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Der Reproduktionstourismus als Problem und
als Chance
Mit der Leihmutterschaft
und der Eizellspende, die in Deutschland im Gegensatz zu anderen
Ländern verboten sind, beginnt das, was BERNARD als
Reproduktionstourismus beschreibt:
Kinder machen
"Dank der liberalen Gesetze
zu Eizellspende und Leihmutterschaft zählt die Ukraine (neben
Russland) heute zu den begehrtesten Zielen einer Bewegung, die
unter dem Namen »Reproduktionstourismus« bekanntgeworden ist.
Die Kosten dieser Fortpflanzungsmethoden sind für die Paare in
beiden Ländern wesentlich geringer als in den USA, zudem
empfinden die meist westeuropäischen Klienten die kulturelle
Differenz zu Moskau, Charkow oder Kiew weniger stark als etwa
zu indischen Städten, wo sich die Durchführung kommerzieller
Leihmutterschaften ebenfalls zu einem regelrechten
Industriezweig entwickelt hat."
(2014, S.354) |
Vor kurzem hat die
Soziologin Elisabeth BECK-GERNSHEIM diesen
Reproduktionstourismus folgendermaßen beschrieben:
Die neuen
Weltbürger
"Kopenhagen (ist) für
lesbische Paare und alleinstehende Frauen attraktiv, Belgien
gehört in Europa zu den Ländern mit den geringsten gesetzlichen
Beschränkungen, und Indien wird zum Welt-Standort für
Leihmutterschaft. Je nach gewünschter Behandlung und
finanziellen Ressourcen fahren Deutsche in die Türkei, Ägypter
in den Libanon, Bürger der Vereinigten Staaten nach Rumänien.
Deutsche Frauen lassen sich die Eizellen spanischer Frauen
einpflanzen, Amerikanerinnen holen sich in Italien oder
Griechenland Eizellen ab. Kinder werden zu einem
Joint-venture-Produkt, in dem sich spanische Eizelle, Sperma aus
Dänemark und indische Leihmutter verbinden.
Wo dies geschieht, entstehen neuartige transnationale
Verwandtschaftsverhältnisse, und dies nicht auf der
Makroebene von Wirtschaft und Politik, sondern im innersten
Kern der Familie"
(Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 05.08.2014) |
BECK-GERNSHEIM spricht das
Phänomen des Transnationalismus an, sieht jedoch aufgrund der
Auswahlkriterien der Eltern nicht neue Weltbürger einer
friedlicheren Weltordnung heranwachsen, sondern mehr soziale
Ungleichheit. Aufgrund der Vielfalt an Interessenlagen, die
durch die neuen Reproduktionstechnologien entstanden sind,
plädiert BECK-GERNSHEIM für eine Weltinnenpolitik mit verbindlichen Regeln.
Während hier die Probleme betont werden, sehen das die
individuellen Akteure ganz anders. Ihnen geht es um die
Erfüllung ihres Kinderwunsches.
Die Fruchtbarkeitskrise und der
Einstellungswandel zur Reproduktionsmedizin
BERNARD betont, dass mit
dem Heranwachsen der "Retortenkinder" und der Sichtbarkeit ihrer
Normalität der Aspekt der Künstlichkeit des Verfahrens der
Befruchtung außerhalb des weiblichen Körpers an Bedeutung verliert und
deshalb die Last der Unfruchtbarkeit an Bedeutung gewinnt:
Kinder machen
"Gerade
in der Zeit um 1990 aber, als das Embryonenschutzgesetz nach
langen parlamentarischen Debatten eingeführt wird, vermehren
sich die Zeichen einer grundsätzlichen Umwandlung der
Perspektive auf die In-vitro-Fertilisation. Die ersten auf
diese Weise gezeugten Kinder in Deutschland sind nun im
Grundschulalter, von häufiger auftretenden Fehlbildungen
oder Entwicklungsverzögerungen ist auch bei dem neuen
ICSI-Verfahren nichts bekannt, und der Aspekt der
Künstlichkeit spielt in der Berichterstattung über die
Methode Jahr für Jahr eine geringere Rolle. An seine
Stelle tritt ein neues Leitmotiv der öffentlichen Debatte:
die Last der Unfruchtbarkeit und ihre Überwindung durch die extrakorporale Befruchtung. Im Jahr 2014 wirkt die Betonung
dieser Allianz wie eine Tautologie. Sie bildet sich aber
erst mit einer Verzögerung von zehn, fünfzehn Jahren heraus,
und wieder sind es die Namen für die außerhalb des Körpers
gezeugten Kinder, an denen sich die Verschiebung der
Wahrnehmung ablesen lässt."
