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Ein Buch für kinderlose Masochisten
Der tiefe Riss
heißt das Buch von Susanne GARSOFFKY & Britta SEMBACH, beide
Jahrgang 1968, und damit
Angehörige jenes Frauenjahrgangs, der für die niedrigste
Kohortenfertilität verantwortlich ist, die je in Deutschland
gemessen wurde, während die Frauenjahrgänge ab 1969 wieder
mehr Kinder bekommen. Deren Geburtenanstieg wurde in Deutschland
verschlafen, weil die Medien, also GARSOFFKY & SEMBACH, so sehr
auf das Schrumpfen und das Altern der Bevölkerung fixiert sind,
dass
Deutschland mit dem anstehenden Geburtenanstieg vollkommen
überfordert sein wird. Nichts davon lesen wir in jenem Buch, das
angeblich den tiefen Riss zwischen Kinderlosen und Eltern kitten
will, aber das genaue Gegenteil tut. Ihr ehrenwertes Vorhaben
beschreiben die beiden Journalistinnen folgendermaßen:
Der tiefe
Riss
"Wir machen alles
falsch. (...). Entweder wir haben Kinder und unterliegen damit
sofort dem Verdacht - vor allem in Magazinen und
Sonntagszeitungen -, übervorsichtige, überehrgeizige oder
überbehütende Mütter und Väter zu sein. Oder wir haben keine
Kinder und werden - wiederum in Magazinen und Sonntagszeitungen
- als egoistische, karriere geile und verantwortungslose Männer
und Frauen beschimpft, die sich nur um eines kümmern: sich
selbst. In Deutschland im gebärfähigen Alter zu sein ist ein
Graus.
Wir lassen uns von jeder noch so kleinen Überschrift provozieren
und gegeneinander aufbringen - anstatt dass wir uns
zusammenschließen, die Menschen mit und die ohne Kinder, um
gemeinsam diesen Schimpftiraden ein Ende zu bereiten." (S.9)
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Das wäre ein ehrenwertes
Vorhaben, aber es scheitert an der Umsetzung durch das Buch.
Dies liegt daran, dass die Autorinnen gar nicht willens sind,
die Argumentation der Gegenseite ernst zu nehmen. Ihre Position
zum demografischen Wandel erklären sie zur einzig wahren
Position, während sie anderen unterstellen,
Verschwörungstheorien nachzuhängen:
Der tiefe
Riss
"Die Gründe, dass aus
diesem Riss mittlerweile ein tiefer Graben geworden ist, haben
uns schon vor einigen Jahren die Demografen geliefert. Verstärkt
wurde der Konflikt noch durch deren Uneinigkeit über die
Interpretation ihrer eigenen Daten und Prognosen. Während die
einen die Zukunft düster malen, das Ende unseres Sozialstaates
vorhersagen und damit Bestsellern wie Frank Schirrmachers
Methusalem-Komplott oder Überschriften wie »Die Deutschen
sterben aus« Nahrung gaben, halten die anderen solche Szenarien
für Verschwörungstheorien. Hinter ihnen stünden vor allem die
neoliberalen Pläne, den Sozialstaat weiter zu reduzieren und
Sozialleistungen zu kürzen.." (S.10)
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Die Autorinnen beziehen
sich mit dieser Schwarz-Weiß-Malerei auf den
Sozialstrukturforscher
Stefan HRADIL, der jedoch nicht zwei, sondern vier
Positionen in der öffentlichen Debatte ausmacht: die
"Pessimisten" (z.B. Herwig BIRG, Hans-Werner SINN und Franz-Xaver KAUFMANN), die "Kritiker" (z. B.
