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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Mecklenburg-Vorpommern im demografischen Wandel

 
       
   

Was ist geblieben von der demografischen Hysterie Anfang des Jahrtausends und was verlief ganz anders? (Die Vorgeschichte)

 
       
     
   
     
 

Kommentierte Bibliografie (Die Vorgeschichte: 1990 - 2000 )

1990

SPIEGEL (1990): "Da brennt die Sicherung durch".
Mindestens 500.000 DDR-Bürger werden in diesem Jahr in die Bundesrepublik übersiedeln, Hunderttausende kommen aus den Ostblockstaaten. Wer soll die Einwanderer bezahlen? Der Kampf um Jobs und Wohnungen wird härter; Renten- und Krankenversicherungen sehen sich enormen Zusatzforderungen ausgesetzt,
in: Spiegel Nr. 4 v. 22.01.

"Sorgenvoll werden die Zahlen der Neubürger addiert und hochgerechnet. Täglich wechseln derzeit bis zu 2.000 Deutsche-Ost nach Deutschland-West, für das ganze Jahr werden in Bonn mehr als eine halbe Million Übersiedler nicht mehr ausgeschlossen. Bleibt die Wirtschaftslage der DDR so trostlos wie im Augenblick, verschlimmert sie sich gar, so dürfte der Strom der Abwanderer noch deutlich anschwellen.
Dazu kommen jene, die aus osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion ins vermeintliche Paradies Bundesrepublik umziehen. Alles zusammen wird das westliche Deutschland in diesem Jahr durch Aus- und Übersiedler eine Million Bürger dazugewinnen, mindestens. Bereits 1989 waren es 720 000 Aus- und Übersiedler.
Ängste machen sich breit, daß diejenigen, die nun mühelos die Grenzen passieren, die Kräfte selbst der reichen Bundesrepublik überfordern; daß die Sozialsysteme, daß der Wohnungs- und der Arbeitsmarkt dem Ansturm nicht gewachsen sind; daß Gefahr für den hart erarbeiteten Wohlstand droht. (...).
Die Aus- und Übersiedler und ihre vermeintliche oder tatsächliche Bevorzugung bei Arbeit und Wohnung, Rente und Krankheitskosten - dieses Thema droht zu einem Hit des Wahlkampfjahres 1990 in der Bundesrepublik zu werden",

meint der Spiegel und zählt eine Reihe von Möglichkeiten des "Sozialmissbrauchs" auf, die DDR-Bürgern offen stehen.

SPIEGEL (1990): "Bald brennt hier die Luft".
Viele DDR-Bürger leiden unter den schlechten Manieren von Touristen aus der Bundesrepublik,
in: Spiegel Nr. 12 v. 19.03.

SPIEGEL (1990): "Das halten wir nicht aus".
"Dieses Jahr wird chaotisch", ahnt eine Bürgermeisterin auf Rügen: Millionen Westbesucher sind für den Sommer in der DDR angesagt, aber Hotellerie und Gastronomie sind in desolatem Zustand. In Sorge sind die Ostbürger auch um ihren letzten Reichtum: schöne Landschaft, die unter die Räder kommen könnte,
in: Spiegel Nr. 15 v. 09.04.

Der Spiegel berichtet über einen drohenden touristischen Ansturm auf Ostdeutschland:

"Was auf die DDR zukommt, läßt sich leicht ausmalen. Denn 70 Prozent der erwachsenen Bundesbürger planen nach einer Umfrage des Sample-Instituts, in diesem Jahr das andere Deutschland zu besuchen. 19 Millionen wollen »auf jeden Fall«, 15 Millionen »vielleicht« über die offene Grenze fahren, und zur ersten Umdrehung hat diese Walze schon angesetzt.
Einem »kaum zu bewältigenden Besucheransturm« schaudert Armin Godau entgegen, Berater des DDR-Tourismusministers Bruno Benthien. Der Hamburger Freizeitforscher Professor Horst Opaschowski rechnet mit einer »urlaubstouristischen Revolution«. (...).
»Dieses Jahr wird chaotisch«, sorgt sich die Bürgermeisterin Renate Bobzin aus dem Ostseebad Binz auf der Insel Rügen. Nicht weit entfernt, am Runden Tisch des Kreises Wolgast auf Usedom, war von der »Ausrufung des Notstands« die Rede, und einer wußte schon: »Das halten wir nicht aus.« Noch zur Schneeglöckchenzeit bekamen die Ostdeutschen eine Ahnung davon, wie es im Sommer sein könnte. (...).
Eine Invasion an der Küste der DDR wird schließlich von See her erwartet - voraussichtlicher D-Day: Pfingsten."

Doch die touristische Infrastruktur sei dem jedoch nicht gewachsen. Zu den Ostseebädern Sellin und Binz sowie Kap Arkona heißt es:

"Auf dem Bergkamm über dem Rügener Bad Sellin macht die helle Fassade des »Cliff-Hotels« einen guten Eindruck, und das ist kein Wunder. Vor kurzem noch genossen hier die Mitglieder des ZK der SED samt Anhang ihre sozialistischen Errungenschaften: Zimmer vom Feinsten und gepflegte Restaurants, Schwimmhalle und Kegelbahn und was man sonst so braucht. Jetzt darf hier jeder wohnen, im einfachsten Zweibettzimmer für 185 Mark West. Unten in Sellin jedoch läßt sich die Anmut des alten Ortsbildes nur noch erahnen. Das hölzerne Filigran der Balustraden und Vorbauten ist verrottet, und neben der Treppe zum Strand hinunter ballt sich der Müll. Gastronomisches Kleinod ist der »Seehund«, wo es Flaschenbier am Tresen gibt und ein Dutzend nackter Tische.
(...).
Selbst in den renommierten Häusern, etliche Interhotels eingeschlossen, sollte der Gast auf Überraschungen gefaßt sein. In der Halle des altehrwürdigen »Kurhaus Binz« baumelt eine Glühbirne in der nackten Fassung, was, weil sie ja leuchtet, weiter nicht stört. Im Zimmer zu 90 Mark West - fünfziger Jahre, frühes Stadium - läßt sich, bis das warme Wasser endlich warm werden will, in Ruhe das Neue Deutschland lesen, mindestens die Seite 1. Wie das Innere der Herbergen, so ist auch das touristische Umfeld nicht auf eine Kundschaft abgestellt, deren Erwartungen in Benidorm oder in der Ramsau, am Timmendorfer Strand oder in der Toskana gezogen wurden - schon gar nicht, wenn die in Massen kommt. (...).
An frei umherschweifende Feriengäste, die einfach auf Erkundung gehen und dabei womöglich in eins der ehemaligen Sperrgebiete kommen, ist auch an den hohen Stellen des Landes nicht gedacht: Am Fußpfad längs der 46 Meter tief abfallenden Steilküste des Kap Arkona auf Rügen, wo einer, der danebentritt, nicht mehr aufzuhalten ist, baumelt nur ein dünner, loser Draht und liegt streckenweise auf dem Boden; mit Verlusten muß gerechnet werden."

SPIEGEL (1990): Und keener kommt.
Die Tourismuspleite an der DDR-Ostseeküste treibt traditionelle Ferienorte in den Ruin,
in: Spiegel Nr. 32 v. 06.08.

"Von der Zukunft des Tourismus in ihrer Region hatten die Kurdirektoren und Urlaubsmanager der Ostseebäder entlang der DDR-Küste bislang ganz feste Vorstellungen. Sie träumten von »sanftem Tourismus« und ungestümen Umsatzsteigerungen, ohne Bettenburgen, Betonfassaden und Badeverbote.
»Ein bißchen verschlafen, etwas verträumt, das wollen wir«, umschreibt Anke Kurzenberg, 46, stellvertretende Bürgermeisterin in Kühlungsborn nahe Rostock, dem größten Seebad der Ost-Republik, den idealen Kurort.
Die Sehnsucht nach der neuen ostdeutschen Urlaubsidylle wurde schneller wahr als erwartet - wenn auch ganz anders als erhofft: Am Ostseestrand zwischen Ahlbeck auf Usedom und Boltenhagen bei Wismar, wo bis zur Wende Jahr für Jahr rund 3,5 Millionen Menschen Ferien machten, bleiben die Urlauber weg.
»Wir haben gedacht, der große Boom ist da«, sagt Bürgermeisterin Kurzenberg, »aber die Leute kommen nicht.« Ein Zimmervermittler in Graal-Müritz drastisch: »Alles tote Hose.«
Im 7.300 Einwohner großen Ostseebad Binz auf Rügen etwa, in dem sich zur Sommerfrische mehr als doppelt soviel Gäste drängelten, ist die Nachfrage "um fast 50 Prozent zurückgegangen", klagt Bürgermeisterin Gisela Lemke, 41. In Kühlungsborn, wo massenweise Hinweisschilder »Zimmer frei« melden, spricht Kurdirektor Jürgen Kröger von einem "erheblichen Rückgang" bei den Buchungen. (...).
Genaue Zahlen über den drastischen Einbruch im Fremdenverkehrsgewerbe an der Ostsee gibt es bislang nicht, aber die Indizien für die Pleite des Sommers 1990 sind allgegenwärtig",

berichtet der Spiegel und meint:

"Viele westdeutsche Urlauber haben offensichtlich, gewarnt durch kritische Berichte über den miesen Urlaubsstandard in Deutsch-Ost, im letzten Moment auf die Erschwernisse eines ausgedehnten DDR-Urlaubes verzichtet."

1991

SPIEGEL (1991): Palmen am Ostseestrand.
Auf den Landstraßen stauen sich die Autos, die guten Hotels sind ausgebucht: Rügen, die Insel mit dem Mythos des Caspar David Friedrich, erwartet eine touristische Invasion. Baukonzerne, Hotelgesellschaften und Freizeitunternehmen wittern das große Geschäft. Macht der Massentourismus die bizarre Insel-Natur kaputt?
in: Spiegel Nr. 18 v. 27.04.

"Die mit 926 Quadratkilometern größte deutsche Insel hat gute Aussicht, zum Eldorado von Immobilien-Spekulanten und Geschäftemachern zu werden.
(...).
Beim Rügener Landratsamt stapeln sich 27 Anträge zum Bau von Golfplätzen. Auf der Halbinsel Bug, zwischen Dranske und einem Naturschutzgebiet, soll ein Segelhafen entstehen. Im Wieker Bodden und an der offenen Ostseeküste sind 800 weitere Bootsliegeplätze vorgesehen. Der Damm zum Festland soll eine zweite Fahrspur erhalten. Und schon existieren Pläne, Rügen eine Autobahn-Anbindung zu verschaffen - trotz des neuen Intercity-Anschlusses.
Ganz vorn liegt der Frankfurter Baukonzern Philipp Holzmann. Die Sports Leisure Promotion, eine Tochterfirma des Unternehmens, will auf Rügen einen »Ferienpark mit integrierter Wasserfreizeitanlage« errichten; das alte Ostseebad Binz will die Gruppe »revitalisieren und weiter ausbauen«",

berichtet der Spiegel, um dem die Sicht der Vorsitzenden des Binzer Fremdenverkehrsvereins entgegenzusetzen, die für einen sanften Tourismus plädiert. Es wird die goldene Zeit des Bädertourismus hervorgehoben und ein neuer Run auf die Insel betont: 

"Die ersten Badegäste kamen Anfang des vergangenen Jahrhunderts. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren die Rügener Seebäder die Top-Adresse der feinen Gesellschaft. Sellin galt als »die Perle der Ostsee«, die Binzer Strandpromenade als »Flaniermeile des internationalen Geldadels«. Heute ist von den einst weißen Fassaden der Häuser im Stil der Bäderarchitektur mit ihren hölzernen Balkonen und dem filigranen Fachwerk die Farbe abgeblättert. Das Holz fault, vom Mauerwerk bröckelt der Putz. Das wird nicht mehr lange so bleiben. Rügen ist zu attraktiv, um in Ruhe gelassen zu werden. Überall, vom nördlichen Kap Arkona bis zur Halbinsel Mönchgut im Süden, herrscht Goldgräberstimmung."

Die Gemeinde Sagard wird als Negativbeispiel des Booms herangezogen. Es werden uns Projekte für das Seebad Binz vorgestellt, die als Naturzerstörung beschrieben werden. Am Schluss wird das Jahr zum Schicksalsjahr stilisiert:

"Sicher ist nur, daß die Weichen für die Zukunft Rügens jetzt gestellt werden."

1992

SPIEGEL (1992): Im blauen Dunst.
Landflucht: Die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern bricht zusammen, in den Dörfern herrscht gespenstische Öde,
in: Spiegel Nr. 18 v. 27.04.

"Während sich die Politiker vor allem mit den Krisen in Werften- und Bauindustrie befassen, stirbt die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern »einen stillen Tod«, klagt die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft. Am schlimmsten trifft es das ländlich geprägte Mecklenburg-Vorpommern.
Dort waren vor der Wende allein knapp ein Viertel aller 840.000 in der DDR-Landwirtschaft tätigen Menschen beschäftigt. Von den 189.000 Arbeitskräften wurden bis heute 160.000 entlassen, »ohne daß für die Freigesetzten eine Alternative geschaffen« wurde, so Röpke. (...).
Niemand weiß, wie das ärmste Bundesland, das ohnehin mit der höchsten Arbeitslosenquote (17,7 Prozent) geschlagen ist, die Krise auf dem Land verkraften soll. Bauernführer Röpke warnt vor »bürgerkriegsähnlichen Zuständen«. (...).
Wer kann, wandert in den Westen ab. Besonders junge, intelligente und mobile Arbeitskräfte wollen nicht länger auf dem öder werdenden platten Land wohnen. Seit der Wende haben nach Schätzungen des Schweriner Sozialministeriums etwa 66.000 Menschen die ohnehin dünnbesiedelte Region verlassen. (...).
Die Menschen im westlichen Mecklenburg haben immerhin noch Aussicht, in Hamburg oder Lübeck Arbeit zu finden; bereits 60.000 Arbeitskräfte pendeln täglich hin und her. Doch östlich der Autobahn Berlin-Rostock ist die Lage finster. Dort entvölkern sich ganze Regionen. Über den Dörfern lastet tödliche Langeweile, das Gemeinschaftsleben ist erloschen. An der Tür einer vernagelten Jugenddisco im Kreis Wolgast steht in holprigem Deutsch: »Wegen geschlossen zu.«",

berichtet der Spiegel über die wirtschaftliche Lage und die Massenarbeitslosigkeit in Mecklenburg. Vorpommern. Besonders dramatisch wird die Situation im Landkreis Teterow geschildert:

Auf Unruhe braucht der Landkreis Teterow nicht mehr zu warten. Dort gingen Anfang März die Menschen erstmals seit der Wende wieder auf die Straße. Sie forderten »Solidarität mit den Arbeitslosen«. Davon gibt es in Teterow genug - im vergangenen Monat offiziell 26,9 Prozent. Viele werden binnen kurzem, wenn die Arbeitslosenunterstützung nach den gesetzlich vorgesehenen zwei Jahren ausläuft, zu Sozialhilfeempfängern. Der christdemokratische Landrat Christian Zöllner, 52, hält es für »realistisch«, daß im kommenden Jahr nahezu jeder zehnte Teterower dazu zählen wird; 72 Millionen Mark plant der verarmte Kreis dafür schon mal ein. In den Dörfern um die Stadt herum liegt die Arbeitslosenquote bereits über 60 Prozent. Für die alten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ist bisher kein Ersatz gefunden, Rindermastanlagen existieren nicht mehr, Industrie gibt es nicht."

