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Die Entscheidung Hartz-IV-Empfängerin zu
werden
Selber Schuld! lautet das
Diktum des Rezensenten Jan FÜCHTJOHANN in der SZ. Dies
ist die Kurzform der Individualisierungsthese, die dem
Individualisierungsoptimismus verpflichtet ist. Die Einengung
durch gesellschaftliche Restriktionen wäre im Extremfall die
Zwangsindividualisierung: Du hast keine Chance, nutze sie! Als
Akademikerin, die u. a. Soziologie studiert hat, kennt KULLMANN
diese Zuschreibungsmechanismen, die gleichzeitig Ansprüche
bedeuten. Deshalb ist der Hartz-IV-Bezug in Akademikerkreisen
besonders erklärungsbedürftig. KULLMANN betritt hier keineswegs
Neuland, sondern kennt das mediale Umfeld zum Thema genau. Dies
beweist das Literaturverzeichnis, und mehr noch das, was nicht
darin aufgeführt ist. Als erfolgreiche Aufsteigerin, die sie
spätestens seit ihrem Bestseller Generation Ally ist,
musste KULLMANN zudem eine außerordentliche Sensibilität für
Situationen und das Zielmilieu entwickeln. Es ist zum Beispiel
kein Zufall, dass gerade der französische Soziologe Pierre
BOURDIEU über die feinen Unterschiede geschrieben hat.
Denn wer könnte das besser als ein erfolgreicher Aufsteiger?
Strategisch handelnder Sozialstaatsbürger passt deshalb
genau auf den Umgang von KULLMANN mit Hartz-IV.
Zwischen Barbour-Jackenträgern, Gegenkultur und
Herkunftsmilieu
Erfolgreiche Aufsteiger
müssen sich in anderen Milieus als ihrem Herkunftsmilieu
behaupten. Es ist von Vorteil, wenn man diese von Kindesbeinen
an studieren kann. Was Barbour-Jackenträger sind, das wussten die
meisten Menschen erst 1995 durch Christian KRACHTs Roman
Faserland
oder gar erst durch Generation Golf von
Florian ILLIES
. Bei KULLMANN, die im Vordertaunus aufgewachsen
ist, stehen die Barbour-Jackenträger für das Großbürgertum,
während sie selber aus kleinbürgerlichen Kreisen kommt. Während
des Aufstiegs lernen die Erfolgreichen schnell, dass es hilft
sein Herkunftsmilieu mit den Augen der Anderen zu betrachten.
Echtleben
"Pures
Anwohnerglück ermöglichte mir eine durch und durch bourgeoise
Schulerziehung. Erst viel später wurde ich mir dieses
Schicksalsgeschenks bewusst: Dass ich gemeinsam mit echten,
originalen Babour-Jacken-Jugendlichen aufwachsen und sie
ein wenig studieren konnte."
(2011, S.132)
"Lustigerweise sah ich mich
den nicht arbeitenden Barbour-Jacken damals, in der Schulzeit,
tendenziell überlegen.
»Ihr wisst doch gar nichts von
der Welt«, dachte ich (...). Es war nicht so, dass ich die
Barbour-Jacken »hasste«. Meine engste Schulfreundin trug eine,
der Unternehmensberater-T. fing natürlich auch irgendwann damit
an, und beide habe ich bis heute ziemlich gern, auch wenn die
Berührungspunkte spürbar weniger werden, über die Zeit. Doch
hielt ich die Mehrheit der wohlhabenderen Söhne und Töchter für
weitgehend lebensuntüchtig und war sicher, dass sie in der
Zukunft, wie ich sie mir vorstellte, nicht allzu viel würden zu
melden haben. Vermutlich auch aus diesem Grund habe ich
überwiegend Einsen geschrieben. Mein Kapital für den Aufstieg
hieß eben nicht D-Mark, sondern Bildung.