BERGER &KAHLERT,
Gerd BOSBACH und Christoph
BUTTERWEGGE), die "Optimisten" (Karl-Otto
HONDRICH und die "Aktivierer". Letztere, zu denen man HRADIL
zählen kann, behaupten, dass die Mobilisierung durch die
Pessimisten zu einer Bewältigung der Herausforderungen durch den
demografischen Wandel führen würde. Die Autorinnen wissen das
auch, aber der Leser muss sich bis auf Seite 101 durchkämpfen,
um das zu erkennen. Dort wird die Darstellung von HRADIL von den
Autorinnen folgendermaßen bewertet:
Der tiefe
Riss
"Der Soziologe Stefan
Hradil unterscheidet in seinem Aufsatz über die
Demografie-Debatte vier wesentliche »Typen«: Die »Pessimisten«
(...). Die »Kritiker«, die die Auswirkungen des Wandels für
aufgebauscht halten und jede Änderung am System für neoliberale
Bestrebungen zur Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaates (Anm.d.V.:
ablehnen?). Die »Optimisten« (...) und die »Aktivierer« (...).
Es ist unerheblich, wer letztendlich recht behält in diesem
Meinungsstreit. Wir dürfen uns nur nicht zum Spielball der einen
oder anderen Richtung machen lassen. Während sich Kinderlose vor
allem von den »Pessimisten«, die den Geburtenrückgang lauthals
beklagen, zu Recht unter Druck gesetzt fühlen, sehen sich Eltern
durch die »Optimisten«, die dem Schrumpfen der Bevölkerung fast
nur Positives abgewinnen können, beinahe verunglimpft in ihrer
Rolle. Was darauf folgte, haben wir hier beschrieben - ein
Schlagabtausch zwischen Menschen mit und ohne Kinder, der in
seiner Sinnlosigkeit und seinem destruktiven Potenzial
eigentlich kaum zu überbieten ist. (S.101f.)
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Die Autorinnen machen es
sich sehr einfach, wenn sie Kinderlose und Eltern als simple
"Opfer" zweier Werthaltungen darstellen. Auf dieser
Website wird bezweifelt, dass Angst ein guter Ratgeber ist.
Im Bereich der Kinderbetreuung und der Grundschule kann man
bereits jetzt sehen, dass die Fixierung auf die negativen
Aspekte des demografischen Wandels zur Ausblendung der Chancen
durch den gegenwärtigen Geburtenanstieg führt. Der
Politikwissenschaftler Christian RADEMACHER spricht deswegen zu
Recht von
Demographismus und fordert Empirie statt Propaganda.
RADEMACHERs
Typologie der "Beurteilung" des demografischen Wandels ist
überzeugender als jene von HRADIL, weil sie die Zielsetzungen
und Interessen der politischen Akteure betont, die mit den jeweiligen Ansichten zum
demografischen Wandel korrespondieren. Die Autorinnen treibt
nach eigener Aussage die Angst, um die Zukunft ihrer Kinde umr:
Der tiefe
Riss
"Unsere einzige
Motivation ist die, unseren Kindern keine allzu große Hypothek
zu hinterlassen. Denn die werden am Ende den Preis für alle
heutigen Versäumnisse bezahlen. Und auch das ist wieder so
ungerecht, dass man schreien könnte. Statt zu schreien,
schreiben wir. Und hoffen, dass man die Lautstärke, die aus
einzelnen Zeilen hervorschallen soll, auch hört. Wir schreiben,
damit mehr Menschen aufstehen und führ ihre Rechte eintreten, um
zumindest ein paar der gröbsten Systemfehler endlich zu
korrigieren."
(S.120)
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Die Autorinnen möchten
also keineswegs über die Lage von Kinderlosen und Eltern
aufklären, sondern mittels pessimistischer Szenarien und einem
klaren Standpunkt ("Es bedarf einer Umverteilung von Kinderlosen
zu Eltern") die politische Meinung beeinflussen.
Auf dieser Website wird
deshalb von der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme (Eva
BARLÖSIUS) gesprochen. Der demografische Wandel wird als
Ideologie begriffen, dessen Auswirkungen allein durch empirische
Forschung zu Leibe gerückt werden kann. Während die
nationalkonservative Bevölkerungswissenschaft à la BIRG auf
wenigen Grundüberzeugungen beruht, die bereits viele
Jahrzehnte alt sind und die in Deutschland bis vor wenigen
Jahren nicht einmal in Frage gestellt wurden, wäre es an der
Zeit zu fragen, inwiefern die Vorstellungen vom demografischen
Wandel, die in der öffentlichen Debatte kursieren, überhaupt
zutreffend sind. Doch diesen Ansatz verfolgen die Autorinnen
nicht, sondern sie schüren Ängste, indem sie in ihrem Buch die
Argumentation der Pessimisten (zu denen muss auch Frank
SCHIRRMACHER gezählt werden) verbreiten.
