STEINFELD jeden Zweifel an der Authentizität weg . Dies war möglich, weil nur nach und nach herauskam, wie der französische Autor seine Biografie frisierte, um die Identität von Leben und Erzähler-Ich vorzutäuschen.

Ich bin in Berlin. Es geht um meinen Wahn

"»Axolotl« (ist) keine Literatur, sondern Pornographie: ein Versuch, die reflexive, ästhetische Distanz aufzuheben, mit Bildern, die den Leser zum direkten unverstellten, fassungslosen Hingucken zwingen sollen.
Und deswegen ist »Axolotl« ein aus vielen Versatzstücken zusammengetragenes Plagiat, bei dem sich der ganze Umfang des Kopierten wohl erst in einigen Tagen offenbaren wird. Denn wenn man wenig erlebt hat, und wenn die Sprache nicht ausreicht, man aber trotzdem Schriftstellerin sein will: Was kann man dann tun, wenn man ein naseweiser, vielleicht etwas altkluger und nach Geltung gierender Teenager ist, der im Kulturbetrieb etwas erreichen will - was kann man tun, außer abschreiben, im Internet (...) oder wo auch immer?"
(aus: Süddeutsche Zeitung v. 11.02.2010)

Im Feuilleton regiert denn auch eine unerträgliche Doppelmoral. Die ganze gute Erziehung wird über Bord geworfen, wenn es um die eigene Enttäuschung geht. Verständlich wird die tiefe Enttäuschung bei STEINFELD vor diesem Hintergrund. Was ist eine verbrannte Gesellschaftskritikerin noch wert? Image Design hilft da nicht mehr weiter. Dabei hätte sich das Buch doch so gut geeignet, um wie bei Michel HOUELLEBECQ diese verlotterte Berliner Republik so richtig vorzuführen. Dazu später mehr.

Dorothea DIECKMANN ist ein weiterer krasser Fall für die Verlogenheit des Literaturbetriebs. In der NZZ bediente sie bereitwillig den Hype um HEGEMANN noch kurz vor Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe.

Nicht gesellschaftsfähig?

"Diese so extreme wie repräsentative Opfergeschichte umgibt ein soziokulturelles Panorama des ersten Millenniumsjahrzehnts, wie es nur eine wirklich kluge, wirklich beschädigte und wirklich junge Frau eröffnen kann."
(aus: Neue Zürcher Zeitung v. 04.02.2010)

Danach wechselt sie die Plattform, um sich sodann von der Täterrolle freizusprechen und zum Opfer des Literaturbetriebs zu stilisieren.

Jüngstes Trauma der Kritik

"(Auch) ich habe den Hype bedient wie viele abhängige Rezensenten, die für eine dreistellige Summe über Hegemann schreiben, die derweil eine mindestens achtstellige Summe anschafft.
(...)
(Auch) ich habe mich also mit Axolotl beschäftigt, weil die NZZ, für die ich schreibe, es für nötig befand, und das wiederum, weil das Buch beim Riesen Ullstein erschien und nicht da, wo es hingehörte: in einen Undergroundverlag wie der des Bloggers Airen"
(aus: Freitag Nr.7 v. 18.02.2010)

Wie bereits in der NZZ verschwimmen bei DIECKMANN die Grenzen zwischen Fiktion und Realität.

Jüngstes Trauma der Kritik

"Was nicht geklaut ist: Miftis Mutter ist so tot wie die von Helene Hegemann. Miftis Vater ist kein Vater, sondern ein spätpubertärer linker Kulturfuzzi, dem seine Kinder wurscht sind; für Helene Hegemann ist ihr linkskulturell aktiver Vater ein cooler, großartiger Typ, dem sie ihre Schreib-Innereien als erstem unterbreitet hat. Diese familiäre Unterwerfungsgeste ist nicht nur der Beginn, sondern ein Strukturmerkmal der traurigen Obszönität, der sie sich nun ausgesetzt sieht. Man braucht nicht viel Psychoanalyse, um im Hass auf die tote Mutter und in der Selbstentblößung vor einem gleichgültigen, abwesenden Vater, hinter dem eine ganze gleichgültige, abwesende Gesellschaft steht, die Verbindung zwischen Helenes/Miftis Mädchenschicksal und dem Wahnsinn zu sehen, der über der Autorin hereingebrochen ist."
(aus: Freitag Nr.7 v. 18.02.2010)

Ist Helene HEGEMANN nichts weiter als eine traumatisierte Halbwüchsige, die von ihrem Vater im Stich gelassen wird, wie DIECKMANN vermutet?