An der Universität lernte ich später, dass ebenjene »Aufsteiger-Mentalität«,
insbesondere der latente Neid auf Reiche als »kleinbürgerlich«
einzuordnen ist (...). Ebendies hat man mir über mich selbst
beigebracht - es leuchtete mir ein - ich nahm es an - baute es
in meine Hausarbeiten und Klausuren ein - schrieb damit noch
mehr Einsen - und war der festen Überzeugung, mich mit jedem
Sternchen ein paar Meter weiter von zu Hause zu entfernen."
(2011, S.134f.)
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Was auffällig ist:
KULLMANN fühlt sich zum einen der "Gegenkultur" zum anderen der
Sozialdemokratie verbunden, ganz und gar nicht dazu passen will
jedoch ihr Denk- und Lebensstil, der eher geprägt ist durch
die 1990er-Stadtmagazin/Lifestyle-Zeit. Dazu passt, dass sie während
des Studiums im Einzimmerapartment statt in einer WG wohnt. In
der Weimarer Republik hätte man sich KULLMANN als ein typisches
Single-Girl mit Sekretärinnenjob und Träumen vom Ausbruch aus
dieser Angestelltenwelt als Schriftstellerin vorstellen können. Denn die 1920er
Jahre mit ihren Vorstellungen von der "neuen Frau" waren, was die
Single-Existenz von Frauen betrifft, durchaus vergleichbar mit
den Vorstellungen der 1990er Jahren zur Single-Gesellschaft:
Eher Mythos als Realität.
Flinke Finger und ein freundliches Lächeln. Die "neue"
Frau der zwanziger Jahre in Beruf und Familie
"Ehepaare,
die in den frühen zwanziger heirateten, bekamen durchschnittlich
noch 2,27 Kinder, während aus den zum Ende der Weimarer Republik
geschlossenen Ehen lediglich 1,98 Kinder hervorgingen. (...). In
den Ehen von Buchhaltern, Korrespondenten und Kalkulatoren kamen
durchschnittlich 1,34 Kinder zur Welt (...).
Zur gleichen Zeit stieg (...) die Anzahl der Haushalte im
Gebietsstand von 1910 um fast 20 % an. (...). Bei den
Angestelltenfamilien waren sogar ein Viertel der Haushalte
kinderlos".
(Ellen Lorentz, Zeitschrift Widersprüche, März 1987, H.22,
S.18)
Hagestolz und alte Jungfer
"Die mondäne,
selbständige und selbstbewußte, ihr eigenes Geld verdienende,
sportlich aktive, zigaretterauchende, charlestontanzende,
bubikopftragende und motorisierte
»Neue Frau«, die in zahlreichen
zeitgenössischen Gemälden, auf Plakaten und in der Reklame
porträtiert wurde und das klischeehafte Bild dieser vermeintlich
so neuerungs- und vergnügungssüchtigen Dekade in unseren Köpfen
prägt, ist vor allem ein Geschöpf der neuen pulsierenden
Metropole Berlin und, wie so manche Erscheinung im Gefolge der »Neuen
Sachlichkeit«, eine weitgehende Übernahme amerikanischer Trends.
Doch die allbekannten Bilder täuschen über die
Lebenswirklichkeit der »Goldenen 20er Jahre« hinweg. Zwar
beeinflußten diese Impulse die Vorstellungswelt der jungen
Generation, doch die Änderung des äußeren Frauenbildes bewirkte
keineswegs eine Revolutionierung der Frauenrolle; dazu steckten
Geldentwertung, Massenarbeitslosigkeit, zu geringe Kaufkraft der
Massen, Finanzschwäche des Bürgertums und Verarmung großer Teile
des Kleinbürgertums der Nacheiferung des neuen Frauentypus (...)
zu enge Grenzen."
(Katrin Baumgarten 1997, S.210f.) |
Als KULLMANNs
Zeit als Hartz-IV-Empfängerin endet und sie einen gutdotierten
Job bei einer Frauenzeitschrift erhält, zieht sie von Berlin
nach Hamburg in ein angesagtes Szeneviertel um. Die Beschreibung
dieses Sachverhaltes gibt einen guten Eindruck von der Art und
Weise wie KULLMANN sich inszeniert.
