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Kommentierte Bibliografie (Teil 4: 2017 -
heute)
2017
EUL, Alexandra (2017): Warum Frauen keinen abkriegen,
in:
Neon, Januar
Alexandra EUL kritisiert
die Thesen, die von Mainstreamzeitungen und insbesondere vom
Spiegel zur Generation Beziehungsunfähig in
Umlauf gebracht wurden (vgl.
"Die Sehnsuchenden", Spiegel 22.10.2016) . Den
Tenor solcher Trendgeschichte fasst EUL folgendermaßen
zusammen:
"Alleinstehende Männer
sind frei und haben Potenzial. Alleinstehende Frauen sind
einsam und haben ein Problem."
EUL hat eine Verschiebung
der Debatte um alte Jungfern festgestellt: Es gehe nicht
mehr um das "dating down" als Lösung, sondern im Mittelpunkt
stehe nun die Diagnose "Beziehungsunfähigkeit". Fünf Gründe
für das Single-Dasein von Frauen Mitte dreißig, nennt uns
EUL, die ihrer Meinung nach die Debatte prägen:
1) Die Singlefrauen sind
zu alt, um einen Partner zu finden
2) Die Singlefrauen haben zu hohe Ansprüche an einen
potenziellen Partner
3) Singlefrauen sind zu karrierefixiert, um einen Partner zu
finden
4) Bei den Singlefrauen tickt die biologische Uhr, weshalb
sie mit ihrer Kinderwunschpanik jeden potenziellen Partner
in die Flucht schlagen
5) Singlefrauen sind zu intelligent, um von potenziellen
Partnern gemocht zu werden
An diesen fünf Klischees
arbeitet sich EUL nach und nach ab. Die Expertenmeinungen zu
den ersten zwei Punkten kontert EUL mit
Haushaltsstatistiken, die Paare nur unzulänglich erfassen.
Es geht dabei um den Altersunterschied und die
Bildungshomogenität von zusammenwirtschaftenden Paaren.
Punkt drei kontert EUL mit SOEP-Daten, die der Soziologe Jan
ECKHARD interpretiert hat. Die zunehmende Partnerlosigkeit
von Singlefrauen wird auf deren ökonomische Unabhängigkeit
zurückgeführt, was EUL als Fortschritt betrachtet.
Bei den letzten beiden
Punkten gehen EUL dann die Statistikdaten aus und sie
kontert Meinungen mit Gegenmeinungen:
"Bevor ich mit einem
Psycho ein Kind kriege, verbringe ich den Rest meines
Lebens lieber mit meinen Freundinnen und Freunden",
zitiert sie eine Freundin
zum Thema tickende biologische Uhr. Auch zu fünftens
begegnet EUL dem Partnerschaftszwang mit der Wahlfamilie und
dem gehobenen Lebensstil, den sich Karrierefrauen leisten
können.
GLAS, Andreas (2017): Das letzte Solo.
Weil ihre Familien zerbrochen sind,
werden immer mehr Menschen ohne Begleitung und auf Kosten der Kommunen
beerdigt,
in: Süddeutsche
Zeitung
v. 07.01.
Andreas
GLAS berichtet von einem Fallbeispiel aus Passau, das den
Trend zur Armenbestattung (Amtsdeutsch: Amtsbestattung)
illustriert:
"Günther (...), geboren
am 30. August 1946, gestorben am 3. Dezember 2016, in
einer Pflegefamilie aufgewachsen, ledig, katholisch, keine
Kinder, keine Verwandten."
Der einsame Tod ist ein
Lieblingssujet des Mainstreamjournalismus, repräsentativ ist
das nicht unbedingt. Erstens fehlen meist Zahlen und
zweitens sind sie meist unvollständig. Das jedenfalls zeigen
die
Ergebnisse des Soziologen Janosch SCHOBIN.
"Allein in München gab
es im Jahr 2015 insgesamt 591 Amtsbestattungen, 2005 waren
es nur 322. In Passau (...) gab es im Jahr 2012 acht
Amtsbestattungen, 2013 waren es elf, ein Jahr später schon
zwölf und 2015 bereits 17 Fälle",
suggeriert GLAS eine
steigende Tendenz. Der Soziologe SCHOBIN sieht im genannten
Fall keinen typischen Fall, der sei eher ein geschiedener
Mann, dessen Kinder mit ihrem Vater aus unterschiedlichen
Gründen nichts zu tun haben wollen. Hinzu kommt, dass die
Bestattungsordnung nicht auf moderne Formen der Wahlfamilie
eingerichtet sei. Medienberichte setzen dagegen lieber auf
Spektakuläres:
"Die Menschen, mit
denen er zu tun hat, haben ihre letzten Lebensjahre einsam
im Altenheim verbracht, manche lagen Tage oder Wochen in
ihrer Wohnung, bis die Nachbarn den Leichgeruch im
Treppenhaus zu eklig fanden und die Polizei riefen."
Das Problem ist jedoch
offenkundig nicht groß genug, denn sonst gäbe es
Statistiken, die Auskunft geben könnten. Nicht einmal in
jeder Großstadt sind Amtsbestattungen ein Fall für die
Statistik und wenn, dann sind sie unvollständig, sodass
Ursachenforschung nicht möglich ist und der Spekulation Tür
und Tor geöffnet sind. Die Gesetzeslage erschwert zudem
durch landestypische Gesetze Vergleiche, indem sie
unterschiedliche Rahmenbedingungen setzt, die ebenfalls
Einfluss auf die Zahl der Amtsbestattungen hat:
"Für die Kommune
bleiben nach dem Tod eines Menschen 96 Stunden Zeit, um
beispielsweise über das Geburtenregister Angehörige zu
ermitteln, dann muss der Verstorbene laut Gesetzt beerdigt
sein (...). Im Bayerischen Bestattungsgesetz ist das
Prozedere genau geregelt, auch wer zahlen muss: Ehegatte,
Kind, Elternteil, Großelternteil, Enkel, Schwester oder
Bruder, Nicht oder Neffe, Stiefkind. Lässt sich aber
niemand finden, dann springen die Kommunen ein."
Dieser Fall tritt auch
deshalb immer öfters ein, weil die Suche durch die
Anforderungen der Wirtschaft und den Zwang zu Mobilität, der
zur Verbreitung von multilokalen Mehr-Generationenfamilien
geführt hat, eine erfolgreiche Suche nach Angehörigen
erschwert. Außerdem zeigt das Bayerische Bestattungsgesetz,
dass z.B. Freunde darin gar nicht als Akteure vorkommen.
BRECH, Sarah Maria & Fanny JIMÉNEZ
(2017): Du, du, nur du allein.
Gesellschaft: Singles sind einsam,
traurig und krank. Davon sind ihre besten Freunde noch immer
überzeugt. Nur: Es stimmt nicht. Neue Studien zeigen, dass Frauen
immer glücklicher werden, je länger sie allein leben,
in:
Welt am Sonntag kompakt
v. 15.01.
Wenn Fakten nicht mehr heilig sind,
bewirbt die Springer Presse den Medienkongress 2017. Leider sind der
WamS kompakt die Fakten längst nicht mehr heilig. Vor allem,
wenn es um so genannte Singles geht, werden uns besonders gerne
Lügenmärchen erzählt.
"DePaulo gilt als eine der
weltweit bedeutendsten Experten mit mehr als 100
Veröffentlichungen zu diesem Thema. In den USA ist die Zahl der
Singles in den vergangenen Jahrzehnten rasant angestiegen, hat sie
herausgefunden. Waren es 1970 noch 28 Prozent, gaben 2014 schon 45
Prozent an, keinen Partner zu haben",
behaupten BRECH & JIMÉNEZ. Die
Zahlen sind zum einen dreist abgeschrieben aus der amerikanischen
Zeitschrift New York Magazine.
Dort heißt es:
"In 1970, there were 38 million
single people in the U.S., and they made up just 28 percent of the
population. In 2014, there were 107 million and they comprised 45
percent of the population."
(The New Science of Single People von Jesse Singal)
Aus "single people" machten die
Autorinnen "partnerlos". Der Begriff Single wird im Amerikanischen
jedoch genauso wie im Deutschen in vielen Varianten benutzt. Die
Zahlen hat nicht etwa Bella DePAULO herausgefunden, wie uns die
Journalistinnen weismachen wollen, sondern sie stammen vom
US-amerikanischen Statistikamt.
Auf deren Website heißt es nämlich:
"107 million
Number of unmarried people in America 18 and older in 2014. This
group made up 45 percent of all U.S. residents 18 and older.