Die Position der
Kritiker, zu denen sich auch der Autor dieser Website zählt,
wird von den Autorinnen ignoriert, denn zwischen die Pessimisten
und die Anhänger von Verschwörungstheorien passt bei ihnen - wie
oben gesehen - kein
Blatt mehr. Der Sozialstaat wird auf dieser Website als Angstschutz begriffen,
der den sozialen Frieden im Lande sichert. Wer jedoch Angst zu
Propagandazwecken unberechtigt schürt, der schadet dem
Zusammenhalt der Gesellschaft mehr als dass er nützt. Aber die
Autorinnen tun genau das: Sie schüren Angst, indem sie sich
bereits durch ihr
politisches Framing (Elisabeth WEHLING) auf eine unselige
Tradition der
über hundertjährigen Debatte zum Geburtenrückgang beziehen.
Das zeigt sich z.B. bei der Alterspyramide:
Der tiefe
Riss
"Ein Minister, eine
Ministerin nach der anderen versucht, einigermaßen sinnvolle
Handlungsanweisungen abzuleiten aus der Tatsache, dass wir keine
Alterspyramide mehr haben, bei der eine breite Schicht der
Berufstätigen die kleine Spitze der Alten versorgt. Und aus der
Frage, welche Auswirkungen die demografische Urne, die an die
Stelle der Pyramide getreten ist, tatsächlich auf uns und
unseren Sozialstaat hat. Gelungen ist es niemandem. Die
Politiker haben keine überzeugenden Antworten und Lösungen für
den Wandel unserer Gesellschaft gefunden, ja noch nicht einmal
eine breite Diskussion in Gang gesetzt, die ohne Schaum vor dem
Mund mögliche Weichenstellungen skizziert." (S.10)
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Schaum vor den Mund muss
eine solche Darstellung jedoch treiben, denn die
Pyramidenform bedeutet etwas ganz anderes: eine hohe
Kindersterblichkeit! Das würden sich die Autorinnen wohl
kaum für Deutschland wünschen. Der Begriff "Urne" dagegen zeigt
bereits, dass die Autorinnen keine sachliche Argumentation
bevorzugen. Der Spiegel hat vor Jahren dagegen den
Begriff "Hochhaus" benutzt, um die Debatte zu versachlichen. Ein
Debattenbuch, das die üblichen Metaphern nationalkonservativer
Prägung benutzt, zielt nicht auf Versachlichung, sondern im
Gegenteil auf Emotionalisierung.
Fakten, Fakten - nichts als Fakten?
Die
Sprachwissenschaftlerin Elisabeth WEHLING hat in ihrem Buch
Politisches Framing mit dem Mythos aufgeräumt, dass Fakten
für sich sprechen können. Stattdessen sind Fakten immer
eingebettet in Metaphern. Welche Metaphern in Debatten benutzt
werden, sagt viel darüber aus, mit welcher Emotionalität
Debatten geführt werden. GARSOFFKYs & SEMBACHs "Fakten"
werden geschickt mit einem in den Medien inszenierten Konflikt
zwischen Kinderlosen und Eltern verwoben, wie die nachfolgende
Passage verdeutlicht:
Der tiefe
Riss
"Rücksichtslosigkeit
ist noch das harmloseste, was sich die beiden Seiten vorwerfen.
Offen ziehen Kinderlose über die auf halber Stelle und damit
vermeintlich mit halber Leistung arbeitende Mutter in ihrem Team
her, die beim Meeting um 17 Uhr schon wieder nicht da ist,
obwohl man selbst gern auch nach Hause oder ins Kino gehen
würde. Und Eltern lästern hemmungslos über den kinderlosen,
karrieregeilen Kollegen, der trotz einer 50-Stunden-Woche noch
die Zeit hat, ins Fitnessstudio zu gehen – weil er ja sonst kein
Leben hat.
Aus der Demografie- ist längst eine Neiddebatte geworden, in der
beide Seiten so damit beschäftigt sind, ihr eigenes Lebensmodell
zu verteidigen, dass sie blind geworden sind für die Fakten.
