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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Einsamkeit

 
       
   

Vom Alleinsein in der paar- und familienorientierten Gesellschaft. Eine Bibliografie (Teil 4)

 
       
     
   
     
 

Kommentierte Bibliografie (Teil 4: 2017 - heute)

2017

EUL, Alexandra (2017): Warum Frauen keinen abkriegen,
in: Neon, Januar

Alexandra EUL kritisiert die Thesen, die von Mainstreamzeitungen und insbesondere vom Spiegel zur Generation Beziehungsunfähig in Umlauf gebracht wurden (vgl. "Die Sehnsuchenden", Spiegel 22.10.2016) . Den Tenor solcher Trendgeschichte fasst EUL folgendermaßen zusammen:

"Alleinstehende Männer sind frei und haben Potenzial. Alleinstehende Frauen sind einsam und haben ein Problem."

EUL hat eine Verschiebung der Debatte um alte Jungfern festgestellt: Es gehe nicht mehr um das "dating down" als Lösung, sondern im Mittelpunkt stehe nun die Diagnose "Beziehungsunfähigkeit". Fünf Gründe für das Single-Dasein von Frauen Mitte dreißig, nennt uns EUL, die ihrer Meinung nach die  Debatte prägen:

1) Die Singlefrauen sind zu alt, um einen Partner zu finden
2) Die Singlefrauen haben zu hohe Ansprüche an einen potenziellen Partner
3) Singlefrauen sind zu karrierefixiert, um einen Partner zu finden
4) Bei den Singlefrauen tickt die biologische Uhr, weshalb sie mit ihrer Kinderwunschpanik jeden potenziellen Partner in die Flucht schlagen
5) Singlefrauen sind zu intelligent, um von potenziellen Partnern gemocht zu werden

An diesen fünf Klischees arbeitet sich EUL nach und nach ab. Die Expertenmeinungen zu den ersten zwei Punkten kontert EUL mit Haushaltsstatistiken, die Paare nur unzulänglich erfassen. Es geht dabei um den Altersunterschied und die Bildungshomogenität von zusammenwirtschaftenden Paaren. Punkt drei kontert EUL mit SOEP-Daten, die der Soziologe Jan ECKHARD interpretiert hat. Die zunehmende Partnerlosigkeit von Singlefrauen wird auf deren ökonomische Unabhängigkeit zurückgeführt, was EUL als Fortschritt betrachtet.

Bei den letzten beiden Punkten gehen EUL dann die Statistikdaten aus und sie kontert Meinungen mit Gegenmeinungen:

"Bevor ich mit einem Psycho ein Kind kriege, verbringe ich den Rest meines Lebens lieber mit meinen Freundinnen und Freunden",

zitiert sie eine Freundin zum Thema tickende biologische Uhr. Auch zu fünftens begegnet EUL dem Partnerschaftszwang mit der Wahlfamilie und dem gehobenen Lebensstil, den sich Karrierefrauen leisten können.

GLAS, Andreas (2017): Das letzte Solo.
Weil ihre Familien zerbrochen sind, werden immer mehr Menschen ohne Begleitung und auf Kosten der Kommunen beerdigt,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 07.01.

Andreas GLAS berichtet von einem Fallbeispiel aus Passau, das den Trend zur Armenbestattung (Amtsdeutsch: Amtsbestattung) illustriert:

"Günther (...), geboren am 30. August 1946, gestorben am 3. Dezember 2016, in einer Pflegefamilie aufgewachsen, ledig, katholisch, keine Kinder, keine Verwandten."

Der einsame Tod ist ein Lieblingssujet des Mainstreamjournalismus, repräsentativ ist das nicht unbedingt. Erstens fehlen meist Zahlen und zweitens sind sie meist unvollständig. Das jedenfalls zeigen die Ergebnisse des Soziologen Janosch SCHOBIN.

"Allein in München gab es im Jahr 2015 insgesamt 591 Amtsbestattungen, 2005 waren es nur 322. In Passau (...) gab es im Jahr 2012 acht Amtsbestattungen, 2013 waren es elf, ein Jahr später schon zwölf und 2015 bereits 17 Fälle",

suggeriert GLAS eine steigende Tendenz. Der Soziologe SCHOBIN sieht im genannten Fall keinen typischen Fall, der sei eher ein geschiedener Mann, dessen Kinder mit ihrem Vater aus unterschiedlichen Gründen nichts zu tun haben wollen. Hinzu kommt, dass die Bestattungsordnung nicht auf moderne Formen der Wahlfamilie eingerichtet sei. Medienberichte setzen dagegen lieber auf Spektakuläres:

"Die Menschen, mit denen er zu tun hat, haben ihre letzten Lebensjahre einsam im Altenheim verbracht, manche lagen Tage oder Wochen in ihrer Wohnung, bis die Nachbarn den Leichgeruch im Treppenhaus zu eklig fanden und die Polizei riefen."

Das Problem ist jedoch offenkundig nicht groß genug, denn sonst gäbe es Statistiken, die Auskunft geben könnten. Nicht einmal in jeder Großstadt sind Amtsbestattungen ein Fall für die Statistik und wenn, dann sind sie unvollständig, sodass Ursachenforschung nicht möglich ist und der Spekulation Tür und Tor geöffnet sind. Die Gesetzeslage erschwert zudem durch landestypische Gesetze Vergleiche, indem sie unterschiedliche Rahmenbedingungen setzt, die ebenfalls Einfluss auf die Zahl der Amtsbestattungen hat:

"Für die Kommune bleiben nach dem Tod eines Menschen 96 Stunden Zeit, um beispielsweise über das Geburtenregister Angehörige zu ermitteln, dann muss der Verstorbene laut Gesetzt beerdigt sein (...). Im Bayerischen Bestattungsgesetz ist das Prozedere genau geregelt, auch wer zahlen muss: Ehegatte, Kind, Elternteil, Großelternteil, Enkel, Schwester oder Bruder, Nicht oder Neffe, Stiefkind. Lässt sich aber niemand finden, dann springen die Kommunen ein."

Dieser Fall tritt auch deshalb immer öfters ein, weil die Suche durch die Anforderungen der Wirtschaft und den Zwang zu Mobilität, der zur Verbreitung von multilokalen Mehr-Generationenfamilien geführt hat, eine erfolgreiche Suche nach Angehörigen erschwert. Außerdem zeigt das Bayerische Bestattungsgesetz, dass z.B. Freunde darin gar nicht als Akteure vorkommen.

BRECH, Sarah Maria & Fanny JIMÉNEZ (2017): Du, du, nur du allein.
Gesellschaft: Singles sind einsam, traurig und krank. Davon sind ihre besten Freunde noch immer überzeugt. Nur: Es stimmt nicht. Neue Studien zeigen, dass Frauen immer glücklicher werden, je länger sie allein leben,
in:
Welt am Sonntag kompakt v. 15.01.

Wenn Fakten nicht mehr heilig sind, bewirbt die Springer Presse den Medienkongress 2017. Leider sind der WamS kompakt die Fakten längst nicht mehr heilig. Vor allem, wenn es um so genannte Singles geht, werden uns besonders gerne Lügenmärchen erzählt.

"DePaulo gilt als eine der weltweit bedeutendsten Experten mit mehr als 100 Veröffentlichungen zu diesem Thema. In den USA ist die Zahl der Singles in den vergangenen Jahrzehnten rasant angestiegen, hat sie herausgefunden. Waren es 1970 noch 28 Prozent, gaben 2014 schon 45 Prozent an, keinen Partner zu haben",

behaupten BRECH & JIMÉNEZ. Die Zahlen sind zum einen dreist abgeschrieben aus der amerikanischen Zeitschrift New York Magazine. Dort heißt es:

"In 1970, there were 38 million single people in the U.S., and they made up just 28 percent of the population. In 2014, there were 107 million and they comprised 45 percent of the population."
(The New Science of Single People von Jesse Singal)

Aus "single people" machten die Autorinnen "partnerlos". Der Begriff Single wird im Amerikanischen jedoch genauso wie im Deutschen in vielen Varianten benutzt. Die Zahlen hat nicht etwa Bella DePAULO herausgefunden, wie uns die Journalistinnen weismachen wollen, sondern sie stammen vom US-amerikanischen Statistikamt. Auf deren Website heißt es nämlich:

"107 million
Number of unmarried people in America 18 and older in 2014. This group made up 45 percent of all U.S. residents 18 and older. Source: America’s Families and Living Arrangements: 2014, Table A1"

Der Begriff "unmarried" steht nicht für partnerlos, sondern für unverheiratet. Dies zeigt, dass Journalisten auch in den selbst ernannten Qualitätszeitungen Fakten nicht heilig sind. Oder warum wird aus dem Familienstand unverheiratet die Partnerlosigkeit, obwohl beides ganz unterschiedliche Lebensformen darstellen?