Source: America’s Families and Living Arrangements: 2014, Table
A1"
Der Begriff "unmarried" steht
nicht für partnerlos, sondern für unverheiratet. Dies zeigt, dass
Journalisten auch in den selbst ernannten Qualitätszeitungen Fakten
nicht heilig sind. Oder warum wird aus dem Familienstand
unverheiratet die Partnerlosigkeit, obwohl beides ganz
unterschiedliche Lebensformen darstellen?
"In Deutschland ist der Trend
ähnlich. Dem Soziologen Jan Eckhard zufolge ist die Zahl der
Singles in den vergangenen 20 Jahren um 50 Prozent gestiegen. 1993
gaben 23 Prozent an, partnerlos zu sein, 2014 waren es 35
Prozent",
heißt es bei BRECH & JIMÉNEZ.
Auch das ist dreist abgeschrieben, diesmal bei der Spiegel-Titelgeschichte
im Oktober.
Dort heißt es:
"Nach Auswertungen des
Heidelberger Soziologen Jan Eckhard ist die Zahl der Singles in
den vergangenen 20 Jahren um 50 Prozent gestiegen. Waren 1993 noch
23 Prozent der Deutschen ohne festen Partner, gaben 2014 35
Prozent der Befragten an, in keiner festen Beziehung zu leben.
Eckhards Quelle ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), die
größte sozialwissenschaftliche Langzeitstudie in Deutschland."
Weder ist die Altersgruppe
unmissverständlich angegeben, weil kurz zuvor im Spiegel-Bericht
noch von 25-35-Jährigen gesprochen wird, noch geht eindeutig
hervor, ob es um partnerlose Deutsche oder um Partnerlose in
Deutschland geht - beides wäre möglich und nicht dasselbe (mehr auch
hier). Der SOEP
kann zumindest Partnerlose von Paaren unterscheiden im Gegensatz zu
vielen anderen Forschungsdesigns.
Nimmt man wissenschaftliche
Aufsätze von Jan ECKHARD zur Hand, dann wird dort von Bindungsquoten
gesprochen, weil es hier nicht um dauerhafte Partnerlosigkeit,
sondern um die Dauerhaftigkeit von Partnerschaften geht. Außerdem
werden vom SOEP nur Partnerschaften erfasst, die länger als ein Jahr
dauern, d.h. es ist eine Frage der Definition inwiefern vom Anstieg
der Partnerlosigkeit gesprochen werden kann. Veränderungen gibt es
in erster Linie bei der Beziehungsstabilität.
"SOEP und Familiensurvey, die
kurzfristige Beziehungen unter-erfassen, zeigen übereinstimmend
einen Anstieg der Partnerlosigkeit in Deutschland seit Beginn der
1990er Jahre. So dokumentiert das SOEP für die deutsche Bevölkerung
zwischen 18 und 60 Jahren ein Absinken der allgemeinen Bindungsquote
von 82 Prozent im Jahr 1993 auf 75 Prozent im Jahr 2009 (Eckhard
2015: 50)"
(2016, S.82),
schreiben Jan ECKHARD und Thomas
KLEIN in ihrem Aufsatz
Partnerlosigkeit in Deutschland und im internationalen Vergleich aus
dem Jahr 2016. Die Autoren betrachten jedoch nur den
Zeitraum 1993 - 2009 und kommen hier für die 18- bis 60-Jährigen der
deutschen Bevölkerung auf eine Zunahme der Partnerlosigkeit
(definiert als Bindungslosigkeitsquote) von 18 auf 25 Prozent. Die
Frage nach der Zunahme der Partnerlosigkeit ist in erster Linie eine
Normative, wie die Autoren nach einem Vergleich verschiedener
Datensätze zeigen:
"Im Ergebnis erfordert die Frage
nach der Entwicklung der Partnerlosigkeit eine differenzierte
Antwort: Versteht man unter Partnerbindung das Vorhandensein einer
gewissen Stabilität der Paarbeziehung, dann ist eindeutig ein
Rückgang der Partnerbindung und somit ein Anstieg der
Partnerlosigkeit zu konstatieren. Geht man hingegen von einer
Definition aus, die unter Partnerbindung auch sehr kurze
Beziehungserfahrungen und instabile Verhältnisse subsumiert, so ist
von einer weitgehenden Konstanz der Bindungs- bzw.
Partnerlosigkeitsquoten zu sprechen."
(2016, S.382)
BRECH & JIMÉNEZ suggerieren
uns aber sogar einen Trend, der darauf basiert, dass die USA uns
Deutschen immer einen Schritt voraus sind, aber sie vergleichen
Äpfel (Unverheiratetsein) mit Birnen (Partnerlosigkeit). Denn wenn
man die Zahl der Unverheirateten nimmt, was die Journalistinnen ja
für die USA getan haben, dann ist Deutschland den USA weit voraus,
denn bei uns sind nicht nur 45 % der Bevölkerung unverheiratet,
sondern 2014 waren es nach dem Statistischen Jahrbuch 2016
fast 56 % (vgl. Tabelle 2.1.12, S.33). Die kulturellen Unterschiede
werden von den Journalistinnen also beim Single-Dasein ausgeblendet,
weshalb sich die Befunde von DePAULO keineswegs einfach auf
Deutschland übertragen lassen. Bei uns ist das Unverheiratetsein
wesentlich unproblematischer als in den USA, dagegen fokussiert sich
die Stigmatisierung in Deutschland auf die Dimensionen
Partnerlosigkeit und Kinderlosigkeit.
Der Artikel ist auch ansonsten
wenig aussagekräftig, da von Singles gesprochen wird, ohne dass klar
wird, wer jeweils gemeint ist: Unverheiratete, Alleinlebende, Paare
ohne gemeinsamen Haushalt oder Partnerlose. Dies sind verschiedene
Lebensformen, deren Leben sich durchaus ganz unterschiedlich
gestalten kann.
"Weil ein genauerer Blick auf
Singles überfällig war, stieg Bella DePaulo tief ein in die 19.582
Studien zu Partnerschaften und 501 Studien zu Singles, die sie für
den Zeitraum zwischen 2000 und 2015 fand. 814 davon blieben übrig,
die sie sinnvoll auswerten konnte: (...).
Je genauer die Wissenschaftlerin aber hinsah, desto mehr
grundsätzliche methodische Fehler entdeckte sie. Da wurden zum
Beispiel regelmäßig 20-Jährige Singles und 40-jährige Geschiedene
zusammen in eine Gruppe gesteckt und mit den verheirateten Paaren
verglichen. So rechnete man die gescheiterten Paare aus der
Paarstatistik heraus und schob sie den Singles zu",
schreiben die Journalistinnen,
als ob das uns Lesern einen Erkenntnisgewinn bringen würde. Offenbar
wissen die Journalistinnen nicht, über was sie schreiben. Ihr
einziges Fallbeispiel ist eine alleinwohnende 57-jährige Frau, die
als Heilpraktikerin in einer Großstadt mit ca. 300.000 Einwohnern
lebt und deren letzte Partnerschaft vor 11 Jahren endete. Ist diese
Frau überhaupt repräsentativ für Partnerlosigkeit in Deutschland
oder soll sie nur ein - gar nicht so neues Stereotyp bestätigen?
Soziologen sehen das Problem der Partnerlosigkeit in erster Linie
bei jungen Männern. Auch Witwen und weniger Witwer haben (noch)
großen Anteil an der Partnerlosigkeit in Deutschland. Die kinder-
und partnerlose Karrierefrau ist zwar in den Medien sehr präsent,
weil dort diese Spezies auch weit verbreitet ist -
gesamtgesellschaftlich spielt sie dagegen eher keine große Rolle.
"Es gab so gut wie keine
Studien, die Singles im Zentrum ihres Interesses stellten. Meist
waren sie nur zu einem Zweck interessant: Als Kontrollgruppe, als
Folie, gegen die man die Paarbeziehungen stellen konnte",
schreiben BRECH & JIMÉNEZ. Das
vernachlässigt die Tatsache, dass Singlestudien meist politisch
motiviert sind - insbesondere in Deutschland bevölkerungs- und
sozialpolitisch. Ihr Negativimage rührt in erster Linie daher, dass
sie als Sündenbock herhalten müssen. Ihnen wird die Schuld an der
Wohnungsnot, dem
Aussterben der Deutschen, den Umweltproblemen usw.
zugeschrieben. Da der Singlebegriff so dehnbar ist, wurde schon von
Single-Gesellschaft gesprochen, andererseits sind Singles immer
die anderen.