Dabei lohnt es sich, diese einmal genauer anzuschauen, ohne
gleich Luft für die nächste Rechtfertigung zu holen:
– Nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland leben in
einer Familie.
– Kinder sind ein Armutsrisiko in Deutschland. Wer Kinder bekommt, erlebt
einen Bruch in seiner Erwerbs- und damit auch in seiner
Rentenbiografie, der oft nicht mehr aufzuholen ist.
– Kinderlosigkeit ist in Deutschland – vor allem in Westdeutschland – im
internationalen Vergleich besonders verbreitet. Laut dem
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) sind 20 Prozent
der zwischen 1963 und 1967 geborenen Frauen kinderlos, bei den
Jahrgängen 1968 bis 1972 lag der
Wert im Jahr 2012, als diese Frauen 40 bis 44 Jahre alt waren,
bereits bei 22 Prozent. Betrachtet man nur den Jahrgang von 1972
blieb hier sogar jede vierte Frau (24,7 Prozent) kinderlos.
– In gut 20 Jahren werden wir 40 Prozent mehr Rentner in Deutschland haben
als heute, während die Zahl der Erwerbstätigen um ein Viertel
schrumpft. – In zehn bis fünfzehn Jahren, wenn die »Babyboomer«
in Rente gehen, werden immer mehr Menschen die selber keine
Kinder haben, eine von der dann erwerbstätigen Generation zu
bezahlende gesetzliche Altersrente beziehen."
(S.11f)
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Der medial inszenierte
Konflikt, der in der Alltagswelt der meisten Menschen keine
große Rolle spielt, aber nichtsdestotrotz durch die ständige
Wiederholung in den Medien zu einer nicht mehr hinterfragten
Selbstverständlichkeit geworden ist, beherrscht inzwischen die
Deutungsschemata, die zum demografischen Wandel mehr oder
weniger unbewusst abgerufen werden. Kurz bevor die "Fakten"
präsentiert werden, werden wir als Leser zur unvoreingenommenen
Betrachtung der "Faktenlage" aufgerufen. Die Faktenlage, die uns
die Autorinnen präsentieren, besteht jedoch aus Halbwahrheiten
und Verzerrungen.
Die Zahlen zur Anzahl der
Familien stammen aus dem
Mikrozensus 2014. Die aktuellen Daten stammen aus dem
Mikrozensus 2016 und können der Fachserie
Haushalte und Familien entnommen werden. 2016 lebten 81,539
Millionen Menschen in Privathaushalten (2014: 80, 073 Millionen)
Davon lebten 39,392 Millionen in Familienhaushalten (2014:
38,732 Millionen). 2014 waren das 48,4 % der Menschen in
Privathaushalten am Hauptwohnsitz (2016: 48,3 %). Aber woran
liegt das? Es liegt in erster Linie daran, dass Eltern in der
Nachfamilienphase
vermehrt einen eigenen Haushalt führen, während in der
Nachkriegszeit aufgrund der Wohnungsnot die Familienmitglieder
noch in Mehrfamilienhaushalten leben mussten. Die Haushalte mit vielen
Familienmitgliedern wurden abgelöst durch die
Multilokale
Mehrgenerationen-Familie. Man lebt heute zwar oftmals unter
einem Dach, aber in verschiedenen Haushalten, oder am gleichen
Ort. Der amtliche Haushaltsansatz ist ungeeignet, um diese
moderne Familienform zu erfassen.