Cleverer geht Jürgen KAUBE die Sache an. Er will nicht über die PERSON, sondern über die MARKE HEGEMANN sprechen, kommt dabei aber auch ganz nebenbei auf die Rolle des Vaters bezüglich drastischer Szenen im Text zu sprechen:

Germany's Next Autoren-Topmodel

"Ob er, der Dramaturg und Texte-Arrangeur der Berliner Volksbühne, Carl Hegemann,, (...) ihr solche Stellen hineingeschrieben hat? Das wäre die naive Frage. Die viel näherliegende wäre, ob er oder sonst jemand aus dem Umkreis ihrer Schutzberechtigten denn überhaupt etwas herausgestrichen, von etwas abgeraten hat. Oder ob wir hier einfach nur eine teils zusammengeklaute, teil selbst hervorgebrachte Phantasie lesen, die gar kein Individuum zum Autor hat, sondern das Kulturestablishment selber, das sich so ein Wunderkind vorstellt und einer solchen Phantasie eventuell sogar ein tatsächliches Kind zum Opfer bringt"
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.02.2010)

Im Literaturbetrieb wird dies dann auf verschiedene Weise ausgelegt. Jörg SUNDERMEIER versteht das in der taz v. 13.02. als heimliches Ko-Autorentum des Vaters, durch den die Sex- und Drogennächte dann wieder wahr wären. Im Focus vom gleichen Tag hält dagegen Rainer SCHMITZ nur die "linksresignativen Sprechblasen" für das Produkt von Carl HEGEMANN.

Alles nur geklaut? Ein Blogger wird gejagt

Die Frage, ob Helene HEGEMANN das Geschriebene selbst erlebt oder abgeschrieben hat, wurde am 5. Februar - also kurz vor der offiziellen Nominierung des Romans für den Leipziger Buchpreis - von dem Blogger Deef PIRMASENS im Blog Gefühlskonserve aufgeworfen. Ins Rollen kommt die Sache aber erst montags den 8. Februar als alle großen Zeitungen über den Fall Hegemann berichten. AIREN heißt der große Unbekannte, der damit zur Metapher für das wahre Leben wird. Die Exzesse, die HEGEMANN beschreibt, soll nun AIREN wirklich erlebt haben. Erst am 12. Februar bringt die FAZ ein Interview mit AIREN, das mit Helene Hegemann hat das nicht erlebt betitelt ist. Flankiert wird das Gespräch von einem Porträt und dem Manifest eines literarischen Bloggers: Selber leben! Selber Schreiben! Einen Tag später bringt die SZ einen Bericht über AIREN, den Schattenmann. Die Berliner Zeitung titelt in der Samstagsausgabe vom 13. Februar auf Seite 1: Der Identitätsspender der Bestsellerautorin. Am gleichen Tag bringt der Spiegel das erste Foto, auf dem AIREN unverfälscht zu sehen ist. Danach flaut das Interesse am Original wieder ab. Bereits am 9. Februar vergleicht Andreas KILB das Buch Strobo von AIREN mit Axelotl Roadkill. Sieger bleibt für KILB die Autorin HEGEMANN.

Entriegelung der Sinne

"»Strobo« ist eine gleichmäßig dahinfließende Litanei, deren Grellheiten auf die Dauer etwas Lähmendes haben. »Axolotl Roadkill« dagegen erzählt eine Geschichte. Die Figur, die Hegemann entwirft, gewinnt mit jeder Seite an Kontur, während Airens Jüngling verschwommen bleibt - auch wenn seine Erfahrungen echt sind und die der Hegemann-Heldin abgekupfert. Denn in der Literatur geht es nicht um das Leben, das in die Bücher fließt. Sondern um das, was aus ihren herausströmt."
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.02.2010)

Große Literatur ist also nicht das Ergebnis des eigenen Erlebens. Damit schließt sich KILB dem an, was bereits im Buch von HEGEMANN nachlesbar ist.

