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Thema des Monats

 
       
   

Der subsidiäre Sozialstaat

 
       
   

Das Feindbild "Single-Gesellschaft" als Folge der Katholisierung der Berliner Republik

 
       
     
   
     
 

Zitate: Der katholische Sozialstaat in Deutschland

"Jede Rente, die ein Kinderloser bekommt, wird ihm geschenkt von den Kindern anderer Leute."
(Alfred Rollinger vom Familienbund der Deutschen Katholiken im Trierer Volksfreund vom 16.07.2002)

"Prinzip der Subsidiarität. Es entstammt der katholischen Soziallehre, hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – nicht nur im kirchlichen Sektor – so sehr bewährt, dass es geradezu zu einem europäischen Exportartikel avanciert ist. Es besagt, dass innerhalb gesellschaftlicher Strukturen die größeren, umfassenderen Systeme den kleineren unterstützend und helfend zur Seite treten, aber nur so weit, als die kleineren Systeme anstehende Aufgaben nicht selbst erfüllen können.
Familie ist geradezu der Musterfall für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. An erster Stelle liegt die Verantwortung für die ihr eigenen Belange bei ihr selbst. Sie steht der gesamtgesellschaftlich so wichtigen Aufgabe der Sorge für Nachkommenschaft ja auch am nächsten. Die größeren gesellschaftlichen Institutionen bis hin zum Staat stehen in der Pflicht, den Familien fördernd, ergänzend und nur im begründeten Notfall ersetzend an die Seite zu treten."
(Georg Kardinal Sterzinsky in der Süddeutschen Zeitung vom 15.11. 2002)

"Können wir uns wirklich einen Staat vorstellen ohne religiöse Verankerung? Dieser Punkt ist die »Achillesferse« des modernen Staates. Dieser schwer zu beantwortenden Frage darf nicht ausgewichen werden."
(Bischof Reinhard Marx im Rheinischen Merkur vom 17.04.2003)

"Warum schreiben die Bischöfe nicht: Massenarbeitslosigkeit ist Sünde! Oder: Kinderarmut ist Sünde! Oder auch: Egozentrisches Anspruchsdenken ist sündig! Das würde zwar nicht klären, ob und wie ein demografischer Faktor in die Rentenversicherung gehört. Wohl aber, wovor sich eine Gesellschaft hüten sollte wie der Teufel vorm Weihwasser."
(Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung vom 26.09.2003)

Eine Vision im Geiste der Zeitdiagnostik von Ulrich Beck

Wir spielen jetzt einfach einmal Ulrich BECK und scheren uns - wie die Popsoziologie - einen Dreck um Empirie und Fakten, denn die zeigen nur auf wie unsere Vergangenheit war, wir dagegen wollen ein neues Bild der Zukunft entwerfen. Nichtsdestotrotz werden wir - was die Vergangenheit betrifft - den empirischen Fakten ins Auge sehen und die wenigen verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Stand der Dinge durchaus berücksichtigen.

Das 21. Jahrhundert als katholisches Jahrhundert

Eigentlich sollte es das Jahrhundert der Frau werden. Das muss jedoch ausfallen, denn in der Geschichte setzt sich nie das durch, was in der Zeitung steht, sondern das, was sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt. Wir werden auch Michel HOUELLEBECQs oberflächliche Sichtweise in seinem Buch Elementarteilchen Lügen strafen:

Elementarteilchen

"»Viele Leute hier sind katholisch«, sagte er weiter. »Aber das ändert sich allmählich. Irland wird moderner. Mehrere Hightech-Unternehmen haben sich hier niedergelassen, um die reduzierten Sozialabgaben und die Steuerermäßigungen auszunutzen - hier in der Gegend haben wir Roche und Lilly. Und dann natürlich Microsoft - alle jungen Leute in diesem Land träumen davon, bei Microsoft zu arbeiten. Die Leute gehen weniger zur Messe, die sexuelle Freiheit ist größer als vor ein paar Jahren, es gibt immer mehr Diskotheken und Antidepressive. na ja, das klassische Schema...«"
(1999, S.328)

Im folgenden wird gezeigt werden, dass der Katholizismus nicht als Verhaltenskodex weiterlebt, sondern als weitgehend unsichtbare Institution unser Verhalten und Denken im 21. Jahrhundert wesentlich nachhaltiger prägt, als wir dies wahrhaben wollen.

Was ist unter Katholizismus zu verstehen? Eine erste Annäherung

Wir werden uns hier nicht mit dem beschäftigen, was auch darunter verstanden werden könnte. Wir werden uns also nicht mit denjenigen beschäftigen, die katholischen Glaubens sind oder regelmäßig in die Kirche gehen. Ulrich SCHNABEL schreibt dazu:

Wie man in Deutschland glaubt

"Die meisten Deutschen dagegen haben mit der Kirche nur noch wenig am Hut. Zwar gehören offiziell noch immer zwei Drittel aller Deutschen entweder der katholischen (26,7 Millionen Mitglieder) oder der evangelischen Kirche (26,3 Millionen) an. Doch nur noch etwa jeder Zehnte lässt sich regelmäßig im Gottesdienst blicken".
(Die Zeit 22.12.2003)

Es mag die Kirchen in Deutschland schmerzen, wenn ihnen die Menschen davonlaufen. Uns interessieren nicht einmal die Gründe dafür. Uns interessiert auch nicht die theologische Perspektive, zumindest nicht in erster Linie. Wenn sie uns interessiert, dann nur in ihren politischen und gesellschaftlichen Folgen.