(2014, S.439f.) |
Noch 1992 fragt eine
Spiegel-Titelgeschichte über die Babyfabriken besorgt
Tun
wir Frauen etwas Gutes? In dem Artikel wird ausschließlich
der Begriff "Retortenkind" benutzt. BERNARD macht den
Einstellungswandel gegenüber den neuen Reproduktionstechnologien
am Begriffswandel in der Öffentlichkeit fest. Die Verwendung des
Begriffs "Wunschkind" gilt ihm als Zeichen für den Wandel:
Kinder machen
"Der
Gebrauch des Wortes »Retortenbaby« geht in den
Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Publikationen stark
zurück und wird ersetzt durch neue Begriffe, die es in den
Werbeprospekten der Reproduktionsmedizin schon immer gegeben
haben mag, in der Öffentlichkeit aber kaum präsent waren.
Nun ist immer häufig vom »Wunschkind« der unfruchtbaren
Paare die Rede und vom »Kinderwunsch«, der sich infolge der
neuen Befruchtungstechniken endlich erfüllen könnte. Die
großen deutschen Tageszeitungen und Magazine, die ein paar
Jahre zuvor noch erbitterte Leitartikel gegen die
Widernatürlichkeit der In-vitro-Fertilisation gedruckt
haben, publizieren Umfragen unter den Klienten von
Fortpflanzungskliniken und veranstalten Diskussionsforen
über die neuesten Erfolge der »Kinderwunsch-Behandlung«, wie
die IVF- oder ICSI-Methode inzwischen genannt wird.
Retortenbaby und Wunschkind: Im Wandel der
Begriffe offenbart sich der veränderte Schwerpunkt im Blick
auf die Reproduktionstechnologen - vom Entstehungsort der
Embryonen zur Sehnsucht des unfruchtbaren Paares, von der
Perspektive der Forschung zur Perspektive der Heilung.
Was bedeutet es für die assistierte Empfängnis, dass sie im
kollektiven Bewusstsein nicht mehr als übermächtige,
bedrohliche Prozedur erscheint, sondern als reine
Hilfsmaßnahme zur Behebung von Kinderlosigkeit? Mit dieser
Umstellung ist in den neunziger Jahren ein neuer Imperativ
der Fruchtbarkeit verbunden. (...). Fruchtbarkeit gilt -
wenn sie nicht ohnehin problemlos gegeben ist - inzwischen
als Effekt persönlicher Einsatzbereitschaft und Wahl."
(2014, S.440) |
Im Jahr 1996 titelt der
Spiegel Müde Spermien und berichtet über die
Fruchtbarkeitskrise. Der Entdeckungszusammenhang dieses Problems
beschreibt der Artikel folgendermaßen:
Nur noch halbe Männer
"Den
Verdacht, daß es einen Engpaß bei der männlichen
Zeugungskraft geben könne, trug als einer der ersten ein
dänischer Endokrinologe 1992 auf einer internationalen
Konferenz in Caracas vor. Niels Skakkebaek war stutzig
geworden, als die Zahl der Jungen, die mit Genitalproblemen
in seine Praxis kamen, stetig zu steigen schien:
Hodenhochstand und Genitalmißbildung, so lautete immer
häufiger seine Diagnose. Als er dann auch noch von der Mühe
seiner Kollegen in den dänischen Samenbanken erfuhr, Spender
mit tauglichem Sperma zu rekrutieren, wähnte er sich einem
Zeitphänomen auf der Spur. Seine Recherche führte ihn in die
Bibliotheken. Bis zurück ins Jahr 1940 wertete er sämtliche
Daten aus, die er über Spermienzahlen im Ejakulat von
Männern finden konnte. Sein Fazit, vorgestellt auf der
Konferenz in Caracas, sollte die Kollegen noch jahrelang
beschäftigen. »Jeder Mann in diesem Raum", so faßte es einer
der Zuhörer zusammen, "ist nur noch halb soviel Mann wie
sein Großvater.«"
(Spiegel
Nr.9 v. 26.02.1996, S.237) |
Es dürfte kein Zufall
sein, dass der angebliche Rückgang der männlichen Zeugungskraft
ausgerechnet in jenem Jahr entdeckt wurde, in dem mit dem ICSI-Verfahren ("Intrazytoplasmatische
Spermieninjektion") gemäß BERNARD die künstliche Befruchtung (in-vitro-Fertilisation)
revolutioniert wurde:
Kinder machen
"Im Juli 1992 (...)