BRIGITTE-Dossier: Ich bin einsam.
Mal allein sein, gilt in unserer
lärmenden Gesellschaft mittlerweile als Luxus. Sich einsam zu
fühlen ist dagegen ein größeres Tabu als jemals zuvor. Dabei kann
es jeden irgendwann mal im Leben treffen
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NIEMANN, Sonja
(2017): Niemand da.
Einsamkeit lässt sich leicht
kaschieren, denn sie hat viele Gesichter. Daher erkennt man sie
nicht immer sofort. Manchmal noch nicht mal bei sich selbst,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
Sonja NIEMANN erklärt uns den Unterschied zwischen Einsamkeit und
Alleinsein. Während die Soziologie der Gemeinschaft noch vom
Alleinleben direkt auf die soziale Isolation schloss, führte die
Psychologie der Gesellschaft zu einer Ausdifferenzierung in die
objektive Tatsache des
Alleinseins und das subjektive Gefühl der Einsamkeit. In der
Therapiegesellschaft wurde Einsamkeit zum Problem jedes Einzelnen,
das er notfalls unter zur Hilfenahme einer Psychotherapie lösen
muss, um seine Funktionsfähigkeit in unserer mobilen und flexiblen
Gesellschaft des neuen Kapitalismus wiederherzustellen.
"Die größte Gruppe unter den
schwer Einsamen waren (...) nicht die Rentner, sondern
diejenigen, die die Studie als »Workaholics« klassifizierte",
schreibt NIEMANN, was auch den
Stellenwert von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft zeigt. Dass
Umzüge neuerdings in den Medien vermehrt als Einsamkeitsproblem
thematisiert werden, zeigt auch den zentralen Stellenwert der
Mobilität. In der Hartz-Gesellschaft werden nicht nur Aufstiegsorientierte,
sondern auch jene, die vom Abstieg bedroht sind, zur Mobilität
gezwungen, obwohl ihre Ressourcenausstattung ungleich schlechter ist
(vgl. Nadia & Daniel LOIS, "»Living apart together« - eine
dauerhafte Alternative?", soziale Welt H.2/2012). Während die
Psychologie für die Therapierbarkeit der Einsamkeit steht, führen
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu, dass die "Auslöser"
von Einsamkeit immer zahlreicher werden. Gute Zeiten für das
Geschäftsfeld Psychologie! Oder wie es bei NIEMANN heißt:
"Es liegt an uns. Und das ist
die gute Nachricht."
Ob das schlechte Zeiten für
alle jene sind, die an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
etwas ändern möchten statt nur die Symptome zu kurieren? Auch das
liegt an uns!
ARNDT, Stephanie (2017): "Meine Hoffnung und meine Zukunft - alles
war kaputt".
Als Silvia, heute 52, sich vor 14
Jahren scheiden ließ, wusste sie nicht, dass dies auch die Trennung
von ihren Kindern bedeuten würde. Sie hat sich bis heute nicht davon
erholt. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
WIEBE, Silia (2017): "Was wisst ihr schon von meinem Leben?"
Nike, 34, hatte schon als Kind
das Gefühl nicht wirklich dazuzugehören. Und das konnte ihr bis
jetzt keiner nehmen. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
ARNDT, Stephanie (2017): "Er ließ mich emotional verhungern".
Ruth, 68, wollte nach dem Tod
ihres Mannes nicht allein leben. Sie fand einen neuen Partner und
blieb mit ihm zusammen - obwohl sie sich nie so einsam fühlte wie an
seiner Seite. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
WERKMEISTER, Meike
(2017): "Auch diesen Ort, diese Freunde, werden wir wieder
verlassen".
Eva Baker, 40, ist als
Angestellte des Goethe-Instituts in den vergangenen zehn Jahren
fünfmal umgezogen. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und ihrer
fünfjährigen Tochter in Australien. Und jedes Mal bedeutet es einen
Neuanfang. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
NIEMANN, Sonja
(2017): "Jeder ist selbst für seine Einsamkeit verantwortlich".
Ja, es gibt oft äußere Auslöser.
Ja, man muss das erst mal verarbeiten. Aber dann sind wir dran,
etwas zu ändern, sagt die Psychologin Dr. Eva Wlodarek. Und sie weiß
auch, wie,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.
Eva WOLDAREK verkündet uns das
neue Ethos der Einsamkeit unseres neoliberalen Zeitalters.
Die Psychotherapie ist erst in unserer individualisierten
Gesellschaft zum Massenphänomen geworden. Sie ist ein Kind der
Bildungsexpansion.
MÜLLENDER, Bernd
(2017): Mitten unter uns.
Reportage: Die Stadt Aachen
veranstaltet Trauerfeiern für vereinsamt Verstorbene: ohne Familie,
ohne Angehörige, manche auch ohne Freunde - aber mit einem letzten
Würdevollen Gedenken,
in:
TAZ v. 03.05.
"Die Stadt Aachen gibt
133 Menschen mit einer öffentlichen Gedenkfeier samt
ökumenischem Gottesdienst ein letzter, würdiger Abschied.
Es sind die Verstorbenen der vergangenen zwölf Monaten,
bei denen keine Angehörige ermittelt werden oder niemand
für die Bestattung aufkommen konnte. (...).
Nicht viele Städte händeln das Sterben der Vereinsamten
wie Aachen. Krefeld macht es ähnlich, auch Leipzig, Köln
oder Osnabrück. Viele andere Gemeinden bestatten weiterhin
gedenkenlos",
berichtet Bernd MÜLLENDER
über die so genannten Amtsbestattungen, die zu einem
Kostenfaktor für die Kommunen geworden sind:
"Etwa 2.500 Euro
aufwärts kostet die Stadt eine »Bestattung von Amts
wegen«. Bei 133 Verstorbenen macht das an die 350.000 Euro
pro Jahr. »Und die Fälle«, sagt Elke Wartmann vom
Ordnungsamt, »nehmen gut zu. In den vergangenen vier
Jahren, seit wir das so machen, mehr als 50 Prozent«. Die
Gründe? »Naheliegend«, meint sie, »immer mehr Familien
gehen auseinander, man lebt in der ganzen Welt verstreut,
dazu die wachsende Altersarmut. Und insgesamt steigt die
Vereinsamung ganz offensichtlich erheblich«",
zitiert MÜLLENDER eine
Behördenmitarbeiterin.
Der Soziologe Janosch SCHOBIN hat sich wissenschaftlich mit
dem Phänomen der Armenbestattungen beschäftigt. Demnach
existiert keine für Deutschland aussagekräftige Statistik
über die Entwicklung solcher Bestattungen. Auch über die
Gründe für die Zunahme kann bislang nur spekuliert werden,
weil über die Verstorbenen kaum mehr als ihr Alter und
Geschlecht bekannt ist.
"133 im Jahr klingt
nicht viel für eine Viertelmillionenstadt wie Aachen,
indes betrifft das schon jeden 18. aller pro Jahr
Verstorbenen. In Köln ist es schon jeder 12, in Berlin
jeder 9. Das sind in der Hauptstadt pro Tag fast 10
vereinsamt Verstorbene",
berichtet MÜLLENDER. Aber
was sagt das aus? Arme sterben früher, d.h. wir haben es
hier oftmals schon mit den Babyboomern zu tun - meist sind
es zudem Männer. Inwiefern also Steigerungsraten von 50
Prozent einen realistischen Trend beschreiben, ist mehr als
fraglich. Dazu müsste ein größerer Zeitraum beobachtet und
repräsentative Stichproben erhoben werden. Nichts davon ist
derzeit der Fall, sodass es sich hier lediglich um
Spekulationen handelt. Reißerische Berichterstattung
verstellt eher den Blick auf die Realität.
COULMAS, Florian (2017): Versuchsstation
des Weltuntergangs.
Japan wird immer älter -
und geht uns voran in eine Zukunft der Roboter und der
Einsamkeit,
in:
Neue Zürcher Zeitung
v. 22.09.
RÖTZER, Florian (2017): Viele alte Menschen sind chronisch einsam.
Eine britische Organisation spricht
von einer "Einsamkeitsepidemie", die mit der älter werdenden
Gesellschaft schnell zunehme,
in:
Telepolis v. 23.09.