Ewige Steinzeit

"Mit achtzehn las ich den berühmten Ausspruch von Charles Maurras: »Ich bin Atheist, aber ich bin natürlich Katholik.« Dieser Ausspruch gefiel mir sehr, er klang so gewagt. Was Atheismus sei, ahnte ich nicht einmal, denn mein Vertrauen in die Güte und Ordnung der Welt war unendlich; was die katholische Religion sei, konnte ich nicht wissen, weil es mir niemand wirklich gesagt hatte".
(Martin Mosebach im Kursbuch 149 Gott ist tot und lebt, September 2002, S.9)

Was uns interessiert, das ist u. a. der Sozialisationsrest - eine Art katholischer Atheismus, der fälschlicherweise als Säkularisierung missverstanden werden könnte. Katholischer Atheismus, das kann auch Menschen betreffen, die eigentlich gar keine Katholiken sind:

Naivität als Vergehen

"ALBIG: Bist du katholisch oder evangelisch?
ILLIES: Sehr protestantisch, also leider nicht katholisch. Die Katholiken haben die Möglichkeit, zur Beichte zu gehen, Protestanten haben die nicht. Ich komme aus einem bewusst protestantischen Elternhaus."
(Florian Illies in Texte zur Kunst, 2000)

Florian ILLIES beklagt wie Martin MOSEBACH eine "Häresie der Formlosigkeit". Wir werden später sehen, dass gerade die "ursprüngliche" katholische Form den unbewussten Sehnsüchten unserer Zeit am nächsten kommt. Uns interessiert hier auch nicht der Prozess der Säkularisierung:

Die Engel der Nationen

"Säkularisierung meint Freiheit des Staates von kirchlicher Bevormundung, Freiheit der Kirche von staatlicher Einmischung und Freiheit des religiösen Bekenntnisses für den Bürger - eine dreifache Befreiung, die in der Tat eine Voraussetzung der Moderne darstellt. Unter Säkularisierung werden aber auch Säkularismus, Glaubens- und Transzendenzverslust verstanden."
(Karl-Peter Schwarz in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.04.2004)

Was uns eher interessiert, das ist das Verhältnis von Kirche und Staat:

Kirche ohne Schatten

"Das Grundgesetz behauptet, es gebe keine Staatskirche (Artikel 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Abs. I Weimarer Reichsverfassung). Doch sind Staat und Kirchen immer wieder bemüht, das Gegenteil zu beweisen. Ein fast kurioses Beispiel dafür ist die Einrichtung von 21 Konkordatslehrstühlen außerhalb der theologischen Fakultäten - Soziologie, Pädagogik, allgemeine Philosophie - an bayerischen Universitäten. Es handelt sich um Professuren, deren Inhaber vom Staat erst ernannt werden (dürfen), wenn vom zuständigen Diözesanbischof keine Einwendungen gegen die Person erhoben werden. So macht der Staat zwar die Kirche nicht zu einer Staatsanstalt (»Staatskirche«), aber er macht seine freien Universitäten zu Veranstaltungen der Kirche.
Untrennbar miteinander verschmolzen sind Staat und Kirche in der Militärseelsorge."
(Christian Bommarius im Kursbuch 149 Gott ist tot und lebt, September 2002, S.17)

Christian BOMMARIUS beschäftigt sich auch mit kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen und damit sind wir im Zentrum unseres Themas, dem Sozialstaat, angelangt.

Der soziale Katholizismus. Eine zweite Annäherung

Zum 40. Jahrestag des Sozialstaatsgebots behandelte Walter KERBER (1989) den Beitrag der Katholischen Soziallehre zum Sozialstaat. Dort nennt er vier Ebenen der Einflussnahme auf das politische Geschehen:

1. Auf der allgemeinen Ebene des christlichen Glaubens,
2. durch ihre Theologen und Sozialethiker,
3. durch die kirchenamtliche katholische Soziallehre,
4. durch unmittelbare politische Intervention.

Die Agenda 2010 sieht einschneidende Kürzungen beim Sozialstaat vor . Karl GABRIEL & Hermann-Josef GROßE KRACHT haben das jüngste Dokument der katholischen Soziallehre zur Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland vom Dezember 2003 folgendermaßen charakterisiert:

"Es handelt sich um einen 28seitigen »Impulstext« der »Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen« unter dem Titel »Das Soziale neue denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik«."
(2004, S.236)

Dem neoliberalen Diktum der Eigenverantwortung korrespondiert in der katholischen Soziallehre das Subsidiaritätsprinzip. Die Autoren werten diese Rückkehr zu alten katholischen Prinzipien als bedenklich:

"Während der Text (...) die Erwartungen an die sozialpolitische Leistungsfähigkeit der Familie erhöht - und auch sonst dazu neigt, die ohnehin gängigen und in der aktuellen Debattenlandschaft emotional erheblich aufgeladenen Konfliktlinien von »jung gegen alt«, »Arbeitssuchende gegen Arbeitsplatzbesitzer« und »Eltern gegen Kinderlose« bedenkenlos zu reproduzieren -, bleiben sämtliche Fragen der sozialen Gerechtigkeit ausgeklammert."
(2004, S. 238)

Damit ist der Kernkonflikt, der uns hier interessiert - die Kontroverse Familien contra Singles - angesprochen. Jetzt wollen wir uns der Frage zuwenden, inwiefern der Katholizismus mit einem Familienfundamentalismus einhergeht.