erscheint ein kurzer Aufsatz in der Zeitschrift Lancet,
der die Robustheit der menschlichen Eizelle und die
Möglichkeit einer artifiziell herbeigeführten
Zellverschmelzung auf spektakuläre Weise bestätigt. Eine
Gruppe von Biologen und Gynäkologen, um André Seirteghem und
Gianpiero Palermo, stellt ihre Studie über eine »vielversprechende
Technik der assistierten Befruchtung« vor, die im Zentrum für
Reproduktionsmedizin an der Freien Universität Brüssel zur
Geburt von vier Babys geführt
hat. (...). Die Gruppe nennt das Verfahren »Intrazytoplasmatische
Spermieninjektion«, eine Methode, die heute die erfolgreichste
Behandlungstechnik der Reproduktionsmedizin ist (...). In der
Geschichte der extrakorporalen Befruchtung markiert die
Veröffentlichung dieses Aufsatzes und die rasche Etablierung
der ICSI-Methode die zweite epochale Zäsur, nach der
Geburt von Louise Brown 14 Jahre zuvor. Vielleicht ist es
sogar jetzt erst korrekt, wirklich von künstlicher Befruchtung
zu sprechen. Denn (...) die (...) ICSI-Methode (...) weitet
die Nachahmung der Empfängnis tatsächlich auf den Moment der
Befruchtung aus."
(2014, S.410) |
Im Spiegel-Artikel
von 1996 wird nicht die Unfruchtbarkeit der Männer, sondern der
Aufschub des Kinderkriegens in spätere Lebensjahre als
Hauptproblem beschrieben:
Nur noch halbe Männer
"Für
die Betreiber der neuen Fruchtbarkeitsbranche spielt indes
die Frage nach der Ursache von Unfruchtbarkeit bei Männern
und Frauen nur eine untergeordnete Rolle. Ihnen reicht es,
daß die Nachfrage wächst - nicht zuletzt weil eine wachsende
Zahl von Frauen ihren Kinderwunsch auf einen immer späteren
Zeitpunkt vertagt. Schon bei Frauen ab 25 sinkt die
Fruchtbarkeit, jenseits der 40 wird eine natürliche
Empfängnis zum Ausnahmefall. Gleichzeitig wächst die
Akzeptanz der neuen In-vitro-Methoden. Immer weniger
Ehepaare scheuen sich, medizintechnische Hilfe in Anspruch
zu nehmen - oft selbst dann, wenn ihre Unfruchtbarkeit
keineswegs eindeutig nachgewiesen ist. Viele Eltern mit
In-vitro-Kindern bringen anschließend auf natürlichem Wege
weitere Nachkommen zur Welt."
(Spiegel
Nr.9 v. 26.02.1996, S.237) |
Dagegen ist für BERNARD
die männliche Unfruchtbarkeit weiter verbreitet als die
weibliche Unfruchtbarkeit. Aber erst durch das neue
ICSI-Verfahren wurden unfruchtbare Männer vermehrt Adressaten
der Reproduktionsmedizin:
Kinder machen
"Die Ergänzung der
In-vitro-Fertilisation durch das ICSI-Verfahren im Jahr 1992
revolutioniert die assistierte Reproduktionstechnologie in
zweierlei Hinsicht. Zum einen ist mit dieser Methode noch
einmal eine ganz andere Rationalität des medizinischen
Eingriffs verbunden (...). Von den zahllosen, unreguliert
umherschwimmenden Spermien in der Petrischale bleibt ein
einziges übrig, das von einer Embryologin (...) für die
Injektion ausgewählt und vorbereitet wird.
Die zweite fundamentale Veränderung (...) betrifft den Kreis
der Adressaten. Vor 1992 ist die In-vitro-Fertilisation
weitestgehend auf die Überwindung weiblicher Infertilität
beschränkt. Wenn man bedenkt, dass die ungewollte
Kinderlosigkeit von Paaren gegenwärtig zu einem etwas höheren
Anteil auf die Unfruchtbarkeit der Männer zurückgehen soll,
kann also eine Vielzahl möglicher Klienten nicht von den
Errungenschaften der IVF-Behandlung profitieren und muss
ältere (...) Hilfsmaßnahmen wie die Samenspende in Anspruch
nehmen. (...). Das ICSI-Verfahren nun ermöglicht nicht nur
Männern die Vaterschaft, in deren Ejakulat sich ein einziges
brauchbares Spermium findet; es kann sogar bei vollständiger
Azoospermie angewendet werden (...).
95 Prozent der Männer (...) können dank des neuen Verfahrens
inzwischen ein leibliches Kind bekommen.
(2014, S.413f.) |
In dem Buch
Zukunft mit Kindern, einem interdisziplinären Kompendium
namhafter Wissenschaftler, das es sich zur Aufgabe macht über
bevölkerungspolitische Zusammenhänge aufzuklären, wird dagegen
davon ausgegangen, dass es keine "Spermienkrise" gibt (vgl.
