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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Geburtenzahlen in Deutschland

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Geburtenentwicklung (Teil 1)

 
       
     
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die mediale Berichterstattung zur Geburtenentwicklung richtet sich nicht nach der Faktenlage, sondern nach politischen Interessen. Um diese deutlich zu machen werden in dieser Bibliografie ab heute (02.07.2012) nach und nach ausgewählte Medienberichte und Literatur zum Thema chronologisch dokumentiert. Die Kommentare entsprechen jeweils dem Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, falls nichts anderes vermerkt ist.

Aus der nachfolgenden Tabelle sind die endgültigen Kinderzahlen der Frauenjahrgänge ab 1930 ersichtlich. Der Frauenjahrgang 1965 hat 1551 Kinder pro 1000 Frauen zur Welt gebracht. Das entspricht einer Kohortenfertilität ("Geburtenrate"; engl.: Cohort Fertility Rate, abgekürzt: CFR) von 1,551 Kindern pro Frau des Geburtsjahrgangs 1965.

Die Entwicklung der endgültigen Kinderzahl der Frauenjahrgänge 1930 - 1968 in Deutschland

Tabelle 1: Endgültige durchschnittliche Kinderzahl der
Frauenkohorte (Lebendgeborene je 1000 Frauen des
Geburtsjahrgangs
Geburtsjahrgang Deutschland

Früheres
Bundesgebiet1

Neue
Länder2

1930 2 121 2 141 .
1931 2 164 2 163 .
1932 2 201 2 200 .
1933 2 224 2 225 .
1934 2 221 2 240 .
1935 2 167 2 173 .
1936 2 132 2 135 .
1937 2 108 2 108 2 082
1938 2 069 2 070 2 044
1939 2 026 2 025 2 016
1940 1 977 1 971 1 983
1941 1 917 1 903 1 952
1942 1 864 1 850 1 900
1943 1 830 1 810 1 891
1944 1 801 1 778 1 874
1945 1 795 1 775 1 862
1946 1 795 1 780 1 866
1947 1 770 1 752 1 834
1948 1 750 1 729 1 826
1949 1 735 1 715 1 802
1950 1 724 1 701 1 790
1951 1 693 1 658 1 795
1952 1 686 1 647 1 802
1953 1 675 1 629 1 808
1954 1 657 1 606 1 809
1955 1 673 1 622 1 816
1956 1 670 1 619 1 813
1957 1 659 1 603 1 825
1958 1 660 1 605 1 821
1959 1 660 1 603 1 819
1960 1 657 1 603 1 796
1961 1 633 1 580 1 762
1962 1 613 1 564 1 724
1963 1 588 1 543 1 679
1964 1 567 1 527 1 638
1965 1 551 1 518 1 604
1966 1 526 1 497 1 562
1967 1 501 1 473 1 548
1968 1 492 1 471 1 517
Quelle: Statistisches Bundesamt
(Website: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/
GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/
EndgueltigeKinderzahl.html (Zugriff: 28.03.2018)
Anmerkungen:
1 Seit 2001 ohne Berlin-West.
2 Seit 2001 ohne Berlin-Ost, für die Jahre 1930 bis 1936
liegen keine vollständigen Angaben vor.
. = Zahlenwert unbekannt oder geheim zu halten.

Die Entwicklung der zusammengefassten Geburtenziffer von 1990 - 2016 in Deutschland

Tabelle 2: Zusammengefasste Geburtenziffer
(TFR) in Deutschland
Jahr Deutschland

Früheres
Bundesgebiet1

Neue
Länder2

1990 1 454 1 450 1 518
1991 1 332 1 422  977
1992 1 292 1 402 830
1993 1 278 1 393 775
1994 1 243 1 347 772
1995 1 249 1 339 838
1996 1 316 1 396 948
1997 1 369 1 441 1 039
1998 1 355 1 413 1 087
1999 1 361 1 406 1 148
2000 1 378 1 413 1 215
2001 1 349 1 382 1 231
2002 1 341 1 371 1 238
2003 1 340 1 364 1 264
2004 1 355 1 372 1 307
2005 1 340 1 355 1 295
2006 1 331 1 341 1 303
2007 1 370 1 375 1 366
2008 1 376 1 374 1 404
2009 1 358 1 353 1 405
2010 1 393 1 385 1 459
2011* 1 364 1 357 1 433
2011** 1 391 1 381 1 461
2012 1 406 1 395 1 483
2013 1 419 1 412 1 493
2014 1 475 1 470 1 544
2015 1 502 1 503 1 561
2016*** 1 590 1 600 1 640
2017*** 1 570 1 580 1 610
Quelle: Statistisches Bundesamt Bevölkerung und
Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten
Eheschließungen, Geborene und Gestorbene
(Stand: 13.01.2019)
Anmerkungen:
1 Seit 2001 ohne Berlin-West.
2 Seit 2001 ohne Berlin-Ost
* Geburtenziffer ohne Zensusbereinigung
** Geburtenziffer ab 2011 auf Basis Zensus 2011
*** Geburtenziffer ist gerundet!

Die Entwicklung der Geburtenzahlen in Deutschland

 
Tabelle: Schätzungen und vorläufige/tatsächliche Geburtenzahlen gemäß Pressemeldungen
des Statistischen Bundesamts
Jahr Endgültige
Geburtenzahl

(Stand:
31.10.2018)
Schätzung der Geburten
im Januar des folgenden Jahres
Veröffentlichung der vorläufigen bzw. endgültigen Geburtenzahl
im folgenden Jahr (abweichend für 2016)
April /
Mai
Juni Juli August /
September
November Dezember
2005 685.795 680 000 bis 690 000       686.000    
2006 672.724 670.000 bis 680.000   673.000   672.700    
2007

 

684.862

Im Jahr 2007 meldete das Statistische Bundesamt abweichend von der üblichen Praxis
Quartalszahlen, Halbjahreszahlen und Zahlen für die ersten 3 Quartale des Jahres.

680.000 bis 690.000        685.000    
2008 682.514 680.000 bis 690.000 675.000     683.000    
2009 665.126 645.000 bis 660.000 651.000       665.000  
2010 677.947     678.000 678.000 677.947    
2011 662.685 660.000 bis 680.000     663.000     662.685 *
2012 673.544 660.000 bis 680.000     674.000      
2013 682.069 675.000 bis 695.000           682.069
2014 714.927 675.000 bis 700.000       714.966    
2015 737.575 705.000 bis 730.000   738.000        
2016 792.131
792.141**
730.000 bis 770.000         792.000  
2017 784.901 770.000 bis 810.000            
Quelle: Statistisches Bundesamt; * Zahlen aus dem Heft 12 Wirtschaft und Statistik; ** Zahl DESTATIS-Datenbank (Abruf: 31.10.2018)
 

Kommentierte Bibliografie (2000 - 2003)

2000

SCHROETER, Johannes (2000): Eine Frage der Zeit.
Die Lasten der Kindererziehung sind privatisiert, der Nutzen seit langem sozialisiert: die Ursachen des drastischen Geburtenrückgangs,
in: Rheinischer Merkur Nr.47 v. 24.11.

Während andere Autoren die Ursachen des Geburtenrückgangs bei den 68ern suchen, geht SCHROETER noch einmal 100 Jahre zurück.
Seine zentrale These ist, dass der Geburtenrückgang eine "unbewältigte Folge des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft" ist. Die bäuerliche Familie ist für SCHROETER das Gegenbild zur Kleinfamilie der Industriegesellschaft. Der "Pillenknick" ist eine

"Lappalie und völlig harmlos im Vergleich zu dem, was die Frauen der Geburtsjahrgänge zwischen 1865 und 1900 verursachten. Zum einen erstaunt, dass sie ihre Kinderzahl gegenüber der vorherigen Generation um zirka 60 Prozent absenken konnten - ohne sichere Verhütungsmittel."

Das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kam mit der Industriegesellschaft in die Welt. Im Kern ist es ein Problem der "Wohlstandsdifferenz zwischen Elternschaft und Kinderlosigkeit", das auf zwei Wege gelöst werden kann: Senkung des Aufwandes durch öffentliche Einrichtungen oder Erhöhung des Nutzens von Kindern durch Erziehungsgehalt, höheres Kindergeld usw.