"51 Prozent der Menschen über 75
Jahre leben allein",
schreibt Florian RÖTZER. In einer
PR-Information der Organisation Campaign to End Loneliness steht
dagegen:
"Over half (51%) of all people aged
75 and over live alone (Office for National Statistics 2010. General
Lifestyle Survey 2008)"
Die Zahlen, die uns RÖTZER nennt,
sind also bereits ein Jahrzehnt alt. In der Veröffentlichung
Families and households in the UK: 2016 des Office of National
Statistics vom November 2016 ist die Entwicklung der Alleinlebenden in
Großbritannien zwischen 1996 und 2016 ersichtlich (vgl. 2016,
Schaubild 6, Seite 11):
Es zeigt sich, dass das Alleinleben
im Alter von 75 Jahren und älter zwischen 2008 und 2016 nicht
zugenommen hat, obwohl doch die Bevölkerung altert. Das hohe Alter ist
nicht männlich wie im mittleren Lebensalter, sondern weiblich. Frauen
besitzen in der Regel mehr Kontakte als Männer.
Zudem ist Einsamkeit nicht identisch mit dem Alleinhaushalten.
Heimbewohner, die von Einsamkeit betroffen sind, fallen aus dieser
Haushaltsstatistik heraus, was von RÖTZER nicht erwähnt wird, obwohl
gerade dort die Einsamkeit verbreiteter sein könnte. Mit der Zunahme
von modernen Altenpflegeeinrichtungen (Betreutes Wohnen) verändert
sich zudem auch das Alleinhaushalten im Alter. Auch dieser Aspekt
kommt in dem Artikel nicht vor.
Nicht die Verbesserung des Lebens
im Alter steht im Mittelpunkt, sondern die Kostenersparnis, was von
RÖTZER dem neoliberalen Zeitgeist zugeschrieben wird:
"Da es mittlerweile zum Usus
gehört, stets auf die ökonomischen Folgen hinzuweisen und mit
Kostenersparnissen für Veränderungen zu werben, fehlt dies auch hier
nicht. Die Organisation hat eine Studie bei Wissenschaftler der London
School of Economics (LSE) in Auftrag gegeben, nach der sich die
Investition in die Bekämpfung der Einsamkeit rentieren würde.
Für jedes Pfund, das man in wirksame Maßnahmen zur Reduzierung oder
Prävention von Einsamkeit investiert, würden 3 Pfund gespart. Pro
Person im Alter von über 65 Jahren, die sehr einsam ist, würden die
gesellschaftlichen und medizinischen Kosten in zehn Jahren 6000 Pfund
betragen. Die Menschen suchen beispielsweise häufig einen Arzt auf,
nur um mit jemanden sprechen zu können. Die Studie untersucht im
wesentlichen die ökonomischen Faktoren unterschiedlicher Maßnahmen."
Es sagt mehr über unsere
Gesellschaft aus, dass Verbesserungen nur dann durchsetzbar
erscheinen, wenn sie mit Kostenersparnissen verbunden sind. Eine
solche Ideologie sorgt dafür, dass Verbesserungen, die nicht als
Kostenersparnis deklariert werden können, gar nicht erst in Angriff
genommen werden.
Fazit: Man tut den älteren
Alleinlebenden keinen Gefallen, wenn man mit Schwarz-Weiß-Begriffen
wie "Einsamkeitsepidemie" hantiert. Das macht Angst und Angst ist
bekanntlich der schlechteste aller Ratgeber! Dann steht am Ende nicht
Handeln, sondern Ohnmacht und Apathie.
LIPPENS, Jan (2017): Kein
Sex ist auch keine Lösung.
Sehnsüchte: Seitdem unser
Autor über seine verheerenden Dating-Erlebnisse als
60-Jähriger geschrieben hat, teilen viele ihre Erfahrungen mit
ihm. Einsichten in die Einsamkeit,
in:
TAZ v. 30.09.
SCHAAF, Julia (2017): Ein nahezu
perfektes Verbrechen.
Das ist der Albtraum der alternden
Gesellschaft: Ein einsamer 80-Jähriger wird erschossen, zehn Jahre
liegt seine Leiche in einer Tiefkühltruhe, der Mörder bezieht die
Rente - und keiner merkt etwas. Oder vielleicht doch?
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.11.
"Diese beunruhigende
Geschichte, in der es darum geht, dass alte Menschen in
der Anonymität der Großstadt so einsam sind, dass sie
Opfer eines nahezu perfekten Verbrechens werden können,
handelt von drei Männern und einer Frau.
Der erste Mann ist der Rentner Heinz N., der schon zu
DDR-Zeiten in der Zweizimmerwohnung mit der großen Küche
an der Hosemannstraße lebte, dort wo Prenzlauer Berg
Richtung Weißensee ausfranst und so viel ärmlicher und
trostloser wirkt als der Rest des Kiezes. Nachbarn
bescheinigen Heinz N. »eine angenehme Art«, aber weit dem
Tod seiner Frau muss der Mann weitgehend allein gewesen
sein: keine Kinder, keine Verwandten. Kontakte zu
ehemaligen Arbeitskollegen waren längst eingeschlafen",
erzählt uns Julia SCHAAF
in ihrer Gerichtsreportage, in der es um einen Mörder geht,
der sich die Rente von rund 2.000 Euro erschlichen hat - und
möglicherweise auch die 900 Euro Rente einer seit 2000
verschwundenen Frau.
"Wie kann es sein, dass
weder der Hausarzt noch die Krankenkasse nachfragen, wenn
ein betagter Mann auf einmal keinerlei medizinische
Behandlung mehr braucht? Warum zahlt die
Rentenversicherung stoisch weiter? Was ist mit den
Nachbarn?"
Ein Nachbar, der lange
vergeblich auf ungewöhnliche Umstände aufmerksam machte,
wird als "Verschwörungstheoretiker", der "Hartz IV bezieht"
beschrieben. Die Hausverwaltung reagierte jedenfalls nicht
auf seine "Besessenheit".
Hätte die Deutsche
Rentenversicherung aufmerksam werden müssen? Diese Frage
treibt die Medien schon seit Jahren um. Ob
in
Japan angeblich Tausende Renten von Toten bezogen wurden
oder
in Spanien solche Einzelfälle aufgedeckt wurden. Der
Artikel endet mit beruhigenden Aussagen der DRV:
"Die Deutsche
Rentenversicherung bleibt gelassen. Der elektronische
Sterbedatenabgleich zwischen Standesämtern, Meldebehörden
und der Rentenkasse funktioniere vorzüglich; falls der
jährliche Anpassungsbescheid mit der Post zurückkomme,
hake man eben nach. Die früher üblichen
»Lebensbescheinigungen« müssen nur noch Rentner im Ausland
einreichen. Angesichts von mehr als 25 Millionen
Rentenzahlungen im Monat sagte ein Behördensprecher: »Nach
unseren Erkenntnissen kommt es äußerst selten vor, dass
Menschen jahrlang tot in ihrer Wohnung lieben und Rente
beziehen.« Und er ergänzt: »Wenn ein solcher Fall bekannt
wird, fordern wir die unrechtmäßigen Rentenzahlungen im
Sinne der Versichertengemeinschaft selbstverständlich
zurück.«"
LEE, Felix (2017): 22.860.000.000 Euro gegen die Einsamkeit.
Mit Konsumrabatten wollte
der chinesische Internetgigant Alibaba ursprünglich die vielen
Singles im Land am 11.11. über ihr Alleinsein hinwegtrösten.
Inzwischen hat sich dieser Tag zum größten Verkaufstag der
Menschheitsgeschichte entwickelt,
in:
TAZ v. 13.11.
FRIMMER,
Valentin (2017): Wenn Einsamkeit krank macht.
Mehr als jeder zehnte
Deutsche leidet unter dem Gefühl des Alleinseins. Das kann
schwere Folgen für die Gesundheit haben,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 22.12.
US-amerikanische Christliche
Fundamentalistinnen erklären uns immer noch, dass Alleinwirtschaften
("Einpersonenhaushalt"), soziale Isolation und Einsamkeit mehr oder
weniger dasselbe wäre. Dabei bezeichnen die drei Begriffe völlig
Unterschiedliches. Wer einen Einpersonenhaushalt führt, der muss weder alleinwohnen, noch
muss er partnerlos sein. Nur unfreiwillige Partnerlosigkeit bzw.
Beziehungslosigkeit über längere Zeiträume ist mit sozialer Isolation
(soziologischer Begriff) bzw. Einsamkeit (psychologischer Begriff) gleichzusetzen und
krankmachend.
2018
PILTZ,
Christopher (2018):
Ohne mich!