2012, S.300). Das Fruchtbarkeitsniveau in der Bevölkerung (Fekundität)
ist demnach entweder gleich geblieben oder hat sich sogar
verbessert, schreiben Henning M. BEIER u.a. in dem Kapitel
Medizinische und biologische Aspekte der Fertilität:
Zukunft mit Kindern
"Die
gegenwärtige Fekundität von Mann und Frau wird jeweils mit
der Fekundität in der Vergangenheit verglichen. Zugrunde
liegen die Dauer bis zum Eintritt der Schwangerschaft (...),
die 1-Jahres-Infertilitätsrate und das Vorkommen von
permanenter Infertilität. Obwohl einige dieser Studien
kritisiert wurden, legen die Ergebnisse die Vermutung nahe,
dass sich die Fekundität der Bevölkerung im Laufe der
vergangenen 30 bis 40 Jahre entweder verbessert hat oder
unverändert geblieben ist. In der Fachliteratur gibt es
nicht eine Studie, die besagt, dass die Fekundität sinkt."
(2012, S.301) |
Wie bereits im Spiegel-Artikel
aus dem Jahr 1996 wird das Hauptproblem der
"Fruchtbarkeitskrise" im Geburtenaufschub gesehen. Im Laufe der
1990er Jahre geriet der Geburtenrückgang und das Single-Dasein
der Karrierefrau und der damit verbundene Aufschub der
Erstgeburten bzw. die vermutete Zunahme gewollter und
dauerhafter Kinderlosigkeit in den Fokus der
bevölkerungspolitischen Debatte
. Am Ende des Jahrzehnts schaffte
es die so genannte Babylücke auf das Titelbild des Spiegels:
Der Kinder-Crash
"Seit
den siebziger Jahren werden in Deutschland im Durchschnitt
nur noch 1,4 Kinder pro Frau geboren, jede vierte Frau
bleibt kinderlos - schon jetzt müssen manche Schulen um
Schüler werben. Den Arbeitsmarkt wird der Kinder-Crash in
wenigen Jahren erreichen, qualifizierter Nachwuchs wird
knapp werden. Nur ein wahrer und dauerhafter Kindersegen
könnte den Bevölkerungsstand stabilisieren. Doch woher soll
der kommen?"
(Heiko
Martens u.a. im Spiegel Nr.35 v. 30.08.1999, S.39) |
Obwohl die
Reproduktionsmedizin mit keinem Wort erwähnt wird, sondern die
Auswirkungen des Geburtenrückgangs auf die sozialen
Sicherungssysteme und das Gesundheitssystem im Mittelpunkt der
Titelgeschichte stehen, deutet die Problemdefinition "Babylücke"
darauf hin, dass die bevölkerungspolitischen Implikationen im
Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin keineswegs
vernachlässigt werden dürfen. Der Punkt "qualifizierter
Nachwuchs" deutet zudem darauf hin, dass es weniger um die
Quantität des Bevölkerungsrückgangs, sondern um die Qualität der
Bevölkerungszusammensetzung geht. Deutlich wird dies wenn auf die
Kinderlosigkeit der Akademikerinnen hingewiesen wird.
Bereits die Tatsache, dass noch bis Mitte der Nuller Jahre
40jährige Akademikerinnen als lebenslang kinderlos galten,
deutet auf die Ignoranz bzw. Leugnung später Mutterschaft
insbesondere unter Akademikerinnen hin.
Späte Mutterschaft ist, nachdem Ignoranz und Leugnung nicht mehr
möglich ist, zum bevölkerungspolitischen Feindbild geworden. Es
ist also weniger die veröffentliche Meinung, sondern die Zunahme
der Akzeptanz später Mutterschaft insbesondere bei westdeutschen
Akademikerinnen, die gezwungenermaßen zum medialen
Einstellungswandel gegenüber den neuen Reproduktionstechnologien
geführt hat.
Nur noch halbe Männer
"Auch
in Deutschland versprechen immer neue Kliniken das
Elternglück aus der Retorte. 16 000 IVF-Kinder wurden seit
1981 geboren. 3500 weitere kommen jährlich hinzu. Und der
Markt wächst: Bei den Frauenärzten stehen in jedem Quartal
rund 83 000 Paare wegen unerfüllten Kinderwunsches in
Behandlung – sie alle potentielle Kunden der wachsenden
Fruchtbarkeitsindustrie, die der Nachfrage oft kaum folgen
kann. In Berlin etwa sind für Paare Wartezeiten von mehr als
einem halben Jahr vor der Behandlung die Regel. Etwa jedes
achte Paar, so das Ergebnis einer großen deutschen Studie
aus dem letzten Jahr, ist ungewollt kinderlos – viel zu tun
also für die ärztlichen Fortpflanzungshelfer."