"In Deutschland ist der Trend ähnlich. Dem Soziologen Jan Eckhard zufolge ist die Zahl der Singles in den vergangenen 20 Jahren um 50 Prozent gestiegen. 1993 gaben 23 Prozent an, partnerlos zu sein, 2014 waren es 35 Prozent",

heißt es bei BRECH & JIMÉNEZ. Auch das ist dreist abgeschrieben, diesmal  bei der Spiegel-Titelgeschichte im Oktober. Dort heißt es:

"Nach Auswertungen des Heidelberger Soziologen Jan Eckhard ist die Zahl der Singles in den vergangenen 20 Jahren um 50 Prozent gestiegen. Waren 1993 noch 23 Prozent der Deutschen ohne festen Partner, gaben 2014 35 Prozent der Befragten an, in keiner festen Beziehung zu leben. Eckhards Quelle ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), die größte sozialwissenschaftliche Langzeitstudie in Deutschland."

Weder ist die Altersgruppe unmissverständlich angegeben, weil kurz zuvor im Spiegel-Bericht noch von 25-35-Jährigen gesprochen wird, noch geht eindeutig hervor, ob es um partnerlose Deutsche oder um Partnerlose in Deutschland geht - beides wäre möglich und nicht dasselbe (mehr auch hier). Der SOEP kann zumindest Partnerlose von Paaren unterscheiden im Gegensatz zu vielen anderen Forschungsdesigns.

Nimmt man wissenschaftliche Aufsätze von Jan ECKHARD zur Hand, dann wird dort von Bindungsquoten gesprochen, weil es hier nicht um dauerhafte Partnerlosigkeit, sondern um die Dauerhaftigkeit von Partnerschaften geht. Außerdem werden vom SOEP nur Partnerschaften erfasst, die länger als ein Jahr dauern, d.h. es ist eine Frage der Definition inwiefern vom Anstieg der Partnerlosigkeit gesprochen werden kann. Veränderungen gibt es in erster Linie bei der Beziehungsstabilität.

"SOEP und Familiensurvey, die kurzfristige Beziehungen unter-erfassen, zeigen übereinstimmend einen Anstieg der Partnerlosigkeit in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre. So dokumentiert das SOEP für die deutsche Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren ein Absinken der allgemeinen Bindungsquote von 82 Prozent im Jahr 1993 auf 75 Prozent im Jahr 2009 (Eckhard 2015: 50)"
(2016, S.82),

schreiben Jan ECKHARD und Thomas KLEIN in ihrem Aufsatz Partnerlosigkeit in Deutschland und im internationalen Vergleich aus dem Jahr 2016. Die Autoren betrachten jedoch nur den Zeitraum 1993 - 2009 und kommen hier für die 18- bis 60-Jährigen der deutschen Bevölkerung auf eine Zunahme der Partnerlosigkeit (definiert als Bindungslosigkeitsquote) von 18 auf 25 Prozent. Die Frage nach der Zunahme der Partnerlosigkeit ist in erster Linie eine Normative, wie die Autoren nach einem Vergleich verschiedener Datensätze zeigen:

"Im Ergebnis erfordert die Frage nach der Entwicklung der Partnerlosigkeit eine differenzierte Antwort: Versteht man unter Partnerbindung das Vorhandensein einer gewissen Stabilität der Paarbeziehung, dann ist eindeutig ein Rückgang der Partnerbindung und somit ein Anstieg der Partnerlosigkeit zu konstatieren. Geht man hingegen von einer Definition aus, die unter Partnerbindung auch sehr kurze Beziehungserfahrungen und instabile Verhältnisse subsumiert, so ist von einer weitgehenden Konstanz der Bindungs- bzw. Partnerlosigkeitsquoten zu sprechen."
(2016, S.382)

BRECH & JIMÉNEZ suggerieren uns aber sogar einen Trend, der darauf basiert, dass die USA uns Deutschen immer einen Schritt voraus sind, aber sie vergleichen Äpfel (Unverheiratetsein) mit Birnen (Partnerlosigkeit). Denn wenn man die Zahl der Unverheirateten nimmt, was die Journalistinnen ja für die USA getan haben, dann ist Deutschland den USA weit voraus, denn bei uns sind nicht nur 45 % der Bevölkerung unverheiratet, sondern 2014 waren es nach dem Statistischen Jahrbuch 2016 fast 56 % (vgl. Tabelle 2.1.12, S.33). Die kulturellen Unterschiede werden von den Journalistinnen also beim Single-Dasein ausgeblendet, weshalb sich die Befunde von DePAULO keineswegs einfach auf Deutschland übertragen lassen. Bei uns ist das Unverheiratetsein wesentlich unproblematischer als in den USA, dagegen fokussiert sich die Stigmatisierung in Deutschland auf die Dimensionen Partnerlosigkeit und Kinderlosigkeit.

Der Artikel ist auch ansonsten wenig aussagekräftig, da von Singles gesprochen wird, ohne dass klar wird, wer jeweils gemeint ist: Unverheiratete, Alleinlebende, Paare ohne gemeinsamen Haushalt oder Partnerlose. Dies sind verschiedene Lebensformen, deren Leben sich durchaus ganz unterschiedlich gestalten kann.

"Weil ein genauerer Blick auf Singles überfällig war, stieg Bella DePaulo tief ein in die 19.582 Studien zu Partnerschaften und 501 Studien zu Singles, die sie für den Zeitraum zwischen 2000 und 2015 fand. 814 davon blieben übrig, die sie sinnvoll auswerten konnte: (...).
Je genauer die Wissenschaftlerin aber hinsah, desto mehr grundsätzliche methodische Fehler entdeckte sie. Da wurden zum Beispiel regelmäßig 20-Jährige Singles und 40-jährige Geschiedene zusammen in eine Gruppe gesteckt und mit den verheirateten Paaren verglichen. So rechnete man die gescheiterten Paare aus der Paarstatistik heraus und schob sie den Singles zu",

schreiben die Journalistinnen, als ob das uns Lesern einen Erkenntnisgewinn bringen würde. Offenbar wissen die Journalistinnen nicht, über was sie schreiben. Ihr einziges Fallbeispiel ist eine alleinwohnende 57-jährige Frau, die als Heilpraktikerin in einer Großstadt mit ca. 300.000 Einwohnern lebt und deren letzte Partnerschaft vor 11 Jahren endete. Ist diese Frau überhaupt repräsentativ für Partnerlosigkeit in Deutschland oder soll sie nur ein - gar nicht so neues Stereotyp bestätigen? Soziologen sehen das Problem der Partnerlosigkeit in erster Linie bei jungen Männern. Auch Witwen und weniger Witwer haben (noch) großen Anteil an der Partnerlosigkeit in Deutschland. Die kinder- und partnerlose Karrierefrau ist zwar in den Medien sehr präsent, weil dort diese Spezies auch weit verbreitet ist - gesamtgesellschaftlich spielt sie dagegen eher keine große Rolle.

"Es gab so gut wie keine Studien, die Singles im Zentrum ihres Interesses stellten. Meist waren sie nur zu einem Zweck interessant: Als Kontrollgruppe, als Folie, gegen die man die Paarbeziehungen stellen konnte",

schreiben BRECH & JIMÉNEZ. Das vernachlässigt die Tatsache, dass Singlestudien meist politisch motiviert sind - insbesondere in Deutschland bevölkerungs- und sozialpolitisch. Ihr Negativimage rührt in erster Linie daher, dass sie als Sündenbock herhalten müssen. Ihnen wird die Schuld an der Wohnungsnot, dem Aussterben der Deutschen, den Umweltproblemen usw. zugeschrieben. Da der Singlebegriff so dehnbar ist, wurde schon von Single-Gesellschaft gesprochen, andererseits sind Singles immer die anderen.