Echtleben
"Der
Stadtteil, in dem ich nun wohne, ist ein fiebriger Herd der
Gentrifizierung oder Yuppiesierung, und ich selbst bin
unweigerlich Teil dieses Prozesses. Ich bin hier in Hamburg
dasselbe wie in Berlin die Porno-Hippie-Schwaben. Nur weil es
Leute wie mich gibt, die die Mischung aus authentischem
Arbeiterflair, internationaler Imbiss-Küche, kultureller
Vielfalt, kurzen Wegen und dekorativen Hausfassaden mögen,
steigen in Vierteln wie meinem ungebremst die Mieten."
(2011,
S.240)
Im Moment lebe ich als meine
eigene Feindin. Ich übe einen Job aus, der meinen
berufsethischen Grundsätzen in Vielem widerspricht, ich drehe
funktional an genau den Schrauben, die mich einst als Freie
selbst in die Knie zwangen, und ich wohne meine Nachbarschaft in
den sicheren Yuppiesierungs-Tod. Dennoch wünsche ich mir, dass
es für eine Weile einfach mal so bleibt, wie es jetzt gerade
ist. Bis ich wieder bestimme, wie es weitergeht."
(2011, S.244)
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In der
Optimierungsfalle?
Im Jahr 2010 erschien das
Buch
Die Perfektionierer. Warum der Optimierungswahn uns
schadet - und wer wirklich davon profitiert. Der Autor Klaus
WERLE, ein Generationsgenosse von KULLMANN und als Redakteur
des Manager-Magazins für das Thema Karriere zuständig,
beschreibt darin den Umschlag der Individualisierung von der
Befreiung zum neuen Zwang der Optimierung.
Die Perfektionierer
"Im schlimmsten Fall
führt die Angst vor dem Scheitern in der
Hyperindividualisierung zu einem
»Kult der Nicht-Entscheidung«, wie der Historiker Paul
Nolte kritisiert. Eine gefährliche Folge des
Perfektionsstrebens".
(2010, S.25)
"Der
Wettbewerbsindividualismus verschärft sich in Zeiten
wirtschaftlicher Flauten eher noch. (...).
»Les trentes glorieuses«, die drei glorreichen
Nachkriegsjahrzehnte, in denen Westeuropa zugleich eine
wohlhabendere und gerechtere Gesellschaft wurde, sind wohl
unwiderruflich vorbei. Die Verteilungskämpfe werden
heftiger werden, der perfektionistische Imperativ wurde
von breiten Schichten der Bevölkerung, insbesondere der
unter Druck geratenen Mittelklasse internalisiert, weil er
- vermeintlich - strategische oder taktische Vorteile in
diesen Kämpfen verspricht."
(2010, S.228)
"Derweil profitieren
viele andere von unseren Optimierungsbemühungen: die
Ratgeberbranche etwa, private Bildungsanbieter, die
Lifestyle-Industrie, die Wirtschaft insgesamt. Dies
allerdings auch nur kurzfristig, denn die Konsequenzen -
Verlust von Kreativität, Abschottungstendenzen, Intoleranz
- treffen Wirtschaft und Gesellschaft auf lange Sicht
genauso hart."
(2010, S.230) |
WERLE ist alles andere als
ein Systemkritiker, sondern es geht ihm um die Optimierung des
Wirtschaftssystems, oder anders gesagt: Individualisierung wird
als wirtschaftliches Zukunftsproblem betrachtet
("Hyperindividualisierung" führt zur Vermeidung von
Entscheidungen, Risikoscheu, Kreativitätsverlust und Intoleranz). Im Buch steht jedoch nicht das
Profitinteresse der Wirtschaft im Vordergrund, sondern die
These, dass die Optimierungsstrategie der
Arbeitskraftunternehmer auch
für sie selber suboptimal ist. Das Buch verknüpft die
Individualisierungsthese von Ulrich BECK, die ja nichts anderes
als die Affirmation des Neoliberalismus ist, mit den Positionen
der Positiven Psychologie. Es ist letztlich ein
Karriere-Ratgeber, der im Gewande eines Anti-Ratgebers
daherkommt. Nichtsdestotrotz ist er nützlich, um das Umfeld zu
erhellen, in dem sich Katja KULLMANN bewegt.