Der Landkreis Teterow mit der Kreisstadt Teterow wurde 1994 aufgelöst und gehörte dann bis 2011 zusammen mit den ehemaligen Landkreisen Büstrow und Güstrow zum neuen Landkreis Güstrow. Bei dieser Kreisgebietsreform wurden die bis dahin 30 Landkreise in 12 Landkreise überführt.

SPIEGEL (1992): Indische Toiletten.
Tourismus: Zuwenig Betten, schlechte Qualität - die Gegenwart ist trist, doch schon bald sollen die Ostseebäder in Mecklenburg-Vorpommern ganz edel werden,
in: Spiegel Nr. 32 v. 03.08.

Der Spiegel sieht die Ostseeküste nicht für den touristischen Ansturm gerüstet, z.B. auf Usedom:

"Zinnowitz auf der Ostsee-Insel Usedom hat Touristen nicht viel zu bieten. »Kaputter SED-Ort, scheußlichstes Insel-Hotel« urteilt das Reisemagazin Holiday und rät: »Unbedingt vermeiden!«
Die Warnung bleibt ungehört. Esther Schulz, die einen privaten Zimmervermittlungsdienst betreibt, muß jede Stunde 10 bis 15 Quartiersuchende abweisen: »Zinnowitz ist restlos voll.«
Ausgebucht sind auch Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck, die übrigen Seebäder der Insel. Im dritten Sommer nach der Wende ist die Nachfrage nach Quartieren an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns riesengroß. Doch viele Besucher müssen wieder abreisen: Es gibt zuwenig Unterkünfte."

Die Treuhand wird als Ursache der Probleme gesehen:  

"Fehlende Treuhand-Entscheidungen, ungeklärte Eigentumsansprüche sowie verschleppte Privatisierungen von Betriebsferienheimen und FDGB-Bettenburgen haben dazu geführt, daß in Bansin 1.600 Betten nicht belegt werden können; in Zinnowitz sind es einige hundert, an der gesamten Ostseeküste viele tausend. (...). Privatisiert wurden erst 36 Prozent der Objekte und 45 Prozent der Betten."

Doch in einigen Jahren sollen Touristen mit lockerem Geldbeutel die Badeorte überschwemmen:

"In fünf Jahren, glaubt auch Bansins Bürgermeister Lutz Piehler, wird alles anders sein. Dann stehen das für 50 Millionen Mark neu erbaute Hotel Meeresstrand mit dem Kongreßzentrum, das Fünfsternehotel Vineta und zwei, drei andere Großprojekte, die in diesen Tagen beschlossen werden.
(...) Nichts weniger als ein Weltbad soll Bansin nach den Vorstellungen seines Bürgermeisters werden. Pech nur, daß die Bürgermeister der anderen Ostseebäder genau das gleiche Ziel verfolgen.
Ein »mondänes Seebad« möchte Kühlungsborn werden, Bad Doberan ein »Kur- und Badeort für gehobene Ansprüche«; Börgerende-Rethwisch und Rerik konzipieren große Jachthäfen und Luxushotels, Ahlbeck und Heringsdorf träumen vom »gehobenen Tourismus", und Zinnowitz wirbt als »anspruchsvolles Seeheilbad« um Kururlauber - »aber keine AOK-Leute«.
Am gemeinen Volk hat keiner Interesse. Die Seebäder setzen auf die Reichen. Zu tief sitzt der Ärger über die traditionellen DDR-Touristen, die alles in den Urlaub mitbrachten, nur kein Geld."

SPIEGEL (1992): "Da hört die Christlichkeit auf".
Weil sie um ihren Fremdenverkehr fürchten, wollen Bürger in der mecklenburgischen Provinz ungebetene Fremde vertreiben. Eine ganze Stadt steht gegen rumänische Asylbewerber auf und blockiert sogar die Zufahrtstraßen,
in: Spiegel Nr. 44 v. 26.10.

Der Spiegel berichtet über die "5.000-Seelen-Gemeinde" Goldberg, die vom "sanften Tourismus" träumt und sich nun durch die Planung einer Einrichtung für Asylbewerber in ihren Plänen bedroht fühlt:

"Goldberg erlebt schlechte Zeiten. Seit die frühere Kaserne der Nationalen Volksarmee (NVA) geschlossen wurde und die Filiale des Güstrower Taschenwerkes dichtgemacht hat, sind 30 Prozent der Einwohner arbeitslos. Ebenso viele schulen um oder schlagen sich auf ABM-Stellen durch. (...).
(D)er parteilose Bürgermeister träumt, wie (...) fast ganz Mecklenburg-Vorpommern, vom »sanften Tourismus« als Quelle künftigen Wohlstands. Er begann, Hoffnung für Goldberg zu schöpfen.
Als Arbeitgeber hatte er zunächst nur eine Firma aus Solingen nach Goldberg locken können. Doch dann interessierte sich die Hotelgesellschaft »Skan« aus Gifhorn für den Ort. Die plant ein 200-Betten-Haus am Goldberger See. Das seien mindestens sechs Millionen Mark Investitionen und 25 Dauerarbeitsplätze, schwärmt Wollschläger.
Doch nun droht die Landesregierung, glaubt man den Goldbergern, alles kaputtzumachen. Warum nur mußte Lothar Kupfer (CDU), seit März Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ausgerechnet in ihrer ehemaligen NVA-Kaserne eine Zentrale Anlaufstelle (ZASt) für 300 Asylbewerber einrichten und den armen Goldbergern Zigeuner sowie in deren Gefolge womöglich auch noch rechte Krawallmacher und Chaoten auf den Hals schicken?"

1993

SPIEGEL (1993): Pilze an der Decke.
Ein Immobilienspekulant macht der Stadt Stralsund zu schaffen, er kauft Teile der Innenstadt auf,
in: Spiegel Nr. 34 v. 23.08.

Der Spiegel berichtet über einen Immobilienspekulant, der in Stralsund Häuser in der Altstadt aufkauft. Die Ostsee-Zeitung ("Unternehmer saniert Häuser aus dem 17. Jahrhundert") wird fast 25 Jahr später schreiben:

"Lange konnte die Stadt Stralsund mit den finanziell hoch belasteten Gebäuden nichts anfangen, da sie Bestandteil eines fast zwei Jahrzehnte währenden Immobilien-Kampfes mit der Berliner Firma Weyland & Quast um Gustav Sommer waren. Das Unternehmen hatte Anfang der 1990er-Jahre rund 80 Häuser in Stralsund aufgekauft, war 1997 aber Pleite gegangen. Erst 2011 hatte Stralsund den letzten Rechtsstreit um die seit 1994 leer stehenden Altstadthäuser in der Heilgeiststraße gewonnen."

SPIEGEL (1993): Perlen auf Usedom.
Der bayerische Bäder-Unternehmer Zwick ist auch in Mecklenburg erfolgreich - zu Lasten der Steuerzahler,
in: Spiegel Nr. 34 v. 22.11.

SPIEGEL (1993): Helgoland der Ostsee.
Bonn und Mecklenburg-Vorpommern streiten um Deutschlands skurrilstes Eiland - die Greifswalder Oie,
in: Spiegel Nr. 34 v. 22.11.

Der Spiegel berichtet über den Streit um Kaufpreis und Nutzung der Greifswalder Oie.

1994

SPIEGEL (1994): Wie in alten Zeiten.
Die Kühe im Stall gehören wieder ihm selbst, und daß die Milchquote Geld bringt, hat er schnell begriffen: Der ehemalige LPG-Bauer Zuedel in Mecklenburg lebt gut mit der Marktwirtschaft. Er hat tüchtig Schulden gemacht, aber sein Einkommen könnte bei manchen Bauern im Westen Neid aufkommen lassen,
in: Spiegel Nr. 35 v. 29.08.

Der Spiegel berichtet über einen erfolgreichen Bauer in Lüblow.

"Die anderen Bauern seiner Generation in Lüblow gingen in Rente, als die LPG langsam in den Konkurs schlitterte. Vor der Kollektivierung gab es 19 Höfe im Dorf. Die Zuedels haben als einzige aus dem Ort wieder mit einem eigenen Betrieb angefangen. Dann sind da noch zwei Westdeutsche: Ein Möllner übernahm die Reste der LPG, ein Ostfriese hat sich mit Frau und fünf Kindern niedergelassen."

1995

SPIEGEL (1995): Befehl zum Prassen.
Kommungen: Trotz der Förderung mit Steuermillionen verfallen ostdeutsche Städte: Stralsund ist ein Beispiel,
in: Spiegel Nr. 38 v. 22.05.

"Von den 65.000 Einwohnern der Hansestadt leben nur noch 3.000 im mittelalterlichen Stadtkern, Tendenz fallend. Die Innenstadt, einst ein Kleinod deutscher Backsteingotik, zerfällt. (...).
Dabei gehört Stralsund seit 1990 zum »Modellvorhaben Stadterneuerung«, einem Spezialprogramm der Bundesregierung, mit dem besonders schöne Stadtkerne erhalten werden sollen. Stralsund bekam bis Mitte vergangenen Jahres 81,5 Millionen Mark aus Steuergeldern, mehr als jede andere Stadt Mecklenburg-Vorpommerns. Doch »das einzige, was hier weitergeht«, schimpft Dieter Bartels vom Bürgerkomitee »Rettet die Altstadt«, einer Initiative von 200 Stralsundern, »ist der Verfall«.
In Stralsund, wie in vielen anderen Kommunen in den neuen Bundesländern, stockt der Aufbau Ost: Überforderte Kommunalbehörden, Trägheit und Filz lassen Fördermillionen versickern; Fehlplanungen, penible Vorschriften und komplizierte Gesetze erschweren die zügige Sanierung.
Stralsunds Oberbürgermeister Harald Lastovka (CDU) gibt zu, daß es »bislang nicht optimal gelaufen ist« mit seiner Stadt. Die Schuld dafür gibt er Bundes- und Landesregierung. Besonders lähmend, schimpft Lastovka, sei das von Bonn diktierte Prinzip Rückgabe vor Entschädigung (...).
So hätten sich in Stralsund Westeigentümer um 3.800 Häuser und Grundstücke gestritten, klagt Lastovka, der Stapel der Rückgabeanträge sei vom Amt zur Regelung offener Vermögensfragen bis heute »erst zu 60 Prozent« abgearbeitet.
Auch Baugesetzbuch und Städtebauförderrichtlinie seien, so Lastovka, »für die Aufgaben nach einer friedlichen Revolution« unbrauchbar. Die teure Innenstadtsanierung und der preiswerte Eigenheimbau auf der grünen Wiese werden staatlich gleich hoch gefördert. Bund und Land, fordert der Bürgermeister, müßten endlich »begreifen, daß in den Altstädten noch mehr gefördert werden muß«",

beschreibt der Spiegel das Problem aus Sicht des CDU-Bürgermeisters, um dem die Schweriner SPD-Sicht entgegenzusetzen:

"Für Roland Kutzki, Städtebauförderer im Schweriner Bauministerium, sind Stralsunds Probleme (...) großenteils auch hausgemacht. Anders als etwa in Schwerin, wo in der Hauptsache Häuser saniert wurden, habe Stralsund beispielsweise zuviel Geld in Kanalisation und neue Straßendecken investiert. (...). Wer nur Wege teere, sagt Kutzki, spare sich den Ärger mit Hausbesitzern und könne das Geld flotter loswerden."

Zudem wird kritisiert, dass gutsituierte Einheimische beim Verkauf sanierter Altbauten bevorzugt wurden, statt sie höchstbietend überörtlich zu verkaufen. Und nicht zuletzt werden Einkaufszentren auf er grünen Wiese kritisiert:

"Statt wie empfohlen die Innenstadt vor den Außenbezirken zu entwickeln, habe die Stadt beispielsweise »Außenmärkte in wahnsinnig großer Zahl selbst verschuldet«, sagt Kutzki, »indem sie zu viele Baugenehmigungen erteilte«. 90 000 Quadratmeter Verkaufsfläche in Supermärkten an der Peripherie stehen inzwischen ganzen 15 000 Quadratmetern in der Innenstadt gegenüber, die aus diesem Grund verödet. Beim Kaufhaus Horten etwa, in der Fußgängerzone vor sich hinsiechend, droht jetzt der Hälfte der Angestellten die Entlassung, nachdem Bürgermeister Lastovka erst Anfang April wieder ein Einkaufszentrum eröffnete, den »Strelapark«, direkt vor den Toren der Stadt. Architekt Mittelbach hält das Konsumparadies für den »Todesstoß für die Innenstadt«." 

SPIEGEL-Titelgeschichte: Bauernland in Bonzenland.
Die neuen alten Herren im Osten

SPIEGEL (1995): "Belogen und betrogen".
Nirgends haben die Führungskader der DDR die Wende so unbeschadet überstanden wie auf dem Lande. In vielen Dörfern herrschen noch immer die Chefs der alten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die kleinen Bauern wurden ausgetrickst und ausgenommen - mit Hilfe und zugunsten alter Seilschaften,
in: Spiegel Nr. 38 v. 12.06.

"Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften befanden sich oft in besserem Zustand als die heruntergekommenen Industrieanlagen der DDR. Ihre Einfamilienhäuschen und Wohnblocks waren dank eigener Reparaturbrigaden durchweg ordentlicher erhalten als die Mietskasernen in den Städten. Von beträchtlichem Wert waren Viehherden, Melkanlagen und Getreidespeicher. Ein milliardenschweres Vermögen wäre zu verteilen gewesen - wenn tatsächlich geteilt worden wäre. (...).
Von der Ostseeküste bis zum Erzgebirge haben sich riesige Agrarfabriken etabliert. Die Landwirtschaft ist der einzige Wirtschaftszweig Ostdeutschlands, der dem Westen überlegen ist. Schon bald haben die ehemaligen LPG-Chefs ihre Betriebe technisch hochgerüstet, und dann werden allenfalls westdeutsche Großbauern mithalten können.
Mit ihren Betrieben, im Schnitt 1736 Hektar groß, können die Ostdeutschen nicht nur wesentlich rationeller wirtschaften, sie kassieren auch ungleich mehr Subventionen. Die Nachfolgebetriebe der aufgelösten LPG räumen systematisch ab, was an Beihilfen, Subventionen, Ausgleichszahlungen und Prämien zu holen ist. Wo einst in Mecklenburg-Vorpommern Zuckerrüben angebaut wurden, dehnen sich nun kilometerlang riesige Rapsfelder - dank üppiger Subventionen (1232 Mark pro Hektar) ist Rapsanbau lukrativer",

erklärt uns der Spiegel.