Eltern, Partner, Freunde:
Ständig haben andere Erwartungen an uns. Passen wir kurz nicht
auf, gleicht unsere Freizeit einem Terminmarathon. Wie wir es
schaffen, die Kontrolle über die Momente zurückzugewinnen, die
eigentlich nur einem gehören sollten: uns selbst,
in:
Neon, Januar
WÄHLER, Martin (2018): Der letzte Weg.
Armenbegräbnis: Von
Behörden beauftragte Beerdigungen werden mehr - ein Zeichen
für Vereinsamung und wachsende Armut. Wie läuft so etwas ab?
Ein Besuch in Düsseldorf,
in:
Freitag Nr.1 v.
04.01.
Armenbestattungen sind
erst in den letzten Jahren überhaupt ein Thema geworden,
nachdem bereits seit
den 1990er Jahren in der Sensationspresse das einsame
Sterben als Problem der Single-Gesellschaft beschworen wurde.
Der Düsseldorfer Fall, den Martin WÄHLER schildert, passt
jedoch nicht ganz ins typische Schema. Weder lag der
"Vereinsamte" monate- oder gar jahrelang in seiner Wohnung,
sondern wurde relativ schnell gefunden, weil es eine
"funktionierende Hausgemeinschaft" gab bzw. der
"Vereinsamte" eine Funktion innerhalb der Hausgemeinschaft
innehatte, sodass sein Tod schnell auffiel. Er wird von
seinen Nachbarn als "Eigenbrötler" beschrieben, d.h.
Vereinsamung ist auch eine Folge von Verhaltensweisen, die
zum Selbstausschluss führen. Viel hat WÄHLER jedoch nicht
über den alleinstehenden Mann erfahren.
"Er war Frührentner,
hatte offenbar Schulden und war dem Alkohol nicht
abgeneigt."
Solche
"Einsamkeitskarrieren" brechen nicht über Nacht herein und
in diesem Fall hatte der Tote sogar eine Schwester, die "um
die Ecke wohnte", zu der aber offenbar der Kontakt
abgebrochen war - zumindest kannte sie keiner der
Hausbewohner, mit denen WÄHLER gesprochen hat.
Das Thema Armenbestattung
wird in der Presse vor allem unter Kostengesichtspunkten
diskutiert. Nicht Fälle wie die des Düsseldorfer Toten
stehen deshalb im Vordergrund, sondern so genannte
Sozialbestattungen, bei denen die Suche nach zahlenden
Angehörigen erfolglos geblieben ist und die überwiegen.
"Die Zahl der
Sozialbestattungen stieg laut Aeternitas E.V. einer
Verbraucherinitiative für Bestattungskultur, zwischen 2008
und 2015 von 24.069 auf 27.101 an, um fast 13 Prozent -
unter anderem wegen der Alterarmut. Die Daten zu den
Ordnungsamtsbestattungen sind ungenauer. Düsseldorf
verzeichnete 2016 rund 7.000 Sterbefälle, davon ungefähr
400 Bestattungen, die das Ordnungsamt in Auftrag gegeben
hatte. Das ist nur eine Schätzung. Daten für das
Bundesgebiet sind nicht bekannt."
Das Thema
Armenbestattungen hat der Soziologe Janosch SCHOBIN
2016 in der Zeitschrift Sozialreform näher unter
dem freundschaftssoziologischen Aspekt betrachtet.
SCHAAF, Julia
(2018): "Einsamkeit schädigt die Gesundheit".
Eine Psychologin über die
steigende Zahl einsamer Menschen unter uns und die Frage, ob
die deutsche Politik etwas dagegen tun sollte,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 21.01.
Die konservative britische
Premierministerin hat öffentlichkeitswirksam die Ministerin Tracey
CROUCH, die für Sport und bürgerschaftliches Engagement zuständig ist,
mit dem Kampf gegen Einsamkeit betraut (mehr
hier und
hier).
Dies entspricht einer Logik, die der Soziologe Nicolas ROSE als "Regieren durch Community" kritisiert hat. Die Mainstreamzeitungen
titelten daraufhin, dass Theresa MAY eine "Ministerin für Einsamkeit"
ernannt hätte, was natürlich falsch ist, aber davon zeugt wie die
Mainstreammedien ticken.
Bekanntlich hat die frühere
neoliberale Premierministerin verkündet, dass es keine Gesellschaft
gibt, sondern nur Individuen. Dass eine solche Politik des flexiblen
Kapitalismus das Einzelkämpfertum heroisiert, ist kaum verwunderlich.
Die Kehrseite wird nun als "Einsamkeits-Epidemie" angeprangert, was
das Problem verharmlost, indem es entpolitisiert und psychologisiert
wird. Das zeigt sich auch in dem Interview mit der Psychologin Maike
LUHMANN. Der flexible Kapitalismus heroisiert den extravertierten
Menschen, was auch bei LUHMANN anklingt:
"Schaaf: Ist die Neigung zur
Einsamkeit auch eine Frage der Persönlichkeit?
Luhmann: Auf jeden Fall. (...). Extravertierte Menschen sind
geselliger und gehen gerne auf andere Menschen zu. Ihnen fällt es
einerseits leichter, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen zu pflegen.
Andererseits haben sie auch ein höheres Bedürfnis nach Kontakten, und
wenn die dann fehlen, fühlen sie sich eher einsam als Menschen, die
ohnehin introvertiert sind, schüchtern, gern einmal allein."
Gegen solche Vorurteile wehren sich inzwischen Introvertierte.
Inwiefern Introversion und Schüchternheit zwei unterschiedliche Aspekte sind, darüber ist
inzwischen ein Streit entbrannt. LUHMANN beklagt - im Interesse ihrer
Profession eine psychotherapeutische Unterversorgung in Deutschland.
Psychologen verwalten jedoch eher das Elend der Einsamkeit, weil sie
nichts an den gesellschaftlichen Strukturen, z.B. dem
beziehungs- und familienfeindlichen Arbeitsmarkt ändern können.
Ziel von Psychotherapie ist die Wiederherstellung der
Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft, nicht die Veränderung der
Gesellschaft. Das kann nur die Politik. Die Situationen, die
Einsamkeit fördern, sind der Zwangsmobilität in der Hartz-Gesellschaft
geschuldet. Einsamkeit ist auch nicht - wie gerne angenommen wird - im
Alter am verbreitesten (sieht man von krankheitsbedingten
Einschränkungen ab), sondern in der Jugend und im Erwachsenalter. Das
Problem bei den "Single-Haushalten"
bzw. hohen Scheidungsraten zu suchen, lenkt von den gesellschaftlichen
Ursachen ab.
MARINIC, Jagoda
(2018): Einsamkeit.
Alleingelassen zu sein ist
furchtbar. Aber es wäre falsch, das Alleinsein aus dem Leben
zu vertreiben und zur Krankheit zu erklären, gar mit Hilfe
eines Ministeriums,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 27.01.
EBERHARDT, Wolfram
(2018): Einsam sein.
Es kann uns alle treffen:
Jeder Dritte fühlt sich zeitweise einsam, und bei vielen wird
dieser Zustand chronisch. Denn je mehr uns das Gefühl der
Verbundenheit abhandenkommt, desto misstrauischer,
eigenbrötlerischer - und einsamer werden wir. Wie entkommen
wir dieser Falle?
in:
Psychologie Heute,
Februar
Der Artikel von Wolfram EBERHARDT
stellt zwei Aspekte in den Vordergrund: zum einen das
neue Ethos der Einsamen, das die Psychologin Maike LUHMANN
repräsentiert, und zum anderen die
"Armut als viel verlässlicheres
Vorzeichen für Einsamkeit als das Alter",
das Oliver HUXHOLD vom Deutschen
Zentrum für Altersfragen hervorhebt. Bei der Betonung des Ethos der
Einsamen ist es in den letzten Jahren zu einer Verschiebung gekommen,
was an der Entdeckung der neoliberalen Misstrauensgesellschaft liegen
mag, denn nun wird das Misstrauen der Einsamen als Hauptproblem für
deren soziale Isolation gesehen. Vor fast 15 Jahren wurde dieser
Aspekt auf dieser Website als
Problem ängstlicher Singles beschrieben. Statt von Misstrauen,
wurde damals von der Ausrichtung auf negative Aspekte der sozialen
Umwelt gesprochen. In der unserer Aktivgesellschaft heißt Integration
der Einsamen schlicht, sie zur
Selbstsorge aufzufordern:
"Anders als bei einer echten
Gefängniszelle müsse in der Zelle der Einsamkeit die Tür fast immer
von innen geöffnet werden, sagt Maike Luhmann - und empfiehlt kleine
Schritte, um den unwirtlichen, kalten Ort zu verlassen. Aktiv werden,
ohne allzu große Erwartungen zu haben, lautet die Devise."