Axolotl Roadkill

"»Berlin is here to mix everything with everything, Alter!«
»Ist das von dir?«
»Berlin is here to mix everything with everything, Alter?« Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume...«
»Straßenschilder, Wolken...«
»...Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.«
»Es ist also nicht von dir?«
»Nein. Von so'nem Blogger.«"
(2010, S.15)

Und auch HEGEMANN wird in Interviews nicht müde, das immer wieder zu wiederholen: "Es ist egal woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage". Wie ist HEGEMANN aber auf AIREN gestoßen? Auf buchmarkt.de vom 7. Februar findet sich eine erste Stellungnahme:

"Ich bin nur Untermieter in meinem eigenen Kopf. Airen, von dem ich insgesamt eine Seite, ohne sie groß verändern zu müssen, regelrecht abgeschrieben habe, ist ein großartiger Schriftsteller, dessen Blog im Internet einen Teil der alternativen Lebensweise, über die ich berichten wollte, auf den Punkt gebracht hat, und mit dem ich über das Buch auch ein Stück weit versuche, in Kommunikation zu treten."
(aus: buchmarkt.de v. 07.02.2010)

Felicitas von LOVENBERG berichtet zwei Tage später, dass Helene HEGEMANN  am Telefon erklärt habe, dass sie das Buch Strobo nicht kenne, sondern nur den Blog von Airen. An dieser Stelle kommt nun bereits der "heimliche Ko-Autor" Carl HEGEMANN ins Spiel, der nachweislich das Buch beim SuKuLTur-Verlag für seine Tochter bestellt haben soll.

Originalität gibt es nicht - nur Echtheit

"Das Merkwürdige an der Sache ist: Während Hegemann sagt, dass sie das Buch nicht kenne, kann der Verlag SuKuLTur einen Beleg vorweisen, aus dem hervorgeht, dass Carl Hegemann den Roman Airens am 28. August 2009 über Amazon Marketplace bestellt und an seine Tochter Helene hat liefern lassen."
(aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.02.2010)

Krieg der Welten: Münchner Bildungsbürgertum contra Berliner Bohème

Dem Krieg der Welten nähert man sich am besten von Frankfurt aus. Für die Frankfurter Rundschau hat der Theaterkritiker Peter MICHALZIK das Buch gelesen, der bereits in der Debatte um das Regietheater für die Berliner Szene eingetreten ist. Seine ganze Besprechung ist hymnisch. Herausgegriffen deshalb nur jene Passagen, in denen es um die Sprachgewalt der Autorin geht.

Ein Fall finsterster Romantik

"Die Welt, durch die Mifti zugleich surft und stolpert, ist die sogenannte Berliner Bohème. Hier weiß man Miftis psychotischen Zustand im allgemeinen zu schätzen. Zwischen absoluter Toleranz und noch größerer Indifferenz ersäuft das Mädchen dazwischen in seinem durchreflektierten Irrsinn.

Und genau da liegt dann Hegemanns Stärke. Da rattert es kluge, authentische und rasante Sätze. Bang, macht es. Und wieder hat den Leser ein Blitz von hellem Jetzt getroffen. Sätze, die durch das trübe Tröpfeln der Gegenwart wie ein Sturzbach herabrauschen. So beginnt´s: »O.k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen des angstgequälten Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen schreien.«"
(aus: Frankfurter Rundschau v. 03.02.2010)

Erste Sätze gelten in der Literatur als besonders wichtig, denn sie sollen den Leser in den Roman hineinziehen. Dumm gelaufen also, dass gleich der erste Satz von HEGEMANN geklaut ist, nämlich aus Unter dem Vulkan von Malcom LOWRY. Mit Durs GRÜNBEIN gesprochen, handelt es sich dabei um einen Sound der Väter, der etwas upgedatet wurde. Der Satz wird sowohl von Georg DIEZ also auch von Ursula MÄRZ zitiert. Tobias WENZEL hat Helene HEGEMANN für den DeutschlandRadio interviewt. Am Tag als alle Welt über die Plagiatsvorwürfe las, preist WENZEL den Satz noch als authentisch an und die Autorin widerspricht dem nicht, sondern erzählt brav eine Story dazu.

"Ich bin eine totale Spießerin"

"Wieder ein Beleg dafür, dass viel weniger, als man ihr unterstellt, autobiografisch ist in »Axolotl Roadkill«. Dann schon eher der Satz, den Mifti gleich zu Beginn in ihr Tagebuch schreibt: »O.k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod«:

»Seit ich sechs bin, habe ich panische Angst vorm Tod, weißt du? So wöchentlich einmal mindestens einen hysterischen Anfall, weil ich es einfach nicht verstehe und nicht verstehe, warum man so ein Bewusstsein angeeignet kriegt und die wichtigste Information aber einfach fehlt, wie man mit diesem Tatbestand umgeht, dass alles sinnlos offenbar ist.«"
(aus: DeutschlandRadio v. 08.02.2010)

Peter MICHALZIK ist der erste Rezensent, der nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe ausführlich Stellung nimmt.