BRIGITTE-Dossier: Ich bin einsam.
Mal allein sein, gilt in unserer lärmenden Gesellschaft mittlerweile als Luxus. Sich einsam zu fühlen ist dagegen ein größeres Tabu als jemals zuvor. Dabei kann es jeden irgendwann mal im Leben treffen

NIEMANN, Sonja (2017): Niemand da.
Einsamkeit lässt sich leicht kaschieren, denn sie hat viele Gesichter. Daher erkennt man sie nicht immer sofort. Manchmal noch nicht mal bei sich selbst,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

Sonja NIEMANN erklärt uns den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Während die Soziologie der Gemeinschaft noch vom Alleinleben direkt auf die soziale Isolation schloss, führte die Psychologie der Gesellschaft zu einer Ausdifferenzierung in die objektive Tatsache des Alleinseins und das subjektive Gefühl der Einsamkeit. In der Therapiegesellschaft wurde Einsamkeit zum Problem jedes Einzelnen, das er notfalls unter zur Hilfenahme einer Psychotherapie lösen muss, um seine Funktionsfähigkeit in unserer mobilen und flexiblen Gesellschaft des neuen Kapitalismus wiederherzustellen.

"Die größte Gruppe unter den schwer Einsamen waren (...) nicht die Rentner, sondern diejenigen, die die Studie als »Workaholics« klassifizierte",

schreibt NIEMANN, was auch den Stellenwert von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft zeigt. Dass Umzüge neuerdings in den Medien vermehrt als Einsamkeitsproblem thematisiert werden, zeigt auch den zentralen Stellenwert der Mobilität. In der Hartz-Gesellschaft werden nicht nur Aufstiegsorientierte, sondern auch jene, die vom Abstieg bedroht sind, zur Mobilität gezwungen, obwohl ihre Ressourcenausstattung ungleich schlechter ist (vgl. Nadia & Daniel LOIS, "»Living apart together« - eine dauerhafte Alternative?", soziale Welt H.2/2012). Während die Psychologie für die Therapierbarkeit der Einsamkeit steht, führen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu, dass die "Auslöser" von Einsamkeit immer zahlreicher werden. Gute Zeiten für das Geschäftsfeld Psychologie! Oder wie es bei NIEMANN heißt:

"Es liegt an uns. Und das ist die gute Nachricht."

Ob das schlechte Zeiten für alle jene sind, die an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwas ändern möchten statt nur die Symptome zu kurieren? Auch das liegt an uns!  

ARNDT, Stephanie (2017): "Meine Hoffnung und meine Zukunft - alles war kaputt".
Als Silvia, heute 52, sich vor 14 Jahren scheiden ließ, wusste sie nicht, dass dies auch die Trennung von ihren Kindern bedeuten würde. Sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

WIEBE, Silia (2017): "Was wisst ihr schon von meinem Leben?"
Nike, 34, hatte schon als Kind das Gefühl nicht wirklich dazuzugehören. Und das konnte ihr bis jetzt keiner nehmen. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

ARNDT, Stephanie (2017): "Er ließ mich emotional verhungern".
Ruth, 68, wollte nach dem Tod ihres Mannes nicht allein leben. Sie fand einen neuen Partner und blieb mit ihm zusammen - obwohl sie sich nie so einsam fühlte wie an seiner Seite. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

WERKMEISTER, Meike (2017): "Auch diesen Ort, diese Freunde, werden wir wieder verlassen".
Eva Baker, 40, ist als Angestellte des Goethe-Instituts in den vergangenen zehn Jahren fünfmal umgezogen. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und ihrer fünfjährigen Tochter in Australien. Und jedes Mal bedeutet es einen Neuanfang. Ein Protokoll,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

NIEMANN, Sonja (2017): "Jeder ist selbst für seine Einsamkeit verantwortlich".
Ja, es gibt oft äußere Auslöser. Ja, man muss das erst mal verarbeiten. Aber dann sind wir dran, etwas zu ändern, sagt die Psychologin Dr. Eva Wlodarek. Und sie weiß auch, wie,
in:
Brigitte Nr.8 v. 29.03.

Eva WOLDAREK verkündet uns das neue Ethos der Einsamkeit unseres neoliberalen Zeitalters. Die Psychotherapie ist erst in unserer individualisierten Gesellschaft zum Massenphänomen geworden. Sie ist ein Kind der Bildungsexpansion.  

MÜLLENDER, Bernd (2017): Mitten unter uns.
Reportage: Die Stadt Aachen veranstaltet Trauerfeiern für vereinsamt Verstorbene: ohne Familie, ohne Angehörige, manche auch ohne Freunde - aber mit einem letzten Würdevollen Gedenken,
in:
TAZ v. 03.05.

"Die Stadt Aachen gibt 133 Menschen mit einer öffentlichen Gedenkfeier samt ökumenischem Gottesdienst ein letzter, würdiger Abschied. Es sind die Verstorbenen der vergangenen zwölf Monaten, bei denen keine Angehörige ermittelt werden oder niemand für die Bestattung aufkommen konnte. (...).
Nicht viele Städte händeln das Sterben der Vereinsamten wie Aachen. Krefeld macht es ähnlich, auch Leipzig, Köln oder Osnabrück. Viele andere Gemeinden bestatten weiterhin gedenkenlos",

berichtet Bernd MÜLLENDER über die so genannten Amtsbestattungen, die zu einem Kostenfaktor für die Kommunen geworden sind:

"Etwa 2.500 Euro aufwärts kostet die Stadt eine »Bestattung von Amts wegen«. Bei 133 Verstorbenen macht das an die 350.000 Euro pro Jahr. »Und die Fälle«, sagt Elke Wartmann vom Ordnungsamt, »nehmen gut zu. In den vergangenen vier Jahren, seit wir das so machen, mehr als 50 Prozent«. Die Gründe? »Naheliegend«, meint sie, »immer mehr Familien gehen auseinander, man lebt in der ganzen Welt verstreut, dazu die wachsende Altersarmut. Und insgesamt steigt die Vereinsamung ganz offensichtlich erheblich«",

zitiert MÜLLENDER eine Behördenmitarbeiterin. Der Soziologe Janosch SCHOBIN hat sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der Armenbestattungen beschäftigt. Demnach existiert keine für Deutschland aussagekräftige Statistik über die Entwicklung solcher Bestattungen. Auch über die Gründe für die Zunahme kann bislang nur spekuliert werden, weil über die Verstorbenen kaum mehr als ihr Alter und Geschlecht bekannt ist.

"133 im Jahr klingt nicht viel für eine Viertelmillionenstadt wie Aachen, indes betrifft das schon jeden 18. aller pro Jahr Verstorbenen. In Köln ist es schon jeder 12, in Berlin jeder 9. Das sind in der Hauptstadt pro Tag fast 10 vereinsamt Verstorbene",

berichtet MÜLLENDER. Aber was sagt das aus? Arme sterben früher, d.h. wir haben es hier oftmals schon mit den Babyboomern zu tun - meist sind es zudem Männer. Inwiefern also Steigerungsraten von 50 Prozent einen realistischen Trend beschreiben, ist mehr als fraglich. Dazu müsste ein größerer Zeitraum beobachtet und repräsentative Stichproben erhoben werden. Nichts davon ist derzeit der Fall, sodass es sich hier lediglich um Spekulationen handelt. Reißerische Berichterstattung verstellt eher den Blick auf die Realität.

COULMAS, Florian (2017): Versuchsstation des Weltuntergangs.
Japan wird immer älter - und geht uns voran in eine Zukunft der Roboter und der Einsamkeit,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 22.09.

RÖTZER, Florian (2017): Viele alte Menschen sind chronisch einsam.
Eine britische Organisation spricht von einer "Einsamkeitsepidemie", die mit der älter werdenden Gesellschaft schnell zunehme,
in:
Telepolis v. 23.09.