Die Perfektionierer
"Als das Buch
Risikogesellschaft 1986 erschien, war die
Individualisierung vor allem durch das Wohlstandsniveau
getrieben. Heute, im Zeitalter freier Märkte, globaler
Arbeitsmöglichkeiten und des Internet, hat Becks These von
der zunehmenden Unsicherheit noch an Bedeutung gewonnen.
Das Subjektive hat sich von der sozialen Lage entkoppelt.
Es muss immer wieder neu definiert, mit anderen verglichen
und gegebenenfalls optimiert werden. Chancen und Risiken
liegen jenseits von
»Stand und Klasse« (Beck)."
(2010, S.24) |
Als 1986 das Buch
Risikogesellschaft von Ulrich BECK erschien, beschrieb es
das Lebensgefühl derjenigen, die man heutzutage als neue Mitte
bezeichnet. Im Übergang von der 68er-Generation zur
Nach-68er-Generation hat sich jedoch seit den 1990er Jahren
der Charakter des Individualisierungsprozesses gewandelt. Mit
der gesellschaftlichen Ausweitung des individualisierten
Akademikermilieus veränderte sich die gesellschaftliche Chancen- und
Risikostruktur: auf der einen Seite die Kinder der Akademiker
und auf der anderen Seite die Aufsteiger mit Hochschulabschluss
aus Elternhäusern ohne Akademikerhintergrund
. Ulrich BECKs
Thesen sind keineswegs allgemeingültige Thesen, sondern
thematisieren einzig und allein die Sichtweisen und die Probleme
des Akademikermilieus. Ein Aspekt, der von WEHRLE ignoriert
wird. Deutschland sucht den Superstar-Sternchen sind
lediglich eine Variante des altbekannten "vom Tellerwäscher zum Millionär"-Mythos.
Die Zwänge, die auf einen Single wie KULLMANN einwirken, der
sich dem neoliberalen Diktat unterwirft, beschreibt BECK 1986
prägnant.
Risikogesellschaft
"Die Grundfigur
der durchgesetzten Moderne ist - zu Ende gedacht - der oder die
Alleinstehende (L. Gravenhorst)
(...).
In dem Leben, das - bei aller sozialen Orientierung und Vielfalt
- im Kern allein geführt werden soll bzw. muß, sind Vorkehrungen
erforderlich, die diese Art der Lebensführung gegen die in sie
eingebauten Gefährdungen absichern. Kontaktkreise müssen
aufgebaut und gepflegt werden für die verschiedensten
Gelegenheiten. Dies erfordert viel Bereitschaft auf der eigenen
Seite, die Lasten der anderen mitzutragen. Eine Intensivierung
des Freundschaftsnetzes bleibt unverzichtbar und ist auch der
Genuß, den das Single-Dasein bietet. Gerade auch die
ausgesuchten Flüchtigkeiten haben ihre Reize. Alles dies setzt
eine möglichst sichere Berufsposition voraus - als
Einnahmequelle und als Selbstbestätigung und Sozialerfahrung -,
die entsprechend gepflegt und behauptet werden muß. Der so
entstehende
»Kosmos des eigenen Lebens«
wird auf das Zentrum des Ich, seine Verletzlichkeiten,
Möglichkeiten, Stärken und Schwächen hin zugeschnitten und
ausbalanciert." (1986, S.199) |
KULLMANN hat diese
neoliberale Ideologie der Individualisierung internalisiert und
folgt ihr konsequent in die Pleite. Denn während BECK 1986 das
Gelingen der Single-Existenz als Normalfall ansieht und deshalb
die vollmobile Singlegesellschaft als Gefahr an die Wand malt,
sieht die Sachlage heutzutage ganz anders aus.