Mieter im eigenen Kopf

"Wer ehrlich ist, wird das Gefühl, jemandem auf den Leim gegangen zu sein, nicht verleugnen wollen. Der Fall erinnert daran, dass Helene Hegemanns wesentliche Leistung vielleicht darin besteht, eine Erfahrung von der Sub- in die Hochkultur (schau an, die beiden gibt´s ja doch noch!) transponiert zu haben. Deswegen haben wir Kulturzirkel davon überhaupt Notiz genommen. Auch das bedeutet: Das Buch bleibt das gleiche, aber wir schauen es jetzt mit anderen Augen an."
(aus: Frankfurter Rundschau v. 09.02.2010)

Die Einschätzung von MICHALZIK bezieht sich jedoch nur auf die von AIREN abgeschriebenen Passagen. Selbst die Leistung, Erfahrung aus der Sub- in die Hochkultur transformiert zu haben, ist angesichts des ersten Satzes und weiterer Plagiate zu hoch gegriffen. Am 20. Februar ruft MICHALZIK sogar die Leser um Hilfe. Da weiß er bereits darüber Bescheid, dass der erste Satz geklaut ist. Kein Wort dazu, sondern nur: ich selbst mag ihr Buch sehr. Nach der Nominierung des Buches für den Leipziger Buchpreis, fordert ein anonymer Kritiker in der Frankfurter Rundschau, dass HEGEMANN den Buchpreis erhalten soll. Pikanterweise sitzt die FR-Literaturredakteurin Ina HARTWIG in der Kritikerjury. Ganz anders die Süddeutsche Zeitung. Nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe darf erst Willi WINKLER und dann Thomas STEINFELD die Autorin geißeln. Am 24. Februar dann der Showdown, bei dem Lothar MÜLLER das Bürgertum gegen die Boheme antreten lässt und ersterem einen Punktsieg verschafft: Musterschüler schlägt Wunderkind!

Das Drama des begabten Kindes

"Erstaunlich ist in diesem Fall die prompte Bereitschaft des Publikums, hinter der »Intertextualität« sogleich ästhetische Souveränität zu vermuten und mindestens Büchner, Brecht und Thomas Mann als Schutzheilige der jungen Autorin zu bemühen. Es gibt aber seit je nicht nur aus ästhetischer Souveränität und Unbedenklichkeit geborene »Intertextualität«, sondern auch die aus der Not geborene, die panische Kompilation. Ein solches Zusammenraffen aller möglichen fremden Textbausteine kann auch Wunderkindern beim Anreichern eines Manuskriptes helfen, auf dessen Fertigstellung ein Verlag - oder ein ehrgeiziger Vater - drängt."
(aus: Süddeutsche v. 24.02.2010)

Weil ich ein Mädchen bin: Der geschlechterverwirrte Literaturbetrieb

Bevor es zum Münchner Showdown kam, brachte die Wochenzeitung Die ZEIT eine dreiseitige Titelgeschichte zur Kunst des Täuschens. Iris RADISCH ("Die Schule der Frauen") beschäftigt sich mit den alten Männern und dem jungen Mädchen, das einen Auffahrunfall provoziert hat.

Die alten Männer und das junge Mädchen

"Ihr Vergehen besteht (...) darin, das Chaos und die Bedenkenlosigkeit einer noch nicht hierarchisierten, noch nicht durch Männerkartelle kontrollierten Medienkultur in den Machtbereich der alten literarischen Leitkultur überführt und dabei einen ziemlichen Auffahrunfall provoziert zu haben. Hegemanns Beharren darauf, aus einem Milieu der Postpostauthentizität und der ungeregelten Lebensperformance zu entstammen, ist nur als Notlüge, als nachgereichte Entschuldigung aus Papas Volksbühnen-Programmheften abgetan worden. Dabei war der Kitsch, der ihr von ihren Anklägern vorgehalten wurde – sie wolle mit beiden Händen ins echte, verruchte Jugendleben greifen –, nur der Kitsch der allzu flüchtigen Leser. Wenn man ihr etwas glauben darf, dann ist es vielleicht einzig dies: dass das Verschwinden des Authentizitätsgefühls in der Kultur, für die sie steht, mehr als eine Derridasche Stilübung ist. Von uns aus gesehen, von der Welt der Subjektphilosophie, der Eigentumsrechte und der mündigen Bürger ist das eine Tragödie. Von ihr aus gesehen eine Notwendigkeit. "
(aus: Die ZEIT Nr.8 v. 18.02.2010)