Katholizismus und Familienfundamentalismus. Eine dritte Annäherung

Der Politikwissenschaftler Stephan LESSENICH hat in seinem Buch Dynamischer Immobilismus (2003) den Familialismus neben Verbundföderalismus und Verhandlungsdemokratie als eine von drei Säulen des deutschen Sozialstaatsmodell bezeichnet:

Dynamischer Immobilismus

"»Familialismus« meint im Folgenden die spezifische Form politisch regulierter sozialer Beziehungen, welche die Familienordnung - vorrangig verstanden als die Ordnung der Geschlechterbeziehungen bzw. des Eheverhältnisses - historisch im deutschen Sozialmodell angenommen hat."
(2003, S.158)

Bereits der wissenssoziologische Ansatz von Karl MANNHEIM sah den Familialismus als alternativen Denkstil zum Etatismus und Individualismus. Das Herzstück der katholischen Soziallehre - das Subsidiaritätsprinzip - drückt genau diese Differenz aus. LESSENICH beschreibt die historische Entwicklung des Sozialstaats. Er beruft sich bei seinen Ausführungen u. a. auf den Historiker Paul NOLTE. Im Gegensatz zur These, dass der heutige Sozialstaat auf BISMARCK zurückgeht, sieht LESSENICH einen einschneidenden Wandel im Sozialstaatsverständnis, das erst in den 50er Jahren zum Tragen kommt. Der Familialismus in seiner heutigen Form ist ein spezifisches Produkt dieser 50er Jahre:

Dynamischer Immobilismus

Es "erfolgte die gesetzliche Verankerung von rein familialistisch begründeten - genauer: von allein aufgrund des Ehestatus zugänglichen - Sozialversicherungsleistungen, jedenfalls auf breiter Basis, erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst der Sozialversicherungsstaat der Bundesrepublik schritt zur sozialpolitischen Institutionalisierung eines genuin ehezentrierten Familialismus."
(2003, S.162)

Am Beispiel der Rentenreform von 1957 beschreibt LESSENICH die Festschreibung der Hausfrauenehe als normativen Standard innerfamilialer Arbeitsteilung. Die Witwenrente erhielt dadurch erstmals Unterhaltsersatzfunktion. Im Subsidiaritätsprinzip sieht LESSENICH den kleinsten gemeinsamen Nenner von sozialer Marktwirtschaft/Neoliberalismus und katholischer Soziallehre. Während LESSENICH den Begriff Familialismus auf das existierende Sozialmodell anwendet, bezieht sich der Begriff Familienfundamentalismus auf radikale Forderungen zur singlefeindlichen Umgestaltung des Sozialstaats. Forderungen nach der Einführung einer Rente nach Kinderzahl oder eines Familienwahlrechts sind darunter zu subsumieren. Thomas EBERT hat damit im Aufsatz Beutet der Sozialstaat die Familien aus? im Sammelband Kinderarmut und Generationengerechtigkeit z.B. die "Familienausbeutungstheorie" von Jürgen BORCHERT bezeichnet:

Beutet der Sozialstaat die Familien aus?

"Kinder wecken normalerweise positive Emotionen, Unrecht an Kindern oder an Familien mit Kindern bewirken dementsprechend eine starke gefühlsmäßige Anteilnahme. Deshalb übt eine politische Argumentation, die sich auf die angebliche oder tatsächliche Benachteiligung von Kindern stützt, leicht eine große Suggestionskraft aus. Nicht viel anders ist es, wenn die Zukunftschancen der Jugend ins Spiel gebracht werden.
Bei solchen Argumenten besteht jedoch die Gefahr, dass (...) politische, ökonomische und soziale Konflikte in biologische umgedeutet werden, zum Beispiel zwischen Kinderreichen und Kinderlosen bzw. -armen oder zwischen Jungen und Alten. (...).
Ein besonders plastisches Beispiel für die Biologisierung sozialer und ökonomischer Konflikte liefert die Behauptung, es gebe eine Ausbeutung der Kinder erziehenden Familien durch den Sozialstaat, besonders durch das Rentenversicherungssystem, aber auch die Gesetzliche Pflegeversicherung. Wegen der Neigung zu extremen Positionen kann man bei dieser Richtung durchaus von »Familienradikalismus« oder »-fundamentalismus« sprechen.
(aus: Kinderarmut und Generationengerechtigkeit 2002, S.99)

Der katholische Sozialstaat

Die Politikwissenschaftler Frank NULLMEIER & Friedbert W. RÜB versuchen in dem Buch Die Transformation der Sozialpolitik (1993) sogar Belege für die Existenz eines katholischen Sozialstaats zusammenzutragen. Wann kann man von einem katholischen Sozialstaat sprechen?

Die Transformation der Sozialpolitik

"Nur wenn zentrale Institutionen des bundesrepublikanischen Sozialstaates den Stempel der katholischen Soziallehre tragen und er sich dadurch von liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Modellen unterscheidet, ist die These eines katholischen Sozialstaates plausibel zu begründen."
(1993, S.400)

Die Autoren können dies nicht nachweisen, meinen jedoch, dass sich eine solche Prüfung lohnen würde. Auf jeden Fall sind sie der Ansicht, dass der Faktor Katholizismus unterschätzt wird und man von einem vorwiegend katholischen Sozialstaat sprechen kann, trotz der Säkularisierung mit ihrer behaupteten Trennung von Staat und Kirche. Warum wird nicht vom protestantischen Sozialstaat gesprochen?

Die Transformation der Sozialpolitik

"Im Gegensatz zum Protestantismus (...) hat der soziale Katholizismus eine komplette Theorie der gesellschaftlichen Ordnung entworfen, in der alle zentralen Elemente und Ausführungen durch die höchste Autorität des heiligen Stuhles abgesichert sind; eine solche Einheit einer Gesellschaftswissenschaft hat kaum ein anderes Wissen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt."
(1993, S.414)

Der Einfluss des Katholizismus kann am besten an den Rentenreformen sichtbar gemacht werden.