Soziales Netzwerk statt Airbag-Eltern
BECK sieht in
Freundschaften, neudeutsch: sozialen Netzwerken, das
unverzichtbare Rückgrat für eine erfolgreiche Single-Existenz.
WERLE schreibt, dass Freundschaften erst in den 1990er Jahren
ins öffentliche Bewusstsein traten.
Die Perfektionierer
"Erst seit den Neunzigern,
als Ulrich Beck den zur Wahlfreiheit verdammten Inszenator des
eigenen Lebenslaufs entdeckte und die volle Individualisierung
in einer an traditionellen Bindungen immer ärmeren Gesellschaft
ausrief (...), hat die Freundschaft Konjunktur im öffentlichen
Bewusstsein. Die Individualisierung führt den Horror vor dem
Alleinsein im Schlepptau; der Zeitgeist fordert Freundschaften
als Beweise für Beliebtheit und Erfolg."
(2010, S.176) |
Im Gegensatz zur
Behauptung von WERLE hat BECK "den zur Wahlfreiheit verdammten
Inszenator des Lebenslaufs" nicht erst in den 1990er Jahren
entdeckt, sondern bereits 1986. Aber erst in den 1990er Jahren
war die Zeit reif für die breitenwirksame Rezeption der
BECKschen Individualisierungsthesen
. Einerseits sollte
der Sozialstaat massiv umgebaut werden und andererseits wurde
erst in den 1990er Jahren die alleinlebende Karrierefrau zur
Symbolfigur der vergreisenden Gesellschaft
. In der
Krise erscheint KULLMANN die Aufrechterhaltung des sozialen
Netzwerks als vorrangige Aufgabe im Kampf um den Statuserhalt,
dafür hungert sie notfalls sogar.
Echtleben
"Aufs
Ausgehen und Leutetreffen wollte ich auf keinen Fall verzichten.
Das ist bekanntermaßen einer der schlimmsten Effekte von
Geldknappheit: die soziale Verarmung. Wäre ich zu Hause hocken
geblieben, hätte ich vielleicht doch mit dem Trinken angefangen
oder mit einer anderen Art der Selbstsabotage. Also sparte ich
am Einzigen, was mir vorübergehend disponibel erschien. Ich
trank Leitungswasser und lernte die vielfältigen Möglichkeiten
kennen, die ein Laib Toastbrot bietet. (...). Man kann eine
gesalzene Tomate dazu essen, später ein Stück Käse, dann noch
einen Apfel, schon ist der Tag herum, und man hat, zusammen mit
dem, was man an den vorigen drei Tagen nicht verfressen hat, am
Abend 30 oder 35 Euro zur Verfügung, um die alten Bekannten
wiederzusehen und sich zu benehmen, als wäre nichts. Keine
Hungerattacke ist so schlimm wie die Sorge, nicht mehr
dazuzugehören."
(2011, S.184)
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Als urbane Penner
beschrieb Mercedes BUNZ im Jahr 2006 jene Neu-Erwachsenen, die
sich ihre Existenz in der Berliner Kreativwirtschaft von den
Eltern finanzieren lassen
. KULLMANN
beschreibt diese Form der Überbrückung finanzieller Engpässe
bzw. Aufstockung der Working Poor-Verdienste in einem eigenen
Kapitel. Andere können dagegen über das elterliche Erbe
zurückgreifen, um ihren Lebensstil aufrechtzuerhalten. Dafür hat
sich der Begriff "Erbengeneration" eingebürgert.
Echtleben
"Nicht
alle, die sich an den elterlichen Airbag anlehnen, verprassen
ziellos ihr Geld (...). Viele sind darauf angewiesen, um
überhaupt über die Runden zu kommen. Sie entscheiden sich, wenn
ihnen nur mehr die Wahl zwischen »Eltern anpumpen« und »Antrag
stellen« bleibt, aus verständlichen Gründen für Ersteres.