Der Ansatz von SCHROETER ist lobenswert, zeigt er doch, dass es sich bei dem Problemkomplex "Geburtenrückgang" um ein Phänomen handelt, das sich im historischen Kontext relativiert, gleichzeitig mangelt es SCHROETER an einer kritischen Reflexion bezüglich der statistischen Daten und deren Interpretierbarkeit.

Der Soziologe Hans BERTRAM hat in seinem Beitrag Arbeit, Familie und Bindungen (2000) den Vergleich zwischen den 1920er Jahren und heute angestellt und kommt zu dem Fazit:

"Der Geburtenrückgang in Deutschland seit 1968 ist im wesentlichen auf das Verschwinden der Drei- und Mehr-Kinder-Familien zurückzuführen. Die zunehmende Kinderlosigkeit von Frauen spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle".

Wichtiger als dies ist jedoch die Tatsache, dass BERTRAM den Familienbegriff der amtlichen Statistik in Frage stellt. Es ist davon auszugehen,

"daß die handelnden Subjekte sich nicht mehr den staatlichen Ordnungsvorstellungen, wie sie in dieser Statistik zum Ausdruck kommen, unterwerfen".

Wenn dies der Fall ist, dann müssten alle amtlichen Daten einer umfassenden Neuinterpretation unterzogen werden...

2001

LAGARDE, Dominique/DAOUDI, Mounia/GACEMI, Baya (2001): Femmes du Maghreb.
Les nouveaux chois des femmes,
in: L'Express v. 25.01.

Im Maghreb, den ehemaligen französischen Kolonien Algerien, Marokko und Tunesien hat in den letzten 30 Jahren ein dramatischer Geburtenrückgang stattgefunden: von 7,5 Kinder auf etwas mehr als 2 Kinder pro Frau. Alice SCHWARZER müsste neidisch sein auf diesen "Gebärstreik" und den deutschen Familienpolitikern sollten die Argumente ausgehen. Modernisierungsschub durch die 68er?

WELT (2001): Baby-Boom in der Single-Stadt
in:
Welt v. 08.01.

Der Verfasser wundert sich über den Widerspruch zwischen gestiegenen Single-Haushalten und steigender Geburtenrate. Die hilflose Erklärung: die geburtenstarken Jahrgänge sind schuld. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. 44,7% Single-Haushalte klingt nur hoch, wenn man Haushaltszahlen mit Einwohnerzahlen verwechselt. Würden sich Journalisten angewöhnen die Zahlen für die Einwohner anzugeben, dann könnte man zwar keine Dramatisierung des Geburtenrückgangs betreiben, dafür müsste man sich dann nicht mehr über die Tatsache wundern, dass selbst München eine Familienstadt ist.

Noch ein Wort zu Prognosen. In den 1950er Jahren gab es keine einzige mir bekannte Prognose, die einen Geburtenrückgang im heutigen Ausmaß vorhersagte, weil Prognosen meist simple Fortschreibungen des Es-geht-immer-so-weiter sind. Und die Treffsicherheit heutiger Prognosen muss sich erst noch beweisen.

HUMMEL, Katrin (2003): Kinder, Kinder, Kinder.
Im Landkreis Cloppenburg wären die Renten noch sicher - wenn es den Rest Deutschlands nicht gäbe,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.01.

Katrin HUMMEL berichtet aus Emstek, dem kinderreichsten Ort in ganz Deutschland. 189 Neugeborene bei 10.250 Einwohnern im Jahr 2000 meldet HUMMEL. Gleichzeitig ist dort die Arbeitslosenquote am niedrigsten, aber es herrscht Überproduktion von Schweinefleisch ("jede Stunde werden 600 Schweine geschlachtet"). Ob die Renten sicher wären, wäre jedoch keineswegs ausgemacht, denn wer sollte denn das ganze Schweinefleisch essen, wenn es Restdeutschland nicht gäbe?

OBERNDÖRFER, Dieter (2002): Nur Zuwanderung sichert den Wohlstand Deutschlands.
Dieter Oberndörfer über die kollektive Verdrängungsmentalität der Politiker und die verfehlte Ausländerpolitik,
in: Frankfurter Rundschau v. 22.01.

Die FR dokumentiert eine Erwiderung des emeritierten Politikwissenschaftlers Dieter OBERNDÖRFER, der erster Vorsitzender des Deutschen Rats für Migration ist. Er vernimmt in Herwig BIRGs Gutachten "die Grundmelodie für den bevorstehenden Wahlkampf". OBERNDÖRFER stimmt mit BIRG bezüglich der Faktenlage zur demografischen Entwicklung überein und kritisiert deswegen nur dessen Kritik am Zuwanderungsgesetz. Gemeinsam ist den beiden Wissenschaftlern die Singlefeindlichkeit, die sich aus dem Ziel einer "energischen Familienpolitik" herleitet. Frankreich hält auch OBERNDÖRFER für das familienpolitische Musterland. Seine Einschätzung des bevorstehenden Verteilungskonfliktes liest sich folgendermaßen:

"Der Aufbau einer wirklich wirksamen Familienpolitik wäre überaus kostspielig und wird daher ganz neue und tief greifende wirtschaftliche Umverteilungen notwendig machen. Er wird in einer Gesellschaft der 'Singles', in der Familien mit Kindern schon seit längerem als politische Lobby eine ungeliebte Minderheit geworden sind, nur gegen hinhaltenden politischen Widerstand durchsetzbar sein."

OBERNDÖRFER setzt Familie mit der Haushaltsfamilie gleich, d.h. Familienpolitik soll sich zukünftig auf eine einzige Lebensphase im Familienbildungsprozess konzentrieren. Die familieninternen Generationenbeziehungen der Familienmitglieder werden damit weiter aufgelöst und staatlich normiert, d.h. die Individualisierung der Familie wird forciert. Eine solche Familienpolitik, die eine einzige Generation fördert, forciert den Generationenkonflikt.

OBERNDÖRFER dramatisiert die Bevölkerungsentwicklung, indem er im Vergleich der Geburtenraten von Deutschland und Frankreich bewusst unterschiedliche Definitionen der betrachteten Bevölkerungsgruppen gegenüberstellt und somit die Kinderlosigkeit in Deutschland höher erscheint, um Frankreich als Vorbild darstellen zu können:

"Seit Ende der 70er Jahre betrug die jährliche Geburtenrate Deutschlands (...) nur 1,35 bis 1,3. Sie lag damit weit unter der Bestandszahl. Ohne die Zuwanderung von Ausländern und deutschstämmigen Aussiedlern hätte sich die Bevölkerung Deutschlands schon bis heute um zirka drei bis vier Millionen verringert. Auch wenn es gelänge, die derzeitige Geburtenzahlen allmählich auf das höhere Niveau Frankreichs von 1,7 anzuheben, wären die Auswirkungen auf die ab 2005 sich beschleunigende Schrumpfung der Bevölkerung gering."

Aus der Darstellung muss man davon ausgehen, dass OBERNDÖRFER hier die Geburtenrate "deutscher" Frauen (statt der Geburtenrate in Deutschland) mit denen "französischer" Frauen vergleicht. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das geht erst aus einer Passage hervor, die sich eine Seite weiter befindet:

"Wenn »Ausländer« nicht allein nach ihren Pässen, sondern auch nach der ausländischen Herkunft der Wohnbevölkerung definiert werden, fällt Deutschland in der Rangordnung der Aufnahmeländer Europas auch noch weit hinter Frankreich, Großbritannien und die Niederlande zurück. Ihre Zuwanderer kamen zum großen Teil aus ehemaligen Kolonialgebieten und wurden daher in der nationalen Statistik nicht unter der Rubrik »Ausländer« registriert. Zudem verringerte sich die Zahl ihrer Pass-Ausländer kontinuierlich durch großzügige Einbürgerungsregelungen. So beläuft sich inzwischen auch die Zahl der moslemischen Franzosen auf 5,5 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von nur 58 Millionen (Deutschland 2,3 Millionen Moslems, die meisten aber sind im Unterschied zu Frankreich nicht eingebürgert)."