Wilfried Schreiber und die Rolle des Verbandskatholizismus

Wilfried SCHREIBER (1904 - 1975) war von 1949 bis 1959 Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Elmar LÖCKENHOFF nennt ihn den "Vater der dynamischen Rente", die mit der Rentenreform 1957 eingeführt wurde. Walter KERBER (1989) schreibt dazu im Artikel Katholische Soziallehre im Sammelband Vierzig Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Norbert BLÜM & Hans E. ZACHER:

Katholische Soziallehre

"Die Neuordnung der gesetzlichen Rentenversicherung von 1957 geht weitgehend auf Vorschläge zurück, die Wilfried Schreiber (...) ausarbeitete. Die »dynamische Rente« baut nicht mehr auf dem Kapitaldeckungsverfahren, sondern auf dem Umlageverfahren auf und sucht einen gerechten Ausgleich zwischen den Generationen der Arbeitsfähigen und der Rentner herzustellen. Nicht gelungen ist es, auch die nachfolgende Generation in die Rentenreform einzubeziehen".
(aus: Vierzig Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland 1989, S.648)

Mit dem letzten Satz spielt KERBER auf den Drei-Generationen-Vertrag an, der ursprünglich anvisiert worden war, aber dann nur als Zwei-Generationen-Vertrag realisiert wurde.

Oswald von Nell-Breuning und die Rolle der katholischen Soziallehre

Der kinderlose Jesuitenpater Oswald von NELL-BREUNING (1890 - 1991) war der unumstrittene Nestor der katholischen Soziallehre. In dieser Funktion entwickelte er die Idee vom Drei-Generationen-Vertrag, die mit einer Verschiebung von einer ökonomisch-monetären hin zu einer naturalen Betrachtungsweise einhergeht. Die Aufzucht der nächsten Generation wird nun als Investition betrachtet. NULLMEIER & RÜB beschreiben die damit verbundene implizite Theorie des generativen Verhaltens folgendermaßen:

Die Transformation der Sozialpolitik

"Im Gegensatz zum Protestantismus (...) hat der soziale Katholizismus eine komplette Theorie der gesellschaftlichen Ordnung entworfen, in der alle zentralen Elemente und Ausführungen durch die höchste Autorität des heiligen Stuhles abgesichert sind; eine solche Einheit einer Gesellschaftswissenschaft hat kaum ein anderes Wissen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt."
(1993, S.414)

NULLMEIER & RÜB sehen das Jahr 1978 als Wendepunkt in der Sozialstaatsdebatte an, denn damals wurde erstmals zwischen Sozialstaat und Geburtenrückgang ein Kausalzusammenhang hergestellt:

Die Transformation der Sozialpolitik

"Eine Zuspitzung erfuhr die Debatte durch eine Kehrtwende bei der Ursachenanalyse: Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur galten im korporatistischen Netz der Rentenpolitik bis dahin als externe Größe, auf die die GRV weder Einfluß hatte noch bekommen konnte. Dies legte eine reaktive Politik nahe, die bestenfalls Anpassungsreaktionen vornahm. Dagegen entfaltete sich eine demographische Argumentation, die den Geburtenrückgang auch als Folge der institutionellen Ausgestaltung der GRV verstand. Die Bevölkerungsentwicklung stellte sich der GRV danach als selbsterzeugte Problem dar. Eine Rentenpolitik, die den Geburtenrückgang mitverursacht, wäre zumindest unbewußt Bevölkerungspolitik. Der Einbau explizit bevölkerungspolitischer Elemente ist dann nur Explikation einer immer schon wirkenden Kausalität."
(1993, S.367f.)

Drei-Generationen-Vertrag und Rente nach Kinderzahl

Mit der bevölkerungspolitischen Wende und der Idee des Drei-Generationenvertrags waren jene Grundbausteine der Rentendebatte entwickelt, die seitdem die rentenpolitischen Kontroversen bestimmen. Während NELL-BREUNING seine Vertragstheorie funktionalistisch interpretierte, hat der Astronom Theodor SCHMIDT-KALER seine Konzeption einer Beitragsstaffelung nach Kinderzahl explizit als rentenpolitische Steuerung des generativen Verhaltens konzipiert. NULLMEIER & RÜB behandeln ausgiebig die Veränderung der Argumentation von NELL-BREUNING. Gerade in der nur implizit bevölkerungspolitischen und explizit funktionalistischen Argumentation sehen die Autoren den Vorteil gegenüber SCHMIDT-KALER. 1987 hat dann der damalige Bundespostminister und Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung Christian SCHWARZ-SCHILLING das Konzept der Beitragsstaffelung aufgegriffen. Neuerdings vertritt das Konzept der Ökonom Hans-Werner SINN . Die Vorzüge einer Beitragsstaffelung nach Kinderzahl für Arbeitgeber und Staat sehen NULLMEIER & RÜB in einer Konfliktverschiebung:

Die Transformation der Sozialpolitik

"nur so kann der Verteilungskonflikt Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Staat ruhiggestellt werden, während sich eine neue Umverteilungslinie allein innerhalb der Arbeitnehmerschaft öffnet. Die Beitragssatzdifferenzierung nach Kinderzahl verschiebt die gesellschaftliche Verantwortung für Bevölkerungszahl und Altersstruktur auf die Familie; Arbeitgeber und Staat bleiben von der Finanzierung des generativen Beitrags verschont. Der Familienlastenausgleich, immer dem Staat als ureigenste Aufgabe zugeschrieben, aber deshalb gerade nicht recht vorangekommen in den Jahren seit Einführung des Kindergeldes, würde zu einer internen Angelegenheit der Arbeitnehmerschaft werden."
(1993, S.382)

Es wird also deutlich, dass der katholische Sozialstaat  zum einen den Verteilungskonflikt aus der Produktionssphäre (Kapital versus Arbeit) in die Reproduktionssphäre (Familien contra Singles) verlegt und zum anderen den Staatshaushalt entlastet. Der Preis dafür ist jedoch die refeudalisierte Hausfrauenfamilie .