(Spiegel
Nr.9 v. 26.02.1996, S.237) |
Wenn BERNARD also von
einem Einstellungswandel in den 1990er Jahren spricht, dann ist
damit in erster Linie die steigende Nachfrage nach künstlicher
Befruchtung in der Bevölkerung gemeint, während die Medien -
beispielhaft an der Berichterstattung des Spiegels
ablesbar - aufgrund bevölkerungspolitischer Bedenken und
Gefahren der Menschenzüchtung weiterhin kritisch eingestellt
sind.
Wunschkinder aus der Retorte: Das Designerbaby als Bedrohung der
Gesellschaft?
Der Begriff "Wunschkinder
aus der Retorte" im Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1996
beschreibt eher die bis heute vorherrschende Ambivalenz der
Einstellung gegenüber den neuen Reproduktionstechnologien. Diese
Ambivalenz wird bei BERNARD zugunsten der Konstatierung eines
positiv besetzten Begriffswandels vom Retortenbaby zum
Wunschkind vernachlässigt. Im Begriff "Wunschkind" schwingt nach
der Jahrtausendwende immer auch der Begriff "Designerbaby" mit.
So berichtet Barbara SUPP im Jahr 2002 über ein Wunschkind, das
durch künstliche Befruchtung gezeugt werden soll, um das Leben
seines Bruders zu retten:
Das Wunschkind
"Das neue Kind wird als Klümpchen beginnen im Labor einer
Privatklinik in Nottingham. Der Arzt wird ihm Zellen
entnehmen, ihm und den anderen Embryonen, die er im
Reagenzglas produziert hat (...). Er wird die Zellen
genetisch testen lassen und das künftige Kind auswählen, das
am besten passt für den gewünschten Job. Er wird es (...) in
die Gebärmutter pflanzen und hoffen, dass es wächst und die
neun Monate übersteht. Es wird ein Wunschkind sein, wie es
bisher in Europa noch keines gab. Es soll das Leben seines
Bruders retten, der jetzt drei Jahre alt ist und der bald
sterben wird, wenn das neue Kind ihm nicht hilft."
(Spiegel
Nr.2 v. 07.01.2002, S.100) |
Designerkind ist ein
Begriff aus dem Wortschatz von Lebensschützern, d.h. radikalen
Gegnern künstlicher Befruchtung. Und es ist einleuchtend, dass
dieser Begriff nicht den gesellschaftlichen Konsens, sondern
eine Minderheitenmeinung wiederspiegelt. In der Spiegel-Titelgeschichte
Der künstliche Kindersegen aus dem Jahr 2003 wird der
Siegeszug der Reproduktionsmedizin deshalb folgendermaßen
beschrieben:
Babys auf Rezept
"Als
1981 erstmals in Deutschland in einer Erlanger Petrischale
eine Eizelle und ein Spermium zu dem verschmolzen, was
später als Oliver Wimmelbacher zur Welt kommen sollte, da
schien es nicht nur frommen Fundamentalisten, als hätten die
Ärzte nun vollends dem lieben Gott ins Handwerk gepfuscht:
Der Schöpfungsakt selbst war ins Visier von Bioingenieuren
gerückt.
War damit nicht der Gipfel irregeleiteten Machbarkeitswahns
erreicht? Eine »Grenzüberschreitung«, wie die »Katholische
Nachrichten Agentur« mahnte? War nun nicht endgültig der
Keim gesät für ein künftiges Geschlecht der Frankensteins?
Würde nun bald das Designerbaby Wirklichkeit?
Zwei Jahrzehnte sind seither verstrichen; all die bestürzten
Fragen sind weitgehend verstummt; vergessen ist die Empörung
über das erste deutsche Retortenbaby. Die künstliche
Befruchtung hat sich zu einer zwar nicht natürlichen, aber
normalen Form menschlicher Fortpflanzung gewandelt. An die
100 000 im Labor gezeugte Kinder wachsen bereits in
Deutschland heran. Rund 66 000-mal nahmen Paare zwischen
Aurich und Zwickau im Jahr 2000 die Dienstleistung IVF in
Anspruch. Die Geburt von 9675 Kindern verzeichnet das
IVF-Register allein für 1999. Jedes 80. Baby, das in
Deutschland auf die Welt kommt, verdankt demnach seine
Existenz den Virtuosen der Pipette.
»Sex - wer braucht das?«, fragt bereits das britische
Wissenschaftsmagazin »New Scientist« und ruft in seiner
neuesten Ausgabe eine Zeitenwende menschlicher Fortpflanzung
aus: Einige IVF-Zentren, so die Zeitschrift, erzielten
mittlerweile eine Schwangerschaftsrate von 40 Prozent -
womit sie erstmals über derjenigen des natürlichen
Geschlechtsverkehrs liegen."