Verständlich auch, dass es ein großes Tabu ist, über die
elterlichen Finanzspritzen zu sprechen. Vor allem angesichts der
Tatsache, dass andere vielleicht niemanden zum Anpumpen haben."
(2011, S.92f.)
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Im Gegensatz zu diesem
sozialen Umfeld, entscheidet sich KULLMANN bei der Wahl zwischen
"Eltern anpumpen" und "Antrag stellen" für Letzteres. Das ist
für sie erwachsenes Verhalten. Und sie behält den Gang zum Amt
vor ihrem sozialen Umfeld geheim, wozu ihr eine Freundin in der
gleichen Lage rät.
Echtleben
"Auch
hätte ich versuchen können, meine Eltern anzupumpen. Doch
erlaubte ich mir das nicht. Ein unbestimmtes Gefühl - erst
später fiel mir ein, wie es heißt - hielt mich davon ab. Ich war
erwachsen, ein kreatives Individuum, ich würde jetzt ja wohl auf
eine Idee kommen, nicht wahr?"
(2011, S.156)
"»Es gibt nur zwei Regeln«, sagte sie »Erstens: Du wirst die
Sache für dich behalten. Zweitens: Du wirst niemandem davon
erzählten«
»Ja, das hatte ich erst einmal vor. Wobei ... der Familie
Bescheid sagen?«
»So spät wie möglich. Warte erst einmal ab, vielleicht bist du
schneller wieder raus, als du denkst, du kannst deinen Eltern
vielleicht viel Kummer ersparen, und dir selbst auch.«"
(2011, S.181.)
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BECK würde im Verhalten
KULLMANNs jedoch einen Beleg für die gestiegene
Institutionenabhängigkeit der Single-Existenz sehen, die unter
dem Spardiktat als
gesellschaftliches Problem angesehen wird. Volker STORK hat in
seinem Buch Die "Zweite Moderne" - ein Markenartikel?
2001 jene zynischen Implikationen des BECKschen
Freitheitsbegriffs vorweg genommen, die dann ein paar Jahre
später zum Grundstein eines neuen Sozialstaatsverständnis - im
Sinne der Verfechter des neuen Bürgertums mit ihrem Ideal des
Arbeitskraftunternehmers bzw. des unternehmerischen Selbst -
werden sollte.
Die "Zweite Moderne" - ein Markenartikel?
"Sein
Freiheitsbegriff gründet auf allseitiger Unsicherheit und
Vereinzelung. Für ihn beginnt Freiheit, wenn der Arbeitsplatz
unsicher ist, sich zwischen den Einkommen eine Schere auftut,
sozialstaatliche Sicherung von individueller Vorsorge abgelöst
wird, die kollektiven Organisationen ohnmächtig sind. Für die
Herstellung eines derart atomisierten Individuums müssen in
letzter Konsequenz alle Institutionen des Sozialstaates (...)
entweder abgeschafft oder entmachtet werden. (...). Der
vereinzelte Einzelne und nur er soll für sein gesellschaftliches
Schicksal verantwortlich sein."
(2001, S.176)
Die Perfektionierer
"Individualisierung (...)
wurzelt im Wertewandel der sechziger und siebziger Jahre, der
Selbstentfaltung und Selbstbestimmung zu neuen
gesellschaftlichen Leitbildern erhob. Die wirtschaftliche
Globalisierung, der wachsende Konkurrenzdruck sowie der Umbau
des Sozialstaats wandelten die neuen Chancen um in Pflichten:
Das Individuum ist in viel stärkerem Maße verantwortlich für
Erfolg oder Scheitern".
(2010, S.229) |
Soloselbständige wie Katja
KULLMANN gehören mittlerweile als Aufstocker zu einer großen
Gruppe der Hartz-IV-Empfänger in Deutschland. Auf der
Prestigeskala der Hartz-IV-Empfänger stehen sie ganz oben. Mit
ihrer Einstellung gehört KULLMANN zu denjenigen Menschen, die
WERLE zu den Satisficern im Gegensatz zu den Optimierern zählen
würde.