Aus dieser Passage lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Geburtenrate "deutscher" Frauen im Vergleich mit "französischen" Frauen gar nicht so niedrig ist, wie sie eingangs von OBERNDÖRFER dargestellt wird.

Singles werden aufgrund argumentationsstrategischer Überlegungen zum Buhmann gemacht. Während nämlich BIRG mit seinen Ausführungen belegen wollte, dass die Geburtenrate der deutschen Frauen ohne Zuwanderer auf ein ausreichendes Niveau zurückzuführen wäre, bestreitet OBERNDÖRFER gerade dies. Um zu zeigen, dass Zuwanderung notwendig ist, muss er deshalb die Bevölkerungsentwicklung noch stärker dramatisieren als BIRG dies tut, z.B. indem er den betrachteten Zeitraum ausweitet und zur Rhetorik des Aussterbens greift.

Beiden Wissenschaftlern sind die Belange der Singles in der Phase vor der Gründung eines Familienhaushalts bzw. nach Auszug der Kinder gleichgültig. Sie sind das Bauernopfer im Familienwahlkampf. Die Dramatisierung gilt der Durchsetzung einer als Familienpolitik getarnten Bevölkerungspolitik. Die Bevölkerungsprognosen divergieren durchaus, weswegen es aufschlussreich ist, die Prognosen verschiedener Institute zu vergleichen. Das Eurostaat-Jahrbuch 2001 ermöglicht einen Überblick. Wenig erstaunlich: Die nationale Statistik von Deutschland ist jene, die mit den niedrigsten Geburtenraten operiert.

DRIBBUSCH, Barbara (2001): Viel Job, wenig Liebe.
Die Leistungsgesellschaft führt zum heimlichen Gebärstreik. Jede dritte 35-Jährige ist kinderlos - die meisten bleiben es,
in: TAZ v. 02.02.

"Der Kanadier Jerry Steinberg hatte die Nase voll. All seine Kumpels hatten geheiratet, in seinem Freundeskreis wurde nur noch über Babys geschwafelt. Steinberg gründete 'No Kidding!'."

Was DRIBBUSCH hier als Beispiel für die Zunahme der Kinderlosen präsentiert, ist eher ein Indiz dafür, dass Kinderlose eine Minorität sind. Der Versuch Kinderlose auszugrenzen, wie es z.B. in der sozialpolitischen Debatte immer sichtbarer wird, führt dazu, dass Kinderlose gezwungen werden, sich zu organisieren.  Diese "Ghettoisierung" ist nicht die Ursache, sondern die Folge der angeblichen Polarisierungen, die Demografen wie Jürgen DORBRITZ zwar theoretisch postulieren, aber nicht beweisen können. Der Begriff "Gebärstreik" weist dabei auf die Wurzeln dieser Position.  Wenn man von einem dramatischen Geburtenrückgang reden kann, dann nicht in Deutschland, sondern im Maghreb. Dagegen verblasst das Gerede vom Aussterben hierzulande (siehe L'Express v. 25.01.2001). Wenn man dort die Geburtenrate wie bei uns hochrechnen würde, dann müsste dort die Bevölkerung lange vor den Deutschen vollkommen ausgestorben sein, aber vielleicht stimmt ja etwas mit den Berechnungen nicht. Ein Blick auf die Geburtenstatistik zeigt, dass die Anzahl der Geburten im früheren Bundesgebiet 1999 höher war als in den Jahren 1973 - 1987.

HÖFL-HIELSCHER, Elisabeth (2001): Ende des Pillenknicks?
Die Stadtstatistiker melden für München einen Babyboom
in:
Süddeutsche Zeitung v. 23.02.

Elisabeth HÖFL-HIELSCHER scheint den Mythen von der "Single-Gesellschaft" nicht mehr zu glauben:

"Manche erklären den Babyboom nun damit, dass jetzt die geburtenstarken Jahrgänge der 60-er Jahre ins Elternalter gekommen seien. Das kann aber so nicht stimmen: Die wären nämlich, auch wenn die »erstgebärenden Mütter« immer älter werden, schon Mitte der 90-er Jahre dran gewesen. Das Rätsel müssen nun die Fachleute knacken. Bei denen galt es bislang ja als ausgemacht, dass in der Single- und Yuppie-Metropole kein Platz für Kinder sei. Eine Zeit lang rauschte sogar die Nachricht durch den Blätterwald, München sei die Stadt mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Und jetzt das! Sogar die Zahl der »Familienhaushalte« und der Großfamilien nimmt trotz der hohen Lebenshaltungskosten zu".

Solche Analysen passen einfach nicht zum kommenden Familienwerte-Wahlkampf , in denen Apokalyptiker und Polarisierer das Wort haben...

SPIEGEL-Titelgeschichte: Zurück zur Familie.
Verfassungsgericht verurteilt die Politik

DARNSTÄDT, Thomas/FESTENBERG, Nikolaus/FISCHER, Susanne/GATTERBURG, Angela von/HILDEBRANDT, Tina/JUNG, Alexander/MARTENS, Heiko/NEUBACHER, Alexander/REIERMANN, Christian/SAUGA, Michael (2001): Ein Segen für die Familie.
Wer Kinder kriegt, zahlt drauf. Das verstößt gegen die Verfassung. Das Karlsruher Urteil zur Pflegeversicherung verlangt einen grundlegenden Wandel in der Familienpolitik. Erziehungsarbeit muss belohnt werden - auch damit der Bevölkerungsschwund gebremst wird,
in: Spiegel Nr.15 v. 09.04.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Debatte

LEVINE, Tom (2001): Praktizierte Gleichberechtigung - größere Kinderzahl.
Familienpolitik - Kinder oder Inder oder was? Deutschland ist angesichts der sinkenden Geburtenzahlen aus jahrzehntelanger Lethargie erwacht. Manche Staaten sind längst munterer,
in: Berliner Zeitung v. 14.04.

Der Bevölkerungsstatistiker Ron Lesthaeghe kritisiert, dass die deutschen Statistiker dem Umstand, dass Frauen immer später in ihrem Leben Kinder kriegen, nicht genügend Beachtung schenken würden.

"Betrachte man - anders als die deutsche Statistik - nicht nur die aktuelle Geburtenentwicklung pro Jahr, sondern das jeweilige Verhalten von Frauen-Altersgruppen (so genannten 'Kohorten'), so werde deutlich, dass der Geburtenrückgang langfristig weniger dramatisch sein dürfte. Die Frauen der Jahrgänge 1957 bis 1961 etwa hätten zwar viel später mit dem Kinderkriegen angefangen als ihre Vorgängerinnen, aber dann aufgeholt: Die Geburtenrate ihrer Altersgruppe liegt bei rund 1,6 Kindern pro Frau; verglichen mit 1,8 für die Jahrgänge 1942-1946. Die heute 35- bis 40-Jährigen hätten bereits jetzt eine Rate von 1,5 erreicht - obwohl sie sich durchschnittlich noch länger Zeit gelassen hätten, bevor das erste Baby kam."

STEINMEIER, Frank-Walter (2001): Immer älter, immer weniger - Das Bevölkerungsproblem,
in: Welt v. 23.05.

"In einer auf Flexibilität und Selbstverwirklichung angelegten Zeit stellt die Entscheidung für ein Kind eine langfristige Festlegung dar, die für Frauen mit erheblichen beruflichen Risiken verbunden ist. Besonders gut ausgebildete Frauen wollen sich diesem Risiko oft nicht aussetzen, weshalb der Prozentsatz der Frauen, die innerhalb eines Jahrganges kinderlos bleiben, in nur acht Jahren von 15 Prozent (Geburtsjahrgang 1950) auf 23 Prozent (Geburtsjahrgang 1958) empor geschnellt ist",

schreibt STEINMEIER. Dies ist nicht erstaunlich, aber es hat weniger mit der viel beschworenen Selbstverwirklichung zu tun, sondern mit der Tatsache, dass Mitte der 70er Jahre die Vollbeschäftigungsgesellschaft ihr Ende fand. Jugend- und Akademikerarbeitslosigkeit wurden zu den Schlagworten jener Zeit und das "Ende der Arbeit" wurde debattiert.
Die Ausnahme war der Baby-Boom der Wirtschaftswunderzeit und nicht der "Geburtenrückgang", den STEINMEIER nicht als Rückgang der Kinderzahl pro Frau, sondern als Rückgang der Frauen, die überhaupt Kinder gebären, beschreibt. STEINMEIER suggeriert damit aber auch, dass sich dieser Rückgang im gleichen Masse fortsetzen wird. Dies ist jedoch fraglich.