Der Anstieg der
Noch-Kinderlosen in der Vorfamilienphase trägt neben der
Minderheit der lebenslang Kinderlosen ebenfalls zur Abnahme der Familienhaushalte
bei, aber nur an zweiter Stelle. GARSOFFKY & SEMBACH stellen
aber beim Geburtenrückgang nicht etwa die Abnahme der
kinderreichen Familie als Hauptgrund des Geburtenrückgangs in
den Vordergrund, sondern die Kinderlosigkeit. Sie beziehen sich
dabei auf Publikationen aus dem Jahr 2015. Seitdem hat jedoch
ein
Paradigmenwechsel bei der Beurteilung der Kinderlosigkeit
stattgefunden, den die Autorinnen offensichtlich ignoriert
haben, um ihr Thema nicht aufgeben zu müssen. GARSOFFKY & SEMBACH zitieren noch Bewertungen auf der
Basis des Mikrozensus 2012, die durch die neuen Ergebnisse des
Mikrozensus 2016 als überholt gelten müssen. Auch Alexander
HAGELÜKEN hat in der Süddeutschen Zeitung kürzlich noch
versucht die Kinderlosigkeit in den Vordergrund zu rücken. BUJARD & SULAK schreiben dagegen in ihrem Beitrag
Mehr Kinderlose oder weniger Kinderreiche? in der
renommierten Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie:
Mehr
Kinderlose oder weniger Kinderreiche?
"Die Ergebnisse
zeigen, dass der Rückgang der CTFR im zweiten Geburtenrückgang,
also der Kohorten 1933 bis 1968, zu 68,0 % auf den direkten
Effekt des Rückgangs von Geburten der dritten oder weiteren
Kinder zurückzu führen ist und nur zu 25,9 % auf den direkten
Effekt der Zunahme der Kinderlosigkeit. Der Interaktionseffekt
aus beidem beträgt 6,1 %, die Relation zwischen Frauen mit einem
und zwei Kind(ern) hat sich in diesem Zeitraum quasi nicht
verändert. Die in der Literatur umstrittene Frage, welcher
Treiber insgesamt größer ist, lässt sich hiermit präzise
beantworten. Selbst in Deutschland, das eine der höchsten
Anteile lebenslang kinderloser Frauen weltweit aufweist, ist der
Effekt des Rückgangs der kinderreichen Frauen im Gesamtzeitraum
deutlich größer. Die Befunden widersprechen der These, wonach
die Kinderlosigkeit der zentrale Treiber des zweiten
Geburtenrückgangs ist".
(2016, S.509)
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Die Verengung der Debatte
über den Geburtenrückgang auf die Kinderlosigkeit ist
hauptverantwortlich dafür, dass der medial inszenierte Konflikt
zwischen Kinderlosen und Eltern überhaupt so eskalieren konnte.
Ausgangspunkt dafür war die
Fehleinschätzung des nationalkonservativen
Bevölkerungswissenschaftlers Herwig BIRG, auf den sich jene
immer wieder bezogen haben, die Kinderlose an den medialen
Pranger gestellt haben. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass
sich auch die Autorinnen bei ihrer dramatisierenden Darstellung
immer wieder auf BIRG berufen, obwohl dessen empirische
Untersuchungen zum demografischen Wandel bereits Jahrzehnte zurückliegen. Statt auf
aktuelle Befunde setzen die Autorinnen lieber auf Klischees,
die eine unvoreingenommene Betrachtung verhindern.
Die Babyboomer als Problem
Es ist eine der
Merkwürdigkeiten, dass über die nächsten Jahrzehnte viele
Vorstellungen in der Öffentlichkeit kursieren, die mit den
Begriff Babyboomer verbunden werden. Diese sollen nach Meinung
von GARSOFFKY & SEMBACH in "zehn bis fünfzehn Jahren" in Rente
gehen. Das wären also die Jahre 2027 - 2032. Nach der jetzigen
Gesetzeslage darf der Geburtenjahrgang 1964 im Jahr 2030
abschlagsfrei mit 67 Jahren in Rente gehen.
Wer zu den Babyboomern gehört, das ist in der Literatur umstritten. Der
Jahrgang 1964 gehört jedoch für alle dazu. Eine irrige Meinung
besteht darin, dass der Beginn des Geburtenrückgangs das Ende
der Babyboomer-Generation bedeute. Dazu gehört der Buchautor
Martin RUPPS ("Wir
Babyboomer"), der damit die Geburtsjahrgänge 1959 - 1964
meint. Ihm geht es jedoch nicht um den Geburtenrückgang, sondern
um eine Mentalitätsgeschichte. RUPPS nennt in seinem Buch
Ich will
nicht mehr zwanzig sein, eine Konsumstudie, die die
Babyboomer als 1954 - 1968 Geborene definiert. Frank
SCHIRRMACHER wiederum bezeichnete in seinem Bestseller
Das
Methusalem-Komplott die Jahrgänge 1950 - 1964 als
Babyboomer.