SPIEGEL (1995): Keine Angst vor Asiaten.
Unternehmen aus Bremen und Oslo beherrschen Ostdeutschlands Werftindustrie. Mit über sechs Milliarden Mark Subventionen verwandeln sie die veralteten DDR-Werften zu den modernsten Schiffbau-Betrieben Europas. An der Küste geschieht, was in keiner anderen Industrie gelang: Der Osten überholt den Westen,
in: Spiegel Nr. 33 v. 14.08.

SPIEGEL (1995): Gesunde Hände.
Arbeit: Wie nach Kriegsende läßt Mecklenburg-Vorpommern DDR-Ruinen entsorgen - durch Trümmerfrauen,
in: Spiegel Nr. 34 v. 21.08.

Der Spiegel berichtet über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen in Mecklenburg-Vorpommern am Beispiel von Zettemin.

SPIEGEL-Titelgeschichte: Blühende Landschaften?
Die neuen alten Herren im Osten

SPIEGEL (1995): Dallas und DDR.
Vom Aufschwung in dem mecklenburgischen Dörfchen Staven,
in: Spiegel Nr. 36 v. 04.09.

"Noch vor zwei Jahren lag die Arbeitslosenquote in Staven bei rund 60 Prozent, das triste Dorf nahe Neubrandenburg galt als einer der chancenlosesten Orte in der Ex-DDR. Mittlerweile hat sich die Rate gebessert, auf etwa 20 Prozent. Aber noch einmal so viele schlagen sich mit Umschulungen oder ABM-Stellen durch",

schreibt der Spiegel über den Aufschwung in Staven bei Neubrandenburg.

SPIEGEL (1995): Arm, leer und schön.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Ein Land verliert seine Leute: In Scharen wanderten die Menschen nach der Wende aus Mecklenburg-Vorpommern ab, die Zahl der Geburten sinkt dramatisch. Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft fehlen nun die Arbeitsplätze. Beinahe einziges Kapital der Küstenregion ist die weithin unzerstörte Landschaft,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.

Der Spiegel-Bericht stellt paradigmatisch die Themenpalette dar, die das Bild von Mecklenburg-Vorpommern seit der Wiedervereinigung prägen:

"Rote Ziegel, dahinter das Meer; verfallene Bürgerhäuser, enge, verkommene Gassen mit Staub und Schimmel und dazwischen immer mal wieder eine Fassade, die frisch gestrichen glänzt: Die alte Hansestadt am Strelasund, ein Kleinod der Backsteingotik, verfällt beinahe schneller, als sie zu retten ist",

beschreibt der Spiegel die Hansestadt Stralsund. Düsterer sieht es teilweise aber im Bundesland aus:

"Manchem mag es wie ein Wunder erscheinen, daß überhaupt jemand geblieben ist im leeren, bäuerlichen Nordosten. Das spröde Land zwischen Bodden und Haff, so scheint es, ist eher für Kraniche als für Menschen gemacht.
Rund 23 000 Quadratkilometer Fläche hat Mecklenburg-Vorpommern, 31mal soviel wie Hamburg, doch schon zur Zeit der Wende lebten zwischen Elbe und Oderhaff nur 300 000 Einwohner mehr als im westlichen Stadtstaat. Und die flüchteten nach 1989 in Scharen in den Westen, wo es Arbeit gab. Rund 2 Millionen Einwohner zählten die Statistiker vor fünf Jahren, heute sind es etwa 1,8 Millionen.
Es wurde leerer, vor allem in den Dörfern, und die Jungen und Flexiblen waren als erste weg. Lebten 1989 noch 338 000 Männer und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren in der Ostseeregion, so zählten die Statistiker Ende 1994 nur noch 236 000 Einwohner dieses Alters.
Und diejenigen, die geblieben sind, setzen wie überall im Osten immer weniger Kinder in die Welt. Im Wendejahr wurden in Mecklenburg-Vorpommern mehr als 26 000 Babys geboren, fünf Jahre später nur noch knapp 9000, ein Wandel, der fast schon normal geworden ist. (...).
Längst reden Planer davon, nicht nur Kindergärten zu schließen, sondern auch Schulen zu verkleinern oder zusammenzulegen. Weil auf dem platten Land immer weniger Schüler nachwachsen, spricht Kultusministerin Regine Marquardt davon, nun Zwergschulen einzurichten. Rund 11 000 Lehrerstellen, meldet sie überdies, habe das Land langfristig zuviel - die sollen wegfallen.
Die Zukunft liegt offenbar anderswo. Als Problemfall unter den Ostländern war Mecklenburg-Vorpommern gleich nach der Wende ausgemacht."

Der Tourismus und der Schiffsbau gelten als Hoffungsträger:

"Mühsam, aber immer deutlicher sichtbar beginnt sich in den alten Kaiserbädern auf Usedom oder Rügen, in Ahlbeck, Heringsdorf oder Binz ein Fremdenverkehr zu etablieren, der an große Zeiten anknüpft. Der heiße Sommer hat dem Küstenland eine gute Saison beschert. Wie früher strömten die Sachsen, aber es kamen auch Westler an die See. Naturfreunde haben Rügen oder Fischland entdeckt, und im Kurhotel von Bad Doberan trinken wieder feine Damen Tee. (...).
Zufrieden meldeten Unternehmen wie die Warnow-Werft in Rostock und die MTW Schiffswerft in Wismar, sie hätten den Westen bereits überholt: Nirgends in Deutschland werden mit derart moderner Technik Schiffe gebaut."

Doch die Erfolge reichen nicht aus, um den Bevölkerungsrückgang zu stoppen:

"Der Tourismus bietet bisher nur Arbeitsplätze für 100 Tage im Jahr - davon kann kaum einer leben. Die Werften, mit hohen Subventionen gepäppelt, beschäftigen nur einen Bruchteil der Belegschaft von früher: 8.000 Menschen anstatt einstmals 55.000. Ihre Zulieferer sitzen größtenteils im Westen, Mecklenburg-Vorpommern steuert nicht einmal fünf Prozent bei. Und die Landwirtschaft, die zur DDR-Zeit fast 200.000 Menschen Arbeit gab, hat nur noch Jobs für 25.000 Männer und Frauen. Als völlig gescheitert erweist sich die Industrialisierung im Hinterland. Was die DDR-Führung an Betrieben mühsam ansiedelte, ist buchstäblich über Nacht verschwunden oder auf Zwergenmaß geschrumpft."

Kein gutes Haar lässt der Spiegel an der DDR-Stadtplanung. Beispielhaft für die Fehlplanungen gilt Ribnitz-Damgarten:

"Wo die Recknitz in den Saaler Bodden mündet, 30 Kilometer nordöstlich von Rostock, liegt das Städtchen Ribnitz-Damgarten - ein typisches Fünfziger-Jahre-Kunstprodukt nach SED-Manier. Westlich der Recknitz, in Mecklenburg, steht der Ort Ribnitz; jenseits des Flüßchens liegt Damgarten, das seit jeher zu Vorpommern gehört.
Weil es nichts gab in dieser verlorenen Gegend zwischen Rostock und Stralsund, mußte aus zwei stillen Dörfern eine Kreisstadt entstehen. Für die Menschen, die dort hinzogen, wurden Fabriken gebaut, wie der Volkseigene Betrieb Faserplattenwerk Ribnitz-Damgarten.
Es spielte keine Rolle, daß der Rohstoff Holz von weither transportiert werden mußte, vor allem aus dem Seengebiet bei Waren im südlichen Mecklenburg. Dort hätte sich das Werk vielleicht rentiert. Doch die Menschen saßen jetzt nun mal in Ribnitz-Damgarten an der spärlich bewaldeten Küste.
Als die DDR zusammenbrach, kollabierten landesweit solche künstlichen Industrien. Wie in Ribnitz hatten sie weder die Rohstoffe noch die Absatzmärkte am Ort, und die Transportwege waren zu weit, zu schlecht und zu teuer. Die Faserplatte aber überlebte.
Am Stadtrand von Ribnitz-Damgarten, zwischen der Bundesstraße 105 und einem sumpfigen Meeresarm, blieb ein Stück DDR bestehen: der zur Firma Bestwood mutierte VEB mit knapp 500 Beschäftigten."

Westnähe gilt dem Spiegel als Standortvorteil:

"Jetzt, seit der Wende, hat es Mecklenburg leichter - Rostock, Wismar, Schwerin sind besser an den Westen angebunden. Dort ist die Arbeitslosigkeit geringer, wächst die Wirtschaft schneller als in Vorpommern. Große Sorgen, sagt etwa Rolf Christiansen, der Landrat des westnahen Kreises Ludwigslust, müsse er sich »eigentlich nicht mehr« machen: »Uns geht es schon ganz gut.«
Auch längs der Küste und quer über die Mecklenburgische Seenplatte entwickeln sich Inseln eines wirtschaftlichen Aufschwungs, dessen Hauptkapital die unzerstörte Natur ist. An den Seeufern, zwischen Wiesen und Buchenwäldern, siedelten sich mittlerweile an die 30 Kliniken und Rehabilitationszentren an. »In sechs Monaten«, berichtet Sibylle Skriba vom Schweriner Sozialministerium fast euphorisch, »sind es mindestens wieder fünf mehr.«
Nahe der polnischen Grenze aber, im vorpommerschen Landkreis Uecker-Randow, blickt Landrat Rainer Haedrich gequält auf seine Einwohnerstatistiken. Zehn Prozent der Bevölkerung hat das Gebiet seit der Wende verloren, zurück blieben 90.000 Menschen. Obendrein sinkt die Zahl der Geburten in keinem pommerschen Landkreis so stark wie hier: 1990 kamen dreimal so viele Babys zur Welt wie 1994.
Wer hier noch einen Job hat, der sieht sich vor - so erklärt sich Pasewalks Frauenbeauftragte Rita Dornbrack den Geburtenrückgang. (...) Doch inzwischen sind die Industriebetriebe im Kreis reihenweise zusammengebrochen. Und noch bestehende Firmen arbeiten mit einem Bruchteil der Belegschaft.
Der größte Arbeitgeber im Kreis ist jetzt die Armee. Seit jeher wird hier vom östlichen Hinterland aus das jeweilige Staatswesen verteidigt."

Für den Osten bleibt nur die Hoffnung auf Stettin in Polen:

"Straßen, Straßen, Straßen verlangt der Mann und Schienenanschlüsse. Von der »Euroregion Pomerania« verspricht sich Haedrich große Dinge. Der Zusammenschluß zwischen Kommunen auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze soll den Aufschwung beflügeln. Nur 50 Kilometer östlich von Pasewalk liegt die polnische Stadt Stettin, mit internationalem Flugplatz und Tiefwasserhafen. »Was nützt uns das«, fragt Haedrich, «wenn wir keine anständigen Verkehrswege haben und die Lastwagen stundenlang an der Grenze stehen?«"

Fortschrittsskepsis prägt dagegen Rügen:

"Für Udo Knapp auf der Insel Rügen hingegen könnte die Zukunft gerade wegen der rückständigen Gegenwart kaum heller sein. Der ehemalige Bonner Grüne, jetzt Sozialdemokrat und stellvertretender Landrat im Osten, begeistert sich für viele Dinge, woran Christdemokraten leiden. (...).
Den zweiten Auto-Damm nach Rügen jedoch, der nun gebaut werden soll, lehnt der Kommunalpolitiker kategorisch ab: »Wir brauchen um Gottes willen nicht vierspurig nach Mukran.« Die CDU hingegen ist der Meinung, der Weg zum Aufschwung führe nur über Beton oder die Magnetspuren des Transrapid, jenes Mammutprojekts, das Hamburg und Berlin via Mecklenburg verbinden soll. Wer einen etwas sanfteren Weg in den Fortschritt will, stelle sich »der Zukunft in den Weg«, behauptet Ministerpräsident Seite.
Im Städtchen Jarmen stoßen die gemäßigten Visionen schon heute mit der Betonrealität der Mehrheitsmeinung zusammen. Dort wird die vom einstigen Verkehrsminister Günther Krause messianisch versprochene Ostseeautobahn A 20 von Lübeck nach Stettin über die Peene geführt werden, einen der letzten unregulierten Flußläufe Deutschlands."

An diesen Themen arbeitet sich die Medienberichterstattung auch 25 Jahre später noch ab.

SPIEGEL (1995): Millionen in den Sand gesetzt.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Von Glücksrittern und Immobilienschiebern auf der Insel Usedom,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.

