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Kommentar

 
       
   

Jochen Bölsche u.a.:

 
       
   
Land ohne Lachen.
Deutschland schrumpft - und ergraut. Die Bundesrepublik rangiert mit ihrer Geburtenrate unter 190 Staaten auf Platz 185. Vier von zehn deutschen Akademikerinnen verzichten auf Mutterglück und Mutterstress. Sind die Frauen in den Gebärstreik getreten - oder die Männer in den Zeugungsstreik?
in: Spiegel Nr.2 v. 05.01.2004
 
       
   
     
 

Kommentar

Welch eine Wohltat wäre es doch, wäre der letzte Spiegel-Leser schon heute ausgestorben! Wir Singles müssten uns dann nicht mit den Ressentiments von neoliberalen Wertkonservativen herumärgern. In der neuesten Titelgeschichte werden wir wieder einmal an den Pranger gestellt. Der Spiegel nennt sich Nachrichtenmagazin, was hier jedoch geleistet wird, ist weitgehend nur die Wiederaufbereitung der letztjährigen Debatte. Das bietet single-generation.de jedoch ausführlicher und objektiver, weil die Debatte anhand der Offenlegung von Quellen überprüfbar ist und teilweise die Artikel sogar im Original gelesen werden können. Beim Spiegel gibt es dagegen zuallererst Einseitigkeit (in der Auswahl) und in zweiter Linie Meinungen. Fakten werden dagegen klein geschrieben. Das präsentierte Meinungsspektrum kommt über ein Who is Who der Singlefeinde kaum hinaus. Von Hans-Werner SINNs Rente nach Kinderzahl über Jürgen BORCHERTs Familienausbeutungstheorie bis zu Herwig BIRGs nationalkonservativem Bevölkerungsprognoseansatz , wird die Crème de la Crème des Familienfundamentalismus vorgestellt.

Land ohne Lachen heißt es in der Überschrift. Und wahrlich. Singles haben beim Spiegel wirklich nichts zu lachen, wenn Journalistinnen wie Susanne GASCHKE oder Jutta KRAMM Ressentiments in Leitartikel packen dürfen. Da nützt es auch wenig, wenn kurz darauf eingegangen wird, dass der Kindermangel "aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ursachen" geboren ist. Dazu wird auf ungewollte Kinderlosigkeit, fehlende Partner (für Linke, Feministinnen oder Postfeministinnen (z.B. Ulrike WINKELMANN) und Neoliberale sind das zeugungs- bzw. erziehungsunwillige Männer, für Konservative und Rechte dagegen Gebärunwillige bzw. Frauen, die gegen die weibliche Natur leben), Bildungs- und Berufssystem, aber auch die freiwillige Kinderlosigkeit (Susie REINHARDT) hingewiesen. Politisch bleibt diese Ursachenvielfalt jedoch völlig folgenlos. Hier setzen die Autoren auf die Bestrafung der Kinderlosen. Dazu werden einige Mythen aufgetischt:

1) Mythos vom Pillenknick

Ein Schaubild suggeriert, dass 1968 die Welt noch in Ordnung war: 2,5 Kinder pro 15-45jähriger Frau, heute jedoch 1,4 (Westen) und 1,2 (Osten). Verschwiegen wird dagegen, dass bereits seit 1900 kaum ein Frauenjahrgang ein bestandserhaltendes Geburtenniveau erreicht hat. Der Babyboom der Nachkriegszeit ist dagegen ein singuläres Ereignis, das durch das historische Zusammentreffen von drei Faktoren erklärbar ist:
- ältere Frauen holten - als Auswirkung des zweiten Weltkriegs - Geburten nach
- jüngeren Frauen war durch das Bildungs- und Berufssystem die berufliche Karriere verwehrt und
- Flüchtlingsströme glichen die ungünstige deutsche Altersstruktur aus.

2) Mythos Single-Haushalt

In einem Schaubild wird die Entwicklung der Einpersonenhaushalte - als "Single-Boom" tituliert - dargestellt. Im Zeitraum zwischen 1970 und 2002 hat sich deren Gesamtzahl von 25,1 % (Westen) auf 36,7 % (West & Ost) erhöht. Die Zahl der 25-44jährigen (also jene, die gefälligst eine Familie haben sollen) hat sich im gleichen Zeitraum von 4,6 % auf 11,4 % erhöht. Oberhalb des Schaubilds sieht man zwei Disco-Queens als Symbolfiguren der Spaßgesellschaft tanzen.