Im Gegensatz zu diesen
Publikationen betrachtet der GeroStat Report Altersdaten
aus dem Jahr 2009 die Kohortenstärke als wichtigstes Kriterium
für die Definition der Babyboomer in Deutschland. Die Autoren
des Reports sehen die Grenze bei 1,2 Millionen Geburten pro
Babyboomer-Jahrgang. Dies trifft für die Jahrgänge 1959 - 1968
zu (mehr
hier). Auf dieser Website wurde teilweise auch die
Millionengrenze benutzt, um die Babyboomer zu definieren.
GARSOFFKY & SEMBACH sind also selber Angehörige dieser
Kohorte (ein Begriff, der das Problem besser tritt als der
Generationenbegriff!).
Auch zwei weitere alternde
Babyboomerinnen, nämlich Christina BYLOW (Jahrgang 1962) und
Kristina VAILLANT (Jahrgang 1964), haben 2014 das Buch
Die
verratene Generation veröffentlicht. Sie sehen in den
Babyboomerinnen kein Problem, sondern Opfer. Den Begriff
erklären sie folgendermaßen:
Die verratene Generation
"Der Begriff Babyboomer stammt aus den USA,
beschreibt dort aber eine Generation, die deutlich älter ist als
das deutsche Pendant. Die geburtenstarken Jahrgänge werden für
den deutschsprachigen Raum je nach Quelle zwischen 1955 und 1965
verortet, dann wieder reichen sie von 1958 bis 1968. (...).
Eines ist unumstritten: Am Ende der sechziger Jahre schlug die
Wirkung der zu Beginn des Jahrzehnts auch in Deutschland
allmählich eingeführten hormonellen Verhütungspille für Frauen
voll durch. Danach fiel die Geburtenrate stark ab. Im Jahr 1964
hatte sie ihren historischen Höhepunkt erreicht: Über 1,51
Millionen Geburten im Jahr. Im Jahr 2011 sackte Deutschland mit
663.500 Neugeborenen auf den historischen Tiefstand seit
Gründung der Republik. "
(2014, S.22) |
Im Jahr 1964 wurden in der
BRD und der DDR zusammen nur 1,36 Millionen Kinder geboren, 2011
waren es 662.685 Kinder. Wer Hoch- und Tiefpunkte nennt, der
will dramatisieren, denn der deutsche Babyboom war im Vergleich
zu allen anderen Ländern geradezu mickrig. Weil dies so ist,
wurde der Geburtsjahrgang 1964 in Deutschland geradezu grotesk
in den Hymnen des Jahres 2014 übersteigert (im Grunde wurden
jedoch deren Eltern gefeiert, denn diese sind für das einigende
Merkmal verantwortlich!).
Die
US-amerikanischen Demografen TEITELBAUM & WINTER beschrieben in
ihrem Buch The Fear of Population Decline aus dem Jahr
1985 das deutsche Geburtenwunder zu Recht als Baby-Boomchen
(mehr hier).
Warum, das wird klar, wenn man Deutschland mit Japan und den USA
vergleicht. Das nachfolgende Schaubild zeigt, dass der Absturz
der Geburten in Japan und den USA ungleich gewaltiger war als in
Deutschland:
Die Hysterie in
Deutschland lässt sich aufgrund der demografischen Faktenlage
kaum erklären. In Japan halbierte sich die Geburtenrate von 3,65
Kindern pro Frau im Jahr 1950 auf 1,75 Kinder pro Frau im Jahr
1980 (vgl.
Annette SCHAD-SEIFERT 2006, S.12). Bereits zwischen
1949 und 1960 halbierte sich die Geburtenrate von über 4 Kindern
pro Frau auf 2 Kinder. In Deutschland führte dagegen bereits der
angebliche Rückgang um ein Drittel zur Hysterie. Seit Mitte der
1970er Jahre liegt die Geburtenrate in Japan unterhalb des
Bestandshaltungsniveaus, seit Mitte der 1990er Jahre wie in
Deutschland bei 1,3 - 1,4 Kinder pro Frau. Hinzu kommt, dass in
Japan die Lebenserwartung weit höher ist als in Deutschland.