Der Spiegel beschreibt wie auf Usedom westdeutsche Großinvestoren absahnen, während die Mittelständler auf der Strecke bleiben und die Einheimischen schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs übernehmen:

"Spekulanten und Glücksritter überschwemmten das idyllische Eiland kurz vor der polnischen Grenze und setzten Hunderte Millionen Mark buchstäblich in den Sand - oftmals das Geld anderer.
Jetzt droht der schönen Insel, einstmals mit ihren Seebädern Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin die »Badewanne Berlins«, eine Pleitewelle. Einige Immobilienschieber haben sich gesundgestoßen, andere hatten Pech. Überall fehlt Kundschaft, vor allem die zahlungskräftige. (...). Zwischen September und Ostern ist auf Usedom tote Hose, Fischotter und Einheimische sind weitgehend unter sich. (...).
Gewinnen können auf Usedom bestenfalls Abschreibungskünstler, für die kleinen Hotelbesitzer ist das Überleben sogar mit Selbstausbeutung schwierig. (...).
Auch Friedrich Münzel aus Hamburg will auf Usedom das große Rad drehen. Was Sylt den Hamburgern, so Münzels Hoffnung, soll die idyllische Ostseeinsel den Berlinern werden. Die Schickis der Hauptstadt könnten hier wochenends viel Geld lassen. Aber wie? Die einzige Diskothek im Seebad Ahlbeck ist von den Dorfkids besetzt. Es gibt kein Nachtleben und auch keine Boutiquen mit Armani-Klamotten.
Für die Berliner liegt Usedom weit vom Schuß. Sie sind schneller mit dem Jet auf Ibiza als mit dem Auto über verstopfte Mecklenburger Landstraßen am Strand von Usedom.
Vergangenes Jahr weihte Münzel in Heringsdorf die mit 508 Metern »«längste Seebrücke Kontinentaleuropas« ein. Während die Geldgeber bei Lachs und Champagner feierten, bestaunten Tausende einheimische Familien mit Kind, Regenschirm und Butterbrot das eigenwillige Bauwerk: einen Koloß aus Stahl, Holz und Glas mit 22 Geschäften, Kino, Cafe und einem Restaurant am Ende des Stegs. Für die Brücke hat Münzel, Geschäftsführer der Hamburger Beac Immobilien GmbH, Geld (...) gesammelt, insgesamt 27 Millionen Mark. Fördermittel waren nicht zu bekommen, aber kräftige Steuergeschenke. »Ohne die Sonder-Afa«, rechnet Münzel vor, »gäbe es keine Seebrücke.« (...).
Heringsdorfs Bürgermeister Hans-Jürgen Merkle, 36 (...) hat (...) den Gemeinderäten klargemacht, daß weiter geklotzt werden muß.
Rund 300 Millionen Mark, schätzt der frühere hessische Verwaltungsbeamte, werden in der nächsten Zeit in den drei Seebädern an der Ostsee verbaut: ein Einkaufszentrum für 50 Millionen Mark, eine Therme für 35 Millionen, ein Kulturhaus für 40 Millionen, eine Kurklinik für 40 Millionen, ein Kurhotel für 20 Millionen. Bezahlt wird von Investoren, Banken und dem Steuerzahler.
Die Usedomer werden auch gebraucht. Zwar nicht als Hotelbesitzer, nur schätzungsweise 10 bis 20 Prozent der Herbergen, meist die in zweiter und dritter Reihe, gehören Einheimischen. Doch sie haben das Bettenmachen, Putzen und Servieren unter sich aufgeteilt."

VOß-SCHARFENBERG, Sonja (1995): Geld war nie.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Die Schriftstellerin über Mecklenburg,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.

SPIEGEL (1995): Vermächtnis der Eiszeit.
Umwelt: Der Aufbau Ost läßt einen unscheinbaren Rohstoff boomen: Kies, sagen die Leute in Mecklenburg, ist wie Öl,
in: Spiegel Nr. 46 v. 13.11.

Der Spiegel berichtet über die Goldgräberstimmung beim Kiesabbau u.a. über Pläne bei Hallalit, einem Ortsteil von Vollratsruhe:

"Es geht um gigantische Flächen im Milliardengeschäft mit dem Kies, Rücksicht auf die Interessen anderer wird da selten genommen. Die Region Hallalit nahe der Müritz beispielsweise mit ihren Hügeln, Tälern, Mooren und Wäldern ist so abwechslungs- und artenreich wie kaum eine Landschaft; hier sagen sich Graureiher, Kranich und Fischadler gute Nacht. Eine Region, wie modelliert für Touristen, die nichts als Natur pur genießen wollen: das »Tor zur Mecklenburgischen Schweiz«.
Doch adieu Fremdenverkehr. Ausgerechnet hier liegt Kies, viel Kies, ein Vermächtnis der Eiszeit. Geht es nach den momentan beantragten Abbauflächen, werden bald 46 Kieslöcher und Dutzende von Dreißigtonnern die Ausflügler vergraulen. (...)."
Schon im August 1990 hatten sich viele volkseigene Kiesbetriebe in Joint-ventures verwandelt; heute sind sie fest in westdeutscher Hand. Als Morgengabe brachten die Ostfirmen ihre Schürfrechte ein, die zwar - da ja staatliches Eigentum - neu gekauft und bezahlt werden mußten, doch es wurden auf diese Art langwierige Raumordnungsverfahren umgangen. Auch clevere SED-Funktionäre und -Betriebsleiter hatten sich rechtzeitig Schürfrechte gesichert und verkauften sie profitabel weiter.
In dieser Goldgräberstimmung steckte jeder seine Claims ab. So (hat), Readymix aus Ratingen (...) das Zementwerk Rüdersdorf bei Berlin übernommen und schaufelt in Mecklenburg, wo auch die Haniel Baustoff KG Kies macht".

Im Jahr 2009 bestanden gemäß einer kleinen Anfage die Tagebaue Hallalit Nordost, Landkreis Müritz und Tagebau Hohen Wangelin, Landkreis Müritz, in denen die Heidelberger Betonwerke GmbH Kies abbaute.

1996

SPIEGEL (1996): Nutzlos versichert.
Subventionen: Fast 300 Millionen Mark steckten die Schweriner Landesregierung, der Bund und die Treuhand in eine Pleite-Fabrik. Nun droht das Ende,
in: Spiegel Nr. 6 v. 05.02.

Der Spiegel berichtet erneut über Ribnitz-Damgarten und das dortige VEB Faserplattenwerk:

"Die regierenden Parteien scheuen sich aus Angst um Wählerstimmen gleichwohl, das Millionen-Grab an der Ostsee dichtzumachen. Der Bestwood-Ruin wäre für die abgelegene Region eine Katastrophe.
Neben der Pleite-Fabrik gibt es in der 17.500-Einwohner-Stadt Ribnitz-Damgarten nur kleine Händler und Dienstleistungsbetriebe. Etliche Arbeiter sind zu DDR-Zeiten extra für das Spanplattenwerk aus Thüringen und Sachsen in den Norden gezogen. »Unvorstellbar für die, wenn Bestwood platt gemacht würde«, sagt die sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Sigrid Keler, »wo sollen die Menschen denn hin?«"

SPIEGEL (1996): Üppiger Speckgürtel.
Grenzland: Die Kommunen an der ehemaligen Zonengrenze gehören zu den Verlierern der Einheit: Immer mehr Firmen wandern nach Osten ab.,
in: Spiegel Nr. 8 v. 19.02.

"Östlich der ehemaligen DDR-Grenze von Wismar bis Plauen wächst ein von Milliarden aus dem Steuersäckel üppig angefütterter Speckgürtel. Im mecklenburgischen Zarrentin etwa entsteht nur wenige hundert Meter jenseits der Landesgrenze von Schleswig-Holstein ein »Mega Park«, den bereits der Kaffeeröster Tchibo, ein Hamburger Autoimporteur und ein Versandhaus für ärztliches Zubehör bevölkern. Für die alteingesessene Hamburger Firma Kühne ist auch schon ein Platz reserviert.
Immer mehr Unternehmer kommen auf den Dreh, daß die Verlagerung ihrer Produktion für sie höchst profitabel ist - bei häufig niedrigeren Löhnen, billigeren Grundstücken und Mieten sowie reichlich Zuschüssen aus der Staatskasse für ihren Beitrag zum Aufbau Ost. Die Verlegung kommt oft billiger als die Modernisierung des alten Betriebs",

berichtet der Spiegel über westdeutsche Verlierer und ostdeutsche Gewinner der Wiedervereinigung.

SPIEGEL-Titelgeschichte: Absturz Ost.
Das Ende der Blütenträume

SPIEGEL (1996): "Vulkane sind überall".
Der ostdeutschen Wirtschaft droht der Absturz: Viele der wenigen Betriebe, die den Weg in die Marktwirtschaft scheinbar schon geschafft hatten, gehen pleite. Die industrielle Basis der neuen Länder, ohnehin klein und brüchig, schrumpft weiter. Ist der Aufschwung Ost vorbei, ehe er richtig begann?
in: Spiegel Nr. 6 v. 25.06.

"In Mecklenburg-Vorpommern präsentierte das Wirtschaftsministerium eine Liste von 31 »Anker«-Unternehmen, die von der Treuhand als regional bedeutsam eingestuft worden waren. Fast die Hälfte dieser Unternehmen gilt als akut gefährdet, darunter die Schiffswerft Rechlin oder die Greifswalder Brauerei",

berichtet der Spiegel über die Situation in Mecklenburg-Vorpommern, bei der auch wieder Ribnitz-Damgarten erwähnt wird.

SPIEGEL-Titelgeschichte: Der neue Osten.
Im Städtevergleich. Spiegel-Umfrage über Gefühl und Wirklichkeit

SPIEGEL (1996): Der Osten wird bunt.
In der bisher umfassendsten Studie dieser Art hat der SPIEGEL die Lebensqualität der 20 größten ostdeutschen Städte untersuchen lassen. Ergebnis: Mit der von oben erzwungenen Gleichheit ist es vorbei, Gewinner und Verlierer driften immer deutlicher auseinander. Am zufriedensten sind die Menschen in der Provinz,
in: Spiegel Nr. 41 v. 07.10.

Der Spiegel vergleicht folgende 20 Städte in Ostdeutschland, deren Bevölkerungsentwicklung zwischen 1990 und 1995 dargestellt wird:

Rang Stadt Bundesland Bevölkerung 1995 Bevölkerungs-
gewinn/verlust
seit 1990
1 Leipzig Sachsen 475.332 - 10,3 %
2 Dresden Sachsen 471.844 - 5,9 %
3 Halle Sachsen-Anhalt 285.485 - 11,3 %
4 Chemnitz Sachsen 269.375 - 10,8 %
5 Magdeburg Sachsen-Anhalt 260.936 - 9,5 %
6 Rostock Mecklenburg-Vorpommern 229.560 - 9,2 %
7 Erfurt Thüringen 211.982 - 2,3 %
8 Potsdam Brandenburg 137.469 - 2,8 %
9 Gera Thüringen 124.368 - 6,0 %
10 Cottbus Brandenburg 123.994 - 6,2 %
11 Schwerin Mecklenburg-Vorpommern 115.975 - 10,4 %
12 Zwickau Sachsen 103.332 - 13,1 %
13 Jena Thüringen 101.372 - 4,2 %
14 Dessau Sachsen-Anhalt 91.854 - 9,3 %
15 Brandenburg an der Havel Brandenburg 86.526 - 7,4 %
16 Frankfurt an der Oder Brandenburg 81.263 - 6,7 %
17 Neubrandenburg Mecklenburg-Vorpommern 81.250 - 10,7 %
18 Plauen Sachsen 68.431 - 7,5 %
19 Görlitz Sachsen 66.634 - 10,9 %
20 Stralsund Mecklenburg-Vorpommern 66.502 - 10,8 %

MATUSSEK, Matthias (1996): Grenze ohne Schatten.
Spiegel-Serie Die deutsche Ostgrenze (Teil 1): Über die deutsche Ostgrenze, wo der Kapitalismus viel, die Vergangenheit wenig zählt,
in: Spiegel Nr. 41 v. 07.10.

Matthias MATUSSEK beschreibt das Ostseebad Ahlbeck als das Sylt der Nachwendezeit:

"Ahlbeck sucht nach einer neuen Identität. Um die Jahrhundertwende war es das mondäne Kaiserbad, im Zweiten Weltkrieg Durchgangsstation für Millionen von Ostflüchtlingen, danach mit realsozialistischem Beton zur FDGB-Erholungsfabrik heruntergewirtschaftet, nun allmählich auf dem Weg zurück zur Flaniermeile für betuchte Berliner Bürger. Ahlbeck, Sylt der Nachwende, Promenadenglück im neuen Deutschland.
Nur ein paar hundert Meter östlich verläuft ein unscheinbarer Zaun: die Grenze, die deutsche und polnische Badetücher trennt, ihr nördlichster Punkt. (...).
Für die Urlauber im Ahlbeck von heute ist der Raum im Osten lediglich der Preisvorteil hinter den Dünen - in den Polenmärkten am Ende der schattigen Allee, die ins benachbarte Swinemünde führt.
Die einstige preußische Hafenstadt, in der Fontane seine Kindheit verbrachte, war im Zweiten Weltkrieg Flottenstützpunkt und Anlaufstelle für Flüchtlingsboote in den letzten Kampftagen. Am 12. März 1945 wurde sie von 700 US-Bombern praktisch zerstört und erlebte ihre polnische Wiedererstehung als sozialistische Retortenstadt. Nach der Wende entstand hier einer der größten Schnäppchenmärkte des Landes. (...).
Allenfalls die Rentner, die sich auf der Seebrücke von Ahlbeck treffen, interessieren sich für ein anderes Polen. Nämlich für die einstige Heimat, das Deutsche unter polnischer Maske."

KLASSEN, Ralf (1996): Irgendwie der Arsch der Welt.
Spiegel-Serie Ostdeutschland (2): Über Pulow, ein Dorf in Vorpommern, das ums Überleben kämpft,
in: Spiegel Nr. 43 v. 21.10.

Ralf KLASSEN beschreibt die Tristesse in Pulow in Vorpommern, einem Nachbarort von Lassan:

"In Pulow geht es nicht mehr weiter. Am letzten Haus endet der einzige Weg, der in das kleine Dorf führt. Früher gab es von hier aus noch eine rumpelige Panzerplattenstraße nach Warnekow. Doch Warnekow ist schon verlassen und abgerissen, die Straße zugewuchert. Und in Pulow haben sie Angst.
48 Menschen, 4 registrierte und ein paar illegale Hunde, eine Handvoll Katzen, einige Dutzend Hühner und Ziegen, eine Frage: Wie lange noch?
Das Schicksal des Nachbardorfes Warnekow erfüllte sich schon zu Zeiten des DDR-Regimes. Damals begann die Partei, ihre Bauern in größeren Ortschaften zusammenzufassen, um - wie die Funktionäre zu Unrecht glaubten - die Effizienz der Landwirtschaft zu steigern. Eingebracht hat es den ländlichen Regionen in Ostdeutschland nur Tausende von schmutziggrauen Plattenbauten, die meist wie eine Art Mini-Marzahn an den Rand der zum Überleben auserkorenen Dörfer geklotzt wurden.
Auch Pulow stand schon auf der Abrißliste der Kreisgenossen. Doch obwohl die wie ihre DDR Vergangenheit sind, ist der kleine Ort noch immer in Gefahr. »Endpunkt-Nachteil« heißt jetzt im Wirtschaftsdeutsch die Krankheit, die Dörfer killt: Orte, so weit ab von allem, daß anscheinend niemand für sie etwas übrig hat - weder Phantasie noch Geld.
Dabei ist es eine schöne Gegend, dieser östliche Teil des Landkreises Ostvorpommern, 15 Kilometer von der Kreisstadt Anklam entfernt. (...).
An einer der hübschesten Stellen, direkt an einem See, liegt Pulow. Es ist kein klassisches Dorf, es gibt weder eine Kirche noch einen zentralen Platz. Die Häuser, manchmal nicht mehr als ausgebaute Schuppen, sind ungeordnet auf ein paar Hügelchen verteilt. Idylle, so nennt man das wohl anderswo, »irgendwie ja der Arsch der Welt« nennt es (CDU-)Bürgermeister Matthias Andiel, 40. (...).
Jede Abwanderung raubt dem Gemeindeetat wertvolles Geld.
Da freut sich Andiel diebisch, wenn er seinem Kollegen aus dem benachbarten Lassan (...) ein paar der seltenen Neuankömmlinge »klauen« kann. (...).
»Viele ergeben sich in ihr Schicksal«, sagt Dieter Markhoff, CDU-Landtagsabgeordneter aus Anklam. »Das ist die Mentalität hier.« Er wünscht sich »ein bißchen mehr Eigeninitiative meiner Leute, die könnten ab und an mal selbst was in die Hand nehmen«.
Was auch immer da in die Hand genommen werden soll, viel gibt es davon nicht mehr in Pulow und Umgebung - und das beste Beispiel dafür ist ausgerechnet die einstige und einzige Stärke Vorpommerns, die Landwirtschaft."