(Jörg
Blech u.a. im Spiegel Nr.4 v. 20.01.2002, S.70f.) |
Angesichts dieser
scheinbaren Erfolgsgeschichte der künstlichen Befruchtung,
richten Jörg BLECH u.a. den Blick auf die daraus resultierenden
Folgen: ungewollte Kinderlosigkeit aufgrund der Überschätzung
der Künste der Reproduktionsmedizin. Auch hier geht es wieder um
das aus bevölkerungspolitischer Sicht hauptsächliche Problem des
Geburtenrückgangs durch den Aufschub der Geburten, solange bis
selbst die Reproduktionsmedizin keine Rettung mehr bringt, so
die Argumentation der Kritiker später Mutterschaft.
Babys auf Rezept
"»Vor
allem die erfolgreichen Frauen, die alle Examina mit eins
gemacht haben und im Beruf alles hinkriegen«, bestätigt der
Saarbrücker IVF-Arzt Thaele, »glauben fest daran, dass wir
ihnen helfen können.« Viele Frauen haben sich offenbar
entschlossen, das Alter als größtes Fruchtbarkeitsrisiko
schlicht zu ignorieren. Und indem die
Fortpflanzungsmediziner - gestützt durch die
Solidargemeinschaft der Kassen - ihnen eine medizinische
Lösung für ein soziales Dilemma offerieren, locken sie eine
beständig wachsende Zahl direkt in eine altersbedingte
Fruchtbarkeitsfalle.
In den USA, wo Fortpflanzungsmediziner ungewollte
Kinderlosigkeit als Drama einer ganzen Generation von
Mittdreißigerinnen und Vierzigern erleben, haben die Ärzte
kürzlich Alarm geschlagen. (...). Die amerikanische
Gesellschaft für Reproduktionsmedizin startete eine groß
angelegte Werbekampagne auf Bussen in New York, Chicago und
Seattle: »Fortschreitendes Alter verringert ihre Fähigkeit,
Kinder haben zu können«, lautet die Warnung im Stil der
Hinweise auf Zigarettenpackungen. Eine auf den Kopf
gestellte Nuckelflasche in Form einer Sanduhr soll das
Verrinnen der besten Jahre symbolisieren.
Aufklärung täte auch in Deutschland Not."
(Jörg
Blech u.a. im Spiegel Nr.4 v. 20.01.2002, S.75.) |
Die Ambivalenz der
reproduktionstechnologischen Lösung einer wie auch immer
gearteten Fruchtbarkeitskrise, zeigt sich darin, dass die
Reproduktionsmedizin für eine bevölkerungs- bzw. biopolitische
Indienstnahme durchaus empfänglich ist.
Die
Reproduktionsmedizin und der Geburtenrückgang
BERNARD sieht einen
Zusammenhang zwischen der Entstehung der Reproduktionsmedizin
und eugenischen Bestrebungen im Rahmen des Geburtenrückgangs um
1900:
Kinder machen
"Die Frühzeit der
künstlichen Befruchtung muss im Rückblick von einer bestimmten
historischen Schwelle her betrachtet werden; die Aussagen über
dieses Verfahren teilen sich ins Jenseits und Diesseits einer
Zäsur, die in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts liegt,
in Frankreich etwa dreißig Jahre früher. In dieser Zeit
verfestigt sich der demographische Befund eines nationalen
Geburtenrückgangs, der das Problem der sterilen Ehe von einer
individuellen Last zum Symptom einer bedrohlichen kulturellen
und gesellschaftlichen Gesamtentwicklung macht. In der
Angst
vor »Entvölkerung« treffen verschiedene Schreckensvisionen
(...) mit neuen sozialpolitischen Konzepten wie der Eugenik
zusammen. (...). Und dieser Diskurs verschafft der Technik der
künstlichen Befruchtung stärkeres Gehör."
(2014, S.170) |
BERNARD beschreibt die
Angst vor der Entvölkerung in Deutschland und Frankreich und
bringt dies mit dem Aufkommen des reproduktionstechnologischen
Verfahrens der Samenspende in Verbindung:
Kinder machen
"Es hat (...) nicht allein
mit der Autorität einzelner Ärzte zu tun, dass die künstliche
Befruchtung nach 1910 zum vieldiskutierten medizinischen
Phänomen wird; vielmehr steht diese neue Aufmerksamkeit (...)