Alternativen zum katholischen Sozialstaat

NULLMEIER & RÜB sehen zwischen einer bevölkerungspolitischen Ursachenbestimmung und der Beitragsstaffelung nach Kinderzahl keinen zwingenden Zusammenhang, sondern es bestehen mehrere rentenpolitische Optionen:      

Die Transformation der Sozialpolitik

"In der von Franz-Xaver Kaufmann und Lutz Leisering angeregten soziologischen Analyse des Systems der Rentenversicherung als institutionellem Verursacher des Geburtenrückgangs (Kaufmann/Leisering 1984; Leisering 1986) findet sich eine empirisch-explanatorische Fassung dieses Gedankenganges. Das zentrale Argument lautete: Die Gestaltungslinien der Rentenversicherung bedingten, daß sich für den einzelnen das Aufziehen von Kindern schlicht nicht mehr lohne. Angenommen wurde, daß die spätere Altersversorgung ein Faktor innerhalb der Berechnungen oder Überlegungen sei, ob ein Paar ein Kind zeugen wolle oder nicht. Aus diesen Ursachenanalysen erwuchsen Überlegungen, die Rentenpolitik im Kontext pronatalistischer Bevölkerungspolitik zu betrachten - allerdings jenseits traditioneller bzw. überholter Frauen- und Familienbilder."
(1993, S.368)

Mit dem letzten Halbsatz wird darauf angespielt, dass es in Zukunft um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehen muss. NULLMEIER & RÜB unterscheiden drei Grundrichtungen innerhalb der rentenpolitischen Debatte:

1) Familien- und bevölkerungspolitische Rentenoptionen. Hierunter subsumieren die Autoren einer Politik der aktiven Internalisierung, d.h. die demographische Entwicklung wird Gegenstand der politischen Intervention. Hierher gehört die Beitragsstaffelung nach Kinderzahl.
2) Demografische Rentenformel. Diese passive Internalisierung erfordert eine expertokratische Lösung.
3) Wirtschaftsliberale Rentenopposition einer Systemumstellung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren.

Mittlerweile ist der Einstieg in die beiden letzten Rentenoptionen erfolgt. Der Einstieg in eine Politik der aktiven Internalisierung wird weiterhin diskutiert.

Die Verschiebung der sozialpolitischen Konfliktlinien

NULLMEIER & RÜB sehen in der Sozialpolitik zwei Konfliktlinien am Werk:

Die Transformation der Sozialpolitik

"Die traditionelle Deutung sozialpolitischer Konflikte in den Begriffen eines Klassenkonflikts von Arbeit und Kapital bzw. als immer gefährdete institutionalisierte Sozialpartnerschaft greift zu kurz. Der Realität angemessener scheint eine Sicht, die die zentralen Konflikte in der Produktions- und der Reproduktionssphäre angesiedelt sieht.
(1993, S.416).

Die Autoren gehen dabei von einem engen Reproduktionsbegriff aus:

Die Transformation der Sozialpolitik

"Die zweite sozialpolitische Konfliktlinie wird vom Kampf um die Beherrschung des generativen Verhaltens und der Sozialisation von Kindern bestimmt."
(1993, S.417)

NULLMEIER & RÜB kennzeichnen den Konflikt als Interessengegensatz von Katholizismus und Emanzipation, wobei sie dem Katholizismus eine günstigere Position bescheinigen:

Die Transformation der Sozialpolitik

"der soziale Katholizismus (vermag) Patriarchat und Arbeit ein gutes Stück weit zu versöhnen - unter bewußter Unterdrückung von Ansätzen der Frauenemanzipation."
(1993, S.418)

Hier wird der Konflikt zwischen Alter und Neuer Mitte thematisiert. Elisabeth GERNSHEIM hat Anfang der 1980er Jahre den Anspruch der Frauen auf ein "eigenes Leben" formuliert und damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf die Agenda gesetzt .

Die Individualisierungsthese als trojanisches Pferd des Katholizismus

Im Essay über den Terror der Individualisierungsthese wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Individualisierungsthese entscheidend zum neuen Familienfundamentalismus beigetragen hat . Im elitären Kulturkampf zwischen Doppel-Karriere-Paaren und Managerehepaaren bleiben die Benachteiligten auf der Strecke. Beide Elitefraktionen haben ein Interesse an einer bevölkerungspolitischen Debatte, um ihre eigene Position zu stärken. Im Gegensatz zur Einschätzung von NULLMEIER & RÜB gibt es einen partiellen Konsens zwischen Katholizismus und neuer Mütterelite. Eigenverantwortung oder katholisch gewendet: Subsidiarität ist das Prinzip, das von beiden Fraktionen akzeptiert wird. Beiden Gruppen geht es um die Entlastung des Sozialstaats. Weder Beamte noch Selbständige sind Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung. Während sich der Katholizismus eine Stärkung der Position von kirchlichen Verbänden erhofft, setzt die neue Bürgerschaft auf zivilgesellschaftliche Lösungen. Etatismuskritik ist der kleinste gemeinsame Nenner katholischer und linker Sozialstaatskritik. Gering verdienende Singles sind die größten Verlierer des neuen Elitenkonsens. Wie wird nun die Individualisierungsthese zum trojanischen Pferd? Die Antwort ist, dass beide Fraktionen von einer katholischen Bevölkerungsstatistik profitieren.