JÄHNER, Harald (2001): Das Glück schien machbar.
Heute vor vierzig Jahren wurde die Anti-Baby-Pille erstmals in der Bundesrepublik verkauft,
in: Berliner Zeitung v. 01.06.

"In Westdeutschland fiel trotz steigender sexueller Aktivität die Geburtenrate zwischen 1964 und 1978 um 46 Prozent. Nach dem statistischen Pillenknick, zeitlich identisch mit der so genannten sexuellen Revolution, stieg die Geburtenrate wieder kontinuierlich an."

JÄHNER meint offensichtlich nicht die GeburtenRATE, sondern die GeburtenZAHLEN. Die GeburtenRATE hatte ihr Minimum Mitte der 80er Jahre erreicht.

SPIEGEL-Titelgeschichte: Der neue Mutterstolz.
Kinder statt Karriere

BEYER, Susanne & Marianne WELLERSHOFF (2001): Comeback der Mutter.
Die Emanzipation steckt in einer Krise: Überraschend viele Frauen suchen neuerdings ihre Erfüllung nicht mehr im Beruf, sondern im Zusammenleben mit Kindern. Die Rolle des Superweibs, das locker Karriere und Familie verbindet, überfordert sie. Triumph althergebrachter Mütterlichkeit?
in: Spiegel Nr.29 v. 16.07.

Am 23.10.2000 wurde im Spiegel der Single verabschiedet, am 19.04.2001 titelte der Spiegel Zurück zur Familie als Konsequenz des Urteils vom Bundesverfassungsgericht zur Pflegeversicherung und jetzt ist die Frau im Spiegel zur stolzen Mutter geworden. Von der Verabschiedung des Singles bis zur Mutterschaft dauerte es fast genau 9 Monate! Wie konnte es soweit kommen?

"Als die Hausfrau und Mutter Cölsch-Limbacher vor kurzem zum Arbeitsamt in Schwäbisch Hall ging, weil sie einen Job als Soziologin suchte, antwortete der Berater: »Ich schlage vor, Sie kriegen noch mehr Kinder. Sie wissen ja, dass die Deutschen aussterben, und Vollzeit-Mutter zu sein ist eine ehrenvolle Aufgabe.« Eine Arbeit hat der Mann ihr nicht angeboten."

Der Spiegel ist also bei der Diskriminierungs- und Rezessions-Kultur angelangt. In Zeiten der Rezession und des Nachwuchsmangels wird klar:

"Kinder gelten plötzlich nicht als Belastung, sondern als Glücksversprechen. Selbst das Zeitgeistmagazin »Max« (...) warb kürzlich mit einem properen Windelbaby zwischen den schlanken Frauenbeinen für das »Abenteuer Kind«.
Das mythische Ideal der Mutterschaft kehrt jedenfalls zurück -, »back to the fifties«. Allenfalls damals wurden Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, so hoch geschätzt wie heute. »Die Mutter ist wieder das vorherrschende Frauenbild«".

Belegt wird das nicht anhand statistischer Zahlen, sondern es werden die üblichen Prominenten angeführt, um das Spiegel-Frauenleitbild als plausibel darzulegen.

"Back to the fifties". Es ist offensichtlich, dass damit nicht die Familienrealität der 1950er Jahre gemeint ist, sondern jenes Familienideal, das erst durch die Medien konstruiert wurde, nachdem in den 1960ern die Familie in Frage gestellt worden war. Leitbilder sind Ausdruck von Kulturkämpfen:

"Der Imagewandel ist radikal: Heute, so gibt das neue, alte Leitbild es vor, ist eine Frau erst mit Kind vollständig. In den siebziger Jahren dagegen galten Kinder vielen Feministinnen als »schwere Ketten« der Frauen."

Die Spiegel-Autorinnen zitieren hier den Kulturkampf zwischen kinderlosen Karrierefrauen und berufstätigen Müttern, der seit Mitte der 1970er Jahre die Frauenbewegung prägt. Mit der Realität in Deutschland hat das nichts zu tun, denn:

"im Topmanagement gibt es nur noch mickrige 3,5 Prozent Frauen".

Davon sind die Hälfte sogar Mütter! Die kinderlose Powerfrau ist also genauso wie Hera LINDs Superweib keine statistisch relevante gesellschaftliche Größe. Wenn die Autoren deshalb einen Wertewandel konstatieren, dann scheint dies - wenn überhaupt - nur ein Wertewandel der Elite zu sein.

Die Proklamierung des Spiegel-Frauenleitbilds "50er-Jahre-Vollzeitmutter" ist bevölkerungspolitisch motiviert:

"Ob die aktuelle Wandlung des kulturellen Leitbildes - von der Powerfrau zur Brutpflegerin - am Ende zu einem neuen Kindersegen führt?"

fragen sich die Autorinnen bange. Das Emma-Frauenbild ist dagegen die kinderlose Karrierefrau: Gebärstreik titelte deshalb die Frauenzeitschrift von Alice SCHWARZER in der Juli/August-Ausgabe. Nicht die Vollzeitmutter, sondern die berufstätige Karrieremutter ist das Mutterleitbild von Alice SCHWARZER.

Die Autorinnen gehen aber noch weiter. Nicht nur Frausein ist defizitär, sondern auch das Alleinerziehen. Dies ist die Rückkehr der "unvollständigen Familie". Die Kinder von Alleinerziehenden werden als "Risikokinder" bezeichnet, da sie oftmals als Partnerersatz dienten.

Hier werden Alleinerziehende fälschlicherweise mit alleinerziehenden Partnerlosen gleichgesetzt. Die amtliche Statistik sagt jedoch über die Partnerschaftssituation von Alleinerziehenden gar nichts aus. Die genaue Zahl von alleinerziehenden Partnerlosen ist unbekannt. Alleinerziehende können nach der Definition des Statistischen Bundesamtes durchaus mit einem Partner zusammenwohnen. Der Status des Alleinerziehens wird dadurch nicht beeinträchtigt. Ob der Partner in der Praxis mit erzieht, das interessiert nicht. Die Kategorie "Alleinerziehende" ist deshalb für die Beschreibung der Lebensverhältnisse dieser Mütter und Väter völlig unzureichend.

EMMA -Titelgeschichte: Gebärstreik.
Warum Frauen immer weniger Kinder kriegen

SCHWARZER, Alice (2001): Gebärstreik.
Sterben die Deutschen aus?
in: Emma, Juli/August

2002

FR (2002): "Von Zuwanderung profitiert vor allem der Migrant, nicht der Staat".
Was der Bielefelder Bevölkerungsforscher Herwig Birg im Auftrag des Landes Bayern herausgefunden hat / Die Zusammenfassung seines Gutachtens
in: Frankfurter Rundschau v. 18.01.

Die FR dokumentiert Herwig BIRGs Gutachten für die Bayrische Landesregierung. Die zentrale Aussage ist:

"Die bis 2020 nur mäßige Abnahme des Arbeitskräftepotenzials um rd. 8 Prozent bietet den benötigten zeitlichen Spielraum zur Vorbereitung und Durchführung einer von Zuwanderungen unabhängigen, demographisch orientierten Familienpolitik zur Anhebung der Geburtenrate. Dies bedeutet, dass das Ziel, langfristig zu einer demographisch nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung zurückzukehren, nicht unerreichbar ist."