im Zusammenhang mit den Diagnosen der Demographie. Sowohl in
Frankreich als auch in Deutschland ist erkennbar, dass die
Debatte um den Geburtenrückgang und die Konjunktur der
homologen Insemination zeitgleich verlaufen. Die Académie
Médicine in Paris diskutiert das Thema der drohenden
Entvölkerung zum ersten Mal im Jahr 1867; ab den siebziger
Jahren ist das Gespenst der »dépopulation« für den Rest des
Jahrhunderts ein bestimmendes Thema der französischen
Hygienebewegung. Im Deutschen dagegen existiert das Wort
»Geburtenrückgang« bis zum Jahr 1905 praktisch nicht, wie Christiane Dienel in ihrer großen Untersuchung zur Demographie
in Deutschland und Frankreich vor 1918 schreibt. Erst danach
beginnt die Angst vor der Entvölkerung und der Fortpflanzung
der Falschen auch hier eine Rolle zu spielen;
Dienel weist vor
allem in den vier Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine rasant
anwachsende Zahl an Publikationen auf. Schon 1915 kann ein
Kommentator rückblickend die »ins Riesenhafte angewachsene
Literatur über die Geburtenrückgangsfrage« konstatieren.
Diese zeitliche Entwicklung stimmt überraschend genau mit dem
Aufkommen der homologen Insemination überein."
(2014, S.174f.) |
In diesem Zusammenhang
weist BERNARD darauf hin, dass es bei der Steigerung der
Geburtenzahlen durch reproduktionstechnologische Verfahren
keineswegs um quantitative Bevölkerungspolitik (Steigerung der
Geburtenzahlen), sondern um eine qualitative Bevölkerungspolitik
(Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung) geht:
Kinder machen
"Das zeitgleiche Eintreten
für die eugenisch motivierte Hemmung der Reproduktion auf der
einen und die durch künstliche Befruchtung ermöglichte
Förderung der Reproduktion auf der anderen Seite zeigt (...),
dass es (...) nicht auf die generelle Behebung ehelicher
Sterilität ankommt. Denn es ist von höchster Wichtigkeit,
wem mit allen Regeln der Kunst zu Nachkommen verholfen
werden soll. In den Erfahrungsberichten der Ärzte ist zwar nie
ausdrücklich vom sozialen Status der behandelten Ehepaare die
Rede; man kann allenfalls von beiläufigen Äußerungen über die
Größe und Ausstattung der Wohnhäuser, in denen die
Inseminationen häufig stattfinden, auf ihren Wohlstand
schließen. Es besteht aber kaum ein Zweifel, dass es sich um
Paare handelt, die sich die Behandlung nicht nur leisten
können, sondern die es aus eugenischer Sicht auch verdient
haben, dass ihr Wunsch nach Fortpflanzung mit den
avanciertesten Mitteln unterstützt wird. Rohleder spricht in
seiner Antrittsrede einmal davon, dass die Eindämmung des
Bevölkerungswachstums im Sinne Thomas Malthus' zwar in den
meisten Regionen notwendig sei, nicht aber in Frankreich und
den »deutschen Großstädten«. Diese Bemerkung zeigt deutlich,
dass die Insemination zu dieser Zeit allein im urbanen,
gesellschaftlich arrivierten Milieu Anwendung findet.
Das Versprechen der künstlichen Befruchtung muss in der Zeit
um 1900 also immer vor dem Hintergrund der kulturkritischen,
zum Teil apokalyptischen Diagnosen betrachtet werden, die das
Gut des »Lebens« in grundsätzlicher Gefahr wähnen. Ein
Konglomerat von Bedrohungen - die überfeinerte, nervöse
Atmosphäre der Großstadt, die zunehmende Ausbreitung von
Geschlechtskrankheiten, der Verzicht auf Nachkommen aus
finanziellen Erwägungen in den höheren Schichten - steht der
gesunden, fruchtbaren Ehe und damit dem Gedeihen der Nation
entgegen. (...). Ihr eindrucksvollstes Dokument findet die
Verherrlichung der Fertilität (und die damit verbundene
Dämonisierung des Geburtenrückgangs) zweifellos in Emile Zolas
Spätwerk »Fruchtbarkeit«. Dieser Roman entwickelt geradezu eine
Theologie der Reproduktion."
(2014, S.175f.) |
Wie aber inszeniert
BERNARD den Bruch dieser Sichtweise auf die
Reproduktionsmedizin?
Wie weiter oben bereits angesprochen weist BERNARD darauf
hin, dass ausgerechnet der Nationalsozialismus nicht auf die
künstliche Befruchtung als Mittel der Eugenik bzw.
