Kommentar
Welch eine Wohltat wäre es doch, wäre der
letzte Spiegel-Leser schon heute ausgestorben!
Wir Singles müssten uns dann
nicht mit den Ressentiments von neoliberalen Wertkonservativen
herumärgern. In der neuesten Titelgeschichte werden wir wieder
einmal an den Pranger gestellt.
Der Spiegel nennt sich
Nachrichtenmagazin, was hier jedoch geleistet wird, ist weitgehend
nur die Wiederaufbereitung der letztjährigen Debatte.
Das bietet single-generation.de jedoch ausführlicher
und objektiver, weil die Debatte anhand
der Offenlegung von Quellen überprüfbar ist und teilweise die
Artikel sogar im Original gelesen werden können. Beim Spiegel gibt
es dagegen zuallererst Einseitigkeit (in der Auswahl) und in
zweiter Linie Meinungen. Fakten werden dagegen klein geschrieben.
Das präsentierte
Meinungsspektrum kommt über ein Who is Who der Singlefeinde kaum
hinaus.
Von Hans-Werner SINNs
Rente nach Kinderzahl
über Jürgen BORCHERTs
Familienausbeutungstheorie
bis zu Herwig BIRGs
nationalkonservativem Bevölkerungsprognoseansatz ,
wird die Crème de la Crème des
Familienfundamentalismus
vorgestellt.
Land ohne Lachen heißt es in der
Überschrift. Und wahrlich. Singles haben beim Spiegel wirklich
nichts zu lachen, wenn Journalistinnen wie Susanne GASCHKE oder Jutta KRAMM
Ressentiments in Leitartikel packen dürfen.
Da nützt es auch wenig,
wenn kurz darauf eingegangen wird, dass der Kindermangel "aus
einer Vielzahl unterschiedlicher Ursachen" geboren ist.
Dazu wird auf ungewollte
Kinderlosigkeit, fehlende Partner (für Linke, Feministinnen oder
Postfeministinnen (z.B. Ulrike WINKELMANN) und Neoliberale sind das zeugungs- bzw.
erziehungsunwillige Männer, für Konservative und Rechte dagegen
Gebärunwillige bzw. Frauen, die gegen die weibliche Natur leben),
Bildungs- und Berufssystem, aber auch die freiwillige
Kinderlosigkeit (Susie
REINHARDT) hingewiesen.
Politisch bleibt diese
Ursachenvielfalt jedoch völlig folgenlos. Hier setzen die Autoren
auf die Bestrafung der Kinderlosen. Dazu werden einige Mythen
aufgetischt:
1) Mythos vom Pillenknick
Ein Schaubild suggeriert, dass
1968 die Welt noch in Ordnung war: 2,5 Kinder pro 15-45jähriger
Frau, heute jedoch 1,4 (Westen) und 1,2 (Osten).
Verschwiegen wird dagegen, dass bereits seit 1900 kaum ein
Frauenjahrgang ein
bestandserhaltendes Geburtenniveau erreicht hat.
Der Babyboom der Nachkriegszeit
ist dagegen ein singuläres Ereignis, das durch das historische
Zusammentreffen von drei Faktoren erklärbar ist:
- ältere Frauen holten - als Auswirkung des zweiten Weltkriegs -
Geburten nach
- jüngeren Frauen war durch das Bildungs- und Berufssystem die
berufliche Karriere verwehrt und
- Flüchtlingsströme glichen die ungünstige deutsche Altersstruktur
aus.
2) Mythos Single-Haushalt
In einem Schaubild wird die
Entwicklung der Einpersonenhaushalte - als "Single-Boom"
tituliert - dargestellt. Im Zeitraum zwischen 1970 und 2002 hat
sich deren Gesamtzahl von 25,1 % (Westen) auf 36,7 % (West & Ost)
erhöht. Die Zahl der 25-44jährigen (also jene, die gefälligst eine
Familie haben sollen) hat sich im gleichen Zeitraum von 4,6 % auf
11,4 % erhöht. Oberhalb des Schaubilds sieht man zwei Disco-Queens
als Symbolfiguren der Spaßgesellschaft tanzen.
Verschwiegen wird jedoch, dass die
Zahl der Single-Haushalte kein angemessener Indikator
ist. Selbst die Entwicklung bei den 25- bis 44Jährigen sagt
nicht viel aus, weil die
Haushaltsstatistik nicht in der Lage
ist, Lebensformen abzubilden.
Die Zahl der Singles wird
aus verschiedenen Gründen überschätzt:
- Die Verbesserung des Wohnens haben zur Umwandlung von
Anstaltshaushalten (z.B. Schwesternwohnheime, Studentenwohnheime)
in Einpersonenhaushalte geführt. Folge: In den 70er Jahren fielen
viele Singles nicht in die Kategorie Einpersonenhaushalt.