Die katholische Statistik und die gezielte Überschätzung des Anteils dauerhaft Kinderloser

Immer wieder wird uns eingehämmert, dass ein Drittel der 1965 geborenen Frauen lebenslang kinderlos bleibt. Diese Zahlen sind die Folge einer unzulänglichen Bevölkerungsstatistik . Bereits seit Anfang der1980er Jahre ist bekannt, dass die Statistik nicht in der Lage ist, den Anteil der Kinderlosen richtig zu bestimmen. Die amtliche Statistik hält sich strikt an das katholische Gesetz der Unauflöslichkeit der Ehe und der Sündhaftigkeit der unehelichen Geburt. Uneheliche Kinder sind eine Sünde, weswegen lange Zeit überhaupt nur Kinder innerhalb von Ehen erfasst wurden. Im Dogma von der kindorientierten Eheschließung (NAVE-HERZ) lebt diese Sichtweise auch in liberalen Ansätzen fort. In der öffentlichen Debatte liest sich dies dann folgendermaßen:

Kinderlosigkeit in Deutschland

"Da noch immer rund 75 Prozent aller Kinder ehelich geboren werden, beeinflußt der Rückgang der Eheschließungen zugleich die Zahl der Geburten."
(FAZ v. 06.04.2004)

Welch ein Aufschrei, wenn es hieße bereits 25 % der Kinder werden unehelich geboren und es ist nicht möglich diese Kinder den jeweiligen Frauen richtig zuzuordnen, wenn sie im Laufe ihres Lebens heiraten. Symptomatisch für die Unsichtbarkeit des Unehelichenproblems ist auch das, was Christian GAMPERT schreibt:

Draußen vor der Tür

"Rund 20 Prozent aller Geburten waren 1998 in der Bundesrepublik unehelich, 2002 waren es schon 25 Prozent. Das sind Entwicklungen, die das höchste Gericht völlig kaltlassen. Eine Partei, die bei der Bundestagswahl ein Viertel der Stimmen bekäme, würde man wohl kaum als Minderheitspartei betrachten. Das Verfassungsgericht hält eine derart große Personengruppe nicht für relevant."
(aus: Kursbuch 155. Neue Rechtsordnungen 2004, S.150)

Was für die Kritik am Bundesverfassungsgericht gilt (dazu weiter unter), das gilt auch für das Statistische Bundesamt: eine vollkommene Ignoranz gegenüber dem, was normativ nicht sein darf! Die Konsequenz: eine richtige Erfassung der Kinderzahl einer Frau ist nur innerhalb der lebenslangen Ehe möglich. Noch schlimmer: mit der Zunahme von Scheidungen und Wiederverheiratung - beides ist nicht vorgesehen - wird die richtige Zuordnung noch unmöglicher. Vorsichtig geschätzt: mehr als ein Drittel aller Kinder können  durch die amtliche Statistik nicht richtig einer Frau zugeordnet werden. Dass dieses Problem tatsächlich existiert, macht die empirische Untersuchung von Gert HULLEN deutlich:

Tempo und Quantum der Reproduktion in Deutschland

"Der Familiensurvey gibt anders als der Mikrozensus erstens Angaben über alle Kinder wieder, im Fachterminus: über die biologische, nicht nur über die eheliche Fertilität, und darüber hinaus hat dieser Survey, verglichen mit anderen, eine außerordentlich breite Altersspanne von unter 20 bis über 50 Jahren."
(aus: Partnerschaft und Familiengründung 2003, S.28)

Im Gegensatz zur öffentlichen Debatte fand HULLEN eine um 50 % geringere lebenslange Kinderlosigkeit:

Tempo und Quantum der Reproduktion in Deutschland

"Bei den vor 1960 geborenen Frauen lag die Kinderlosigkeit bei ungefähr 16 Prozent, bei den jüngeren, den zwischen 1950 und 1959 Geborenen, ein bisschen darüber. Die Kohorte der in den 60er Jahren Geborenen aber bekam noch bis über 35 Jahre hinaus häufiger erste Kinder, »überholte« dabei die älteren Frauen und hatte schließlich eine geringere Kinderlosigkeit (14 Prozent). Die Geburtenrate dieser Kohorte blieb auch in der zweiten Hälfte der fertilen Phase, Jahre nach dem Median, sehr hoch, während sie bei den früheren Kohorten bald (...) abflachte."
(
aus: Partnerschaft und Familiengründung 2003, S.32f.)

Wie erklärt HULLEN dies?

Tempo und Quantum der Reproduktion in Deutschland

"Die endgültige Kinderlosigkeit wird in der laufenden Bevölkerungsfortschreibung bislang nicht ausgewiesen. Sie zu ermitteln wird dadurch erschwert, dass amtlicherseits die eheliche Parität der Geburten festgehalten wird, d.h. die Ordnungsnummer des Kindes in der bestehenden Ehe."
(aus: Partnerschaft und Familiengründung 2003, S.33)

Wie ist es möglich, dass es keinen Aufschrei gibt? Offenbar sind die Akteure in der politischen Arena ganz glücklich über die Nicht-Erfassbarkeit des Kinderlosenanteils. Beide Seiten können beruhigt ihre jeweiligen Positionen vertreten, ohne jemals befürchten zu müssen, dass ihnen das Gegenteil nachgewiesen wird. Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter und es muss nicht gehandelt werden .

Das statistische Bundesamt als Hüter der Normalitätsvorstellungen

Singles haben keinen Anwalt, der ihre Interessen gegen die Übermacht der Familienorganisationen vertritt. Der neue Familienfundamentalismus ist dagegen sogar in den staatlichen Institutionen machtvoll verankert. Der Soziologe Jürgen LINK (1997) hat mit seinen Forschungen zum Normalismus auf die Bedeutsamkeit der amtlichen Statistik für die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen hingewiesen.