"51 Prozent der Menschen über 75 Jahre leben allein",

schreibt Florian RÖTZER. In einer PR-Information der Organisation Campaign to End Loneliness steht dagegen:

"Over half (51%) of all people aged 75 and over live alone (Office for National Statistics 2010. General Lifestyle Survey 2008)"

Die Zahlen, die uns RÖTZER nennt, sind also bereits ein Jahrzehnt alt. In der Veröffentlichung Families and households in the UK: 2016 des Office of National Statistics vom November 2016 ist die Entwicklung der Alleinlebenden in Großbritannien zwischen 1996 und 2016 ersichtlich (vgl. 2016, Schaubild 6, Seite 11):

Es zeigt sich, dass das Alleinleben im Alter von 75 Jahren und älter zwischen 2008 und 2016 nicht zugenommen hat, obwohl doch die Bevölkerung altert. Das hohe Alter ist nicht männlich wie im mittleren Lebensalter, sondern weiblich. Frauen besitzen in der Regel mehr Kontakte als Männer. Zudem ist Einsamkeit nicht identisch mit dem Alleinhaushalten. Heimbewohner, die von Einsamkeit betroffen sind, fallen aus dieser Haushaltsstatistik heraus, was von RÖTZER nicht erwähnt wird, obwohl gerade dort die Einsamkeit verbreiteter sein könnte. Mit der Zunahme von modernen Altenpflegeeinrichtungen (Betreutes Wohnen) verändert sich zudem auch das Alleinhaushalten im Alter. Auch dieser Aspekt kommt in dem Artikel nicht vor.

Nicht die Verbesserung des Lebens im Alter steht im Mittelpunkt, sondern die Kostenersparnis, was von RÖTZER dem neoliberalen Zeitgeist zugeschrieben wird:

"Da es mittlerweile zum Usus gehört, stets auf die ökonomischen Folgen hinzuweisen und mit Kostenersparnissen für Veränderungen zu werben, fehlt dies auch hier nicht. Die Organisation hat eine Studie bei Wissenschaftler der London School of Economics (LSE) in Auftrag gegeben, nach der sich die Investition in die Bekämpfung der Einsamkeit rentieren würde.
Für jedes Pfund, das man in wirksame Maßnahmen zur Reduzierung oder Prävention von Einsamkeit investiert, würden 3 Pfund gespart. Pro Person im Alter von über 65 Jahren, die sehr einsam ist, würden die gesellschaftlichen und medizinischen Kosten in zehn Jahren 6000 Pfund betragen. Die Menschen suchen beispielsweise häufig einen Arzt auf, nur um mit jemanden sprechen zu können. Die Studie untersucht im wesentlichen die ökonomischen Faktoren unterschiedlicher Maßnahmen."

Es sagt mehr über unsere Gesellschaft aus, dass Verbesserungen nur dann durchsetzbar erscheinen, wenn sie mit Kostenersparnissen verbunden sind. Eine solche Ideologie sorgt dafür, dass Verbesserungen, die nicht als Kostenersparnis deklariert werden können, gar nicht erst in Angriff genommen werden.

Fazit: Man tut den älteren Alleinlebenden keinen Gefallen, wenn man mit Schwarz-Weiß-Begriffen wie "Einsamkeitsepidemie" hantiert. Das macht Angst und Angst ist bekanntlich der schlechteste aller Ratgeber! Dann steht am Ende nicht Handeln, sondern Ohnmacht und Apathie.

LIPPENS, Jan (2017): Kein Sex ist auch keine Lösung.
Sehnsüchte: Seitdem unser Autor über seine verheerenden Dating-Erlebnisse als 60-Jähriger geschrieben hat, teilen viele ihre Erfahrungen mit ihm. Einsichten in die Einsamkeit,
in:
TAZ v. 30.09.

SCHAAF, Julia  (2017): Ein nahezu perfektes Verbrechen.
Das ist der Albtraum der alternden Gesellschaft: Ein einsamer 80-Jähriger wird erschossen, zehn Jahre liegt seine Leiche in einer Tiefkühltruhe, der Mörder bezieht die Rente - und keiner merkt etwas. Oder vielleicht doch?
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.11.

"Diese beunruhigende Geschichte, in der es darum geht, dass alte Menschen in der Anonymität der Großstadt so einsam sind, dass sie Opfer eines nahezu perfekten Verbrechens werden können, handelt von drei Männern und einer Frau.
Der erste Mann ist der Rentner Heinz N., der schon zu DDR-Zeiten in der Zweizimmerwohnung mit der großen Küche an der Hosemannstraße lebte, dort wo Prenzlauer Berg Richtung Weißensee ausfranst und so viel ärmlicher und trostloser wirkt als der Rest des Kiezes. Nachbarn bescheinigen Heinz N. »eine angenehme Art«, aber weit dem Tod seiner Frau muss der Mann weitgehend allein gewesen sein: keine Kinder, keine Verwandten. Kontakte zu ehemaligen Arbeitskollegen waren längst eingeschlafen",

erzählt uns Julia SCHAAF in ihrer Gerichtsreportage, in der es um einen Mörder geht, der sich die Rente von rund 2.000 Euro erschlichen hat - und möglicherweise auch die 900 Euro Rente einer seit 2000 verschwundenen Frau.

"Wie kann es sein, dass weder der Hausarzt noch die Krankenkasse nachfragen, wenn ein betagter Mann auf einmal keinerlei medizinische Behandlung mehr braucht? Warum zahlt die Rentenversicherung stoisch weiter? Was ist mit den Nachbarn?"

Ein Nachbar, der lange vergeblich auf ungewöhnliche Umstände aufmerksam machte, wird als "Verschwörungstheoretiker", der "Hartz IV bezieht" beschrieben. Die Hausverwaltung reagierte jedenfalls nicht auf seine "Besessenheit".

Hätte die Deutsche Rentenversicherung aufmerksam werden müssen? Diese Frage treibt die Medien schon seit Jahren um. Ob in Japan angeblich Tausende Renten von Toten bezogen wurden oder in Spanien solche Einzelfälle aufgedeckt wurden. Der Artikel endet mit beruhigenden Aussagen der DRV:

"Die Deutsche Rentenversicherung bleibt gelassen. Der elektronische Sterbedatenabgleich zwischen Standesämtern, Meldebehörden und der Rentenkasse funktioniere vorzüglich; falls der jährliche Anpassungsbescheid mit der Post zurückkomme, hake man eben nach. Die früher üblichen »Lebensbescheinigungen« müssen nur noch Rentner im Ausland einreichen. Angesichts von mehr als 25 Millionen Rentenzahlungen im Monat sagte ein Behördensprecher: »Nach unseren Erkenntnissen kommt es äußerst selten vor, dass Menschen jahrlang tot in ihrer Wohnung lieben und Rente beziehen.« Und er ergänzt: »Wenn ein solcher Fall bekannt wird, fordern wir die unrechtmäßigen Rentenzahlungen im Sinne der Versichertengemeinschaft selbstverständlich zurück.«"

LEE, Felix (2017): 22.860.000.000 Euro gegen die Einsamkeit.
Mit Konsumrabatten wollte der chinesische Internetgigant Alibaba ursprünglich die vielen Singles im Land am 11.11. über ihr Alleinsein hinwegtrösten. Inzwischen hat sich dieser Tag zum größten Verkaufstag der Menschheitsgeschichte entwickelt,
in:
TAZ v. 13.11.

FRIMMER, Valentin (2017): Wenn Einsamkeit krank macht.
Mehr als jeder zehnte Deutsche leidet unter dem Gefühl des Alleinseins. Das kann schwere Folgen für die Gesundheit haben,
in:
Frankfurter Rundschau v. 22.12.

US-amerikanische Christliche Fundamentalistinnen erklären uns immer noch, dass Alleinwirtschaften ("Einpersonenhaushalt"), soziale Isolation und Einsamkeit mehr oder weniger dasselbe wäre. Dabei bezeichnen die drei Begriffe völlig Unterschiedliches. Wer einen Einpersonenhaushalt führt, der muss weder alleinwohnen, noch muss er partnerlos sein. Nur unfreiwillige Partnerlosigkeit bzw. Beziehungslosigkeit über längere Zeiträume ist mit sozialer Isolation (soziologischer Begriff) bzw. Einsamkeit (psychologischer Begriff) gleichzusetzen und krankmachend.  