KLASSEN knüpft hinsichtlich der Landwirtschaft an frühere Spiegel-Artikel an, in denen die Umwandlungen der LPGs kritisiert wurden. Doch die Stimmung ist im Gegenteil von Nostalgie geprägt:

"Es gibt nicht wenige, vor allem unter den alten Pulowern, die sich am liebsten die Rückkehr der alten Herren und eine Umkehrung des DDR-Slogans aus der Zeit der Enteignungen wünschen: Bauernland in Junkerhand."

Aber Alternativen fehlen, denn der Tourismus ist dazu nicht in der Lage:

"Der Bürgermeister (...) schwärmt er von »Agrarurlaubern« und »Wanderwegnetzen«, von »Kunst-Workshops« und »sanftem Tourismus«, bis nichts mehr übrig ist von seinem düsteren Realismus. Dabei kann (...) ein Land gar nicht so schön sein, als daß es all die kühnen Träume vom rettenden Massentourismus erfüllen könnte, die sämtliche Lokal- und Landespolitiker, Hoteliers und Kurdirektoren, Gastwirte und Autobahnbauer in Mecklenburg-Vorpommern haben. Wahrscheinlich müßte das Land mehr Besucher als Mallorca verzeichnen, um jene Gästebetten zu füllen, die nun noch zu den ohnehin schon 100.000 vorhandenen geschaffen werden sollen - und schon die waren in diesem Sommer nur zu 41 Prozent belegt."

LANGE-MÜLLER, Katja (1996): "Letztes Loch vor der Hölle".
Spiegel-Serie Ostdeutschland: Die Schriftstellerin über Lassan, ein typisches Städtchen in Vorpommern,
in: Spiegel Nr. 43 v. 21.10.

"In Lassan, bis 1990 Schlafstadt der Peenewerft Wolgast, die mit 4000 Beschäftigten (heute 700) der wichtigste Betrieb in der Gegend war, wohnen nach des Bürgermeisters letzten Zahlen 1710 Menschen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 bis 65 Prozent. (...).
Für die zumeist noch bei ihren Eltern, Ex-Peenewerftlern, lebenden Jugendlichen, die alle weggehen wollen, zu irgendwelchen Lehrstellen hin, gibt es einen Klub, der um 20 Uhr schließen muß, denn in den oberen Stock ist eine Familie gezogen",

erzählt uns Katja LANGE-MÜLLER über Lassan im Landkreis Ostvorpommern, dessen Bürgermeister als Problemfall beschrieben wird.

SPIEGEL (1996): Kurze Beine, kurze Wege.
Schulen: Sinkende Schülerzahlen bringen die alte Dorfschule zurück - und ermöglichen eine zukunftsorientierte Ausbildung,
in: Spiegel Nr. 45 v. 04.11.

Der Spiegel berichtet über den Rückgang der Schülerzahlen in den ostdeutschen Grundschulen und sieht die altersmäßig gemischten Grundschulklassen als Lösung:

 "Seit der Wiedervereinigung sind die Geburtenzahlen in den neuen Ländern rapide gesunken, von 178 000 im Jahr 1990 auf 82 000 im Jahr 1995. Der Rückgang trifft in den nächsten Jahren die Bildungsstätten. Gab es 1993 in Ostdeutschland insgesamt noch rund 909 000 Grundschüler, werden es im Jahr 2003 gerade noch 409 000 sein.
(...).
In Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit und ohne wirtschaftliche Perspektive ist die Dorfschule für die Menschen oft der letzte kommunale Identifikationspunkt, dort lernen nicht nur die Kinder; in der Turnhalle trainiert auch der Sportverein, und die Landfrauen treffen sich in der Aula.
Mecklenburg-Vorpommern will, auch um in den kleinen Dörfern den letzten Rest sozialer Infrastruktur zu erhalten, in Zukunft einzelnen Schulen ebenfalls erlauben, die Klassen altersmäßig zu mischen. In Bayern und Baden-Württemberg ist es in kleinen Gemeinden auf dem Land seit Jahren üblich, wenn nötig, verschiedene Klassenstufen gemeinsam pauken und büffeln zu lassen."

1997

SPIEGEL (1997): Teure Ruhe.
Luftverkehr: Die meisten der ostdeutschen Regionalflughäfen, mit vielen Fördermillionen erbaut, bringen nur Verluste ein,
in: Spiegel Nr. 3 v. 13.01.

Bericht über die Regionalflughäfen Rechlin-Lärz, Barth und ein geplantes Großprojekt:

"In Mecklenburg-Vorpommern kommt das von Ex-Verkehrsminister Günther Krause geplante Vorhaben, den ehemaligen Armeeflughafen in der Nähe der Kleinstadt Parchim zur internationalen Luftverkehrsdrehscheibe zu machen, nicht voran. Nur ab und zu verirrt sich mal ein Großflugzeug in die Gegend, wenn die Lufthansa auf dem Gelände Starts und Landungen übt. In den Airport sind schon 40 Millionen Mark an Fördergeldern geflossen, weitere 40 bis 100 Millionen werden noch gebraucht."

SPIEGEL (1997): Schienen schlachten.
Bahn: Die Bahn möchte mehr als ein Viertel ihres Gleisnetzes abstoßen. Die Pläne machen keinen Sinn,
in: Spiegel Nr. 12 v. 17.03.

"700 Strecken, (...) so eine interne Vorstandsvorlage, (sind) aus Sicht der Bahn unrentabel (...).
Rund 11.700 Kilometer Gleisstrecken würde der Staatsbetrieb gern abstoßen, so ist in den vertraulichen Papieren zu lesen, mehr als ein Viertel des gesamten Netzes. Sie seien auf Dauer wirtschaftlich nicht zu betreiben.
Fast 5.000 Kilometer dieses Netzes gelten als echte »Schwachlaststrecken«, die als erste vor der Ausmusterung stehen. Lassen sich keine privaten Betreiber finden, die diese Gleise übernehmen, droht die Stillegung. (...).
Es ist kaum vorstellbar, in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern rund zwei Drittel der Gleise abzureißen",

schreibt der Spiegel zu geplanten Streckenstilllegungen. Eine Grafik gibt für Mecklenburg-Vorpommern 1.825 Streckenbestand an. Für die ostdeutschen Flächenländer ergeben sich folgende Streckenlängen und geplante Stilllegungen:

Rang Bundesland Gesamtlänge der Bahn

Fläche

Streckenlänge
pro 100 km2
Anteil der
Stilllegungen
1 Brandenburg 3.095 29.654 km2 10,4 39,4 %
2 Sachsen 3.041 18.450 km2 16,5 34,2 %
3 Sachsen-Anhalt 2.684 20.452 km2 13,1 36,9 %
4 Thüringen 1.993 16.202 km2 12,3 66,4 %
5 Mecklenburg-Vorpommern 1.825 23.292 km2 7,8 62,9 %

Bezieht man die Streckenlänge auf die Fläche der Bundesländer, dann zeigt sich, dass Mecklenburg-Vorpommern mit Abstand am schlechtesten abschneidet. Neben Thüringen wäre das Land zudem besonders stark von geplanten Streckenstilllegungen betroffen

SPIEGEL (1997): Gasfackel am Ostseestrand.
Tourismus,
in: Spiegel Nr. 25 v. 16.06.

Bericht über geplante Erdgasförderung in der Nähe der Badestrände von Heringsdorf und Bansin auf Usedom.

SPIEGEL (1997): Costa Brava an der Ostsee.
Mecklenburg-Vorpommern, zweitärmstes Bundesland der Republik, setzt auf den Massentourismus. Der Bauwahn an der Küste zwischen Lübeck und Stettin beschädigt eine einzigartige Naturlandschaft. Ob er den Aufschwung bringt, ist zweifelhaft,
in: Spiegel Nr. 30 v. 21.07.

Der Spiegel berichtet über geplante Großprojekte. Neben Heiligendamm gehört Kühlungsborn dazu:

"Der Fremdenverkehr gilt als letzter Rettungsring vor der drohenden wirtschaftlichen Katastrophe an der Ostseeküste. Rund 900 Millionen Mark pumpen der Bund und das Land derzeit jährlich in die einzig zukunftsträchtige Branche von Mecklenburg-Vorpommern.
Das Land zwischen Lübeck und Stettin hat viel Natur zu bieten, mit weiten Seen und schönen Wäldern, altehrwürdigen, wenn auch etwas ramponierten Seebädern, kilometerlangen feinen Sandstränden - einmalig an der deutschen Ostseeküste.
Genau deshalb erlebte Mecklenburg-Vorpommern nach der Wende einen Besucheransturm, dem die in 40 Jahren real existierendem Sozialismus vergammelte Infrastruktur nichts entgegenzusetzen hatte. Kleine Pensionsbesitzer begriffen ebenso rasch ihre Chance wie Großinvestoren aus dem Westen, sich mit Hilfe von üppig fließenden Fördergeldern eine goldene Zukunft zu schaffen. Im Land der Werftenkrise, mit einer Arbeitslosenquote von 17,9 Prozent, hängt mittlerweile jeder zwölfte Arbeitsplatz am Fremdenverkehr. (...).
Am Strandboulevard in Kühlungsborn, dem größten ostdeutschen Seebad, nur wenige Kilometer westlich von Heiligendamm, reiht sich ein neues Hotelprojekt an das nächste. Wenn Werner Stange, Baurat in Kühlungsborn, durch seine Stadt spaziert, sieht er die vielen Neubauten mit Sorge. (...)
Allein durch die bereits in Bau befindlichen oder genehmigten neuen Hotels oder Ferienwohnungen wird sich nach seinen Berechnungen in den nächsten drei Jahren die Zahl der Fremdenbetten im Ort von 6.500 auf über 13.000 erhöhen. (...).
Voller Wehmut redet man überall an der Küste von den Jahrhundertsommern 1994 und 1995, welche die Kassen gefüllt und den Blick auf deutsche Wetternormalität verklärt hatten. Das vergangene Jahr lief mit einer durchschnittlichen Auslastung von 38 Prozent mehr als mies. Die diesjährige Saison hat sich kaum besser angelassen. Im Winter werden wohl die ersten Betriebe aufgeben müssen, wenn die Rückzahlung der Kredite ansteht. (...).
Eine arme Region durch Urlauber zu retten, das mag in Spanien oder Griechenland (...) gelungen sein (...) vor allem dank über 200 Tagen Sonne im Jahr.
Doch was macht man in Mecklenburg, wo die Sonne nicht öfter scheint als auf Sylt, in Hannover oder in Wiesbaden? »Saisonverlängernde Maßnahmen« ist der Zauberspruch, der seit dem letzten verregneten Sommer in allen Köpfen ist.
Und so konzipieren und bauen sie nun überall Spaßbäder und Schießanlagen, Tennishallen und Reitzentren - und machen sich kaum Gedanken darüber, warum ein Tourist aus Sachsen oder Hessen im Oktober kommen soll, um in Mecklenburg in Hallen zu baden oder Reitunterricht im Regen zu nehmen. Auch in Kühlungsborn will man sich um wetterunabhängige Klientel bemühen: Ein Kongreßzentrum mit 1000 Plätzen soll mitten im Ort entstehen, verbunden durch eine lange Seebrücke mit einem Luxushotel auf einer Sandbank."

War in vergangenen Berichten noch vom Wunsch nach "sanftem Tourismus" zu lesen, so heißt es nun:

"Mecklenburg-Vorpommern ist wohl das Bundesland mit den wenigsten Umweltschützer pro Hektar schützenswerter Umwelt. Ein kleiner versprengter Haufen ist westlich von Kühlungsborn zu finden. In der Gemeinde Rerik soll die konsequente Ergänzung zu all den Luxusvillen, Golfplätzen, Jachthäfen und Kongreßzentren errichtet werden: ein Fliegerpark nach amerikanischem Vorbild.
Zu diesem Zweck will eine Hamburger Investorengruppe den kleinen Sportflughafen in Zweedorf üppig ausbauen. 37 Luxus-Ferienhäuser und ein Motel für Hobbypiloten sollen auf dem Gelände entstehen. (...).
Der Flugplatz liegt zwar mitten in der Gemeinde Rerik, gehört aber zu der rund zehn Kilometer entfernten Gemeinde Bastorf, die auch die Steuern kassiert. Und die treibt das Vorhaben im Eilverfahren voran, unbeeindruckt von der Reriker Bürgerinitiative gegen den künftigen Fluglärm.
Schöne Aussichten für die Flieger: In ihrer neuen Einflugschneise liegt die Halbinsel Wustrow, die erst vor kurzem von der Landesregierung an einen West-Investor verkauft wurde. Der will dort ein Projekt für ökologisch vorbildlichen Tourismus errichten - mit Windanlagen, Öko-Häusern und natürlicher Abwasserentsorgung."

SCHUMACHER, Hajo (1997): Kaff der guten Hoffnung.
Aufbau Ost: Wer im Osten auf den Aufschwung hofft, kann lange warten. Originelle Ideen versprechen nur Erfolg, wenn eine Kommune sich als "bedingungsloser Dienstleister" versteht - das beweisen Wirtschaftsförderer im vorpommerschen Wolgast,
in: Spiegel Nr. 39 v. 22.09.