Wie die katholische Statistik die Kinderlosigkeit dramatisiert

Dem statistischen Bundesamt in Wiesbaden mit seiner spezifisch normativen Art der Datenaufbereitung, kommt in der öffentlichen Debatte eine zentrale Rolle zu. Individualisierungsthese und Katholizismus sind miteinander wahlverwandt. Beide haben ein Interesse daran, dass das Problem der Kinderlosigkeit dramatisiert wird. Familienrhetorik (Kurt LÜSCHER) ist Singlerhetorik. Ihr gemeinsames Ziel: Die Stilisierung der Minderheit lebenslang Kinderloser zur gesellschaftlichen Mehrheit. Dies wird unter anderem dadurch erreicht, dass

1) potenzielle Eltern zu den lebenslang Kinderlosen gezählt werden.
2) Eltern, deren Kinder nicht mehr im Elternhaushalt leben, als lebenslang Kinderlose gelten.
3) Durch die Wahl des Haushalts/Individuums und nicht des Lebensverlaufs als Erhebungseinheit werden Phasen der Kinderlosigkeit zur lebenslangen Kinderlosigkeit umgedeutet.

Hinzu kommt die Tatsache der Verlängerung der Lebenserwartung. Frank SCHIRRMACHER hat dies im Buch Das Methusalem-Komplott zugespitzt auf die Zukunft projiziert:

Das Methusalem-Komplott

"eine nicht mehr fortpflanzungsfähige Gruppe, die ihren biologischen Zweck längst erfüllt hat, (...) bildet die Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft."
(2004, S.10)

Alles zusammengenommen führt dazu, dass die so genannte Polarisierungsthese Evidenz erhält . Damit sind wir beim nächsten machtvollen Verbündeten des Katholizismus angelangt: dem Bundesverfassungsgericht.

Jürgen Borchert und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts

Jürgen BORCHERT ist ein umtriebiger Schüler des kinderlosen Jesuitenpaters Oswald von NELL-BREUNING (siehe weiter oben). BORCHERT versucht seit Mitte der 80er Jahre familienfundamentalistische Positionen über das Bundesverfassungsgericht (BVG) durchzusetzen. Josef PÜTZ & Carsten RIEGERT, Bundesgeschäftsführer des Bundes der Katholiken, schreiben in ihrer Streitschrift Der Aufstand der Familien zum Erfolg dieser Strategie :

Der Aufstand der Familien

"Klagen hilft nur in Karlsruhe - beim Bundesverfassungsgericht.
Die Damen und Herren in den roten Roben haben sich in den 90er Jahren zur entscheidenden Triebkraft für eine neue Familienpolitik entwickelt. Die markantesten Stationen auf diesem Weg:
1990 erklären die Richter, dass der Staat das Existenzminimum aller Familienmitglieder von Steuern freistellen muss (...).
1992 betont das Gericht die »bestandssichernde Bedeutung« der Kindererziehung für das Rentensystem (...).
2001 rügen die Richter, dass Eltern und Kinderlose in der Pflegeversicherung die gleichen Beiträge leisten müssen. Die Erziehungsleistung von Eltern, welche die Zukunft der Pflegeversicherung überhaupt erst sichert, werden damit zu Unrecht übergangen."
(2002, S.11f.)

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Pflegeversicherung im Jahre 2001 beruft sich zum einen auf den Drei-Generationen-Vertrag im Sinne von NELL-BREUNING und zum anderen auf die Polarisierungsthese:

Begründung des Pflegeurteils

"Bleibt bei diesem »Dreigenerationenvertrag« der Anteil der kinderlosen Personen an der Mitgliederzahl der sozialen Pflegeversicherung in der deutlichen Minderheit, so kann sie der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in Bezug auf die Beiträge so behandeln wie erziehende Versicherte",

heißt es in der Begründung des Urteils (BVerfG, 1 BvR 1629/94 vom 3.04.2001).  Das BVG folgt jedoch der Einschätzung von Herwig BIRG und kommt damit zum Schluss, "dass die Zahl der Kindererziehenden in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen hat." Im Urteil des BVG geht es definitiv nicht um den Anteil der lebenslang Kinderlosen, sondern KINDERLOSIGKEIT wird IM WEITEN SINNE der katholischen Statistik als "Kinderarmut" definiert, d.h. JEDE Familie gilt als kinderarm, bei der weniger als drei Kinder im Haushalt leben. Das BVG vertritt damit eine familienfundamentalistische Auffassung. Es kommt noch schlimmer: mit explizitem Bezug auf den Bevölkerungsaufbau werden Singles in Kohortenhaft genommen. Die Tatsache, dass seit 1900 kaum ein Frauenjahrgang zur Bestandserhaltung beigetragen hat, wird den zukünftigen Generationen angelastet. Das BVG führt damit einen Misstrauensvorschuss ein! Den 68er Jahrgängen und ihren Vorgängern kommt dagegen die Gnade eines günstigen Altersaufbau zuteil. Das BVG hat mit dem Pflegeurteil den Krieg der Alten gegen die Jungen eröffnet.

Der neue Autoritarismus und die Wahlverwandtschaft zur katholischen Form

Die zunehmenden Klagen zur "Häresie der Formlosigkeit" (Martin MOSEBACH) treffen sich mit dem neuen Elitenkonsens, der Rituale und Manieren zur Volksumerziehung befürwortet. Die Agenda 2010 mit ihrer Forderung nach dem aktivierenden Sozialstaat, der in katholischer Diktion als subsidiärer Sozialstaat daher kommt, schafft gemäß Frank NULLMEIER ("Spannungs- und Konfliktlinien im Sozialstaat") eine neue Konfliktlinie zwischen Jungen und Alten:

