Singles als Pioniere der Moderne
Der Essay
ist mit einer Frage betitelt, die der
Psychoanalytikerin Eva JAEGGI zwar oft gestellt wird,
aber von der Autorin nur ungern und ausweichend
beantwortet wird. Viel lieber antwortet sie auf
eine Frage, die ihr anscheinend nicht oft genug
gestellt wird: Sind Singles die Pioniere
der Moderne? Damit kann
JAEGGI an die
Individualisierungsdebatte
anknüpfen, die von ULRICH BECK Anfang der 1990er
Jahre popularisiert wurde. Während BECK jedoch den
soziologischen Aspekt betont, möchte JAEGGI
beweisen, dass Singles auch im psychologischen
Sinne als Pioniere zu betrachten sind.
Singles
werden von ihr nicht sozialstatistisch als
Alleinlebende, sondern psychologisch als
alleinwohnende
Partnerlose definiert. Auf diese Weise kann das
Single-Dasein in Abgrenzung zum Paarleben diskutiert werden .
Nähe und Distanz als Balanceakt
Das zentrale
Thema von JAEGGI ist der Konflikt zwischen dem
Autonomiestreben und dem Wunsch nach Intimität
oder positiv ausgedrückt: die Aufgabe
der Balance von Nähe und Distanz.
Dieses Thema wird anhand von vier typischen
Problembereichen des Single-Daseins entfaltet.
Da wäre als
Erstes das Problem der erhöhten
Bewusstheit zu nennen, das im
Zusammenhang mit der alleinigen Organisation des
Alltags diskutiert wird. Entscheidungen können
von Singles nicht an einen Partner delegiert
werden. "Seelische Faulheiten" führen
im Single-Alltag deshalb schnell ins Chaos.
Permanente Selbstreflexion wird dadurch zur
Entwicklungsaufgabe für Single-Existenzen, wenn
das Scheitern nicht vorprogrammiert sein soll.
Ein weiteres
Problem stellt die Suche nach einem adäquaten
Ersatz für die "Selbstverständlichkeit des
ehelichen Gesprächs" dar. Der Ausweg wird
in der "selektiven Dialogisierung
des Gesprächs" gesehen.
Vielfältige Freundschaften und Bekanntschaften,
die jeweils ein anderes Interessensegment
abdecken, sollen das fehlende eheliche Gespräch
kompensieren.
Ein
besonderes Problem ist für alleinwohnende
Partnerlose die Balance von Aktivität
und Passivität. Singles laufen Gefahr
in Extremen zu leben: Zeiten voller
Terminkalender wechseln sich ab mit depressiven
Phasen des "Sich-Hängenlassens". In
Paarbeziehungen sorgt idealerweise der Partner
für einen Ausgleich. JAEGGI eröffnet hier einen
neuen Blick auf die psychoanalytischen
Begriffspaare "Regression" und
"Progression". Hatte
"Regression" im Psychodiskurs der 1970er
Jahre eine negative Konnotation, so war
"Progression" das Ziel aller
Anstrengung. Bei JAEGGI werden beide Begriffe
differenzierter verwendet. "Regression"
ist nicht nur als Rückschritt zu verstehen,
sondern auch als Schutzmechanismus, der die
drohende Überlastung verhindert.
"Progression" dagegen ist nicht per se
mit Fortschritt gleichzusetzen, sondern kann auch
als Abwehrmechanismus fungieren.
Beispiele
für das Scheitern von Singles an den Entwicklungsaufgaben sind
auf single-generation.de anhand der Abschaffel-Romantrilogie
von Wilhelm GENAZINO
und
Mars von Fritz ZORN
aufgezeigt worden.
Das Single-Dasein zwischen Einsamkeit und
Selbstverwirklichung
Das
Problem
der Einsamkeit thematisiert JAEGGI im
Zusammenhang mit dem Gefühl, für jemand anderen
unersetzlich zu sein
. Diese "narzisstische
Illusion" ist notwendig, muss jedoch im
Laufe der persönlichen Entwicklung transformiert
und damit ertragbar werden. "Ich bin derzeit
für keinen der Wichtigste", mit dieser
Tatsache müssen Partnerlose leben lernen.
Die Kehrseite
davon ist die "höchstmögliche
Autonomie". Partnerlose erhalten dadurch die
Chance zur Selbstverwirklichung.
Zu dieser Selbstfindung gehören Kriterien der
Authentizität. Nach JAEGGI, die sich hier auf
den kanadischen Sozialphilosophen Charles TAYLOR
beruft, leben wir in einer Authentizitätskultur.
Liebesbeziehungen erscheinen als Garanten der Identität. Dies
führt jedoch oft zum Scheitern dieser Beziehungen
.
Singles werden deshalb zu Pionieren der Moderne, denn ohne
Liebesglück -
Beziehungsarbeit
"die meist illusionäre
Tröstung durch eine feste Beziehung, die Identität und
letzte Sicherheit verspricht, und ohne die Vorgabe von
Rollen, nur auf das eigene authentische Gefühl gestützt,
müssen Singles (...) ihre Welt ordnen."
(1999) |
Die Grenzen der psychologischen Perspektive
Ob man dieser
Interpretation nun folgen mag oder nicht,
interessant sind JAEGGIs Überlegungen vor allem
dann, wenn sie psychoanalytische Perspektiven mit
sozialpsychologischen Theorien der Identität
verknüpft und die historische Dimension
der Liebesverhältnisse hervorhebt
.
Die
Psychologisierung des Alltagsdiskurses und
neuerdings die Soziologisierung dieses Diskurses
wäre jedoch seinerseits im historischen Kontext
zu analysieren. In einer solchen weiterführenden
Perspektive wäre dann zu fragen, warum der
"Mythos Single" (Günter BURKART) gerade in
den 1990er Jahren Konjunktur hatte. Dies nur auf die Brüchigkeit
der Liebesbeziehungen zurückzuführen erscheint zu kurz
gegriffen
.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dieses
Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. In einer funktional-differenzierten
Gesellschaft sollten Kinderlose genauso selbstverständlich
sein wie Kinderreiche. Warum sollten sich unterschiedliche
Lebensformen, mit ihren jeweils spezifischen Potenzialen
nicht sinnvoll ergänzen können? Solange jedoch in Singles
nur eine Bedrohung und nicht auch eine Chance gesehen
wird, leben wir in einer blockierten Gesellschaft, in der
wichtige Energien gebunden sind, die bei den anstehenden
Herausforderungen fehlen werden."
(2006, S.254) |
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