Menschenzüchtung setzte (positive Eugenik), sondern auf die
Judenverfolgung als Mittel der negativen Eugenik. Der
ICSI-Patient, der in den 1990er Jahren zum typischen Adressaten
der Reproduktionstechnologie wurde, wird dann zur Antithese
einer qualitativen Bevölkerungspolitik stilisiert:
Kinder machen
"Die Erfolge der
ICSI-Methode sorgen für eine bemerkenswerte genealogische
Konstellation: Da sich Defekte der Spermienqualität häufig auf
die männlichen Nachkommen der Patienten vererben, kann sich
die Infertilität in der nächsten Generation der Familien
fortsetzen. Unfruchtbare Väter zeugen dank ICSI unfruchtbare
Söhne (...). Man muss in diesem Zusammenhang auf die lange
bevölkerungspolitische Geschichte der Reproduktionsmedizin
zurückblicken, um den radikalen Bruch der Mikroinjektion mit
früheren Motiven assistierter Empfängnis zu ermessen. In der
Frühzeit der homologen Insemination, jenem archaischen
Vorläufer des ICSI-Verfahrens, lieferte die Angst vor
Entvölkerung den wichtigsten Impuls für die Akzeptanz der
neuen Fortpflanzungsmethode. Mit dem Aufkommen der Samenspende
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (...) waren immer
wieder Phantasien einer eugenisch optimierten Population
verbunden; die strengen Auswahlkriterien heutiger Samenbanken,
weit über den Faktor medizinischer Unbedenklichkeit hinaus,
enthalten noch Spuren dieser Sehnsucht. Die Technik der
Mikroinjektion jedoch markiert den Höhepunkt einer völlig
gegenläufigen Tendenz: Nun werden Männer zu Vätern, deren
Samenqualität die Weitergabe ihres Erbguts auf konventionellem
Wege verhindert und die Erkrankung der Sterilität sogar an die
eigenen Kinder weitergibt. Aus der lange Zeit maßgeblichen
Perspektive der Bevölkerungspolitik erscheint dies als
befremdliches Unterfangen: Der ICSI-Patient (...) ist die
genaue Antithese zu der strotzenden Befruchtungskraft des
Samenspenders. Die bekannte Pauschalkritik an der
Reproduktionsmedizin, sie bringe maßgeschneiderte
»Designer-Babys« hervor, trifft bei dieser Behandlungstechnik
also gerade nicht zu; die Zeugung findet zwar im Labor statt,
aber nicht mit glänzenden, hochwertigen Ingredienzien, sondern
gewissermaßen mit den letzten auffindbaren Fetzen -
»Resterampen-Baby« wäre die passendere Metapher. Genau dieser
Verlagerung allerdings veranschaulicht die neue
individualistische Funktion der assistierten Empfängnis. Seit
einem guten Vierteljahrhundert hat sich die Kategorie der
»Bevölkerung« im Diskurs der Reproduktion aufgelöst. Worauf es
heute ankommt, ist das Familienglück des Einzelnen; welchen
Einfluss die neue Methode der Fortpflanzung hingegen auf eine
Population im Ganzen haben könnte (zwischen 1870 und 1970 eine
entscheidende Frage), erscheint als obsolet. Noch Edwards und
Steptoe sahen sich in der Anfangszeit ihrer Forschungen mit
dem Vorwurf konfrontiert, die In-vitro-Fertilisation würde das
akute Problem der Überbevölkerung verschärfen. Der Eingriff
des ICSI-Verfahrens, seine paradox anmutende Weitergabe der
Unfruchtbarkeit von Generation zu Generation, vollzieht sich
unabhängig von allen demographischen Befunden."
(2014, S.415f.) |
Mit der These, dass die
Reproduktionsmedizin eher "Resterampe-Babys" statt der
bedrohlichen "Designer-Babys" hervorbringe, begegnet BERNARD den
Gegnern künstlicher Befruchtung. Diese Sichtweise von BERNARD
unterliegt jedoch dem Missverständnis, dass Eugenik und qualitative
Bevölkerungspolitik identisch sein müssen. In der gegenwärtigen
bevölkerungspolitisch geprägten Debatte um den demografischen
Wandel stand seit den 1990er Jahren mehr oder weniger
unausgesprochen der Gedanke im Vordergrund, dass die Falschen
die Kinder bekommen. Selten wurde dies deutlicher gesagt als vom
ehemaligen Gesundheitsminister Daniel BAHR (FDP)
oder von Thilo SARRAZIN in seinem Bestseller Deutschland schafft
sich ab
. Muss aber qualitative Bevölkerungspolitik auf
eugenische Maßnahmen setzten, um die Bevölkerungszusammensetzung
zu verändern? Gegenwärtig setzt die Bevölkerungspolitik auf
ökonomische Anreize für Besserverdienende (Elterngeld) und
Wegfall ökonomischer Anreize für Hartz IV-Empfänger. Und es ist
unübersehbar, dass die hauptsächlichen Nutznießer
reproduktionstechnischer Verfahren noch immer der gleichen
Schicht entstammen wie - weiter oben bereits
erwähnt - zu Beginn der Entwicklung der
Reproduktionsmedizin.
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