Der Begriff "demographisch orientierte Familienpolitik" ist die neudeutsche Sprachregelung für Bevölkerungspolitik. Wie ist dies zu erreichen?

"Um das Ziel einer bestandserhaltenden Geburtenrate von zwei Kindern pro Frau zu erreichen, müsste sich die Familienpolitik vor allem auf einen Abbau der lebenslangen Kinderlosigkeit konzentrieren."

Eine solche Zielsetzung läuft zwangsläufig auf eine Verschärfung der Kontroverse "Familien contra Singles" hinaus. Frankreich ist BIRGs Vorbild. Obwohl dort Bevölkerungspolitik eine lange Tradition hat, ist die dortige Geburtenrate kaum höher als in Deutschland. Da Frankreich länger als Deutschland ein Agrarstaat war, dürfte dort der Geburtenrückgang erst noch bevorstehen.
Dreh- und Angelpunkt des Überfremdungsarguments ist der angebliche Zuwanderungsdruck aus den Mittelmeeranrainerstaaten:

"Wer über Zuwanderung spricht, muss auch die demographische Entwicklung in den potenziellen Herkunftsländern berücksichtigen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland und Europa - in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers von Marokko über Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten bis zur Türkei".

Gerade diese Länder zeigen jedoch, dass die Bevölkerungsentwicklung nicht so voraussehbar ist, wie BIRG das gerne behauptet. Im Maghreb, den ehemaligen französischen Kolonien Algerien, Marokko und Tunesien hat nach einem Bericht des französischen Nachrichtenmagazins L'Express vom 25.01.2001 in den letzten 30 Jahren ein dramatischer Geburtenrückgang stattgefunden: von 7,5 Kinder auf etwas mehr als 2 Kinder pro Frau. Würde man BIRGs Prinzipien einer linearen Fortschreibung von Geburtenraten auf diese Länder anwenden, dann gäbe es dort in 30 Jahren eine Region ohne Volk. Keiner würde jedoch so etwas für realistisch halten. Aber genau nach diesem Grundmuster sind BIRGs Prognosen für Deutschland gestrickt!

SUZ (2002): Zahl der Kinder weiter gesunken.
Geburtenrückgang hält an. Mehr Familien leben vom Staat,
in: Tagesspiegel v. 16.07.

RÜHLE, Alex (2002): Ein Rock durch Deutschland.
Der Volkskörper taucht aus dem Sprachschlamm auf,
in: Süddeutsche Zeitung v. 30.08.

Katastrophen sind angeblich gut für die Geburtenrate, was RÜHLE zur Prognose veranlasst:

"Schon jetzt spricht man im Osten davon, dass die Zusammenarbeit der Einheimischen mit den Bundeswehrregimentern Hand in Hand gehe mit intensiven Formen der Völkerverständigung: In neun Monaten erwartet man entlang der Deiche einen Babyboom."

MEHLITZ, Johannes (2002): "Die Bevölkerung wird unterschätzt".
Demografie. Neue Grundlagen. Selbst eine höhere Geburtenrate kann die Folgen des demografischen Wandels nicht beheben,
in: Rheinischer Merkur Nr.49 v. 05.12.

Interview mit Axel BÖRSCH-SUPAN, Mitglied der "Rürup"-Kommission.

HANIKA, Iris (2002): Kinder: Mehr als "Humankapital",
in: Signale - Gedanken zur Zeit. Sendung des DeutschlandRadio v. 26.12.

Iris HANIKA rechnet mit der fortschreitenden Ökonomisierung der Familie anhand des Beitrags von Hans-Werner SINN in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ab:

"Weil an Weihnachten einmal die Kinder selbst gemeint sind, ist dies auch die einzige Zeit des Jahres, wo, wer keine Kinder hat, mit Mitleid rechnen kann, denn an Weihnachten begreifen auch hart kalkulierende Eltern, daß ohne Kinder zu sein ziemlich traurig ist, auch wenn man dabei möglicherweise ein bißchen Geld spart. Den Rest des Jahres wird auf die Kinderlosen munter eingeschlagen",

meint HANIKA und widmet sich der Gleichsetzung von Reproduktion mit Kapitalbildung bei SINN. HANIKA geht dabei nicht nur bis zum "Ganzen Haus" zurück, sondern zur Sklavenhaltergesellschaft:

"Der Begriff »Humankapital« ist eigentlich nicht die modernisierte Form des Begriffs »Menschenmaterial«, der im Ersten Weltkrieg in den sich in Massengräber verwandelnden Schützengräben entstand, vielmehr ist »Humankapital« tatsächlich ein wirtschaftswissenschaftlicher Fachausdruck. Es ist für den Volkswirt das, was der Mensch selbst mitbringt oder aus sich selbst macht. (...). Nach der Theorie bilden auch Kinderlose Humankapital - indem sie sich bilden. Bei der Nonchalance jedoch, mit der Hans-Werner Sinn die bloße Reproduktion mit Kapitalbildung gleichsetzt, geht die technische Bedeutung dieses Begriffs verloren. Der Laie muß an dieser Stelle, wo Humankapital und Realkapital einander als qualitativ gleichwertig entgegengesetzt werden, Humankapital als das verstehen, als was Sklavenhalter ihre Arbeitssklaven verstehen: als Gelderzeugungsmaschinen in menschlicher Gestalt. Dabei können Kinder auch wirtschaftlichen Schaden anrichten, etwa indem sie später drogensüchtig oder kriminell oder allgemein Nichtsnutze werden und nur Kosten verursachen, statt etwas von dem in sie investierten Kapital zurückgeben."

2003

ZEIT-Serie: Land ohne Leute (Teil 1)

NIEJAHR, Elisabeth (2003): Land ohne Leute.
Die vergreiste Republik. Deutschland verliert jährlich 200000 Einwohner, da mehr Menschen sterben als geboren werden. Es wächst ein demografisches Problem ungeheuren Ausmaßes heran, doch die Politiker ignorieren es,
in: Die ZEIT Nr.2 v. 02.01.

Elisabeth NIEJAHR ist unter die Apokalyptiker gegangen. Mit ihrer Krisenrhetorik und dem Bedauern, dass eine pronatalistische, d.h. eine direkt geburtenfördernde, Politik noch nicht allgemein durchgesetzt ist, folgt sie den "konservativen Revolutionären" Arnulf BARING und Meinhard MIEGEL. Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Es muss gehandelt werden. Demokratische Gepflogenheiten und Interessensätze werden machtpolitisch hinweggefegt. MACHIAVELLI und Carl SCHMITT sind die Paten dieses antidemokratischen Politikstils. Krisenrhetorik dient der Einschränkung von Denkalternativen und damit der Perspektivenverengung. Zweifel dürfen gar nicht erst aufkommen.  In diesem Sinne präsentiert NIEJAHR den Super Gau der Bevölkerungsentwicklung. Während der Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG den ideologischen Charakter bevölkerungswissenschaftlicher Prognosen erst gar nicht leugnet, plappert NIEJAHR lediglich jene Slogans nach, mit denen Demografen die Prognosefähigkeit ihrer Wissenschaft behaupten:

"Einwohnerzahlen sind leichter zu prognostizieren als beispielsweise der Klimawandel. Die Alten von morgen sind schließlich heute schon auf der Welt".