Hajo SCHUMACHER berichtet darüber wie mit westlichem Humanexport die Ossis für die Selbstständigkeit fit gemacht werden:

"18 Firmen hat Geyer (...) auf die Beine geholfen, meist Einmannbetriebe wie der Buchhaltungsservice (...) oder die Lkw-Waschanlage im Industriegebiet. Inzwischen nutzen sogar Auswärtige den EGZ-Service. (...). So entstanden 200 neue Jobs in einer Region, wo die Arbeitslosenrate nur in der Urlaubssaison unter 20 Prozent fällt. Ein winziger Posten für die Nürnberger Statistik, aber eine gewaltige Entlastung für die Wolgaster Stadtkasse. (...).
Geyer, der gern unbefangenen amerikanischen Optimismus verbreitet, mußte lernen, daß in seinem neuen Revier bedächtige Vorpommern leben, die eine risikoarme Lebensplanung bevorzugen und lieber gar nichts tun, als zu einem jener 9.000 Pleitiers zu gehören, die in diesem Jahr für die neuen Länder prognostiziert werden. (...).
Bürgermeister Jürgen Kanehl, 46, (sieht) für seine 15.344 Bürger keine Alternative zur Ameisenstrategie. »Nur Krümel für Krümel« lasse sich Wolgast in ein Kaff der guten Hoffnung verwandeln, mit einer Welle von Gründungen, von denen einige vielleicht überleben.
Das Warten auf den gütigen Großinvestor dagegen, der auf einen Schlag die in der Peene-Werft oder im nahe gelegenen Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald abgewickelten mehr als 5.000 Arbeitsplätze zurückbringt, hält Kanehl für Selbstbetrug. Zumal die mit über einer halben Milliarde Mark subventionierte Werft lieber portugiesische Leichtlohnschweißer einfliegen läßt, als örtliche Fachkräfte anzuheuern.
So lockt Kanehl statt der Großindustrie lieber wagemutige Einzelkämpfer, denen er eine »bedingungslose Dienstleistungsmentalität« verspricht."

West-Manager und West-Bürgermeister schaffen für Wolgast Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor, z.B. in Call-Centern.

SPIEGEL-Titelgeschichte: Steuer-Paradies Ost.
Wie der Abschreibungswahn die Staatsfinanzen und so manches Privatvermögen ruiniert

SPIEGEL (1997): Fehl-Steuer Ost.
Mit dem größten Steuergeschenk aller Zeiten wollte der Staat den Aufbau Ost fördern - und mehrte statt dessen das Vermögen cleverer Westler. Die fatale Folge: Im Osten entstehen Wohnparks und Büropaläste, die keiner braucht - und in Bonn Milliardenlöcher, die keiner überblickt,
in: Spiegel Nr. 46 v. 11.10.

"Adlon-Bauherr Anno August Jagdfeld will (...) mit Hilfe von 300 Anlegermillionen das einst mondäne Ostseebad Heiligendamm wiederbeleben. Doch es entstanden auch unzählige Büropaläste und Wohnparks, die in dieser Fülle keiner braucht - und die nun als Potemkinsche Dörfer in der blühenden Landschaft stehen.
Die Hauptprobleme des Ostens, eine unzureichende Industriestruktur, Betriebe mit zu geringem Kapitalstock, wurden durch die Sonderabschreibungen nicht gelöst. Nur maximal ein Drittel der privaten Gelder floß in die Firmen. Und siehe da: Kaum läßt der Bauboom nach, sacken die Wachstumsraten wieder nach unten. In diesem Jahr wird die Wirtschaft in den neuen Ländern nur noch mit zwei Prozent wachsen - und damit langsamer als im Westen",

berichtet der Spiegel über die Folgen der Sonderabschreibung Ost.

SCHMIDT-KLINGENBERG, Michael (1997): "Da ist noch so viel Schutt".
Aufbau Ost: In einer vergessenen Ostecke des neuen Deutschlands suchen zwei kleine Orte Anschluß an die Zukunft. In Ducherow lähmen sich alt-neue Honoratioren gegenseitig, das Städtchen Torgelow erstrahlt in fast schon unwirklichem Glanz,
in: Spiegel Nr. 44 v. 27.10.

Michael SCHMIDT-KLINGENBERG stellt Ducherow als typische Gemeinde in Vorpommern vor:

"Hier am Ostrand Deutschlands steht alles noch etwas stiller als anderswo am Standort D. Die Arbeitslosen sind noch arbeitsloser - zu rund 30 Prozent. Die Unternehmer sind noch etwas unternehmungsloser - neben der Tankstelle erstrecken sich blühende Landschaften mit eigener Straßenbeleuchtung: Im einst mit acht Millionen Mark hergerichteten Gewerbegebiet leuchtet in strahlender Einsamkeit das neue Haus der Freiwilligen Feuerwehr Ducherow. (...).
1993 wurde ein großes Jahr in der 690jährigen Geschichte von Ducherow. Lüder eröffnete seine Speise-Tanke, daneben errichtete ein Herr Wunderlich aus dem Westen ein Domitel. Das Hotel hat ein auf Kirchenbau spezialisierter Architekt mit einer gläsernen Domkuppel gekrönt - nun steigen dort Bustouristen ab, die sich eine Nacht auf dem teuren Usedom nicht leisten können. Das Diakonische Werk weihte im selben Jahr ein menschen- und tierfreundliches Altenpflegeheim ein (...).
Aber jetzt herrscht wieder Ruhe in Ducherow."

Torgelow steht dagegen für die Ausnahme in der Region:

"Um das renovierte Rathaus ist ein ganz neues, strahlend weißes Ortszentrum entstanden. Die sowjetischen Soldatengräber mitten in Torgelow, ewiges Mahnmal der Befreiung mit anschließender Unterdrückung, wurden in einem feierlichen Akt auf den städtischen Friedhof am Ortsrand umgebettet. Nun ist an der Stelle des »Russenfriedhofs« der Parkplatz des neuen Zentrums.
Die Plattenbauten der Albert-Einstein-Siedlung sehen dank geschickter Bemalung, neuer Balkone und ein paar modischer Attrappen wie neu aus. Im Gewerbegebiet hat sich, bald nach der Bar »Zur Banane«, die Firma ME-LE angesiedelt, Holding eines kleinen Konglomerats der Heizungs- und Regelungstechnik mit über 1000 Mitarbeitern in ganz Deutschland.
Diesen Sommer reisten Professoren (...) auf Einladung eines Torgelow-Instituts in die Stadt am deutschen Rand, um im Ueckersaal des neuen Zentrums über die Zukunft der Region »Mare Balticum« zu debattieren und mit Architektur-Studenten aus Polen und Deutschland Ideen-Entwürfe für die weitere Stadtentwicklung zu produzieren. Noch diesen Herbst soll der Vertrag für ein Modellprojekt des Siemens-Konzerns unterschrieben werden, für »Xenia - die Stadt des Wissens«. Das sind ungeheure Entwicklungen für einen zusammengewürfelten Ort mit 12.000 Einwohnern, der seine Erhebung zur Stadt 1945 nur einem ehrgeizigen russischen Offizier verdankt, dem der Titel Dorf-Kommandant zu schäbig klang."

Aber wie erklärt sich der Unterschied?

"Unter den Strukturschwächen der Region leiden Ducherow wie Torgelow gleichermaßen. "Eine kleine DDR" nennt der Greifswalder Geograph Helmut Klüter Vorpommern, weil wie einst im Sozialismus die Staatswirtschaft dominiert - es fehlt schlicht an privaten Unternehmen. Allein die Ausgaben von Land und Gemeinden machen hier mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus, der höchste Anteil in Deutschland.
Vorpommern liegt seit über 50 Jahren in der Ecke. (...). Im Norden saugen die frisch aufgeputzten Ostseebäder fast jeden Touristen ab, im Osten holen sich die Polen die spärliche Kaufkraft der Einheimischen. (...) Die Ducherower fahren über 50 Kilometer bis zum nächsten Grenzübergang, um drüben billiger zu tanken. Ihr Geld lassen sie nicht bei »Pick''s raus« und im Plus-Markt, sondern bei den Textil- und Zigarettenhändlern von Lubieszyn. (...).
Ducherow liegt irgendwo zwischen den Welten: Aus der sozialistischen Vergangenheit noch nicht ganz gelöst, in der kapitalistischen Zukunft noch nicht richtig angekommen. Im Niemandsland dazwischen ist die Zeit stehengeblieben",

schreibt SCHMIDT-KLINGENBERG über das landwirtschaftlich geprägte Ducherow. Torgelow ist dagegen von der Deindustrialisierung und proletarischer Tradition geprägt:

"Auch in Torgelow gab es nach der Wende erst mal Knatsch. Zusammengebrochen war die Gießerei (...). 2.000 Menschen verloren ihre Arbeit, ein Altkader mit ungebrochenen Bonzenallüren ruinierte inzwischen den kümmerlichen Restbetrieb mit 80 Leuten.
Der neue Bürgermeister Ralf Gottschalk, ehemals Ingenieur der Gießerei und Synodaler der Evangelischen Kirche, holte den Recyclingbetrieb Irut in seine Gemeinde. Doch die Einwohner hielten das angebliche High-Tech-Projekt nicht ganz zu Unrecht für eine bessere Mülldeponie und stimmten es in der ersten Volksabstimmung der neuen Länder nieder.
Im Mai 1993 hatten 60 Prozent der Torgelower keinen Job mehr oder brachten sich nur noch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch. Mit Krediten wurde renoviert, mit Krediten wurde gebaut, aber die strahlenden weißen Mauern waren eine hohle Hülse. Immerhin, es gab noch Dietrich Lehmann. Der hatte sich schon gleich nach der Wende mit den 70 besten Technikern aus einem Kombinat selbständig gemacht, das die Treuhand später als HGS Hausgeräteservice bis an den Rand der Pleite privatisierte.
Lehmann war aus Torgelow, und in einem ökonomisch abenteuerlichen Akt von Lokalpatriotismus verlegte er die Zentrale seines schnell wachsenden Imperiums in das Städtchen. Rund 500 Menschen arbeiten inzwischen in der Gegend für ihn (...). Dennoch sind die harten Daten des Arbeitsmarktes in Torgelow - noch immer rund 30 Prozent Arbeitslose - heute nicht besser als im verschlafenen Ducherow. Anderswo wäre der Jammer groß - nicht so in Torgelow. Eine fast schon irrationale Aufbruchstimmung ist dieses Jahr über das Städtchen gekommen. Vielleicht ist es nur die Euphorie vor dem Ende, vielleicht aber ist es auch jener Schwung, der sich selbst zum Aufschwung trägt."

Und wenn es um Hoffnungen für Vorpommern geht, dann geht es um das polnische Stettin:

"Wo liegt denn Torgelow? Irgendwo im Nirgendwo zwischen dem Abgrund am Rande der ehemaligen DDR und dem zukünftigen EU-Mitglied Polen. Doch noch gibt es nur einen Fußgängerübergang in Richtung des alten pommerschen Zentrums Stettin bei einer Ortschaft namens Hintersee. Auf diese Verbindung aber setzen die Torgelower ihre Hoffnung, auf eine neue Gemeinschaft gen Osten, die für viele in der Region noch bedrohlich wirkt."

1998

SPIEGEL (1998): Von Beruf Mutti.
Nachwuchs: Seltsamer Aufschwung Ost: Im vorpommerschen Kreis Uecker-Randow werden immer mehr Minderjährige Mutter,
in: Spiegel Nr. 2 v. 05.01.

Der Spiegel entdeckt im Landkreis Uecker-Randow das Phänomen der Sozialhilfemutter, das erst in den Nuller Jahre prominent werden wird:

Teenagerschwangerschaften "häufen sich seit zwei Jahren in dem vorpommerschen Landkreis Uecker-Randow. In der 89 000 Einwohner zählenden Region im Nordosten der Republik hat sich 1997 die Zahl an minderjährigen Müttern auf 38 verdoppelt, während sie landesweit konstant geblieben ist. Acht weitere Mädchen erwarten Anfang dieses Jahres Nachwuchs. Die beiden jüngsten Mütter sind 14 Jahre. In ganz Mecklenburg-Vorpommern werden jährlich rund 130 junge Mädchen Mutter. (...).
Sozialarbeiter und Behörden haben für den seltsamen Aufschwung Ost nur eine plausible Erklärung: In Uecker-Randow treibt die Zukunftsangst viele Minderjährige in die Mutterschaft. (...).
In der DDR waren frühe Schwangerschaften und Heiraten aus materiellen Motiven gang und gäbe (...).
 Auch die neue Obrigkeit kümmert sich: Kann eine Mutter den gesetzlich garantierten Mindestbedarf für Miete und Lebensunterhalt nicht aufbringen, so sorgt das Sozialamt für ihr Auskommen. Nach der jüngsten Änderung des Abtreibungsparagraphen 218 wurde der Anspruch auf Sozialhilfe erweitert. Seit August 1996 bekommen minderjährige Mütter Sozialhilfe, unabhängig vom Einkommen der Eltern. (...).
Der Kreis, von jeher ein armer Landstrich und seit dem Zusammenbruch der DDR-Agrarwirtschaft eines der strukturschwächsten Reviere in Deutschland, verzeichnete im vergangenen November offiziell eine Arbeitslosenquote von fast 25 Prozent (Landesdurchschnitt: 21 Prozent), doch die tatsächliche Zahl liegt weit höher. Besonders betroffen sind Frauen; jede dritte hat keinen Job."

SPIEGEL (1998): Schneller Geist der Ahnen.
Eisenbahn: Die Ostsee-Insel Usedom galt einst als "Badewanne von Berlin". 1945 wurde die wichtigste Festlandverbindung gesprengt: die Karniner Brücke. Ein Verein kämpft für ihren Wiederaufbau,
in: Spiegel Nr. 23 v. 01.06.