2018

PILTZ, Christopher (2018): Ohne mich!
Eltern, Partner, Freunde: Ständig haben andere Erwartungen an uns. Passen wir kurz nicht auf, gleicht unsere Freizeit einem Terminmarathon. Wie wir es schaffen, die Kontrolle über die Momente zurückzugewinnen, die eigentlich nur einem gehören sollten: uns selbst,
in:
Neon, Januar

WÄHLER, Martin (2018): Der letzte Weg.
Armenbegräbnis: Von Behörden beauftragte Beerdigungen werden mehr - ein Zeichen für Vereinsamung und wachsende Armut. Wie läuft so etwas ab? Ein Besuch in Düsseldorf,
in:
Freitag Nr.1 v. 04.01.

Armenbestattungen sind erst in den letzten Jahren überhaupt ein Thema geworden, nachdem bereits seit den 1990er Jahren in der Sensationspresse das einsame Sterben als Problem der Single-Gesellschaft beschworen wurde. Der Düsseldorfer Fall, den Martin WÄHLER schildert, passt jedoch nicht ganz ins typische Schema. Weder lag der "Vereinsamte" monate- oder gar jahrelang in seiner Wohnung, sondern wurde relativ schnell gefunden, weil es eine "funktionierende Hausgemeinschaft" gab bzw. der "Vereinsamte" eine Funktion innerhalb der Hausgemeinschaft innehatte, sodass sein Tod schnell auffiel. Er wird von seinen Nachbarn als "Eigenbrötler" beschrieben, d.h. Vereinsamung ist auch eine Folge von Verhaltensweisen, die zum Selbstausschluss führen. Viel hat WÄHLER jedoch nicht über den alleinstehenden Mann erfahren.

"Er war Frührentner, hatte offenbar Schulden und war dem Alkohol nicht abgeneigt."

Solche "Einsamkeitskarrieren" brechen nicht über Nacht herein und in diesem Fall hatte der Tote sogar eine Schwester, die "um die Ecke wohnte", zu der aber offenbar der Kontakt abgebrochen war - zumindest kannte sie keiner der Hausbewohner, mit denen WÄHLER gesprochen hat.

Das Thema Armenbestattung wird in der Presse vor allem unter Kostengesichtspunkten diskutiert. Nicht Fälle wie die des Düsseldorfer Toten stehen deshalb im Vordergrund, sondern so genannte Sozialbestattungen, bei denen die Suche nach zahlenden Angehörigen erfolglos geblieben ist und die überwiegen.

"Die Zahl der Sozialbestattungen stieg laut Aeternitas E.V. einer Verbraucherinitiative für Bestattungskultur, zwischen 2008 und 2015 von 24.069 auf 27.101 an, um fast 13 Prozent - unter anderem wegen der Alterarmut. Die Daten zu den Ordnungsamtsbestattungen sind ungenauer. Düsseldorf verzeichnete 2016 rund 7.000 Sterbefälle, davon ungefähr 400 Bestattungen, die das Ordnungsamt in Auftrag gegeben hatte. Das ist nur eine Schätzung. Daten für das Bundesgebiet sind nicht bekannt."

Das Thema Armenbestattungen hat der Soziologe Janosch SCHOBIN 2016 in der Zeitschrift Sozialreform näher unter dem freundschaftssoziologischen Aspekt betrachtet.

SCHAAF, Julia (2018): "Einsamkeit schädigt die Gesundheit".
Eine Psychologin über die steigende Zahl einsamer Menschen unter uns und die Frage, ob die deutsche Politik etwas dagegen tun sollte,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 21.01.

Die konservative britische Premierministerin hat öffentlichkeitswirksam die Ministerin Tracey CROUCH, die für Sport und bürgerschaftliches Engagement zuständig ist, mit dem Kampf gegen Einsamkeit betraut (mehr hier und hier). Dies entspricht einer Logik, die der Soziologe Nicolas ROSE als "Regieren durch Community" kritisiert hat. Die Mainstreamzeitungen titelten daraufhin, dass Theresa MAY eine "Ministerin für Einsamkeit" ernannt hätte, was natürlich falsch ist, aber davon zeugt wie die Mainstreammedien ticken.

Bekanntlich hat die frühere neoliberale Premierministerin verkündet, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen. Dass eine solche Politik des flexiblen Kapitalismus das Einzelkämpfertum heroisiert, ist kaum verwunderlich. Die Kehrseite wird nun als "Einsamkeits-Epidemie" angeprangert, was das Problem verharmlost, indem es entpolitisiert und psychologisiert wird. Das zeigt sich auch in dem Interview mit der Psychologin Maike LUHMANN. Der flexible Kapitalismus heroisiert den extravertierten Menschen, was auch bei LUHMANN anklingt:

"Schaaf: Ist die Neigung zur Einsamkeit auch eine Frage der Persönlichkeit?
Luhmann: Auf jeden Fall. (...). Extravertierte Menschen sind geselliger und gehen gerne auf andere Menschen zu. Ihnen fällt es einerseits leichter, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen zu pflegen. Andererseits haben sie auch ein höheres Bedürfnis nach Kontakten, und wenn die dann fehlen, fühlen sie sich eher einsam als Menschen, die ohnehin introvertiert sind, schüchtern, gern einmal allein."

Gegen solche Vorurteile wehren sich inzwischen Introvertierte. Inwiefern Introversion und Schüchternheit zwei unterschiedliche Aspekte sind, darüber ist inzwischen ein Streit entbrannt. LUHMANN beklagt - im Interesse ihrer Profession eine psychotherapeutische Unterversorgung in Deutschland. Psychologen verwalten jedoch eher das Elend der Einsamkeit, weil sie nichts an den gesellschaftlichen Strukturen, z.B. dem beziehungs- und familienfeindlichen Arbeitsmarkt ändern können. Ziel von Psychotherapie ist die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft, nicht die Veränderung der Gesellschaft. Das kann nur die Politik. Die Situationen, die Einsamkeit fördern, sind der Zwangsmobilität in der Hartz-Gesellschaft geschuldet. Einsamkeit ist auch nicht - wie gerne angenommen wird - im Alter am verbreitesten (sieht man von krankheitsbedingten Einschränkungen ab), sondern in der Jugend und im Erwachsenalter. Das Problem bei den "Single-Haushalten" bzw. hohen Scheidungsraten zu suchen, lenkt von den gesellschaftlichen Ursachen ab.

MARINIC, Jagoda (2018): Einsamkeit.
Alleingelassen zu sein ist furchtbar. Aber es wäre falsch, das Alleinsein aus dem Leben zu vertreiben und zur Krankheit zu erklären, gar mit Hilfe eines Ministeriums,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 27.01.

EBERHARDT, Wolfram (2018): Einsam sein.
Es kann uns alle treffen: Jeder Dritte fühlt sich zeitweise einsam, und bei vielen wird dieser Zustand chronisch. Denn je mehr uns das Gefühl der Verbundenheit abhandenkommt, desto misstrauischer, eigenbrötlerischer - und einsamer werden wir. Wie entkommen wir dieser Falle?
in:
Psychologie Heute, Februar

Der Artikel von Wolfram EBERHARDT stellt zwei Aspekte in den Vordergrund: zum einen das neue Ethos der Einsamen, das die Psychologin Maike LUHMANN repräsentiert, und zum anderen die

"Armut als viel verlässlicheres Vorzeichen für Einsamkeit als das Alter",

das Oliver HUXHOLD vom Deutschen Zentrum für Altersfragen hervorhebt. Bei der Betonung des Ethos der Einsamen ist es in den letzten Jahren zu einer Verschiebung gekommen, was an der Entdeckung der neoliberalen Misstrauensgesellschaft liegen mag, denn nun wird das Misstrauen der Einsamen als Hauptproblem für deren soziale Isolation gesehen. Vor fast 15 Jahren wurde dieser Aspekt auf dieser Website als Problem ängstlicher Singles beschrieben. Statt von Misstrauen, wurde damals von der Ausrichtung auf negative Aspekte der sozialen Umwelt gesprochen. In der unserer Aktivgesellschaft heißt Integration der Einsamen schlicht, sie zur Selbstsorge aufzufordern:

"Anders als bei einer echten Gefängniszelle müsse in der Zelle der Einsamkeit die Tür fast immer von innen geöffnet werden, sagt Maike Luhmann - und empfiehlt kleine Schritte, um den unwirtlichen, kalten Ort zu verlassen. Aktiv werden, ohne allzu große Erwartungen zu haben, lautet die Devise." 