Das mag - abgesehen vom Ausbleiben nicht erwünschter lokaler Katastrophen - stimmen, aber wieviel Junge bis dahin auf die Welt kommen werden, das steht genauso wenig fest wie die nicht weniger entscheidende Frage, wo diese Menschen leben werden.  Vor einigen Tagen hat der österreichische Bevölkerungswissenschaftler Wolfgang LUTZ in einem FAS-Interview die angeblich so treffsicheren UN-Prognosen der Vergangenheit als unzutreffend bezeichnet. Die prognostizierte Bevölkerungsexplosion der Weltbevölkerung findet nicht statt. Noch schlimmer: der zentrale Glaubenssatz der Demografen, wonach der Entwicklungsstand einer Nation eng mit der Geburtenrate verknüpft ist, ist in dieser simplen Form nicht aufrecht zu erhalten. Die Gleichung arm = viele Geburten & reich = wenige Geburten stimmt so nicht. "Simplify your life" mag ja ein gesellschaftlicher Trend sein, wenn es jedoch um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit geht, dann sollte man diesen monokausalen Erklärungsmythen misstrauen. In dem 1997 erschienenen Buch Familie leben rechnet der Familiensoziologe Hans BERTRAM mit der Ideologie von Meinhard MIEGEL ab. MIEGEL hat seine Thesen zur Bevölkerungsentwicklung nicht erst in dem Buch Die deformierte Gesellschaft niedergeschrieben, sondern bereits 1994 zusammen mit Stefanie WAHL das Ende des Individualismus prophezeit. Die empirischen Daten der Längsschnittuntersuchung des Deutschen Jugendinstituts stützen MIEGELs Kritik an der hedonistischen und individualistischen Kultur in Deutschland nicht. Postmaterialistische Werte verhindern nicht per se, dass aus Singles Eltern werden. Die Frage,

"unter welchen Umständen Postmaterialisten bereit sind, Kinder zu bekommen"

ist deshalb nicht so einfach zu beantworten wie sich das MIEGEL und Konsorten wünschen. Christine CARL hat zum Thema gewollte Kinderlosigkeit ein Buch veröffentlich, das die Problemvielfalt aufzeigt.

GERSDORFF, Alexander von (2003): "Die Geburtenkrise ist nur durch Reformen zu lösen".
Rürup-Kommissionsmitglied Axel Börsch-Supan über Konsequenzen für die alternde Gesellschaft,
in: Welt v. 16.01.

Axel BÖRSCH-SUPAN hält die typische neoliberale Lösung parat. Diese ist jedoch zu kurz gegriffen, wie Leander SCHOLZ ("Schuld hat, wen es trifft"; Freitag Nr.3, 10.01.2003) und Iris HANIKA zeigen. Ein typisches Beispiel für die absurde neoliberale Phraseologie:

"Die statische Betrachtung, es gebe eine feste Arbeitsmenge ist falsch (...). Bis 2030 fehlen acht Millionen Arbeitnehmer, das ist nicht zu ersetzen".

ABI (2003): Bezirk der schönen Mütter.
Die Ausnahme: In Prenzlauer Berg gibt es einen Baby-Boom,
in: Tagesspiegel v. 01.03.

DESTATIS (2003): Geringfügig weniger Geburten, mehr Sterbefälle im Jahr 2002,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 26.03.

"Im Jahr 2002 wurden 725 000 Kinder lebend geboren, 5 000 oder 0,7% weniger als 2001. Die Zahl der Geburten geht seit 1991, mit Ausnahme der Jahre 1996 und 1997, zurück. Allerdings hat sich die Abnahme jetzt deutlich abgeschwächt: Von 2000 auf 2001 hatte der Rückgang etwa 4% betragen", meldet das Statistische Bundesamt zur Geburtenentwicklung.

PETERSEN, Anne (2003): Comeback des Kindersegens.
In jungen und schicken Ecken Deutschlands lösen Kinderwagen Cabrios als Statussymbol ab. Familiensinn ist wieder in: Reportage über einen hoffnungsvollen Trend,
in: Welt am Sonntag v. 25.05.

Wann ist ein Trend ein Trend? Wenn immer mehr Journalisten voneinander abschreiben und sich dann immer auch die entsprechenden Experten finden. Anne PETERSEN berichtet nun über den "Club der schönen Mütter" (Fehlfarben) u. a. im Szene-Bezirk Prenzlauer Berg, dem das Berliner Stadtmagazin zitty bereits eine Titelgeschichte gewidmet hat.

"Ungeachtet der unsicheren Wirtschaftslage scheint sich in den Großstädten - allen voran die Avantgarde aus Berlins Mitte - ein Retrotrend zur Familie zu etablieren. Nachwuchs gilt den neuen Bürgern, den so genannten Bobos (Bourgeois Bohemians), nicht länger als Armutsrisiko, sondern als Steigerung des hedonistischen Vergnügens. Die Frage »Spaß oder Familie?« ist nicht mehr aktuell",

behauptet PETERSEN. Single-generation.de berichtet über diese Family-Gentrifier in Dienstleistungsmetropolen bereits seit einigen Jahren. Dieser Trend ist auch keineswegs ganz neu. Auch PETERSEN liefert Zahlen, die bereits älter sind, aber nicht breit publiziert wurden:

"Dass Frauen viele Kinder bekommen, wenn sie dadurch nicht ihren Beruf aufgeben müssen und die Kinderbetreuung sichergestellt ist, zeigt sich auch daran, dass es in den letzten zehn Jahren bei den Wohlhabenden zu einem Anstieg der Kinderzahl gekommen ist. Ab einer gewissen Einkommensgrenze können die nötigen Dienstleistungen bezahlt werden. Bezeichnend sind die hohen Geburtenzahlen in den teuren Hamburger Stadtteilen. In Harvestehude stieg die Zahl der Geburten von 1997 bis zum Jahr 2001 um 27,3 Prozent, in Blankenese um 26,7 Prozent."

Untergangspropheten benötigen niedrige Geburtenraten, um die geplanten sozialpolitischen Einschnitte bei Singles zu rechtfertigen. PETERSEN nennt dagegen Gründe, warum die derzeit niedrige Geburtenrate keine Zukunft haben wird:

"Der Familien-Nihilismus der 68er hat Raum geschaffen für neue Formen wie Patchwork-Familien und allein Erziehende. So verliert die Traditionsfamilie zwar ihre kulturdominante Macht, doch die Geburtenrate von derzeit 1,4 in Deutschland wird wieder steigen, sagen die Experten. Dafür sorgt auch eine steigende Zahl an »Spätgebärenden«. Heute gibt es in den westlichen Ländern mehr Schwangere zwischen 35 und 39 Jahren als bei den unter 35-Jährigen. Immer mehr Menschen bekommen ihre Kinder spät, und besonders die Großstadteltern entwickeln heute vielfältige, flexible Betreuungsmodelle, sie engagieren Babysitter oder Au-pair-Mädchen, »mieten« sich eine Oma oder sprechen sich innerhalb von Hausgemeinschaften ab."

PETERSEN nennt auch noch ein paar prominente Schriftstellerinnen, die den neuen Typus der Family-Gentrifier repräsentieren sollen:

"Schriftstellerinnen wie Judith Hermann oder Alexa Henning von Lange, die kürzlich noch für die Ich-Bezogenheit einer wohlstandsverwahrlosten Generation standen, bekennen sich jetzt mit glänzenden Augen zur Familienverantwortung und schreiben in Magazinen wie »Kid's Wear«, der neuen Mode-Bibel für das Kind. Vor zehn Jahren noch hätte niemand geglaubt, dass ausgerechnet die vermeintlich konsumorientierte und partyversessene Generation der jetzigen Thirtysomething antritt, um das demographische Loch zu stopfen."

Im Gegensatz zum Mutterstolz-Spiegel-Titel handelt es sich bei den Family-Gentrifier nicht um ein Comeback der Hausfrauenfamilie, sondern um eine moderne Form der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.  

KERNER, Regina (2003): "Das Miefige der Kleinfamilie ist weg".
Trendforscher sehen neue Lust zum Leben mit Kindern. Geburtenrate von 1,7 erwartet,
in: Berliner Zeitung v. 03.06.

Nach zitty und Welt am Sonntag berichtet nun auch Regina KERNER über den Baby-Boom in den Schickimicki-Vierteln der deutschen Dienstleistungsmetropolen.

KERNER stellt der skeptischen Perspektive von Elisabeth BECK-GERNSHEIM die optimistische Perspektive von Matthias HORX (in der Welt am Sonntag nur als Experte tituliert) entgegen:

"Trendforscher Matthias Horx, Mitautor der Studie »Future Living«. Er prognostiziert Deutschland eine Steigerung der Geburtenrate in den nächsten fünf Jahren von derzeit 1,4 auf 1,7 Kinder pro Frau. Er verweist auf die skandinavischen Länder und Frankreich, wo es einen solchen Anstieg schon längst gegeben hat."