Der Spiegel berichtet über den Konflikt um die Südanbindung der Insel Usedom, der auch 20 Jahre später noch virulent ist:

"Die demolierte Karniner Hubbrücke harrt als Baudenkmal im Peenestrom aus, ein Triumphbogen des Volkes von Usedom. Die Reichsbahn mußte die Abrißkräne abbestellen; die Brücke wurde zum Denkmal erklärt.
Die »Freunde«, (...) ein Verein, den Gemeinden, Politiker und Unternehmer der Insel fördern, verfolgen stur ihr Ziel: die Wiederbelebung der Schnellverbindung zwischen Berlin und Usedom. Rund vier Stunden braucht man heute von Berlin nach Usedom, egal ob per Bahn oder Auto. Dabei nannte man einst die malerische Insel »Badewanne von Berlin«. Laut Sommerfahrplan von 1935 erreichten die Hauptstädter sogar den Ostzipfel von Usedom, Swinemünde, so schnell wie Hamburger heute Sylt: in zwei Stunden und 36 Minuten. (...).
Die polnische Grenze durchschneidet den Osten der Insel vor Swinousjcie, dem früheren Swinemünde. Mit 50.000 Einwohnern hat die alte Kurstadt fast doppelt so viele Bürger wie alle deutschen Inselgemeinden zusammen. Die Stadtväter drängen auf die Öffnung des Schlagbaums, die ihnen die deutsch-polnische Grenzkommission bereits zugesagt hat. Ihre Bürger können aufs polnische Festland nur per Fähre, nach Deutschland nur zu Fuß.
»Wenn erst die Laster von Swinemünde-Hafen über die Insel rollen«, fürchtet auch Hans-Joachim Mohr, SPD-Bürgermeister der Grenzgemeinde Ahlbeck, »kollabiert der Verkehr.« Um das zu verhindern, unterstützt der Ort die Eisenbahnfreunde. Bis zum Krieg war Ahlbeck eines der bestbesuchten Seebäder Deutschlands - heute gilt Usedom eher als Geheimtip und manchen als Horrortrip. Jugendliche Schläger mit kahlgeschorenen Köpfen machten die Insel deutschlandweit bekannt. (...).
Rund 150 Millionen Mark würde der Wiederaufbau der alten Berliner Direktverbindung samt Brücke laut einer neuen Studie kosten - ein Drittel dessen, was offiziell prognostiziert und damit für zu teuer befunden wurde. Das hat ein finanzkräftiger Freund der Usedomer Eisenbahn (»aus dem Westen«) ausrechnen lassen von Contrack, einem auf Schienenprojekte spezialisierten hannoverschen Ingenieurbüro. Zwar fehlen von Ducherow in Vorpommern nach Heringsdorf auf Usedom auf 40 Kilometern die Gleise, weil sie 1948 als Reparationsleistung nach Rußland gingen. Aber die Grundstücke gehören noch der Bahn (...).
Usedom-Liebhaber Johannes Ludewig, Chef der DB, schließt die Wiederinbetriebnahme der Karniner Brücke »bei höherem Verkehrsaufkommen« zwar nicht aus. Vorrangiges Ziel sei aber, eine »vernünftige Bahnverbindung über Wolgast« anzubieten, so Ludewig. In Wolgast gibt es eine neue Klappbrücke, über die die Bahnreisenden jetzt noch ihre Koffer bis zur Usedomer Bäderbahn schleppen. Bald soll ein Gleis über die Brücke gelegt werden; 75 Millionen Mark investiert der Bund in die Anbindung.
»Die neue Brücke ist zu schwach für einen Fernzug«, höhnt der pensionierte Stahlbauingenieur Nadler. Nur 60 Tonnen Gesamtlast trage das Bauwerk. Die Berliner DB-Filiale habe bereits errechnet, daß nur antiquierte oder leichte Triebfahrzeuge in Frage kämen wie der RegioSprinter, der keine Kurswagen ziehen darf.
Bahnsprecher Reiner Latsch dementiert das; nur für Güterverkehr sei die Brücke nicht ausgelegt. Im übrigen prüfe die DB auch eine weitere Verbindung nach Berlin: über Stettin und Swinemünde. Schon 2000 solle aber die Direktverbindung nach Heringsdorf über Wolgast in Betrieb gehen - Fahrtzeit dreieinhalb Stunden.
Da war schon der »Strohwitwer-Expreß« eine Stunde schneller. So nannten die Usedomer früher die Schnellzüge, weil viele Berliner sie bloß nutzten, um ihre Gattinnen auf der Insel abzuliefern."

SPIEGEL (1998): Golfplatz statt Rendite.
Immobilien: Mit einem Grand Hotel und Luxusvillen will ein Investor Touristen an die Ostsee locken. Doch die Einheimischen wehren sich, und am Geld fehlt es auch,
in: Spiegel Nr. 25 v. 15.06.

"Mit vorerst 320 Millionen Mark plant Jagdfeld in Heiligendamm Ostdeutschlands größtes Tourismusprojekt, das am Ende, wenn später 150 Villen und eine Reihe von Wohnungen gebaut werden, wohl weit mehr als eine halbe Milliarde Mark verschlingen wird. Danach soll Wustrow mit 480 Millionen Mark an der Reihe sein.
Bislang jedoch ist noch kein Bagger aufgefahren. In Heiligendamm wie auf Wustrow wächst der Mißmut über den Großinvestor. Die Ostseegemeinde Rerik will den Fondsinitiator aus Aachen nicht auf Wustrow haben",

berichtet der Spiegel über die Pläne eines westdeutschen Großinvestors in Heiligendamm und auf Wustrow.

SPIEGEL (1998): Kampf ums Erbe.
Bodenreform: Zwischen 10.000 und 20.000 Familien fürchten um ihr rechtlich verbrieftes Erbe aus der DDR-Bodenreform. Die neuen Länder treiben rigoros ehemaliges Staatsland ein,
in: Spiegel Nr. 32 v. 03.08.

SPIEGEL (1998): Die neue Ostzone.
Spiegel-Serie Projekt Deutschland 2000: Absturz und Aufschwung liegen in Ostdeutschland dicht beieinander: Acht Jahre nach dem Ende der Planwirtschaft blühen immer mehr High-Tech-Oasen inmitten einer industriellen Dürrelandschaft. Der Osten muß auch weiterhin mit Geld und intelligenten Ideen gefördert werden - wie eine Sonderwirtschaftszone,
in: Spiegel Nr. 38 v. 14.09.

Der Spiegel ignoriert die Situation in Mecklenburg-Vorpommern, weil es nicht zum Aufstiegs-Bild in Ostdeutschland passt:

"Ökonomen (warnen) vor beidem: vor übertriebenem Optimismus, aber auch vor jenen Schwarzmalern, die bloß vom »Mezzogiorno« reden, Chiffre für die angebliche Verelendung des Osten. Denn entstanden ist eine Landschaft voller Kontraste: In den ländlichen Gebieten von Mecklenburg-Vorpommern oder im Brandenburgischen nahe Polen mangelt es an Altbetrieben und an Gründern. Zur gleichen Zeit entwickelt sich am Rande der Hauptstadt ein wuchtiger Speckgürtel, der den Brandenburgern 1997 mit 2,9 Prozent das höchste Wachstum aller Bundesländer bescherte."

Eine Grafik (S.41) verlegt das brandenburgische Schwedt nach Mecklenburg-Vorpommern, um wenigstens ein Vorzeige-Unternehmen in dem nördlichsten Bundesland vorweisen zu können. Nur so viel zu Fake-News beim Spiegel.

SPIEGEL (1998): Fauler Deal.
Privatisierung: Windige Investoren und ein selbstherrlicher Bürgermeister manövrieren den Rostocker Hafen in die Nähe des Ruins,
in: Spiegel Nr. 42 v. 12.10.

GLESS, Florian (1998): Gute Noten um fast jeden Preis.
Schulen: Im mecklenburgischen Torgelow spaltet ein Elite-Internat die Dorfgemeinschaft. Die Kluft verläuft nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich,
in: Spiegel Nr. 49 v. 30.11.

Florian GLESS berichtet über eine Eliteschule in Torgelow am See:

"Torgelow ist ein Schloß mit angrenzendem Dörfchen unweit von Waren an der Müritz, mitten in Mecklenburg-Vorpommern: Es gibt eine Dorfstraße, gesäumt von einfachen Landarbeiterhäusern, eine Kreuzung ohne Ampel und als Mittelpunkt des Dorflebens den »Landmarkt«. (...).
480 Menschen leben hier, die Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent - »wenn das reicht«, sagt Bürgermeister Kucklick. Vor der Wende war Torgelow eine LPG. Und nur »verschwindend gering« sei die Zahl der Arbeitsplätze, die bis heute übriggeblieben ist. Hier gab es immer nur die Landwirtschaft, erst zu Zeiten der Gutsherren, dann unter dem DDR-Regime. (...).
Seit Ende August 1994 gibt es das Internat. Nach der Wende stand das Schloß zunächst leer, mehrere Investoren hatten sich bei der Treuhand um die am Torgelower See gelegene Immobilie beworben. Ein Altenheim für Seeleute sollte entstehen oder eine Klinik für alkoholkranke Manager. Das Rennen machte aber das Edel-Internat für Kinder aus gutbetuchtem Elternhaus. (...).
Fast alle Schüler auf Schloß Torgelow sind Kinder von Unternehmern, Ärzten oder Immobilienmaklern. Ost oder West spielt keine Rolle, gut die Hälfte der Schüler kommt aus den neuen Ländern."

1999

BOTT, Hermann (1999): Kreative Lösung.
Immobilien: In Rostock steht ein Wohnblock auf Stelzen - kein Schmuckstück der Baukunst, aber als Steuersparmodell ein wahres Meisterwerk,
in: Spiegel Nr. 2 v. 11.01.

REPKE, Irina (1999): Im Osten etwas Neues.
Arbeitsmarkt: In Westpolen entstehen blühende Industrielandschaften. Auch deutsche Firmen investieren hier - und häufig folgen ihnen die eigenen Fachkräfte,
in: Spiegel Nr. 3 v. 18.01.

Irina REPKE berichtet über die Probleme der Bewohner in Vorpommern mit dem Jobboom in Polen:

"Der Boom in Polen, da ist sich Bernd Rietscher, Chef des Bildungswerkes im Unternehmensverband Neubrandenburg, ganz sicher, bedeutet auch Hoffnung für den trostlosen Arbeitsmarkt in Deutschlands östlichstem Osten. Dort hält sich die Arbeitslosenquote knapp unter 20 Prozent, über drei Viertel davon sind Hoch- und Fachschulabsolventen oder Facharbeiter. (...).
Zu den Wirtschaftswunderregionen Polens gehört auch die Hafenstadt Szczecin. Mehr als 1800 Firmen mit ausländischem Kapital siedelten sich dort an, über 1000 allein aus Deutschland. Die Arbeitslosenquote liegt hier bei 3,5 Prozent. Fünfmal höher ist der ostdeutsche Schnitt nur 50 Kilometer westwärts. Auf der Werft, dem größten Arbeitgeber Szczecins, waren 1997 bereits 10,7 Prozent der mehr als 10 500 Beschäftigten Ausländer.
Hier wäre auch Platz für deutsche Monteure, Schweißer oder Elektriker - Facharbeiter, die bei den Arbeitsämtern im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern Schlange stehen. Doch für knapp 1.000 Mark monatlich fährt kaum einer täglich durchs polnische Land. Zum Jobben mal eben rüber nach Polen - das dauert noch."

Natürlich darf bei solch einem Bericht auch die Sicht des westliche Humanexports nicht fehlen:

"Dietrich Lehmann, Chef der Torgelower ME-LE Holding, hält den raschen Ausbau der "multikulturellen Weiterbildung" im Osten für ein Muß. Seine Firma, die mit 1200 Beschäftigten im Anlagenbau und Dienstleistungsbereich über 260 Millionen Mark Jahresumsatz macht, würde sofort fünf deutsche Zweisprachler fürs Polengeschäft einstellen - wenn es denn welche gäbe."

REPKE, Irina (1999): "Irgendwas falsch gemacht".
Landflucht: Auch zehn Jahre nach der Wende leidet der Osten an dramatischem Bevölkerungsschwund. Vor allem junge Frauen laufen den Jobs hinterher - gen Westen,
in: Spiegel Nr. 14  v. 05.04.

Irina REPKE berichtet über den Bevölkerungsrückgang und Ungleichgewichte bei den Geschlechterproportionen, die durch die Abwanderung in den strukturschwachen ländlichen Gebieten wie in Mecklenburg-Vorpommern entstanden sind:

"Auch im neunten Jahr nach der Wende gingen noch immer mehr Deutsche von Ost nach West als umgekehrt. Der Trend hält an: Knapp 19 Millionen Bürger gab es bei Gründung der DDR, gut 17 Millionen beim Bau der Mauer, gut 16 Millionen Neubundesbürger am Tag der Wiedervereinigung. Seitdem wurden es wieder rund 800 000 weniger.
In den alten Bundesländern stieg dagegen die Bevölkerungszahl seit März 1989 um etwa acht Prozent. Die Prognose des Statistischen Bundesamts geht davon aus, daß die fünf neuen Bundesländer bis zum Jahr 2010 wiederum eine viertel Million Einwohner verlieren - ein Kahlschlag mit verheerenden Konsequenzen.
Es gehen nicht nur viele, sondern vor allem die Besten - diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt West Chancen ausrechnen. Deshalb seien in den neuen Bundesländern viele Folgen »auf lange Sicht irreparabel«, prophezeit Siegfried Grundmann, Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität. Zurück bleibt, wer schon im Osten über Monate keinen Job fand. (...).
Die Frauen, sagt Rosemarie Köllmann vom Arbeitslosenverband Demmin, seien geradezu »gezwungen wegzugehen«. Sie finden in der Nähe der Heimatorte noch seltener einen Job als Männer: Im Juni 1998 war in den neuen Ländern die Arbeitslosigkeit unter Frauen doppelt so hoch wie im Westen. Da aus der DDR-Tradition heraus die Mehrheit der Frauen arbeiten wolle und für die Familien das zweite Einkommen kein Luxus sei, so Köllmann, liefen die Frauen eher als Männer den Jobs hinterher. So entstand seit dem Nachwendejahr bis Anfang 1998 ein Wanderungsverlust von mehr als 430.000 Frauen im Neubundesgebiet. (...).
Jene zu DDR-Zeiten vernachlässigten, dünn besiedelten und regional unterentwickelten Gebiete im Norden und Nordosten trifft der Bevölkerungsschwund besonders hart. Eine neue Studie des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung stellt fest, daß derartig »strukturschwache ländliche Räume ohne nennenswerte Entwicklungspotentiale« wie in Mecklenburg-Vorpommern und Nordbrandenburg im Bundesgebiet einmalig sind. Trostlose Leere lähmt schon jetzt manche Gemeinde."

Der Begriff "Wüstungen" ist ein funktionales Äquivalent zum Begriff "Aussterben". Ersterer bezieht sich auf kleinräumige Gebiete, letzterer auf Deutschland. Beide Begriffe haben Konjunktur, um den demografischen Wandel zu dramatisieren. Upost gehört seit 2003 zur Gemeinde Warrenzin. Bis 2011 gehörte Upost zum Landkreis Demmin, der dann aufgeteilt wurde. Upost gehört seitdem zum Großkreis Mecklenburgische Seenplatte. REPKE schreibt zu Upost und dem Landkreis Demmin:    

"Für viele Siedlungen, prophezeit Soziologe Grundmann, »läuten schon bald die Sterbeglocken«. Dort sei auf längere Sicht mit einer »größeren Zahl von Wüstungen« zu rechnen.
In einer dieser Gegenden liegt Upost - abseits der Haupstraße nach Demmin, am Peene-Oberlauf. Mit 102 Bürgern ist es die kleinste Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern. Fast ein Drittel der Einwohner sind älter als 55. Taufen werden in Upost nur selten gefeiert. Zwei Kinder kamen vergangenes Jahr zur Welt, sieben in neun Jahren Nachwendezeit. Viel häufiger sah man sich bei Beerdigungen.
In den besten Jahren der DDR waren sie noch 177 im Ort. Den »Konsum« gab es bis kurz nach der Wende, sogar mal einen Gasthof fürs Feierabendbier - und Arbeit für alle, meist in den Genossenschaften ringsum. Schon früher zog es die Jugend fort aus dieser vorpommerschen Beschaulichkeit. Doch nun gehen auch viele, die gern in der Landwirtschaft blieben, wäre da irgendwo die Chance auf einen Job.
Der Landkreis Demmin, dem Upost angehört, hält mit 26,6 Prozent Arbeitslosigkeit den Landesrekord, die Kaufkraft liegt ein Drittel unter dem Bundesdurchschnitt. Die Einwohnerzahl (derzeit 97.000) schrumpfte allein in den letzten zwei Jahren um mehr als 1.000, bis zum Jahr 2010 wird ein weiteres Minus von 4.000 Bürgern vorhergesagt. Schon jetzt gibt es bei den 18- bis 40jährigen rund 2.200 weniger Frauen als Männer."