MÄRZ, Ursula (2018): In der Gefriertruhe.
Am Prenzlauer Berg in Berlin verschwinden zwei alte einsame Menschen und werden jahrelang nicht vermisst. Nur die Rente wird weiter ausbezahlt - an den mutmaßlichen Mörder,
in:
Die ZEIT Nr.6 v. 01.02.

DPA (2018): Einsam und arm – immer mehr Alleinstehende von Armut bedroht.
In Großbritannien wurde zuletzt ein Regierungsposten gegen Einsamkeit eingerichtet. Jetzt werden dramatische Zahlen aus Deutschland bekannt,
in:
Handelsblatt Online v. 13.02.

Die Ergebnisse zur Armutsbedrohung ("Leben in Europa") im Jahr 2016 wurden bereits am 08.11.2017 vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. Unter der Rubrik "Lebensbedingungen, Armutsgefährdung" finden sich die im Artikel genannten 32,9 Prozent Alleinstehende jedoch unter dem Begriff Alleinlebende.

Unter der Rubrik "Armutsgefährdung" wird dagegen für das Jahr 2016 eine Armutsquote für die Einpersonenhaushalte von 26,3 Prozent angegeben. Der Unterschied besteht darin, dass Alleinlebende nur Personen sind, die einen Hauptwohnsitz angegeben haben, während bei den Einpersonenhaushalten sowohl Personen am Haupt- und Nebenwohnsitz gezählt werden.

Der im Artikel verwendete Begriff des Alleinstehenden wird vom Statistischen Bundesamt dagegen für Personen verwendet, die ohne Ehe- oder Lebenspartner und ohne ledige Kinder in einem Haushalt leben. Alleinlebende sind also eine Untergruppe der Alleinstehenden.

Die Agenturmeldung nutzt den Hype um eine wenig erhellende Debatte um eine zusätzliche Aufgabenzuweisung an eine britische Ministerin, um politische Forderungen zur Bekämpfung von Armut zu stellen, denn Einsamkeit ist nicht das Thema des Artikels, sondern nur der Ökonomie der Aufmerksamkeit geschuldet.

GIESELMANN, Dirk (2018): Beim heiligen Hans.
ZEIT-Titelgeschichte Nachbarn: Kommt alle! In einem anonymen Berliner Hochhaus lädt ein alter Herr die Einsamen zum Essen ein,
in: Die ZEIT Nr.
9 v. 22.02.

In der Wohlfühlzeitung gibt es heute einen Artikel, den man eher in einem Boulevardblatt vermutet. Ob Essenseinladungen geeignet sind, um Einsamkeit zu bekämpfen, ist fraglich. Es zeigt aber eine Tendenz, seit von einem angeblichen Einsamkeitsministerium in Großbritannien berichtet wird, dass der Begriff schnell bei der Hand ist und damit Einsamkeit verharmlost wird.

ENORM-Titelthema: Nie mehr allein.
Jeder braucht Zugehörigkeit: Wie wir Einsamkeit verhindern können und warum Gemeinschaft stark macht

POLIER, Xenia von (2018): Das stille SOS.
Als Großbritannien im Januar ein Ministerium für Einsamkeit schuf, sorgte das erst für Verwunderung. Dann begann eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Denn viele Millionen alte und junge Menschen sind einsam - auch in Deutschland. Warum ist das Gefühl sozialer Isolation so gefährlich und was können wir dagegen tun?
in:
Enorm, Nr.1, März/April

HALANG, Vincent & Xenia von POLIER (2018): Ein Wisch zur Freundschaft.
Auf dem Smartphone neue Freunde finden - so versprechen es moderne Freundschafts-Apps. Doch braucht es wirklich die digitalen Helfer und was machen sie mit unseren Freundschaften?
in:
Enorm, Nr.1, März/April

LANGROCK-KÖGEL, Christian (2018): Schaut Euch in die Augen, Fremde!
Anderen Menschen begegnen wir auf der Straße meist ziemlich verschlossen - entsprechend anonym ist die Öffentlichkeit. Die Bewegung "Eye Gazing" möchte mehr Begegnung schaffen - und organisiert Treffen, bei denen man sich einfach schweigend ansieht. Was geschieht dabei?
in:
Enorm, Nr.1, März/April

RÖTZER, Florian. (2018): Soziale Isolation und Einsamkeit machen krank.
Eine umfangreiche Studie weist auf das erhöhte Risiko hin, das stark auch mit sozioökonomischen Faktoren zusammenhängt und damit einen Hinweis auf die Debatte um Hartz-IV gibt,
in:
Telepolis v. 29.03.

Dass chronische, d.h. über einen längeren Zeitraum wirkende Einsamkeit, krank macht ist unbestritten. In letzter Zeit werden aber auch kurzzeitige Einsamkeitsgefühle immer wieder zu einer "Einsamkeitsepidemie" stilisiert. Das hilft einsamen Menschen nicht. Auch der Begriff "soziale Isolation", der ein soziologisches Phänomen bezeichnet ist vom psychologischen Begriff der Einsamkeit zu unterscheiden. Ersterer bezeichnet objektive, empirisch ermittelte Tatbestände, während letzterer subjektiv empfundene Gefühle meint. Inwieweit beide Phänomene krank machen, hängt von der Definition ab. Während der eine Mensch 100 Kontakte haben kann und sich trotzdem einsam fühlt, kann ein anderer wenige Kontakte haben, aber trotzdem zufrieden sein. Entscheidend ist die Qualität der Beziehungen und nicht die reine Quantität, die meist in Massenumfragen erfasst wird.

Armut erhöht die Gefahr von chronischer Einsamkeit, was nicht unbedingt an der Armut an sich, sondern an den Begleiterscheidungen zusammenhängt, die mit Armut einhergehen: fehlende Teilhabemöglichkeiten in einer geldfixierten Gesellschaft. Scheidungen führen bei Männern vielfach zum langfristigen Verlust zentraler Beziehungen sowie Armut und erhöhen dadurch das Sterberisiko. Auch eine Wiederheirat kommt bei armen Männern seltener vor. Die Wege in die Einsamkeit sind jedoch sehr vielfältig.

Ob die Abschaffung von Hartz IV die krankmachende Einsamkeit reduzieren würde, hängt auch mit den gesellschaftlichen Alternativen zusammen, die an die Stelle von Hartz IV treten. Der Artikel von RÖTZER leistet hierzu keine erhellenden Ausführungen. Mit der Abschaffung von Hartz IV fallen noch lange nicht die Stigmatisierungen und Diffamierungen von Armut und Armen in der neoliberalen Gesellschaft weg. 

ERLINGER, Rainer (2018): Ohne alle.
Einsamkeit macht krank und kann sogar töten, so hört man derzeit ständig. Doch Alleinsein kann auch etwas Wunderbares sein. Über einen höchst widersprüchlichen Zustand,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 31.03.

Rainer ERLINGERs Artikel  über die Einsamkeit ist das genaue Gegenteil von Florian RÖTZERs Artikel. Beide gehen auf ihre einseitige Weise am Kernproblem vorbei. Während RÖTZER nicht zwischen kurzzeitigen und chronischen Einsamkeitsgefühlen unterscheidet, setzt ERLINGER Alleinsein mit Einsamkeit gleich. Beides hilft Betroffenen nicht weiter, sondern ist ein Reflex der Debatte über die Single-Gesellschaft. Welche Verschiebungen im Diskurs stattgefunden haben, zeigen zwei Beiträge zum Thema, der erste aus dem Jahr 2002, der zweite aus dem Jahr 2006. Dazwischen liegt ein Paradigmenwechsel, der zum einen mit den Hartz-Gesetzen und zum anderen mit der Verschiebung der Debatte vom Alleinleben zur Partnerlosigkeit zu tun hat.

LENZEN-SCHULTE, Martina (2018): Wird der Einsame krank oder der Kranke einsam?
Der Psychiater Manfred Spitzer will die Antwort auf diese Frage lieber nicht so genau wissen. Sie könnte sein Weltbild trüben, in dem der wahre Verantwortliche für die Misere längst feststeht,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.05.