MÄRZ,
Ursula (2018): In der Gefriertruhe.
Am Prenzlauer Berg in
Berlin verschwinden zwei alte einsame Menschen und werden
jahrelang nicht vermisst. Nur die Rente wird weiter ausbezahlt
- an den mutmaßlichen Mörder,
in:
Die ZEIT Nr.6 v.
01.02.
DPA
(2018): Einsam und arm – immer mehr Alleinstehende von Armut
bedroht.
In Großbritannien wurde
zuletzt ein Regierungsposten gegen Einsamkeit eingerichtet.
Jetzt werden dramatische Zahlen aus Deutschland bekannt,
in:
Handelsblatt Online
v. 13.02.
Die Ergebnisse zur
Armutsbedrohung ("Leben in Europa") im Jahr 2016 wurden
bereits
am 08.11.2017 vom Statistischen Bundesamt
veröffentlicht. Unter der Rubrik
"Lebensbedingungen, Armutsgefährdung" finden sich die im
Artikel genannten 32,9 Prozent Alleinstehende jedoch unter
dem Begriff Alleinlebende.
Unter der Rubrik
"Armutsgefährdung" wird dagegen für das Jahr 2016 eine
Armutsquote für die Einpersonenhaushalte von 26,3 Prozent
angegeben.
Der
Unterschied besteht darin, dass Alleinlebende nur Personen
sind, die einen Hauptwohnsitz angegeben haben, während
bei den Einpersonenhaushalten sowohl Personen am Haupt- und
Nebenwohnsitz gezählt werden.
Der im Artikel verwendete
Begriff des Alleinstehenden wird vom Statistischen Bundesamt
dagegen für Personen verwendet, die ohne Ehe- oder
Lebenspartner und ohne ledige Kinder in einem Haushalt
leben. Alleinlebende sind also eine Untergruppe der
Alleinstehenden.
Die Agenturmeldung nutzt
den Hype um eine wenig erhellende
Debatte um eine zusätzliche Aufgabenzuweisung an eine
britische Ministerin, um politische Forderungen zur
Bekämpfung von Armut zu stellen, denn Einsamkeit ist nicht
das Thema des Artikels, sondern nur der Ökonomie der
Aufmerksamkeit geschuldet.
GIESELMANN, Dirk (2018): Beim
heiligen Hans.
ZEIT-Titelgeschichte
Nachbarn: Kommt alle! In einem anonymen Berliner Hochhaus lädt
ein alter Herr die Einsamen zum Essen ein,
in: Die
ZEIT Nr.9
v. 22.02.
In der Wohlfühlzeitung gibt
es heute einen Artikel, den man eher in einem Boulevardblatt
vermutet. Ob Essenseinladungen geeignet sind, um Einsamkeit zu
bekämpfen, ist fraglich. Es zeigt aber eine Tendenz, seit von
einem angeblichen Einsamkeitsministerium in Großbritannien
berichtet wird, dass der Begriff schnell bei der Hand ist und
damit Einsamkeit verharmlost wird.
ENORM-Titelthema: Nie mehr allein.
Jeder
braucht Zugehörigkeit: Wie wir Einsamkeit verhindern können und
warum Gemeinschaft stark macht |
POLIER, Xenia von
(2018): Das stille SOS.
Als Großbritannien im Januar ein
Ministerium für Einsamkeit schuf, sorgte das erst für Verwunderung.
Dann begann eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Denn viele
Millionen alte und junge Menschen sind einsam - auch in Deutschland.
Warum ist das Gefühl sozialer Isolation so gefährlich und was können
wir dagegen tun?
in:
Enorm, Nr.1, März/April
HALANG, Vincent & Xenia von POLIER
(2018): Ein Wisch zur Freundschaft.
Auf dem Smartphone neue Freunde
finden - so versprechen es moderne Freundschafts-Apps. Doch braucht es
wirklich die digitalen Helfer und was machen sie mit unseren
Freundschaften?
in:
Enorm, Nr.1, März/April
LANGROCK-KÖGEL, Christian
(2018): Schaut Euch in die Augen, Fremde!
Anderen Menschen begegnen wir auf
der Straße meist ziemlich verschlossen - entsprechend anonym ist die
Öffentlichkeit. Die Bewegung "Eye Gazing" möchte mehr Begegnung
schaffen - und organisiert Treffen, bei denen man sich einfach
schweigend ansieht. Was geschieht dabei?
in:
Enorm, Nr.1, März/April
RÖTZER, Florian. (2018): Soziale Isolation und Einsamkeit machen
krank.
Eine umfangreiche Studie weist auf
das erhöhte Risiko hin, das stark auch mit sozioökonomischen
Faktoren zusammenhängt und damit einen Hinweis auf die Debatte um
Hartz-IV gibt,
in:
Telepolis v. 29.03.
Dass chronische, d.h. über einen
längeren Zeitraum wirkende Einsamkeit, krank macht ist unbestritten.
In letzter Zeit werden aber auch kurzzeitige Einsamkeitsgefühle
immer wieder zu einer "Einsamkeitsepidemie" stilisiert. Das hilft
einsamen Menschen nicht. Auch der Begriff "soziale Isolation", der
ein soziologisches Phänomen bezeichnet ist vom psychologischen
Begriff der Einsamkeit zu unterscheiden. Ersterer bezeichnet
objektive, empirisch ermittelte Tatbestände, während letzterer
subjektiv empfundene Gefühle meint. Inwieweit beide Phänomene krank
machen, hängt von der Definition ab. Während der eine Mensch 100
Kontakte haben kann und sich trotzdem einsam fühlt, kann ein anderer
wenige Kontakte haben, aber trotzdem zufrieden sein. Entscheidend
ist die Qualität der Beziehungen und nicht die reine Quantität, die
meist in Massenumfragen erfasst wird.
Armut erhöht die Gefahr von
chronischer Einsamkeit, was nicht unbedingt an der Armut an sich,
sondern an den Begleiterscheidungen zusammenhängt, die mit Armut
einhergehen: fehlende Teilhabemöglichkeiten in einer geldfixierten
Gesellschaft. Scheidungen führen bei Männern vielfach zum
langfristigen Verlust zentraler Beziehungen sowie Armut und erhöhen
dadurch das Sterberisiko. Auch eine Wiederheirat kommt bei armen
Männern seltener vor. Die Wege in die Einsamkeit sind jedoch sehr
vielfältig.
Ob die Abschaffung von Hartz IV
die krankmachende Einsamkeit reduzieren würde, hängt auch mit den
gesellschaftlichen Alternativen zusammen, die an die Stelle von
Hartz IV treten. Der Artikel von RÖTZER leistet hierzu keine
erhellenden Ausführungen. Mit der Abschaffung
von Hartz IV fallen noch lange nicht die Stigmatisierungen und
Diffamierungen von Armut und Armen in der neoliberalen Gesellschaft
weg.
ERLINGER, Rainer (2018): Ohne
alle.
Einsamkeit macht krank und kann
sogar töten, so hört man derzeit ständig. Doch Alleinsein kann auch
etwas Wunderbares sein. Über einen höchst widersprüchlichen Zustand,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 31.03.
Rainer ERLINGERs Artikel
über die Einsamkeit ist das genaue Gegenteil von
Florian RÖTZERs Artikel. Beide gehen auf ihre einseitige Weise
am Kernproblem vorbei. Während RÖTZER nicht zwischen kurzzeitigen
und chronischen Einsamkeitsgefühlen unterscheidet, setzt ERLINGER
Alleinsein mit Einsamkeit gleich. Beides hilft Betroffenen nicht
weiter, sondern ist ein Reflex der
Debatte über die Single-Gesellschaft. Welche Verschiebungen im
Diskurs stattgefunden haben, zeigen zwei Beiträge zum Thema, der
erste aus dem Jahr 2002, der zweite aus dem
Jahr 2006. Dazwischen liegt ein Paradigmenwechsel, der zum einen
mit den Hartz-Gesetzen und zum anderen mit der Verschiebung der
Debatte vom Alleinleben zur Partnerlosigkeit zu tun hat.
LENZEN-SCHULTE, Martina (2018): Wird der Einsame krank oder der
Kranke einsam?
Der Psychiater Manfred Spitzer
will die Antwort auf diese Frage lieber nicht so genau wissen. Sie
könnte sein Weltbild trüben, in dem der wahre Verantwortliche für
die Misere längst feststeht,
in: Frankfurter
Allgemeine
Zeitung v. 26.05.