BECK-GERNSHEIM wird mit dem Satz zitiert:

"Es gibt keinen Bevölkerungswissenschaftler, der glaubt, dass die Geburtenrate in den nächsten Jahren steigen wird".

Das wäre auch wirklich zu viel erwartet! Bereits in den 1960er Jahren wurden die Bevölkerungswissenschaftler vom Wandel des Geburtenverhaltens überrascht. Die simple Fortschreibung von Trends der Vergangenheit in die Zukunft - das Geschäft von Bevölkerungswissenschaftlern - führt unweigerlich dazu, dass Wendepunkte im generativen Verhalten "verschlafen" werden. So schreibt z.B. Hermann KORTE über die Bevölkerungsvorausberechnungen in den 1960er Jahren:

"Einige Bevölkerungsstatistiker glaubten (...), der seit dem Beginn der Industrialisierung beobachtete stetige Rückgang der Geburtenziffer habe sein Ende gefunden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß 1966 in Interpretation des Anstiegs zwischen 1955 und 1964 bis zum Jahre 2000 eine Bevölkerungszunahme um 14 Millionen errechnet wurde. Sechs Jahre später prophezeite eine neue Prognose dann schon, wieder in recht linearer Interpretation des Rückgangs zwischen 1969 und 1971, einen Rückgang um 5 Millionen Menschen bis zum Jahr 2000."
(aus: Hermann Korte "Bevölkerungsstruktur und -entwicklung", 1983, S.20)  

DESTATIS (2003): Im Jahr 2050 wird jeder Dritte in Deutschland 60 Jahre oder älter sein,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 06.06.

"In Deutschland wird sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen in den nächsten Jahrzehnten erheblich verschieben: Im Jahr 2050 wird – nach der neuesten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes – die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre und ein Drittel 60 Jahre oder älter sein. Auch die Einwohnerzahl in Deutschland wird – selbst bei den angenommenen Zuwanderungssalden aus dem Ausland – langfristig abnehmen. Dies berichtete der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen, heute in Berlin bei der Vorstellung der Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes bis zum Jahr 2050.
Derzeit hat Deutschland rund 82,5 Millionen Einwohner. Nach der "mittleren Variante" der Vorausberechnung, auf die sich die nachstehenden Ergebnisse beziehen, wird die Bevölkerungszahl nach einem geringen Anstieg auf 83 Millionen ab dem Jahr 2013 zurückgehen und bis zum Jahr 2050 auf das Niveau des Jahres 1963 (gut 75 Millionen Einwohner) sinken. Der "mittleren Variante" liegen folgende Annahmen zu Grunde: Konstante Geburtenhäufigkeit von durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau; Erhöhung der Lebenserwartung bei Geburt bis zum Jahr 2050 für Jungen auf 81,1 Jahre und für Mädchen auf 86,6 Jahre und ein jährlicher positiver Wanderungssaldo von rund 200 000 Personen. Zu einem langfristigen Bevölkerungsrückgang kommt es, weil in Deutschland – wie schon seit 30 Jahren – auch in den nächsten fünf Jahrzehnten stets mehr Menschen sterben werden, als Kinder zur Welt kommen. Wegen des zu unterstellenden anhaltend geringen Geburtenniveaus wird die heutige jährliche Geburtenzahl von ca. 730 000 auf etwa 560 000 im Jahr 2050 sinken und dann nur noch halb so hoch sein wie die Zahl der jährlich Gestorbenen, das "Geburtendefizit" wird etwa 580 000 betragen (2001: 94 000). Das niedrige Geburtenniveau wird dazu führen, dass die jüngeren Altersjahrgänge (bis etwa zum 50. Lebensjahr) generell schwächer besetzt sind als die älteren. Die Zahl der unter 20-Jährigen wird von aktuell 17 Millionen (21% der Bevölkerung) auf 12 Millionen im Jahr 2050 (16%) zurückgehen. Die Gruppe der mindestens 60-Jährigen wird mehr als doppelt so groß sein (28 Millionen bzw. 37%). 80 Jahre oder älter werden im Jahr 2050 9,1 Millionen Personen und damit 12% der Bevölkerung sein (2001: 3,2 Millionen bzw. 3,9%)",

meldet das Statistische Bundesamt angesichts der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung.

"Die Unterschiede zur letzten 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2000, die auf dem Bevölkerungsstand zum 1.1.1998 basierte, bestehen vor allem in den Annahmen zur Lebenserwartung"

sagt Johann HAHLEN zur neuesten Bevölkerungsvorausberechnung.
Die Vorausberechnung basiert auf Daten vom 31.12.2001 und die Geburtenrate ist eine schlichte Fortschreibung der Vergangenheit, welche in den Medien nicht als solche kenntlich ist. Kommentatoren wie MÖLLER behaupten sogar: "Die Geburtenrate wird weiter sinken". Das muss der Journalist nicht begründen und es lässt sich auch nicht begründen, sondern ist reine Spekulation.
Genauso gut könnte sich die Geburtenrate auf 1,7 erhöhen wie HORX dies vermutet. Dafür gäbe es ebenfalls Gründe.

Eine Vorausberechnung über eine Zeitspanne von 50 Jahren dient in erster Linie ideologischen Zwecken. Dies wird deutlich, wenn alle Medien die Vorausberechnung im Zusammenhang mit der Rentenreform zitieren.

Der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann HAHLEN schildert die Entwicklung des Altenquotienten auf der Pressekonferenz folgendermaßen:

"Auch der Altenquotient – hier in der Abgrenzung 60 Jahre betrachtet – entwickelt sich ungleichmäßig. Von 2001 (44) bis 2010 (46) wird eine Erhöhung um lediglich 2 Personen im Alter ab 60 Jahren je 100 Menschen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren erwartet. Danach kommt es von 2010 (46) bis 2020 (55) zu einem deutlichen Anstieg um 9 Personen und von 2020 bis 2030 (71) zu einer sprunghaften Zunahme um weitere 16 Personen. Anschließend wird der Altenquotient nicht mehr so stark ansteigen. Von 2030 auf 2040 (73) erhöht er sich nur geringfügig, im letzten Jahrzehnt der Vorausberechnung nimmt er dann noch einmal zu (2050: 78), wobei diese Veränderungen nicht mehr das frühere Ausmaß erreichen. Rückblickend hatte sich im letzten Jahrzehnt bereits ein deutlicher Anstieg des Altenquotienten ergeben – von 35 im Jahr 1990 auf 44 im Jahr 2001; vor 50 Jahren hatte er nur 27 betragen. Die Alterung wird also nicht erst in 50 Jahren zu Problemen führen, sondern bereits in den nächsten beiden Jahrzehnten eine große Herausforderung für Wirtschaft, Gesellschaft sowie vor allem für die sozialen Sicherungssysteme darstellen. Diese Entwicklung ist vorgegeben und unausweichlich: Im Jahr 2024 werden die 1964 Geborenen, der geburtenstärkste Jahrgang Deutschlands, 60 Jahre alt."

DRIBBUSCH, Barbara (2003): Deutsche sehen alt aus.
Statistisches Bundesamt legt neue Vorausberechnung zur Bevölkerung vor. Im Jahr 2050 kommt auf zwei Personen im Erwerbsalter ein Rentner. Ursachen liegen in der niedrigen Geburtenrate,
in: TAZ v. 07.06.

"Derzeit werden in Deutschland 560.000 Babys im Jahr geboren",

behauptet Barbara DRIBBUSCH. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Beim Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Johan HAHLEN, heißt es anlässlich der Vorstellung der 10. Bevölkerungsvorausberechnung dagegen:

"Wegen des zu unterstellenden anhaltend geringen Geburtenniveaus wird die heutige jährliche Geburtenzahl von ca. 730 000 auf etwa 560 000 im Jahr 2050 sinken".