Ist RADISCH eine alte Frau? Denn wie Matthias HEINE, der bereits in der Welt vom 12. Februar fragte Warum alte Männer sie hassen, setzt sich RADISCH mit Altersgenossen auseinander. Helene HEGEMANN würde das als Ausdruck einer "geschlechterverwirrten" Generation abtun.

"Ich beraube schonungslos meine Freunde und mich selbst"

"Hegemann: (...) Ernsthaft benachteiligt fühlt man sich da nicht mehr als Mädchen. Aber viele Leute, die gezwungen sind, über mich und mein Buch zu schreiben, sind mit anderen Standards sozialisiert worden."
(aus: Welt v. 09.02.2010)

Die gesellschaftspolitische Dimension: Mifti als Zeitgeistfigur der Berliner Republik

Es wird Zeit den Literaturbetrieb hinter uns zu lassen und die entscheidende Frage zu stellen: An welche gesellschaftspolitischen Debatten ist das Buch und seine Protagonisten anschlussfähig? Die Kontroverse ist ohne diese Frage nicht vollständig zu verstehen, denn es geht auch um die Frage: In welcher Republik leben wir und wohin soll diese Republik in Zukunft treiben? Axolotl Roadkill ist in dieser Hinsicht als Debattenbeitrag einzuordnen.

Wohlstandsverwahrlosung

Der Begriff "Wohlstandsverwahrlosung", der den Klappentext von Axolotl Roadkill ziert und in Rezensionen aufgegriffen wird, wurde in den 1990er Jahren in zwei Büchern der Schweizer Psychologin Ulrike ZÖLLNER popularisiert. 1994 erschien das Buch Die Kinder vom Zürichberg, das 1997 um Erziehungsratschläge ergänzt als Die armen Kinder der Reichen erschien. In der Debatte um das Buch Die Erziehungskatastrophe (2001) von Susanne GASCHKE fiel dieser Begriff im Zusammenhang mit der Erziehung von Akademikerinnenkindern, die zwar im materiellen Überfluss leben, aber aufgrund der Elternabwesenheit emotional unterversorgt seien. In Axolotl Roadkill wird dieser wissenschaftlich wenig gebräuchliche Begriff, der bislang eher in populistischen Reden gebräuchlich ist, aufgegriffen, um z.B. die Situation in der Kommune der Halbgeschwister Mifti, Annika und Edmond zu beschreiben.

Axolotl Roadkill

"Ich öffne unserer neuen Haushälterin die Wohnungstür, und in ihrem dümmlichen Gesicht macht sich gerade der Schock über diesen ganzen Verwahrlosungsprozess breit. Die guckt mich an, als hätte sie Angst davor, hier auf irgendwelche verwesenden Tiere zu stoßen.

»Warum willst du eine Haushälterin, Annika?«
»Weil es doch total geil ist, wenn die Bettwäsche gebügelt ist und überhaupt.«
»Aber findest du es denn nicht wahnsinnig schlimm, diese vielen Menschen in deinem Besitz zu haben?«
»Weißt du, Mifti, früher warst du einfach nur verwahrlost, und jetzt bist du halt wohlstandsverwahrlost. In zwei Monaten hast du dann vor lauter Wohlstandsverwahrlosung sogar vergessen, dass Haushälterinnen Menschen sind, ehrlich.«"
(2010, S.16)

Letztlich können fast alle im Buch vorkommenden Kinder in irgendeiner Weise als "wohlstandsverwahrlost" kategorisiert werden. Ein Begriff also, der nicht wirklich weiterführt, sondern nur ein Label aufklebt. Zum Abschluss zwei Passagen, die das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung umkreisen.