Martina LENZEN-SCHULTE richtet sich gegen "Spitzers Kreuzzüge gegen
die digitale Welt" und gegen Interpretation von Korrelationen
("Zusammentreffen von Faktoren") als Kausalzusammenhang, wobei
Manfred SPITZER hier keineswegs eine Ausnahme, sondern insbesondere
in Medienberichterstattung die Regel ist.
"Es gibt Krankheiten, die gehäuft
mit Einsamkeit assoziiert werden - etwa Bluthochdruck, Schlaganfall,
Herzinfarkt und Krebs. Spitzer deutet dies als »negative
Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolation auf die
Gesundheit und die Lebenserwartung«. (...). Das geben die Daten
indes mitnichten her.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien nennen Krankheit vielmehr als
Risikofaktor für Einsamkeit",
kritisiert
LENZEN-SCHULTE. Sie nennt als Beispiele Schlaganfall und Parkinson,
die einen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben begünstigen.
Dass Krankheiten jedoch die
Ursache für jedes Einsamkeitsgefühl ist, wäre jedoch auch zu weit
hergeholt.
Die Zusammenhänge sind vielmehr komplexer. Einsamkeit kann sehr wohl
krank machen, wenn Einsamkeitsgefühle chronisch werden. Krankheiten
können auch Einsamkeit fördern wie LENZEN-SCHULTE zu Recht einwirft.
Ob dies jedoch eine Kausalursache ist oder eher eine Wechselwirkung,
das ist eine Frage, die kaum leicht zu beantworten ist und
epidemiologische Untersuchungen erfordert. Selbst dann sind
Nachweise schwierig, weil viele Studiendesigns nicht unbedingt das
messen, was sie zu messen vorgeben.
"Das
Anwachsen der Einpersonenhaushalte soll zum Beispiel die These von
der stetig zunehmenden Vereinsamung stützen. Wer auf die
Singlewebsites schaut, darf vermuten, dass diese Gruppe eine derart
pauschal negative Konnotation sicher von sich weisen würde.
Die wachsende
Anzahl alleinlebender älterer Menschen ist dafür ebenfalls kein
Beweis",
kritisiert
LENZEN-SCHULTE zu Recht, denn insbesondere in den 1980er und 1990er
Jahre wurde das Alleinleben gerne als soziale Isolation aufgefasst,
obwohl das Alleinleben eine sehr heterogene Lebensform war und ist.
Nicht erst seit in Großbritannien angeblich ein
"Einsamkeitsministerium" eingerichtet wurde, hat sich in
Deutschland wieder eine weniger differenzierte Sicht auf das
Alleinleben ausgebreitet.
Dies hängt damit zusammen, dass das Alleinleben nicht mehr mit
freiwilligem, sondern mit unfreiwilligem Alleinleben assoziiert wird.
"Ist das Buch der »überfällige
Weckruf«, als den es der Klappentext anpreist? Bereits vor einem
Vierteljahrhundert erschienen Artikel, die mit Titel wie
»Preis der Ich-Sucht« auf das »Millionenschicksal Einsamkeit«
aufmerksam machten",
wirft
LENZEN-SCHULTE zum Schluss ein.
MITIC, Katja (2018): Der
letzte Freund.
Immer mehr Menschen vereinsamen,
Freiwillige wie Lothar Katz spenden ihnen Trost. Denn er weiß, was
Einsamkeit auslöst - und wie jeder vorbeugen kann,
in:
Welt v. 10.07.
MÜHL,
Melanie
(2018): Diese schreckliche Leere.
Einsamkeit ist eine individuelle
Tragödie und ein gesellschaftliches Problem. von ihr ist sogar im
Koalitionsvertrag die Rede. Aber wie will man sie bekämpfen? In
einer Berliner Einrichtung hat man damit angefangen. Ein Besuch,
in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 20.07.
"Friedrichsfelde Süd.
Einem Stadtteil, in dem überdurchschnittlich viele von
Armut betroffene Kinder, alleinerziehende Mütter und alte
Menschen auf engem Raum leben. Das Geld ist hier dermaßen
knapp, dass jeder fünfte Einwohner Transferleistungen
bezieht. Aber das ist nur die bezifferbare Realität.
Armut, Arbeitslosigkeit, der Verlust des Partners, das
Wegsterben langjähriger Freunde in hohem Alter, das alles
sind Risikofaktoren für Einsamkeit. Demnach müssen in
Friedrichsfelde Süd sehr viele einsame Menschen leben",
meint die neue
Konservative Melanie MÜHL im Einsamkeitsfeuilleton der FAZ.
Der
Ostberliner Stadtteil Friedrichsfelde Süd, der zum Berliner
Bezirk Lichtenberg gehört, ist nicht unbedingt ein
sozialer Brennpunkt wie MÜHL suggeriert, sondern ein mit
guter sozialer Infrastruktur bestückter Stadtteil. Dazu
gehört auch der Zeit.Laden, den MÜHL vorstellt.
"Die existentielle Form
der Einsamkeit (...) ist schrecklich. Sie geht mit einem
Schmerzgefühl einher, dessen Grundton die Empfindung
absoluter Unverbundenheit ist, die Angst, von allem und
jedem fern zu sein, ausgeschlossen am Rande der
Gesellschaft vor sich hin zu leben, isoliert und gemieden.
Um diese Einsamkeit geht es hier",
meint MÜHL. Inwiefern
diese Art von Einsamkeit gerade in Berlin Friedrichsfelde
Süd verbreitet sein soll, wird in dem Artikel nicht belegt.
Stattdessen ist die gute soziale Infrastruktur eher ein
Hinweis darauf, dass dieser Stadtteil zu den aufgewerteten
Stadtteilen gehört. Was den Stadtteil auszeichnet, ist
jedoch ein wachsender Anteil von 80-Jährigen und Älteren. Es
dominieren deutsche Frauen. Die existentielle Einsamkeit ist
jedoch eher männlich, wenn man den Begriff überhaupt für
sinnvoll halten mag, denn im Grunde geht es um chronisch
gewordene Einsamkeit.
"Die größte
Schwierigkeit (...) aber (sei) (...), die Einsamen hinter
den verschlossenen Türen überhaupt aufzuspüren. Diejenigen
zu finden, die nicht einmal mehr genügend Kraft
aufbringen, sich Hilfe zu suchen",
zitiert MÜHL einen
evangelischen Pfarrer des Zeit.Laden, dessen "Konzept der
offenen Tür" wohl eher auf gesellige Frauen als auf Männer
ausgerichtet ist.
Japan gilt den
Journalisten als exotisches, moralistisches Alptraumbildnis
einer "vergreisenden Konsumgesellschaft", wo die "gekaufte
Illusion" und die "Realitätsverweigerung auf Stundenbasis"
herrscht. Ob der Versuch der politischen
Instrumentalisierung der Einsamkeit besser ist, das wäre die
Frage, um die sich der Artikel herumdrückt.
MISIK,
Robert
(2018): Zeitdiagnose Einsamkeit.
Gastkommentar: Individualismus
und Lebensgefühl,
in:
Neue Zürcher Zeitung v.
25.07.
Robert MISIK,
linksliberaler Popjournalist, betätigt sich als
zeitgeistiger Existentialist, bei dem das 1950er Jahre-Motto
existenzieller Einsamkeit in unsere Erfolgsgesellschaft
übertragen wird:
"In der
Erfolgsgesellschaft (...) läuft jeder für sich, muss den
Erfolg ausstellen und verkörpern, denn nur der, dem man
den Erfolg ansieht, der hat ihn auch. Das treibt Posertum
und eine Kultur des Narzissmus hervor. (...). Man ist
gewissermassen existenziell einsam, sogar wenn man es
lebenspraktisch gar nicht ist. Womöglich ist das ja der
tiefere Grund für den gegenwärtigen Hype um die
Einsamkeit".
MISIK malt das Bild von
der Single-Gesellschaft, das im Grunde nur die Sicht des
sozial aufgestiegenen Akademikers in seiner
Akademikermilieublase widerspiegelt, aber in den
Mainstreammedien tagaus tagein als gesamtgesellschaftliches
Bild transportiert wird:
"Neuerdings gibt es das
signifikante Wachstum von Singlehaushalten,
selbstgewähltes Alleinsein, das in Episoden der Einsamkeit
umschlagen kann. Karrieremuster und häufige
Wohnortswechsel können den Aufbau stabiler
Freundschaftsnetze verunmöglichen. Neue Arbeitsformen
verbreiten sich, in denen echte Kollegialität kaum mehr
entsteht".