Martina LENZEN-SCHULTE richtet sich gegen "Spitzers Kreuzzüge gegen die digitale Welt" und gegen Interpretation von Korrelationen ("Zusammentreffen von Faktoren") als Kausalzusammenhang, wobei Manfred SPITZER hier keineswegs eine Ausnahme, sondern insbesondere in Medienberichterstattung die Regel ist.

"Es gibt Krankheiten, die gehäuft mit Einsamkeit assoziiert werden - etwa Bluthochdruck, Schlaganfall, Herzinfarkt und Krebs. Spitzer deutet dies als »negative Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolation auf die Gesundheit und die Lebenserwartung«. (...). Das geben die Daten indes mitnichten her.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien nennen Krankheit vielmehr als Risikofaktor für Einsamkeit",

kritisiert LENZEN-SCHULTE. Sie nennt als Beispiele Schlaganfall und Parkinson, die einen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben begünstigen.

Dass Krankheiten jedoch die Ursache für jedes Einsamkeitsgefühl ist, wäre jedoch auch zu weit hergeholt. Die Zusammenhänge sind vielmehr komplexer. Einsamkeit kann sehr wohl krank machen, wenn Einsamkeitsgefühle chronisch werden. Krankheiten können auch Einsamkeit fördern wie LENZEN-SCHULTE zu Recht einwirft. Ob dies jedoch eine Kausalursache ist oder eher eine Wechselwirkung, das ist eine Frage, die kaum leicht zu beantworten ist und epidemiologische Untersuchungen erfordert. Selbst dann sind Nachweise schwierig, weil viele Studiendesigns nicht unbedingt das messen, was sie zu messen vorgeben.

"Das Anwachsen der Einpersonenhaushalte soll zum Beispiel die These von der stetig zunehmenden Vereinsamung stützen. Wer auf die Singlewebsites schaut, darf vermuten, dass diese Gruppe eine derart pauschal negative Konnotation sicher von sich weisen würde.
Die wachsende Anzahl alleinlebender älterer Menschen ist dafür ebenfalls kein Beweis",

kritisiert LENZEN-SCHULTE zu Recht, denn insbesondere in den 1980er und 1990er Jahre wurde das Alleinleben gerne als soziale Isolation aufgefasst, obwohl das Alleinleben eine sehr heterogene Lebensform war und ist. Nicht erst seit in Großbritannien angeblich ein "Einsamkeitsministerium" eingerichtet wurde, hat sich in Deutschland wieder eine weniger differenzierte Sicht auf das Alleinleben ausgebreitet. Dies hängt damit zusammen, dass das Alleinleben nicht mehr mit freiwilligem, sondern mit unfreiwilligem Alleinleben assoziiert wird.

"Ist das Buch der »überfällige Weckruf«, als den es der Klappentext anpreist? Bereits vor einem Vierteljahrhundert erschienen Artikel, die mit Titel wie »Preis der Ich-Sucht« auf das »Millionenschicksal Einsamkeit« aufmerksam machten",

wirft LENZEN-SCHULTE zum Schluss ein.

MITIC, Katja (2018): Der letzte Freund.
Immer mehr Menschen vereinsamen, Freiwillige wie Lothar Katz spenden ihnen Trost. Denn er weiß, was Einsamkeit auslöst - und wie jeder vorbeugen kann,
in:
Welt v. 10.07.

MÜHL, Melanie (2018): Diese schreckliche Leere.
Einsamkeit ist eine individuelle Tragödie und ein gesellschaftliches Problem. von ihr ist sogar im Koalitionsvertrag die Rede. Aber wie will man sie bekämpfen? In einer Berliner Einrichtung hat man damit angefangen. Ein Besuch,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.07.

"Friedrichsfelde Süd. Einem Stadtteil, in dem überdurchschnittlich viele von Armut betroffene Kinder, alleinerziehende Mütter und alte Menschen auf engem Raum leben. Das Geld ist hier dermaßen knapp, dass jeder fünfte Einwohner Transferleistungen bezieht. Aber das ist nur die bezifferbare Realität. Armut, Arbeitslosigkeit, der Verlust des Partners, das Wegsterben langjähriger Freunde in hohem Alter, das alles sind Risikofaktoren für Einsamkeit. Demnach müssen in Friedrichsfelde Süd sehr viele einsame Menschen leben",

meint die neue Konservative Melanie MÜHL im Einsamkeitsfeuilleton der FAZ. Der Ostberliner Stadtteil Friedrichsfelde Süd, der zum Berliner Bezirk Lichtenberg gehört, ist nicht unbedingt ein sozialer Brennpunkt wie MÜHL suggeriert, sondern ein mit guter sozialer Infrastruktur bestückter Stadtteil. Dazu gehört auch der Zeit.Laden, den MÜHL vorstellt.

"Die existentielle Form der Einsamkeit (...) ist schrecklich. Sie geht mit einem Schmerzgefühl einher, dessen Grundton die Empfindung absoluter Unverbundenheit ist, die Angst, von allem und jedem fern zu sein, ausgeschlossen am Rande der Gesellschaft vor sich hin zu leben, isoliert und gemieden. Um diese Einsamkeit geht es hier",

meint MÜHL. Inwiefern diese Art von Einsamkeit gerade in Berlin Friedrichsfelde Süd verbreitet sein soll, wird in dem Artikel nicht belegt. Stattdessen ist die gute soziale Infrastruktur eher ein Hinweis darauf, dass dieser Stadtteil zu den aufgewerteten Stadtteilen gehört. Was den Stadtteil auszeichnet, ist jedoch ein wachsender Anteil von 80-Jährigen und Älteren. Es dominieren deutsche Frauen. Die existentielle Einsamkeit ist jedoch eher männlich, wenn man den Begriff überhaupt für sinnvoll halten mag, denn im Grunde geht es um chronisch gewordene Einsamkeit.

"Die größte Schwierigkeit (...) aber (sei) (...), die Einsamen hinter den verschlossenen Türen überhaupt aufzuspüren. Diejenigen zu finden, die nicht einmal mehr genügend Kraft aufbringen, sich Hilfe zu suchen",

zitiert MÜHL einen evangelischen Pfarrer des Zeit.Laden, dessen "Konzept der offenen Tür" wohl eher auf gesellige Frauen als auf Männer ausgerichtet ist.

Japan gilt den Journalisten als exotisches, moralistisches Alptraumbildnis einer "vergreisenden Konsumgesellschaft", wo die "gekaufte Illusion" und die "Realitätsverweigerung auf Stundenbasis" herrscht. Ob der Versuch der politischen Instrumentalisierung der Einsamkeit besser ist, das wäre die Frage, um die sich der Artikel herumdrückt.   

MISIK, Robert (2018): Zeitdiagnose Einsamkeit.
Gastkommentar: Individualismus und Lebensgefühl,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 25.07.

Robert MISIK, linksliberaler Popjournalist, betätigt sich als zeitgeistiger Existentialist, bei dem das 1950er Jahre-Motto existenzieller Einsamkeit in unsere Erfolgsgesellschaft übertragen wird:

"In der Erfolgsgesellschaft (...) läuft jeder für sich, muss den Erfolg ausstellen und verkörpern, denn nur der, dem man den Erfolg ansieht, der hat ihn auch. Das treibt Posertum und eine Kultur des Narzissmus hervor. (...). Man ist gewissermassen existenziell einsam, sogar wenn man es lebenspraktisch gar nicht ist. Womöglich ist das ja der tiefere Grund für den gegenwärtigen Hype um die Einsamkeit".

MISIK malt das Bild von der Single-Gesellschaft, das im Grunde nur die Sicht des sozial aufgestiegenen Akademikers in seiner Akademikermilieublase widerspiegelt, aber in den Mainstreammedien tagaus tagein als gesamtgesellschaftliches Bild transportiert wird:

"Neuerdings gibt es das signifikante Wachstum von Singlehaushalten, selbstgewähltes Alleinsein, das in Episoden der Einsamkeit umschlagen kann. Karrieremuster und häufige Wohnortswechsel können den Aufbau stabiler Freundschaftsnetze verunmöglichen. Neue Arbeitsformen verbreiten sich, in denen echte Kollegialität kaum mehr entsteht".