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob heute 560.000 oder ca. 730.000 Babys geboren werden! Die 560.000 Babys sind erst im Jahr 2050 zu erwarten und auch nur dann, wenn die Geburtenrate in jedem Jahr nur 1,4 Kinder pro gebärfähiger Frau beträgt. Ob dieses Szenario überhaupt realistisch ist, das darf angesichts des Erklärungsnotstandes der Bevölkerungswissenschaft bezüglich des generativen Verhaltens bezweifelt werden.

MEISTER, Martina (2003): Zurück in den Kreißsaal.
Der medial inszenierte Baby-Boom verhält sich umgekehrt proportional zur Geburtenrate,
in: Frankfurter Rundschau v. 16.07.

"Der medial inszenierte Baby-Boom, das ist seine innere Logik, verhält sich umgekehrt proportional zu den Geburtenraten. Man kann es auch so formulieren: Es steht mit dem Verhältnis von Bildern und Berichten über Schwangere zu den wirklichen Geburten wie um das Verhältnis vom Prenzlauer Berg zum Rest der bundesrepublikanischen Welt: Inmitten des unfruchtbaren Landes findet sich ein kleines, phantastisches Eiland segensreicher Vermehrung",

behauptet Martina MEISTER und versucht sich im Kampf ums Überleben auf dem Zeitungsmarkt gegenüber der Springer-Presse abzugrenzen. "Die Statistik spricht die wahre Sprache", während Medien inszenieren! Wie naiv muss eine Journalistin sein, um so etwas zu behaupten?

Geburtenraten müssen INTERPRETIERT werden! Und diesen Spielraum der Interpretation nutzen Polarisierer, die wie MEISTER das Aussterben herbeiphantasieren. Nicht nur Arbeitslosenstatistiken werden geändert, auch die Erfassung und Erfassbarkeit von Geburten unterliegt historischen Veränderungen. Um den Wert statistischer Daten einschätzen zu können, empfiehlt sich Jürgen LINKs Versuch über den Normalismus. Dort wird die Produktion von Normalität in einer zahlengläubigen Gesellschaft erörtert. Die Veröffentlichung statistischer Daten zur Bevölkerungsentwicklung ist Teil postmoderner Normalitätsproduktion.

Dass hierüber bislang keinerlei Forschung existiert, sagt etwas über die Machtverhältnisse in dieser Republik aus, aber nichts über die Wahrheit der statistischen Sprache.

GÜRTLER, Detlef (2003): Kinderland in Sicht.
Die Generation der Kinderlosen wird demnächst erfahren, wie verdammt hart es ist, allein alt zu werden. So hart, daß keine der folgenden Generationen diesen Fehler wiederholen wird,
in: Das Magazin, August

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, wohin zukünftig die öffentlichen Meinung tendieren wird. Detlef GÜRTLER beschreibt wie in Zukunft Kinderlose stigmatisiert werden. 

Selbst die Lifestyle-Soziologie, die Trends erst dann ausruft, wenn sie auch in der letzten Provinzzeitung nachzulesen sind, hat inzwischen auf den Wandel reagiert. In dem Artikel Auslaufmodell Single? in der Publikation beziehungsweise Nr.13 v. 26.06 des österreichischen Institut für Familienforschung) ist jener Trend zusammengefasst, der bei single-generation.de bereits vor 3 Jahren nach zu lesen war. Eine Kritik an der allzu simplen These vom "Wandel des Wertewandels" muss zu allererst daran ansetzen, dass es sich hier um einen Generationenaspekt handeln soll.

Tatsächlich handelt es sich beim medial inszenierten Babyboom um einen Effekt, bei dem Demographie und Lebensphaseneffekte die Hauptrolle spielen. Wenn GÜRTLER, die in den 1960er Jahren Geborenen als "Antibaby-Jahrgänge" charakterisiert, dann arbeitet er selbst mit am sozialpopulistischen Bild dieser Generation. Und ob "Einsamkeit im Alter" tatsächlich die Regel werden wird, das ist mehr als fraglich, denn selbst jene Generation, die nie allein gelebt hat, kommt mit dem Alleinleben besser zurecht als es das Klischee möchte.

Zwischen dem öffentlichen Bild vom Single und dem wirklichen Leben der Singles wird zukünftig eine große Lücke klaffen, die sich nur schließen ließe, wenn Singles endlich ein Bewusstsein ihrer Lage entwickeln würden und dem politischen Druck eine Single-Bewegung entgegen setzen würden. Eine solche Entwicklung ist - im Gegensatz zur USA - hierzulande jedoch nicht absehbar. Wie schlimm es um Deutschlands Partnerlose steht, ist daran zu erkennen, dass sich selbst eine Journalistin nur unter dem Pseudonym Nora Nordpol ("Das ABC der partnerlosen Frau", 2002) traut über die partnerlose Karrierefrau zu schreiben. Selbstbewusstsein: Fehlanzeige!

GÜRTLER, Detlef (2003): Gerontokratie? Nichts da! Bald kommt der Baby-Boom.
Warum sich Statistiker, Demographen und Schwarzseher irren, und was daraus folgt,
in: Welt v. 19.08.

Was single-generation.de seit über 2 Jahren den deutschen Demografen immer wieder vorwirft - nämlich zu niedrige Geburtenziffern für Deutschland zu berechnen - das beweist nun Detlef GÜRTLER in diesem Artikel. Auch der Vorwurf, dass absichtlich Handlungsdruck erzeugt wurde, klingt bei GÜRTLER an. Es ist zu hoffen, dass die Bevölkerungswissenschaftler nun zur Stellungnahme gezwungen werden und auch andere Journalisten Druck ausüben.

taz-Dossier: Deutsche, wollt ihr ewig leben?
Arbeit, Rente, Gesundheit: Der Nation gehen die Jungen aus. Ein Dossier zum demografischen Wandel der Gesellschaft

WINKELMANN, Ulrike (2003): Auf Wiedersehen, Kinder, 
taz-Dossier: Warum werden wir immer weniger?
in: TAZ v. 13.09.

Ulrike WINKELMANN lässt das Who-is-Who der deutschen Bevölkerungswissenschaft zu Wort kommen. Überraschungen sind dadurch nicht zu erwarten. Internationale Experten sind dagegen Fehlanzeige. Kritik soll gar nicht erst aufkommen. Bevor die anstehenden Reformen nicht durchgepeitscht worden sind, wird in Deutschland kein Widerspruch zu hören sein. Dafür garantieren die Mitte-Medien...

KLEIN, Michael (2003): Halali auf Nachwuchsverweigerer.
Der Staat subventioniert das Kinderkriegen - und erreicht das Gegenteil des Erhofften,
in: Welt v. 30.12.

Michael KLEIN, der eine Agentur für Nachrichten aus den Sozialwissenschaften betreibt, ist leider bezüglich der Geburtenrate von Frauen der Generation Ally nicht auf dem aktuellen Stand. Statt der von Jürgen DORBRITZ bereits 2001 errechneten 27 % (und sehr wahrscheinlich aufgrund der zunehmenden Zahl von Spätgebärenden noch zu hoch geschätzt) für die 1965 Geborenen werden von ihm "mindestens" 33 % ausgewiesen. Bei den Vergünstigungen für Familien greift KLEIN auf die Daten von Astrid ROSENSCHON zurück, die hier auf single-generation.de bereits vor einiger Zeit vorgestellt worden sind. KLEIN sorgt sich vor allem um das "down-breeding", das durch finanzielle Anreize gefördert wird:

"diejenigen, die sich fortpflanzen (...) (gehören) nicht" unbedingt zur geistigen Elite ihrer Gesellschaft".

Mit diesem Argument hat die derzeitige Familienministerin Renate SCHMIDT schon vor Jahren ihre Politik für die Mütterelite begründet und sich damit gegen die Erhöhung des Kindergeldes und für die Förderung der Kinderbetreuung ausgesprochen. Mit Verweis auf den Volkswirt Norbert BERTHOLD erklärt KLEIN, dass die Sicherheit der zukünftigen Renten nicht in erster Linie von einem Baby-Boom abhängt, sondern von Erwerbstätigen, die Beiträge zahlen, statt als Arbeitslose die Sozialkassen zusätzlich zu belasten.

 
     
 
       
     
       
   

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Update: 24. Januar 2019