Axolotl Roadkill

"Äneas' Vater ist (...) überfordert und hat keine Ahnung, wie man diesem sozial gestörten Kind zuliebe ein Familienleben aufrechtzuerhalten vortäuscht, das an seinem Mangel an Intelligenz und den überschwänglichen Emanzipationsambitionen seiner Exfrau gescheitert ist." (2010, 20f)

"Um 8 Uhr 10 steht Lars gemeinsam mit seinem zweijährigen Scheißblag und einer unübertrefflichen Erwartungshaltung in unserem Wohnungsflur. Das zweijährige Scheißblag trägt einen weißen Häckelponcho aus Chile, wurde nie in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und hat deswegen innerhalb von zwanzig Sekunden zuerst eine komplette Packung Nordseekrabben aus unserem Kühlschrank geholt und den Inhalt derselbigen dann auch auf der Stelle aufgefressen." (2010, 90)

Alleinerziehende als Heldinnen und Produkte des Wohlfahrtsstaats

Alleinerziehende konnten in der Vor-Hartz-Gesellschaft auf hohe Wertschätzung hoffen. Doch seit einigen Jahren regt sich nicht nur aus der rechten Ecke Widerstand. Der Medienwissenschaftler Norbert BOLZ ("Die Helden der Familie") gehört z.B. zu den Kritikern einer Wertehierarchie, die die klassische Familie unten statt oben sieht . Der Anstieg der Alleinerziehendenzahlen wird zunehmend als Sozialstaatsmissbrauch wahrgenommen. Die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Januar, in der auch Maxim BILLER das Buch von HEGEMANN vorstellt, widmet sich den Alleinerziehenden sowohl auf der Titelseite als auch im Wirtschaftsteil. Sie werden von Rainer HANK & Georg MECK als die Hätschelkinder der Nation bezeichnet. Ein "perverses Anreizsystem" verhindere, dass Alleinerziehende sich Arbeit und Partner suchten, bzw. führe dazu, dass ein vorhandener Partner verheimlicht werde. Der Anteil an Akademikerinnen an den Alleinerziehenden ist mit 23,8 % eher gering. Mit Britta könnte man fragen: Wo beginnt die Unterschicht und wo endet die Bohème? Und ist Mifti typisch für das Kind einer Alleinerziehenden? Oder eher für eine Halbwaise? Der Begriff Scheidungswaise gaukelt ja vor, dass zwischen Waisen- und Scheidungskindern kein Unterschied bestehe. Ist der Tod einer Mutter für eine 13Jährige nicht ein viel außergewöhnlicheres Ereignis als eine Scheidung, bei denen die Eltern nicht unbedingt aus der Welt sein müssen? Bevor Mifti zur Halbwaise wird, wird sie zum Schlüsselkind. In einer der wenigen Erzählpassagen, die über mehrere Seiten gehen, beschreibt HEGEMANN wie Mifti als 10Jährige aus der Wohnung ausgeschlossen ist und aus Furcht, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen ist, ihren Vater anruft, der wiederum eine benachbarte Lehrerin ("alleinerziehende Elternteil meiner Klassenkameradin") alarmiert. Die Schlusssequenz bringt den Begriff der Duldungsstarre auf den Punkt.

Axolotl Roadkill

"Frau Kaplitz-Pittkowski röchelte: »Weinst du jetzt? Ey, Mifti, nicht weinen!«
Sie nahm mich in den Arm. Ich wehrte mich nicht, weil ihr meine Widerborstigkeit einen zu großen Einblick in mein Innenleben verschafft hätte. Ich hasste sie. Ich hasste meinen Vater, weil er sie angerufen hatte.
»Passiert so was öfter?«
»Natürlich nicht.«
Was übrig blieb, war ein Muskelbündelriss im linken Oberschenkel und ein Sehnenanriss, der eigentlich hätte operiert werden müssen. Meine Mutter schenkte mir zwei Tage später kommentarlos einen Schlüssel und einen Goldfisch aus Metall als Schlüsselanhänger. Sonst passierte nichts."
(2010, 129)

Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Mifti in einer Kommune mit ihren Halbgeschwistern in Berlin, wo auch ihr Vater lebt. Die "Jahre der Duldungsstarre" sind vorbei und der Kampf um Anerkennung beginnt. Was dies heutzutage bedeutet, wird das ganze Buch hindurch verhandelt, wie die nachfolgenden Passagen verdeutlichen.