Verschwiegen wird jedoch, dass die Zahl der Single-Haushalte kein angemessener Indikator ist. Selbst die Entwicklung bei den 25- bis 44Jährigen sagt nicht viel aus, weil die Haushaltsstatistik nicht in der Lage ist, Lebensformen abzubilden. Die Zahl der Singles wird aus verschiedenen Gründen überschätzt:
- Die Verbesserung des Wohnens haben zur Umwandlung von Anstaltshaushalten (z.B. Schwesternwohnheime, Studentenwohnheime) in Einpersonenhaushalte geführt. Folge: In den 70er Jahren fielen viele Singles nicht in die Kategorie Einpersonenhaushalt.
- Die Haushaltsstatistik wurde in den 80er Jahre geändert. Gerade in diese Zeit fällt ein explosionsartiger Anstieg. Die Bundesstatistiker behaupten zwar, dass dies nicht auf die Methodenänderung zurückzuführen sei, überprüft hat diese jedoch niemand.
- Bei Alleinerziehenden, die mit einem Partner zusammenwohnen, wird der Partner meist als Single eingeordnet. Neuerdings sprechen Politiker deshalb auch von TATSÄCHLICH! allein Erziehenden, weil dies eine Studie - spät genug - aufgedeckt hat
.
- Der zunehmende Mobilitätszwang führt dazu, dass vermehrt Familienväter zu Wochenendvätern werden. In der Zweitwohnung werden sie jedoch als Single registriert.
Stoiber, der  sich gerne familienfreundlich mit Enkelkindern ablichten lässt, erhöht in Berlin den Single-Anteil - genauso wie viele seiner Politikerkollegen.

3) Die Rentenversicherung als Vollversicherung gegen Kinderlosigkeit

Die Allparteienkoalition der neoliberalen Sozialstaatsgegner und mit ihnen der Spiegel argumentiert:

"ausgerechnet das umlagefinanzierte Rentensystem belohnt den Verzicht auf Kinder am höchsten".

Gleichzeitig wird auf die hohe Akademikerkinderlosigkeit verwiesen. Die Unlogik gerade dieser Argumentation war bisher noch nicht ausreichend Gegenstand der öffentlichen Debatte. Gerade besser verdienende, kinderlose Akademiker beziehen meist gar keine Renten! Viele beziehen Pensionen und andere haben nur ihre private Altersvorsorge oder sonstige Alterseinkommen. Es handelt sich also gewissermaßen um ein Scheinargument, das erst dann seinen Sinn erhält, wenn Kinderlosigkeit nicht als lebenslange Kinderlosigkeit, sondern als Leben ohne Kinder im Haushalt definiert wird. Die Umdefinition von Eltern mit Kindern, die den Haushalt bereits verlassen haben, in Kinderlose ist der Trick, mit dem die Kinderlosenzahlen künstlich in die Höhe getrieben werden. Neuerdings werden diese Kinderlosen treffender auch als Nicht-Erziehende bezeichnet.

4) Die Geburtenrate ändert sich in den nächsten 30 Jahren nicht

"In Wahrheit ist die Geburtenrate der nächsten Jahrzehnte weitgehend programmiert. Weil die Zahl der potenziellen Mütter bereits seit langem sinkt und Ungeborene nun mal keine Nachfahren in die Welt setzen".

Tatsächlich ist die Geburtenrate seit den 1970er Jahren scheinbar relativ konstant. Berechnet man jedoch - wie Detlef GÜRTLER das getan hat - die Geburtenrate nicht für alle gebärfähigen Frauen, sondern pro Frauenjahrgang, dann lässt sich daraus eine Trendwende ablesen. Die Generation Golf ist gebärfreudiger als dies z.B. Susanne GASCHKE behauptet, während die 68er - also jene, die lautstark die jetzige Debatte dominieren - Teil des Problems sind.

Die Untersuchungen international renommierter Bevölkerungswissenschaftler widersprechen den Annahmen der deutschen Prognostiker. Nach dem Demografen RonLESTHAEGHE liegt die deutsche Geburtenrate höher als ausgewiesen und John BONGAARTS behauptet sogar ein Ende des Geburtenrückgangs in den westlichen Industrieländern. Das passt nicht ins Reformkonzept und wird deshalb in der deutschen Presse totgeschwiegen.

Es wäre noch mehr zu diesem unsäglichen Artikel zu sagen, z. B. über das Ranking, bei dem die Deutschen an 185. Stelle stehen, während Staaten ohne Nachwuchssorgen wie Somalia und Afghanistan Spitzenplätze einnehmen (es handelt sich dabei noch nicht einmal um einen Vergleich der Geburtenraten - Geburten pro gebärfähiger Frauen - wie behauptet wird, sondern um einen - wenig aussagekräftigen - Vergleich der Geburten pro 1000 Einwohner). Das Kindermangel-Ranking zeigt wohl am eindrucksvollsten, dass zwischen Wohlstand und Kindermangel kein direkter Zusammenhang besteht, wie uns die neoliberalen Wertkonservativen ständig einreden möchten.

 
     
 
       
   
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Stand: 13. Januar 2019