Die Perfektionierer "Der Satisficer (...) hat
eine klare Vorstellung davon, welche Option ihn zufriedenstellt.
(...) Er weiß, was er will. Viele, vielleicht die meisten
Menschen wissen das nicht oder haben nur eine vage Vorstellung.
Sie orientieren sich an ihrer Ausbildung oder an der Anerkennung
anderer. Was sie dagegen im Überfluss haben, ist Angst vor
falschen Entscheidungen. Oder präziser formuliert: Angst davor,
nicht das Optimale herauszuholen. Die Optimierungsstrategie
bietet da scheinbar Hilfe, denn (..) sie (ist) in erster Linie
eine Fehlervermeidungsstrategie."
(2010, S.241)
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Während WERLE jedoch
Satisficer als Erfolgstypus beschreibt, zeigt der Fall KULLMANN,
dass Satisficern andere Gefahren drohen. Was nutzt es, die
eigenen Fähigkeiten zu kennen und Spaß an Tätigkeiten zu haben (Flow
im Sinne der Positiven Psychologie bzw. altmodisch: intrinsische
Motivation), wenn diese auf dem Arbeitsmarkt nicht nachgefragt
bzw. honoriert werden? Stattdessen gibt es bei WERLE Ratschläge
aus der Banalitätenecke, auf die ein Satz von KULLMANN exakt
passt: "Sie werden es zum Psycho-Problem umdeuten".
Die Perfektionierer
"Die meisten Menschen neigen
dazu, vor allem ihre Makel zu sehen und die Ursachen für ein
Scheitern bei sich zu suchen. Ganz so, wie es das beschriebene
Leitbild vom aktiven Selbstunternehmer fordert, der für sein
Leben allein verantwortlich ist
[mehr].
Dagegen weiß die Psychologie längst, dass Erfolg sehr viel mit
Selbstwahrnehmung zu tun hat: Erfolgreiche Menschen schreiben
positive Ergebnisse ihrem Können zu, Niederlagen halten sie für
Pech. Eine ziemlich schlichte Strategie nach dem Motto:
»Alle doof außer ich«. Und doch überaus effektiv."
(2010, S.239)
"Zugegeben: Es mag nicht
immer leicht sein herauszufinden, worin man wirklich gut ist:
Auch gibt es dafür kein Patentrezept, jeder muss das selbst
erforschen. Sich etwa fragen, für welche Dinge er besonders viel
Lob erhält, bei welchen Tätigkeiten die Zeit wie im Flug vergeht
oder ob es Aufgaben gibt, die ihm selbstverständlich und leicht
von der Hand gehen, während andere damit überfordert sind und
ihn um Hilfe bitten. Sind die Stärken allerdings gefunden,
lassen sie sich beinahe jederzeit kultivieren, auch im Alltag."
(2010, S.244)
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WERLE behauptet, dass sich
aus der Zugehörigkeit zur Mittelschicht und der
Hyperindividualisierung zwangsläufig ein Optimierungszwang
ergibt, der letztendlich suboptimal für den Einzelnen sei.
Die Perfektionierer
"Die
Mehrheit der Menschen in Deutschland fühlt sich noch immer zur
gesellschaftlichen Mitte zugehörig, in einer Position also, die
von der Angst vor dem Abstieg ebenso beherrscht wird wie von der
Hoffnung auf den Aufstieg [mehr]. In ihrer Kombination bilden die
beiden Möglichkeiten den Treibstoff für das grassierende Streben
nach Optimierung.
Richtig in Fahrt konnte der Drang nach Perfektion allerdings nur
aufnehmen, weil ihn noch ein weiterer Faktor befeuerte: die
drastische Differenzierung und Individualisierung nicht nur der
Gesellschaft als Ganzen, sondern vor allem innerhalb einzelner
Schichten".