Das schnellste Wachstum
der Einpersonenhaushalte gab es in Westdeutschland in den
1980er Jahren, nach der Wiedervereinigung wuchs diese
Haushaltsform auch in Ostdeutschland an. In Zahlen
ausgedrückt:
Im Zeitraum von 2007 bis
2017 stieg die Zahl der Einpersonenhaushalte um 3 Prozent,
d.h. um durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahr. 41,3
Millionen Menschen lebten 2017 in diesen
Einpersonenhaushalten. Zehn Jahre zuvor waren es rund 39,7.
Das sind rund 1,6 Millionen mehr in 10 Jahren. Von 1977 bis
1987 stieg die Zahl der Menschen in Einpersonenhaushalten
dagegen in Westdeutschland um 5,3 Prozent oder 2,8 Millionen
Menschen.
Getragen wurde dieses
schnelle Wachstum in den 1980er Jahren von den Babyboomern
der
Single-Generation. Als der Popsoziologe Ulrich BECK das
Thema in dem Bestseller
Das ganz normale
Chaos der Liebe populär machte, war der Höhepunkt in
Westdeutschland bereits überschritten. Da jedoch
das
aufgestiegene Akademikermilieu die neuen Zeitgeistmedien
dominierte wurde das Auslaufphänomen zur
Single-Gesellschaft überhöht. In den 1990er Jahren wurde
dann die kinderlose Karrierefrau zum Sinnbild dieser
Single-Gesellschaft. Im Zeichen der Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme geriet in den Nuller Jahren die
einsame, kinderlose Karrierefrau zum Umschlagspunkt der
Debatte und
der Single wurde vom Pionier der Moderne zur Leidfigur einer
fehlgeleiteten Moderne. Die Einsamkeitshysterie ist nur
die Fortsetzung dieser zeitgeistigen Modeerscheinungen, die
viel mit dem Aufstieg des Nationalkonservatismus zu tun hat,
der auch den Erfolg der AfD befeuert.
Zu Recht spricht MISIK
von "alarmistischen Diagnosen", die im Aktionismus des
britischen Brexit-Votums ihren Ausgang nahmen und im
Fahrwasser des Rechtspopulismus auch in Deutschland Aufwind
bekamen:
"Kaum eine Zeitung, die
in jüngster Zeit nicht eine grosse Story über Einsamkeit
brachte. »Ohne alle« titelte
etwa die »Süddeutsche« und hielt dann ein Plädoyer für
das Alleinsein, das Wiener »Profil« widmete dem
»Lebensgefühl unserer Zeit« eine Cover-Story, und die
»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« analysierte: »Ist
der Mensch einsam, leidet die Demokratie.«"
MISIK führt den
norwegischen Philosophen Lars SVENDSEN ("Philosophie der
Einsamkeit") und den Psychiater
Manfred SPITZER
("Einsamkeit") als Vertreter dieser alarmistischen
Debatte an. Mit dem Freundschaftssoziologen Janosch SCHOBIN
weist MISIK jedoch darauf hin, dass bereits die Methodik von
Umfragen das Antwortverhalten in Sachen Einsamkeit stark
beeinflussen kann.
SCHRÖRS, Tobias (2018):
Immer mittwochs klingelt es.
Irmgard Anna Fischer hadert nicht
mit der Einsamkeit. Aber wie so viele Rentner fehlt ihr das
Miteinander,
in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 29.09.
In Hessen ist Wahlkampf
und Konservative lieben Einsamkeit als politisches Thema,
das sich gefahrlos instrumentalisieren lässt:
"In Großbritannien
wurde eigens ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen",
lautet eines der meist
verbreiteten Fake-News. Tatsächlich wurde ein vorhandenes
Ministerium einfach nur um einen Aufgabenbereich erweitert,
der nichts kosten soll, aber möglichst viel Aufmerksamkeit
bietet.
"Die Bundesregierung
hat im Koalitionsvertrag angekündigt, Vereinsamung zu
bekämpfen",
lautet eine mantrahaft in
der FAZ vorgetragene Botschaft. Mit Inhalten gefüllt
wird das jedoch nur rhetorisch, d.h. vorhandene Projekte,
die sich mit Einsamkeit irgendwie verbinden lassen, werden
nun besonders hervorgehoben:
"Immerhin verweist das
Ministerium auf bestehende Projekte, wie die 540
geförderten Mehrgenerationenhäuser. In Wiesbaden ist der
Besuchs- und Begleitungsdienst Anknüpfungspunkt für ein
Modellprojekt gegen Einsamkeit älterer Menschen."
Fazit: Die politische
Instrumentalisierung der Einsamkeit ist für die Union etwa
das, was das Rentenniveau für die SPD ist - ein Placebo!
MAYER,
Verena
(2018): Einfach mal reden.
Das Alter kann einsam machen,
manche Senioren hören tagelang nur den Fernseher sprechen. In Berlin
gibt es jetzt eine Hotline gegen das Alleinsein,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 05.10.
Verena MAYER berichtet
über den Verein Silbernetz, gegründet von Elke SCHILLING,
der in Berlin eine Telefonhotline betreibt. Vorbild ist das
Londoner Projekt Silverline. Das Ladenlokal liegt in dem
Berliner In-Stadtteil Pankow:
"Schilling ist 73, sie
hat in der Altenhilfe gearbeitet und war lange die
Seniorenbeauftragte ihres Bezirks. Sie hat viel gesehen.
Wie schnell Einsamkeit krank und depressiv machen kann, am
härtesten treffe es alte Männer, sagt Schilling. Ab einem
Alter von 85 Jahren haben sie von allen
Bevölkerungsgruppen die höchste Suizidalität.
Und Schilling musste selbst erleben, was passiert, wenn
alte Mensche lange allein sind. In ihrem Berliner
Mietshaus lebte ein Mann, der ihr beim Einziehen half. Als
sie ihn länger nicht sah, klingelte sie bei ihm (...) Der
Mann wimmelte sie ab, »wahrscheinlich hat er sich für
seine Einsamkeit geschämt«, sagt Schilling. Das Nächste,
was sie bemerkte war, dass die Prospekte vor seiner
Wohnungstür immer mehr wurden. Sie rief die Vermieterin
an, die bracht die Tür auf und fand den alten Mann. Er lag
seit mehreren Wochen tot in der Wohnung",
berichtet MAYER über die
Vereinsgründerin. Während einsame Männer meist mit Rückzug
ins Private reagieren, nutzen Frauen eher soziale
Einrichtungen. Aber auch hier hapert es:
"Auch gebe es immer
weniger Treffpunkte für Alte, lokale Senioreneinrichtungen
würden eingespart. Und die Kirchen betreiben zwar
Altenhilfe, »aber wenn man da zum Kaffee geht, muss man
gleich beten, das schreckt viele ab«",
zitiert MAYER die
Vereinsgründerin. Im Gegensatz zu vielen Artikeln -
insbesondere in der FAZ
- wird hier Einsamkeit nicht politisch instrumentalisiert,
sondern als Problem ernster genommen und Aufklärung über
sich verfestigende Einsamkeit betrieben, wobei jedoch der
Zusammenhang von verfestigender Einsamkeit und Armut
ausgeblendet wird.
ANLAUF,
Thomas
(2018): Schluss mit dem Alleinsein.
Arme Senioren vereinsamen oft,
dagegen wird in München nun aktiver etwas getan,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 12.10.
Thomas ANLAUF nutzt den
Einsamkeits-Hype, um das Thema politisch zu
instrumentalisieren. Auf der letzten Etappe des Wahlkampfes
wird uns eine Beschlussvorlage des Münchner Sozialreferats
präsentiert, bei der das Wesentliche ungenannt bleibt.
Offenbar, weil dies nicht so gut ankommen könnte:
"Zunächst sollen sieben
Sozialpädagogen in ausgewählten Stadtteilen die Orte
aufsuchen, wo sich Rentner gerne aufhalten (...). Die
Streetworker sollen Beziehungen zu ihnen aufbauen und
ihnen mögliche Hilfen und Unterstützung aufzeigen. Das
können Hausbesuche sein, Haushaltshilfen oder Angebote der
städtischen und sozialen Einrichtungen."
In der Regel werden
solche teuren Angebote nicht in städtischen Problemgebieten
gemacht, sondern in Gebieten, die gentrifiziert werden
sollen. Am Anfang des Artikels geht es dagegen um
"vereinsamte und verarmte Rentner". Man wird sehen müssen,
was nach der Landtagswahl davon tatsächlich umgesetzt wird.
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