Klocksin, das ab 2011 ebenfalls zum Großkreis Mecklenburgische Seenplatte gehören wird, kämpft gemäß REPKE gegen das Verschwinden an:

"Rolf Janecke, 51, Bürgermeister der 473-Seelen-Gemeinde Klocksin im Müritz-Kreis kämpft seit vier Jahren darum, daß sein Dorf »nicht zu einem Gespensterort verkommt«. Gelinge die Trendwende nicht, werde es »dramatisch mit den Gemeindefinanzen«. (...).
Minuszahlen und Prognosen haben zwar Landesregierungen, Bürgermeister und Gemeinderäte im Osten aufgeschreckt - doch neue Konzepte für den dringend nötigen Strukturwandel gibt es kaum."

Die Landesregierung übt sich derweil im Optimismus. Bis 2020 will man Westniveau erreicht haben - ein Traum, der zum Platzen verurteilt ist:

»Bei solch drastischer Entwicklung gibt es kein Allheilmittel«, sagt Angela Krenz aus dem Sozialministerium in Mecklenburg-Vorpommern, da bleibe wohl nur die Hoffnung auf mehr Kinder. Weil die Zahl der Geburten im Land von 1989 bis 1994 um fast 70 Prozent sank, verloren hier mehr als 7.600 Erzieher ihren Job - im Neubundesgebiet insgesamt waren es 60.000.
Erst für das Jahr 2020 sagt Hermann Brinkmann aus dem Schweriner Ministerium für Raumordnung »"eine Angleichung an die Strukturen der westlichen Bundesländer« voraus. Neue Förder-Richtlinien sollen den Prozeß beschleunigen. Wird künftig ein Betrieb verlagert, erweitert oder rationalisiert, müssen mindestens 15 Prozent zusätzliche Dauerarbeitsplätze entstehen - sonst entfällt der Höchstsatz.
Das gilt auch für die Urlaubsgebiete an der Ostsee, wo mancherorts der Einwohnerschwund bedrohlich wird. Hier sollen jetzt mehr saisonunabhängige Arbeitsplätze geschaffen werden - um vielleicht ein paar junge Leute von ihrer Westwanderung an die Ostküsten zurückzulocken."

DAHLKAMP, Jürgen u.a. (1999): "Um Studenten kämpfen".
Zehn Jahre nach der Wende bringt das erste gesamtdeutsche Uni-Ranking des SPIEGEL eine herbe Enttäuschung für die Traditionshochschulen im Westen: Das größte Ansehen bei den Studenten genießen die kleinen Ost-Unis und die Neugründungen der vergangenen drei Jahrzehnte. Allein die Professoren glauben noch an die Qualität der Massenuniversitäten,
in: Spiegel Nr. 15 v. 12.04.

GLESS, Florian u.a. (1999): Lizenz zum Gelddrucken.
Umwelt: Findige Kaufleute haben die Entsorgung alter Reifen als lohnendes Geschäft entdeckt. Der Trick: Sie drehen den Müll unbedarften Ostlern an,
in: Spiegel Nr. 40 v. 14.10.

 Der Spiegel berichtet über illegale Altreifen-Deponien, u.a. in Lübz und Brenz. Das Geschäft dagegen ist in Rostock ansässig.

WENSIERSKI, Peter (1999): "Geht doch wieder rüber".
Einheit: Findige Kaufleute haben die Entsorgung alter Reifen als lohnendes Geschäft entdeckt. Der Trick: Sie drehen den Müll unbedarften Ostlern an,
in: Spiegel Nr. 43 v. 25.10.

Peter WENSIERSKI berichtet über "Wessis", die von den "Ossis" enttäuscht sind:

"»Ich hatte einen Riesen-Enthusiasmus, als ich 1998 nach Greifswald kam«, erinnert sich Professor Lutz Gürtler, 57, Mikrobiologe und HIV-Forscher. Nach nur einem Jahr geht er mit zwei Kollegen der medizinischen Fakultät der Universität zurück in den Westen: »Da ich jahrelang in Afrika unter besonderen Umständen gearbeitet hatte, glaubte ich damals, dass es nicht so schwierig werden würde. Aber man hat uns zu viele Knüppel in den Weg geworfen.«
Mit ihrem progressiv ausgerichteten Engagement und effizientem Handeln - so sein Eindruck - seien sie bei der Seilschaft der alten Verwaltung und deren Nostalgie-Netzwerk immer wieder aufgelaufen. Gürtler: »Die alten Chefs sind weg, die zweite und dritte Reihe hat überlebt. Sie machen so weiter wie früher. Ehe man durchblickt, wer da wo mit wem verbunden ist, ist man auch schon gestolpert.«
Die Stadt erlebte der Mediziner nicht viel anders. »Greifswald ist ohne Seele. Zwar wurde alles renoviert, aber es gibt kaum öffentliches, gesellschaftliches Leben, wenig Flair.« Die Ostalgie hemme jede Entwicklung, »das Beharren auf rückwärts gewandte Besonderheit blockiert die Menschen, die Wirtschaft, die Forschung«."

2000

BAYER, Wolfgang & Andreas WASSERMANN (2000): Pleite mit der Platte.
Immobilien: Newcomer der Immobilienbranche, darunter CDU-Prominente, witterten das große Geschäft mit Plattenbauten im Osten. Doch daraus wurde nichts. Die DDR-Relikte erweisen sich als unverkäuflich,
in: Spiegel Nr. 11 v. 13.03.

"1994 wurde mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz der rechtliche Rahmen gezogen.
Privatunternehmen konnten jetzt blockweise Plattenbauten zu Schnäppchenpreisen (ab 300 Mark pro Quadratmeter) erwerben. Für die Sanierung der einst als »Arbeiterschließfächer« verspotteten Einheitskästen gab's Steuervergünstigungen und satte Förderungen vom Staat. Die »Zwischenerwerber« mussten sich lediglich verpflichten, nach der Sanierung mindestens 40 Prozent der Wohnungen den Mietern zum Kauf anzubieten.
Doch die winkten meistens ab. Denn dank des steuerbegünstigten Neubau-Booms und der subventionierten Sanierung der maroden Altbauten entstand im Osten binnen kurzer Zeit ein gigantisches Überangebot an Wohnraum. Zwischen Anklam und Zittau stehen nach Berechnungen des Berliner Bauministeriums knapp eine Million Wohnungen leer - die meisten in Plattenbaugebieten",

berichten BAYER & WASSERMANN über die Rahmenbedingungen, die zu der heutigen Immobilienmarktsituation in Ostdeutschland führten: Dem Niedergang der Plattenhaussiedlungen und dem rasanten Neubau von Einfamilienhaussiedlungen am Rande der Großstädte.

MARTENS, Heiko u.a. (2000): Profit auf der Nebenstrecke.
Bahn und Länder suchen nach neuen Modellen für den Verkehr in der Region,
in: Spiegel Nr. 13 v. 27.03.

Der Spiegel berichtet über lukrative Nebenstrecken, die privatisiert werden sollen:

"Schwerins Wirtschaftsminister Rolf Eggert (betrachtet) die Pläne der Bahn mit Skepsis. Seit 1996 hätten in Mecklenburg-Vorpommern 35 Prozent mehr Menschen den Schienennahverkehr genutzt. »Deshalb überraschen uns Überlegungen«, so Eggert, »über Streckennetze zu sprechen, die entweder schon saniert worden sind oder in die gerade investiert wird.«
Als Beispiel nennt Eggert die Strecke Wismar- Rostock-Tessin. Auf dem sanierten Teilstück zwischen Rostock und Tessin, das von der Bahntochter DB Regio betrieben wird, sei sogar ein zusätzlicher Zug eingesetzt worden, weil die Strecke im Berufsverkehr stark genutzt werde.
Das Land habe sich kürzlich mit der Bahn geeinigt, so Eggert, dass nur 20 Prozent der Strecken für neue Betreiber ausgeschrieben werden. Der Minister befürchtet, dass die DB Regio aus dem Geschäft gedrängt werden könnte - sie ist einer der größten Arbeitgeber in Mecklenburg-Vorpommern."

BORNHÖFT, Petra (2000): "Nüscht als Bruchbuden".
Wohnungsbau: In Ostdeutschland stehen eine Million Wohnungen leer. Plattenbauviertel verkommen zu Ghettos, Vandalen zerstören verwaiste Altbauten. Jetzt wollen Kommunale Gesellschaften zehntausende Wohnungen abreißen,
in: Spiegel Nr. 18 v. 01.05.

Der Spiegel hat inzwischen den Trend raus aus den Plattenbauten, hin zu Neubauvierteln entdeckt:

"Der Trend ins Grüne hat den Osten ergriffen. Während in den Zentren ganze Viertel verrotten, wuchern die Städte über ihre Ränder hinaus. Aus Leipzig sind 50.000 Einwohner ins Umland abgewandert. Ähnlich ist es im Norden: Seit der Wende verlor Rostock 30.000 seiner 909.000 Einwohner. Die amtlichen Planer können gegen diese Stadtflucht wenig tun.
»Wir konnten gar nicht so schnell gucken, wie die Nachfrage nach neuen Wohnungen sich entwickelte«, resigniert der langjährige Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD).
Die Bundesregierung hat mehrere Jahre Fördermittel in den Neubau gesteckt. Bis 1998 hat die Sonderabschreibung Ost gewirkt - das sei wie eine »staatliche Abwanderungsprämie« aus der Stadt an den Stadtrand gewesen, meint der Leipziger Dezernent für Planung und Bau, Engelbert Lütke Daldrup. Die Abschreibung Ost ist oft unkontrolliert gewährt worden, die Wohnungsgesellschaften stecken jetzt auch deswegen in Kalamitäten."

PLÖTZL, Norbert F. (2000): Dinge unter der Decke.
Tourismus: Rechtsradikale demolieren das Image von Mecklenburg-Vorpommern. Nun fürchten Politiker, dass der Fremdenverkehr, der einzige bedeutsame Wirtschaftsfaktor des Landes, Schaden nimmt,
in: Spiegel Nr. 24 v. 12.06.

"Jede ökonomische Erfolgsmeldung wird im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern gleich zum statistischen Superlativ hochgejubelt: Bei der »Fremdenverkehrsintensität«, der Zahl der Übernachtungen je 1000 Einwohner, lag der Nordoststaat vergangenes Jahr »auf Platz 1 unter allen Bundesländern«, frohlockte der Schweriner Regierungschef Harald Ringstorff (SPD).
Mit einem Plus von 17,6 Prozent auf 15,6 Millionen Übernachtungen verzeichnete die Region zwischen Ostsee und Mecklenburgischer Seenplatte die höchste Zuwachsrate im Ländervergleich. Jetzt gelte es, mahnte der Ministerpräsident, die »Spitzenposition zu halten und möglichst den Vorsprung in diesem Jahr noch auszubauen«.
Gefährdet scheint die hoffnungsvolle Zielvorgabe durch einen anderen Spitzenplatz, der das Land fortwährend bundesweit in die Schlagzeilen bringt: Bei Gewalttaten rechter Schläger liegt Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls ganz vorn. Nicht weniger als 53 Übergriffe von Skinheads und Neonazis wurden voriges Jahr in der dünn besiedelten Provinz (rund 1,8 Millionen Einwohner auf 23.170 Quadratkilometern) registriert. (...).
Um die Urlauber an der Ostseeküste und an den Binnenseen vor Schlägern und Pöblern zu schützen, stellt Mecklenburg-Vorpommern seit einigen Jahren jeweils in den Sommermonaten eine 220 Mann starke »Bäderpolizei« auf: Beamte der Bereitschaftspolizei unterstützen die Ortspolizisten bei ihren Streifengängen. (...).
Aber die Wachleute können nicht überall sein. Weder Eggesin noch Lassan gehören zu den besonders gesicherten Urlauberzentren",

berichtet Norbert F. PLÖTZL. Eine Grafik zeigt einerseits die touristischen Zentren (Boltenhagen, Kühlungsborn, Heiligendamm, Graal-Müritz, Ahrenshoop, Prerow, Binz, Göhren, Heringsdorf, Ahlbeck, Krakower See, Plauer See und Müritz) und andererseits die Orte jüngster rechtsextremistischer Gewalttaten (Rostock, Greifswald, Lassan und Eggesin).

SPIEGEL-Titelgeschichte: Expeditionen in ein unbekanntes Land.
Schröders Reise durch die neuen Bundesländer

BRINKBÄUMER, Klaus (2000): Ort der Täter, Ort der Opfer.
Das pommersche Eggesin steht für rechte Gewalt im Osten,
in: Spiegel Nr. 34 v. 21.08.

"Eggesin ist eine Stadt der Glatzen seit der Nacht vom 21. zum 22. August 1999, einer Nacht (...) als Skinheads zwei Vietnamesen fast totschlugen. Seitdem steht der Ort in Vorpommern als Fanal neben Mölln oder Eberswalde. (...).
Eggesin lebte früher von der NVA und lebt heute von der Bundeswehr; Soldaten grauste und graust es vor jener Betonwüste kurz vor der polnischen Grenze, die sie die Stadt der drei Meere nennen: Sandmeer, Kiefernmeer, gar nichts mehr. (...).
Es gibt die Rechten, Aldi, zwei Tankstellen und sonst nicht mehr viel in Eggesin. Von ehedem 8.000 Einwohnern sind noch knapp 7.000 da, und 25 Prozent sind arbeitslos. Selbst diese Zahl ist geschönt, da Umschulungen nicht in die Statistik fallen", beschreibt Klaus BRINKBÄUMER das Image der Stadt.

 
     
 
       
   

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Update: 24. Februar 2020