Spannungs- und Konfliktlinien im Sozialstaat

"Diese neue sozialpolitische Denkweise (...) bietet (...) keine politischen Leitlinien für die Sozialpolitik gegenüber Rentnern und Rentnerinnen. Entsprechend entwickelt sich innerhalb der Sozialpolitik eine Spaltungslinie: investive Sozialpolitik für die Jungen und Arbeitsfähigen als Mischung aus Förderung, Qualifizierung und dem mehr oder minder verstärkten Zwang zur Arbeitssuche und -aufnahme; die sogenannte passive Sozialpolitik für all diejenigen, von denen absehbar kein produktiver Beitrag zu erwarten ist, insbesondere also den Älteren. Sollte sich eine Sozialpolitik als Investition und Produktivitätsförderung durchsetzen, könnte politisch eine bisher nicht vorhandene Spaltung innerhalb der Bevölkerung erzeugt werden."
(aus: Der Bürger im Staat, Der Sozialstaat in der Diskussion, Heft 4, 2003)

Alte Rentner werden in der Sicht der Individualisierungsthese und der familienfundamentalistischen Perspektive des Katholizismus auch als Kinderlose oder Singles bezeichnet. Stephan LESSENICH sieht im subsidiären Sozialstaat jedoch auch innerhalb der Jungen neue Konfliktlinien entlang der sozialen Ungleichheit entstehen. Im Beitrag Soziale Subjektivität in der Zeitschrift Mittelweg 36 schreibt er:

Soziale Subjektivität

"Soziale Kämpfe werden in der durchgesetzten Sicherheitsgesellschaft des Wohlfahrtsstaats an anderen Fronten ausgetragen. In dem Maße, wie die Gesellschaft zum Objekt politischer Regierung avanciert und damit zugleich zum Subjekt der Sicherheitsproduktion erhoben wird, sieht sie sich in dieser Funktion selbst Bedrohungen ihrer Sicherheit ausgesetzt. Die »Verteidigung der Gesellschaft« (...) gegen »gefährliche« Klassen, Gruppen und Individuen -, ist »die Kehrseite der 'Versicherungsgesellschaft'« (Lemke 1997:224) Soziale Selbstverteidigung im Wohlfahrtsstaat operiert dabei mit einer Vielzahl von Mechanismen, mit unterschiedlichen Formen der Spaltung und Fragmentierung der Bevölkerung, der Marginalisierung und Exklusion gesellschaftlicher Gruppen (...). Insofern handelt es sich bei der Regierung der Gesellschaft mit dem Dispositiv der Sozialversicherung nicht einfach um einen Zugewinn an sozialen Rechten, sondern zugleich um die Institutionalisierung einer neuen Struktur sozialer Ungleichheit."
(aus: Zeitschrift Mittelweg 36, August/September 2003, S.85)

LESSENICH sieht ein neues Feindbild der Untersozialisierten entstehen:

Soziale Subjektivität

"Untersozialisierte, will sagen: arbeitsunwillige, präventionsverweigernde, aktivierungsresistente Subjekte verkörpern in diesem Kontext Bedrohungen des Sozialen - ökonomisch, als Investitionsruinen, und moralisch, als Solidaritätsgewinnler. "
(aus: Zeitschrift Mittelweg 36, August/September 2003, S.89)

Kinderlose sind in diesem Sinne als Untersozialisierte zu verstehen: Sie werden z.B. in der Familienausbeutungstheorie von Jürgen BORCHERT (siehe oben) als Solidaritätsgewinnler angeprangert. Sie als Investitionsruine zu sehen, könnte ebenfalls bald die Runde machen. Früher nannte man das bevölkerungspolitische Blindgänger. In Zeiten der Demografiepolitik ist mit der Wiederkehr der Diskriminierungen aus der Mottenkiste zu rechnen.       

Fazit: Katholizismus ohne Katholiken und die Folgen für kinderarme Sünder

Die obigen Ausführungen dürften klargemacht haben, dass die Macht des Katholizismus nicht auf Glauben und Kirchgang der Katholiken beruht, sondern durch kirchliche Infrastruktur und den politischen Einfluss auf den Staat wirkt. Dieser Katholizismus ohne Katholiken ist weitgehend unsichtbar. Der subsidiäre Sozialstaat könnte im Schatten der Agenda 2010 zum Einfallstor für einen neuen Familienfundamentalismus werden, dessen zentrale Konfliktlinie zwischen Kinderarmen (lebenslang Kinderlose, Familienhaushalte mit einem oder zwei Kindern) und den Kinderreichen (drei und mehr Kindern) verläuft. Die Durchsetzung der Beitragsstaffelung nach Kinderzahl in den Sozialsystemen (Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Gesetzliche Krankenversicherung) ist momentan das wichtigste Ziel dieser treibenden politischen Kraft. Dieser Konflikt betrifft jedoch nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen. Besserverdienende Yuppies und die globale Klasse (DAHRENDORF) werden mittels Exitoption dem katholischen Sozialstaat den Rücken kehren. Wer dies nicht kann, z.B. gering verdienende Singles werden die ganzen Lasten der katholischen Bestrafungsaktion zu spüren bekommen. Gering verdienende junge Singles, also potenzielle Eltern, werden in der Zukunft zunehmen, denn die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien führen zu neuen Heiratsbarrieren und Fortpflanzungsbeschränkungen für sozial Schwache. Profiteur einer solch selektiven Bevölkerungspolitik ist die Mütterelite. Deren Sichtbarkeit wird derzeit medial forciert z.B. als Popmütter am Prenzlauer Berg oder als "Blut, Schweiß & Tränen-Familie" auf dem katholischen Land. Ob wir tatsächlich einem katholischen Jahrhundert entgegengehen, das ist noch nicht entschieden, aber ohne die Selbstorganisation der Singles werden harte Zeiten für die kinderarme Bevölkerung anbrechen. Der Katholizismus hält seine Folterwerkzeuge für die Sünder jedenfalls bereit.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
          
 Die Rede von der "Single-Gesellschaft" rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden, entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen Modernisierungsverlierer."

 
     
 
       
   

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Update: 23. November 2018