- Die Haushaltsstatistik wurde in den 80er Jahre geändert. Gerade
in diese Zeit fällt ein explosionsartiger Anstieg. Die
Bundesstatistiker behaupten zwar, dass dies nicht auf die
Methodenänderung zurückzuführen sei, überprüft hat diese jedoch
niemand.
- Bei
Alleinerziehenden, die mit einem Partner zusammenwohnen, wird
der Partner meist als Single eingeordnet. Neuerdings sprechen
Politiker deshalb auch von TATSÄCHLICH! allein Erziehenden, weil
dies eine Studie - spät genug - aufgedeckt hat.
- Der zunehmende
Mobilitätszwang führt dazu, dass vermehrt
Familienväter zu Wochenendvätern werden. In der Zweitwohnung
werden sie jedoch als Single registriert.
Stoiber, der sich gerne familienfreundlich mit Enkelkindern
ablichten lässt, erhöht in Berlin den Single-Anteil - genauso wie viele seiner
Politikerkollegen.
3) Die Rentenversicherung
als Vollversicherung gegen Kinderlosigkeit
Die Allparteienkoalition der
neoliberalen Sozialstaatsgegner und mit ihnen der Spiegel
argumentiert:
"ausgerechnet das umlagefinanzierte Rentensystem
belohnt den Verzicht auf Kinder am höchsten".
Gleichzeitig wird
auf die hohe Akademikerkinderlosigkeit verwiesen.
Die Unlogik gerade dieser
Argumentation war bisher noch nicht ausreichend Gegenstand der
öffentlichen Debatte.
Gerade besser verdienende,
kinderlose Akademiker beziehen meist gar keine Renten! Viele
beziehen Pensionen und andere haben nur ihre private
Altersvorsorge oder sonstige Alterseinkommen. Es handelt sich also
gewissermaßen um ein Scheinargument, das erst dann seinen Sinn
erhält, wenn Kinderlosigkeit nicht als lebenslange
Kinderlosigkeit, sondern als Leben ohne Kinder im Haushalt
definiert wird.
Die
Umdefinition von Eltern
mit Kindern, die den Haushalt bereits verlassen haben,
in Kinderlose ist der
Trick, mit dem die Kinderlosenzahlen künstlich in die Höhe
getrieben werden.
Neuerdings werden diese
Kinderlosen treffender auch als Nicht-Erziehende bezeichnet.
4) Die Geburtenrate
ändert sich in den nächsten 30 Jahren nicht
"In
Wahrheit ist die Geburtenrate der nächsten Jahrzehnte
weitgehend programmiert. Weil die Zahl der potenziellen
Mütter bereits seit langem sinkt und Ungeborene nun mal
keine Nachfahren in die Welt setzen".
Tatsächlich ist die Geburtenrate
seit den 1970er Jahren scheinbar relativ konstant. Berechnet man
jedoch - wie Detlef GÜRTLER das getan hat - die Geburtenrate nicht für alle
gebärfähigen Frauen, sondern pro Frauenjahrgang, dann lässt sich
daraus eine Trendwende ablesen.
Die
Generation Golf ist
gebärfreudiger als dies z.B.
Susanne GASCHKE behauptet, während
die 68er - also jene, die lautstark die jetzige Debatte
dominieren - Teil des Problems sind.
Die Untersuchungen
international renommierter Bevölkerungswissenschaftler
widersprechen den Annahmen der deutschen Prognostiker.
Nach dem Demografen
RonLESTHAEGHE liegt die
deutsche Geburtenrate höher als ausgewiesen
und John BONGAARTS behauptet sogar ein
Ende des Geburtenrückgangs in den westlichen Industrieländern. Das passt nicht ins
Reformkonzept und wird deshalb in der deutschen Presse
totgeschwiegen.
Es wäre noch mehr zu diesem
unsäglichen Artikel zu sagen, z. B. über das
Ranking, bei dem die
Deutschen an 185. Stelle stehen, während Staaten ohne
Nachwuchssorgen wie Somalia und Afghanistan Spitzenplätze
einnehmen (es handelt sich dabei noch nicht einmal um einen
Vergleich der Geburtenraten - Geburten pro gebärfähiger Frauen -
wie behauptet wird, sondern um einen - wenig aussagekräftigen -
Vergleich der
Geburten pro 1000 Einwohner).
Das Kindermangel-Ranking zeigt
wohl am eindrucksvollsten, dass zwischen Wohlstand und
Kindermangel kein direkter Zusammenhang besteht, wie uns die
neoliberalen Wertkonservativen ständig einreden möchten. |