Alle diese Unterschiede werden in der deutschen Debatte meist
ignoriert. Vielmehr wird Japan als Beispiel betrachtet, was
Deutschland drohen wird. In dem Kapitel Schreckensszenarien aus
dem "Land des Lächelns" wird uns von GARSOFFKY & SEMBACH die
Vergreisung und Schrumpfung als Horrorszenario präsentiert. Als
einziger Unterschied wird uns die geringere Zuwanderung in
Deutschland als mildernder Umstand verkauft. Andere wie Felix
LILL ("Einsame
Klasse") sehen in Japan das Vorbild einer zukünftigen
Single-Gesellschaft. In internationalen Vergleichen werden uns
andere Länder ständig als
Projektionsflächen für unsere Ängste präsentiert, denn Angst ist
das Treibmittel des Neoliberalismus.
Anlässlich der
Veröffentlichung des Rentenversicherungsberichts 2017 erklärte
Thomas ÖCHSNER in der Süddeutschen Zeitung die Lage der
Rentenversicherung in den nächsten 15 Jahre folgendermaßen:
Sieben gute und sieben
schlechte Jahre
"Dem Bericht zufolge gibt es von 2017 bis 2023
ein Zwischenhoch mit steigenden Renten, einem stabilen
Beitragssatz und stabilem Rentenniveau. Der Rentenexperte Werner Siepe, der die Zahlen der Regierung analysiert hat, spricht von
»sieben guten Rentenjahren«, weil der Job-Boom viel Geld in die
Rentenkasse spült. 2024 folgt dann ein Übergangsjahr. Danach
kommen eher sieben schlechte Rentenjahre. »Das liegt am Eintritt
der Babyboomer mit den Geburtsjahrgängen 1959 bis 1968 in den
Ruhestand. Die Rentenneuzugänge in diesen Jahren werden deutlich
zunehmen, was zu einem starken Anstieg der Rentenausgaben führen
wird«, schreibt Finanzmathematiker Siepe in seiner Analyse."
(SZ v. 22.11.2017) |
Der
Rentenversicherungsbericht 2017 nimmt seinen Ausgangspunkt bei
der aktualisierten 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, die
von einer konstanten Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau und
eine geringeren Steigerung der Lebenserwartung im Vergleich zur
letzten Bevölkerungsvorausberechnung ausgeht. Diese Annahmen
holen nur nach, was bereits im letzten halben Jahrzehnt
stattgefunden hat.
Der gegenwärtige Geburtenanstieg auf 1,6
Kinder pro Frau, der bis zum Frauenjahrgang 1985 möglich
ist, wird in dieser Prognose gar nicht berücksichtigt. Sollte
dies geschehen, dann sind alle Befürchtungen hinsichtlich des
demografischen Wandels in den nächsten 20 Jahren hinfällig. Dann
stehen aber ganz andere Herausforderungen an: nämlich die
Bewältigung des Geburtenanstiegs auf den Deutschland nicht
vorbereitet ist.
Kinderlose Luxusrentnerinnen und altersarme Mütter?
Die Alterssicherung ist im
Grunde das Hauptthema von GARSOFFKY & SEMBACH und hier
werden Kinderlose und Eltern auch ganz gezielt gegeneinander
ausgespielt. Das
Leitbild ist der katholische Sozialstaat, bei
dem Arbeitnehmer die gesellschaftlichen Reproduktionskosten tragen sollen, während
die Wirtschaft die Profite daraus ziehen kann. Die
Rente nach
Kinderzahl, die von Hans-Werner SINN in den Nuller Jahren
gefordert wurde, tritt uns nun in der Variante von Martin WERDING entgegen. Dazu wurde auf dieser Website bereits alles
gesagt, weshalb gefragt werden soll, mit welchen Bildern
die Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden sollen. Bei GARSOFFKY & SEMBACH
lesen wir:
Der tiefe
Riss
"Die heute 66-Jährige
hat drei Kinder bekommen, alle drei sind mittlerweile
berufstätig und haben selbst Kinder. Während die Kinder groß
wurden, hat sie über 20 Jahre ihre depressive Mutter und zum
Schluss ihre Schwiegereltern gepflegt. Ihr Mann hat Zeit seines
Erwerbslebens angestellt bei der Stadt gearbeitet, und die
beiden konnten sich immerhin ein Häuschen auf dem Land und ein
kleines Motorboot leisten, auf dem die Familie Urlaub machte .»Dass
ich selber arbeite, daran war gar nicht zu denken. Erst waren
die Kinder klein, und dann wurden meine Mutter und schließlich
die Schwiegereltern krank«, erzählt Uschi Jensen.