Das schnellste Wachstum der Einpersonenhaushalte gab es in Westdeutschland in den 1980er Jahren, nach der Wiedervereinigung wuchs diese Haushaltsform auch in Ostdeutschland an. In Zahlen ausgedrückt:

Im Zeitraum von 2007 bis 2017 stieg die Zahl der Einpersonenhaushalte um 3 Prozent, d.h. um durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahr. 41,3 Millionen Menschen lebten 2017 in diesen Einpersonenhaushalten. Zehn Jahre zuvor waren es rund 39,7. Das sind rund 1,6 Millionen mehr in 10 Jahren. Von 1977 bis 1987 stieg die Zahl der Menschen in Einpersonenhaushalten dagegen in Westdeutschland um 5,3 Prozent oder 2,8 Millionen Menschen.

Getragen wurde dieses schnelle Wachstum in den 1980er Jahren von den Babyboomern der Single-Generation. Als der Popsoziologe Ulrich BECK das Thema in dem Bestseller Das ganz normale Chaos der Liebe populär machte, war der Höhepunkt in Westdeutschland bereits überschritten. Da jedoch das aufgestiegene Akademikermilieu die neuen Zeitgeistmedien dominierte wurde das Auslaufphänomen zur Single-Gesellschaft überhöht. In den 1990er Jahren wurde dann die kinderlose Karrierefrau zum Sinnbild dieser Single-Gesellschaft. Im Zeichen der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme geriet in den Nuller Jahren die einsame, kinderlose Karrierefrau zum Umschlagspunkt der Debatte und der Single wurde vom Pionier der Moderne zur Leidfigur einer fehlgeleiteten Moderne. Die Einsamkeitshysterie ist nur die Fortsetzung dieser zeitgeistigen Modeerscheinungen, die viel mit dem Aufstieg des Nationalkonservatismus zu tun hat, der auch den Erfolg der AfD befeuert.

Zu Recht spricht MISIK von "alarmistischen Diagnosen", die im Aktionismus des britischen Brexit-Votums ihren Ausgang nahmen und im Fahrwasser des Rechtspopulismus auch in Deutschland Aufwind bekamen:

"Kaum eine Zeitung, die in jüngster Zeit nicht eine grosse Story über Einsamkeit brachte. »Ohne alle« titelte etwa die »Süddeutsche« und hielt dann ein Plädoyer für das Alleinsein, das Wiener »Profil« widmete dem »Lebensgefühl unserer Zeit« eine Cover-Story, und die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« analysierte: »Ist der Mensch einsam, leidet die Demokratie.«"

MISIK führt den norwegischen Philosophen Lars SVENDSEN ("Philosophie der Einsamkeit") und den Psychiater Manfred SPITZER ("Einsamkeit") als Vertreter dieser alarmistischen Debatte an. Mit dem Freundschaftssoziologen Janosch SCHOBIN weist MISIK jedoch darauf hin, dass bereits die Methodik von Umfragen das Antwortverhalten in Sachen Einsamkeit stark beeinflussen kann.

SCHRÖRS, Tobias (2018): Immer mittwochs klingelt es.
Irmgard Anna Fischer hadert nicht mit der Einsamkeit. Aber wie so viele Rentner fehlt ihr das Miteinander,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.09.

In Hessen ist Wahlkampf und Konservative lieben Einsamkeit als politisches Thema, das sich gefahrlos instrumentalisieren lässt:

"In Großbritannien wurde eigens ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen",

lautet eines der meist verbreiteten Fake-News. Tatsächlich wurde ein vorhandenes Ministerium einfach nur um einen Aufgabenbereich erweitert, der nichts kosten soll, aber möglichst viel Aufmerksamkeit bietet.

"Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, Vereinsamung zu bekämpfen",

lautet eine mantrahaft in der FAZ vorgetragene Botschaft. Mit Inhalten gefüllt wird das jedoch nur rhetorisch, d.h. vorhandene Projekte, die sich mit Einsamkeit irgendwie verbinden lassen, werden nun besonders hervorgehoben:

"Immerhin verweist das Ministerium auf bestehende Projekte, wie die 540 geförderten Mehrgenerationenhäuser. In Wiesbaden ist der Besuchs- und Begleitungsdienst Anknüpfungspunkt für ein Modellprojekt gegen Einsamkeit älterer Menschen."

Fazit: Die politische Instrumentalisierung der Einsamkeit ist für die Union etwa das, was das Rentenniveau für die SPD ist - ein Placebo!

MAYER, Verena (2018): Einfach mal reden.
Das Alter kann einsam machen, manche Senioren hören tagelang nur den Fernseher sprechen. In Berlin gibt es jetzt eine Hotline gegen das Alleinsein,
in: Süddeutsche Zeitung v. 05.10.

Verena MAYER berichtet über den Verein Silbernetz, gegründet von Elke SCHILLING, der in Berlin eine Telefonhotline betreibt. Vorbild ist das Londoner Projekt Silverline. Das Ladenlokal liegt in dem Berliner In-Stadtteil Pankow:

"Schilling ist 73, sie hat in der Altenhilfe gearbeitet und war lange die Seniorenbeauftragte ihres Bezirks. Sie hat viel gesehen. Wie schnell Einsamkeit krank und depressiv machen kann, am härtesten treffe es alte Männer, sagt Schilling. Ab einem Alter von 85 Jahren haben sie von allen Bevölkerungsgruppen die höchste Suizidalität.
Und Schilling musste selbst erleben, was passiert, wenn alte Mensche lange allein sind. In ihrem Berliner Mietshaus lebte ein Mann, der ihr beim Einziehen half. Als sie ihn länger nicht sah, klingelte sie bei ihm (...) Der Mann wimmelte sie ab, »wahrscheinlich hat er sich für seine Einsamkeit geschämt«, sagt Schilling. Das Nächste, was sie bemerkte war, dass die Prospekte vor seiner Wohnungstür immer mehr wurden. Sie rief die Vermieterin an, die bracht die Tür auf und fand den alten Mann. Er lag seit mehreren Wochen tot in der Wohnung",

berichtet MAYER über die Vereinsgründerin. Während einsame Männer meist mit Rückzug ins Private reagieren, nutzen Frauen eher soziale Einrichtungen. Aber auch hier hapert es:

"Auch gebe es immer weniger Treffpunkte für Alte, lokale Senioreneinrichtungen würden eingespart. Und die Kirchen betreiben zwar Altenhilfe, »aber wenn man da zum Kaffee geht, muss man gleich beten, das schreckt viele ab«",

zitiert MAYER die Vereinsgründerin. Im Gegensatz zu vielen Artikeln - insbesondere in der FAZ - wird hier Einsamkeit nicht politisch instrumentalisiert, sondern als Problem ernster genommen und Aufklärung über sich verfestigende Einsamkeit betrieben, wobei jedoch der Zusammenhang von verfestigender Einsamkeit und Armut ausgeblendet wird.

ANLAUF, Thomas (2018): Schluss mit dem Alleinsein.
Arme Senioren vereinsamen oft, dagegen wird in München nun aktiver etwas getan,
in: Süddeutsche Zeitung v. 12.10.

Thomas ANLAUF nutzt den Einsamkeits-Hype, um das Thema politisch zu instrumentalisieren. Auf der letzten Etappe des Wahlkampfes wird uns eine Beschlussvorlage des Münchner Sozialreferats präsentiert, bei der das Wesentliche ungenannt bleibt. Offenbar, weil dies nicht so gut ankommen könnte:

"Zunächst sollen sieben Sozialpädagogen in ausgewählten Stadtteilen die Orte aufsuchen, wo sich Rentner gerne aufhalten (...). Die Streetworker sollen Beziehungen zu ihnen aufbauen und ihnen mögliche Hilfen und Unterstützung aufzeigen. Das können Hausbesuche sein, Haushaltshilfen oder Angebote der städtischen und sozialen Einrichtungen."

In der Regel werden solche teuren Angebote nicht in städtischen Problemgebieten gemacht, sondern in Gebieten, die gentrifiziert werden sollen. Am Anfang des Artikels geht es dagegen um "vereinsamte und verarmte Rentner". Man wird sehen müssen, was nach der Landtagswahl davon tatsächlich umgesetzt wird.

 
     
 
       
   
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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 27. Dezember 2015
Update: 02. Februar 2019