Axolotl Roadkill

"Ich bin sechzehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin.
Es geht um meine Wahnvorstellungen."
(2010, S.24)

"Selbst wenn du heutzutage verhaltensgestört bist und selbst wenn du eine gewisse Notfallnormalität aufrechtzuerhalten imstande bist, stellt sich Erfolg nicht von selbst ein - obwohl deine abweichende Persönlichkeitsstruktur dich zu einer Besonderheit hat werden lassen."
(2010, S.52)

"Ich war in Salem. Salem ist im Endeffekt total armselig. Ich habe alles richtig gemacht, es funktioniert aber nichts. Ich habe meine Asozialität, die sich unter der Fassade meiner Empathie tarnt, dort perfektioniert."
(2010, S.77)

"Du bist nicht mehr die misshandelte Dreijährige, die du ununterbrochen pseudobelastungsgestört zu sein vorgibst."
(2010, S.85)

"Mein Kopf blutet. Ich bin ausgeglichener denn je. Ich liege als klar zu erkennendes Opfer mit blutendem Hinterkopf auf dem Bauch und genieße den Zustand der totalen Verantwortungslosigkeit. Der totalen Unschuld, weil es sich bei der ganzen Scheiße um eine besonders schwere Verletzung des Kindeswohls handelt. Offenbar steht mir ein Kindeswohl zu, offenbar wird mir mein Kindeswohl vor Augen geführt, indem es verletzt wird."
(2010, S.87)

"es gibt eine Seite im Netz, da kann man sich dann solche Songs downloaden, und gleichzeitig downloadet man dann auch noch ein gewisses Exklusivitätsgefühl, weil man ja denkt, die wären außer von einem selbst noch nie von irgendjemandem gehört worden."
(2010, 116f)

"Von mir werden Orakelsprüche erwartet, ich soll den Teufel performen, das Vakuum, Erwachsenenwörter aneinanderreihen, ohne sie zu verstehen. Es ist megahart, ein Individuum zu sein."
(2010, S. 162)

Das linksresignative Milieu

In welchem Milieu spielt eigentlich Axolotl Roadkill? Ist es ein (Techno-)Clubkultur-Roman wie es die Debatte im Feuilleton und Gerrit Bartels im Tagesspiegel v. 15. Februar vermuten lässt? Sicherlich spielt der Roman auch in Techno-Clubs wie dem Berliner Berghain oder im Weekend. Die Debatte um die von AIREN abgeschriebenen Passagen um Sex, Drogen und Musik täuscht darüber hinweg, dass dies nur ein Teilaspekt ist. Ist es ein Roman über die Berliner Bohème wie Georg DIEZ und Lothar MÜLLER in der Süddeutschen Zeitung behaupten? Wenn ja, dann nicht nur über jenen Teil, der in den Debatten im Mittelpunkt steht: Die Theaterszene um die Berliner Volksbühne, die mit Namen wie Carl HEGEMANN, Christoph SCHLINGENSIEF oder Frank CASTORF verbunden ist. Dieser Teil ist auch nicht gerade besonders angesagt: die analoge Bohème. Sie kommt im Grunde nur noch über Skandale in den Blick. Im Roman steht dagegen die digitale Bohème im Mittelpunkt. Die Protagonisten bedienen sich der IT-Technik und des Internets und anderer modernen Kommunikatstechniken. Mifti, die sich in dieser Szene etablieren möchte, wohnt mit ihren Halbgeschwistern Annika ("durchtriebene Marketing-Bitch") und Edmond, der eine Onlineplattform im Social-Commerce-Bereich betreibt, zusammen. Ihre "Bezugspersonen" arbeiten als DJ im Techno-Club (Alice) oder sind HIV-positiv wie die überdurchschnittlich verdienende Ophelia, die in einem Loft wohnt. Es geht in dieser digitalen Bohème immer auch darum, was wirklich zählt im Leben: Status und/oder Liebe und/oder Lifestyle. In der Soziologie würde man von Statusinkonsistenz sprechen, die in diesem neuen gesellschaftlichen Sektor noch vorherrscht. Das wird z.B. in einer Aussage von Ophelia klar.

Axolotl Roadkill

"es gibt keine allgemeingültige Hierarchie, die alle Aspekte mit einbezieht. Das ist ein urdeutscher Irrglaube. Natürlich stehst du meterweit über mir, aber das weißt du doch. Ich bin in der deutschen Kultur weniger als vorhanden. Aber das ist mir ganz gleich. Ich lasse dir deine Welt und du lässt mir meine."
(2010, S.181)

Der Vater von Mifti und seine Freund(inn)(e)n sind Teil der alten Welt, also die von Erwachsenen vorstrukturierte Welt, in die Mifti hineinwachsen soll. Aber sie will nicht hineinwachsen in diese "Peter Pan"-Welt dieses linksresignativen Milieus.