(2010, S. 23)
"Die Individualisierung, der
Megatrend der westlichen Nationen, hat etwas von ihrem
befreienden Charakter eingebüßt, und das quer durch die
Gesellschaft: Aus dem Hang zur Optimierung ist oft ein Zwang
geworden. Und der kann dazu führen, dass die Ziele, die der
Einzelne mit seiner Optimierung erreichen wollte, in weite Ferne
rücken."
(2010, S.199)
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Lediglich ein paar
oberschlaue Satisficer haben erkannt, dass es Alternativen gibt.
Land auf Land ab schallt es jedoch aus allen Medien, dass der
Perfektionsdrang und die Kehrseite der Entscheidungsvermeidung
die deutsche Krankheit sei. Man kann die Sache aber auch ganz
anders betrachten: als gesellschaftliches Problem, das aus
widersprüchlichen Anforderungen und gesellschaftlichen
Zuschreibungen resultiert. Darauf verweist die Umkehr des
Sozialstaatsverständnisse und die Zuschreibung von Verantwortung
für Situationen, in denen andere Faktoren die Ursache sind.
Die
Perfektionierer
"»Fördern
und Fordern«, mehr Eigenleistung, »aktivierende« Sozialarbeit:
Hinter den Schlagworten steht nicht weniger als die Umkehrung
des Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisses von Staat
und Individuum. Nicht mehr die Allgemeinheit fühlt sich für das
Wohl des Einzelnen verantwortlich - im Gegenteil schuldet dieser
ihr Initiative und Engagement. Jeder ist seines Glückes Schmid -
gleich, ob er das Eisen mittels Castingshow, eines
Einser-Examens oder einer genialen Geschäftsidee schmiedet."
(2010, S.25)
"Krisen erhöhen eher noch den
Drang zur Maximierung des persönlichen Potenzials, weil sie den
Einzelnen stärker zwingen, sich ständig zu beweisen - und sich
im Negativfall für sein Scheitern zu rechtfertigen.
»Der kollektive Druck, der Einzigartigkeit jedes Einzelnen
Ausdruck geben zu müssen, hat [...] das Ausmaß entschieden
erhöht, in dem Akteure persönliche Verantwortung für ihr
soziales Schicksal zugeschrieben bekommen«, schreibt der
Soziologe Sighard Neckel."
(2010, S.198)
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KULLMANN beschreibt in
ihrem Buch Echtleben diese andere Sichtweise jenseits des
Wertehorizonts des neuen Bürgertums mit seinen Sprachrohren von
Paul NOLTE bis Heinz BUDE.
Fazit: Gefahr erkannt heißt noch lange nicht
Gefahr gebannt
Echtleben
hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Katja KULLMANN zeigt das
Gefahrenpotential für eine neoliberale Single-Existenz mit Hang
zum Hipstertum auf. Die aufscheinende Kritik an den
gesellschaftlichen Verhältnissen wirkt dagegen seltsam
unentschieden und folgenlos. Widrige Umstände hätten leicht dazu
führen können, dass KULLMANN tiefer in eine existenzielle Krise
hineingeschlittert wäre. Echtleben kann man als eine exemplarische
Aufsteigerinnengeschichte mit großer Fallhöhe lesen, die in
weniger drastischer Form typisch
sein mag für einen Teil der Generation Golf. Deren weiterer Verlauf
wird davon geprägt sein, wie sich die
Berliner Republik weiter entwickelt. Als erfolgreich, einsam,
kinderlos kennzeichnete Susanne GASCHKE die Karrierefrauen
ihrer Generation im Jahr 2005
. Und nicht wenige
Familienfundamentalisten wünschen sich
eine düstere Zukunft für die karriereorientierten Singlefrauen dieser
Republik. In dem gerade erschienenen Buch
Einsame Spitze?
setzt sich deshalb Bettina WÜNDRICH mit dieser negativen Sicht
auseinander. Wenn KULLMANN - wie sie selber sagt - ein Vorbild sein
möchte, dann dürften die nächsten Jahrzehnte eine große
Herausforderung werden, die es zu meistern gilt.
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