Axolotl Roadkill

"Meine Familie ist ein Haufen von in irgendeiner frühkindlichen Allmachtsphase steckengebliebenen Personen mit Selbstdarstellungssucht. Im äußersten Fall wird von deren Seite aus mal ein popkultureller Text über die Frage verfasst, weshalb die Avantgarde TROTZDEM bauchtanzt, aber das war's dann auch schon." (2010, S.12)

"»Meine Mutter ist schon lange tot.«
»Und dein Vater?«
»Der ist eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und in der Auguststraße wohnen«"
(2010, S.13)

Mifti lehnt auch die Therapiekultur ab, die mit dieser alten Welt aufs engste verquickt ist. Sie beharrt darauf, dass Therapien nicht wirklich etwas an den Beschädigungen, die ein Kind bzw. Heranwachsender, abbekommt, ändern. Außerdem ist die populäre Erziehungskultur auf eine Welt eingestellt, in der es keine (Techno-)Drogenprobleme gibt.

Axolotl Roadkill

"Ich bin ein misshandelter Teenager. Meine Schwester als einfühlsame Interpretin kann ohne weiteres eine zutiefst traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg abgekommene Person in mir erkennen, die den berühmten stummen Schrei nach Liebe/Hilfeschrei vom Rande des Abgrunds aussendet. Ich hingegen erfreue mich an der von mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mit entlarvt."
(2010, S.49)

"Heroinabhängig zu werden ist damit vergleichbar, Kinder in die Welt zu setzen"
(2010, S.141)

Es werden die unterschiedlichsten Familienkonstellationen analysiert, aber alleinerziehende drogenabhängige Elternteile mit Einzelkindern zwischen drei und dreizehn kommen schlicht und ergreifend nicht vor."
(2010, S.176)

"Ich kann ohne Probleme über alles sprechen, was mir jemals zugestoßen ist und traumatische Belastungsstörungen hinter sich herzieht, aber weißt du, das ist ein totaler Irrglaube, dass es möglich ist, alle persönlichen Missstände mit so einem Psychologiescheiß bearbeiten zu können. Das führt zu nichts. Was man unabhängig davon sagen kann ist: Ich bin für den Rest meines Lebens behindert, und niemand kann was daran ändern."
(2010, S.177)

Daneben stellen sich aber auch Fragen, die sich durch die Agenda 2010-Gesetzgebung verschärft stellen.

Axolotl Roadkill

"Mein Leben, meine Disziplinlosigkeit, mein Hausschaf, meine Tendenz zur Autoaggression, meine Selbstzweifel, meine Angst davor, nicht rechtzeitig vor eine harte Prüfung gestellt zu werden oder vor eine schwierige Entscheidung und natürlich auch die Angst davor, nie wieder das Bett verlassen zu müssen, außer um gelegentlich Zigaretten zu organisieren und dann in wenigen Jahren den Antrag auf Hartz IV in den Briefkasten zu schmeißen."
(2010, S.48)

Axolotl Roadkill verhandelt also im Grunde viel mehr als in den Rezensionen und Literaturdebatten bislang deutlich geworden ist. 

Fazit: Der Erlöserposten bleibt weiterhin unbesetzt und das ist gut so

Der Literaturbetrieb hat auch in Helene HEGEMANN keinen deutschen Michel HOUELLEBECQ gefunden und das ist gut so für beide Seiten . Der Erlöserposten ist keineswegs erstrebenswert, das sieht man an dem, was aus Michel HOUELLEBECQ geworden ist: jemand, der die Rolle des Volksfeindes spielen muss. Helene HEGEMANN wird ihren Weg gehen und vielleicht wird sie in ein paar Jahren oder auch erst in einem, zwei Jahrzehnten jenes Werk schreiben, das jetzt bereits von ihr erwartet wurde. Dann nämlich, wenn sie auch reif dafür ist. Wenn diese überhitzte Stimmung im Literaturbetrieb vorüber ist, also nach der Verleihung des Leipziger Buchpreises an einen Konsensautor, dann werden sich jene Menschen dem Roman zuwenden und seine Dimensionen ausloten können, die mit größerer und professionellerer Distanz an das Werk herangehen. Hier konnte nur eine erste Annäherung versucht werden, nicht aus literaturwissenschaftlicher, sondern aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. 

 
     
 
       
   

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Update: 03. Februar 2019