Wenn sie heute ihren Rentenbescheid sieht, bereut sie das sehr.
»Manchmal denke ich, ich habe den falschen Weg eingeschlagen.
210 Euro Rente bekomme ich - und wenn mein Mann stirbt, bleiben
mir noch 60 Prozent von seiner. Unser Haus werde ich mir dann
wohl nicht mehr leisten können.« Besonders große Sorgen macht
sie sich darüber, was ist, wenn sie selbst einmal Hilfe braucht.
»Meinen Kindern möchte ich auf keinen Fall zur Last fallen«,
sagt sie. Ihre Tochter hat sie deshalb auch darin bestärkt,
einen Beruf zu ergreifen. Und würde nie von verlangen, sie zu
pflegen. Ein Pflegeheim wird sie sich hoffentlich leisten
können, wenn sie das Haus verkauft. »Manchmal liege ich wach und
hoffe inständig, dass ich bis zu Schluss einfach fit bleibe und
dann umfalle.«
Ganz anders dagegen das Leben der kinderlosen Elisabeth Siebert.
Die 80-Jährige, gepflegte Rentnerin lebt in einer komfortablen
Seniorenresidenz mit Restaurant, Schwimmbad und Physiotherapie
nahe der Einkaufszone einer beliebten Großstadt. Die Miete ihrer
90-Quadratmeter-Wohnung, die sie sich zusammen mit ihrem Mann
teilt, beträgt einige 1.000 Euro inklusive Strom, Gas, Wasser,
Telefon. Einmal die Woche kommt eine Reinigungskraft, die alles
sauber hält, für den Notfall gibt es einen Klingelknopf im Bad.
Elisabeth Siebert hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Sie hat,
für eine Frau ihrer Generation eher ungewöhnlich, Karriere in
einem Unternehmen gemacht, ihre Rente ist beachtlich, und sie
konnte sich ein kleines Vermögen aufbauen. »Für Kinder war nie
der richtige Zeitpunkt, entweder fehlte der Partner, oder ich
hatte gerade eine neue Chance im Beruf«, erzählt sie. Einsam ist
sie nicht: »Ich habe meinen Mann und einen großen Freundeskreis,
mir fehlt nichts. »Ihre große Sorge ist, dass sie einmal täglich
auf Hilfe angewiesen sein könnte. »Davor fürchte ich mich
schon«, sagt sie. Aber leisten kann sie es sich.
Klarer als in diesen beiden exemplarischen Fällen können die
Auswirkungen der Entscheidung für oder gegen Kinder, für doer
gegen Kümmern kaum auf den Punkt gebracht werden."
(2016, S.111f.)
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Die beiden exemplarischen
Fälle sind alles andere als repräsentativ und beschrieben nur
die vergangene und nicht die zukünftige Situation im
Alterssicherungssystem, das aber wäre
notwendig gewesen, wenn es den Autorinnen um Aufklärung ginge.
Auch reproduziert das Beispiel genau jene Bilder, die den Riss
zwischen Kinderlosen und Eltern erst erzeugen. Dabei schreiben
die Autorinnen selber, dass das Beispiel der 80-Jährigen die
Ausnahme ist. Warum also wird eine Ausnahme präsentiert, doch
vor allem um Emotionen zu schüren gegen Kinderlose. Die
80-Jährige gehört zum Frauenjahrgang 1937, der als einer der
Letzten auf 2,1 Kinder pro Frau kam und damit zu den Eltern der Babyboomer gehört. Die 66-jährige Mutter gehört dagegen dem
Frauenjahrgang 1951 an, bei dem mehr als zwei Kinder schon die
Ausnahme waren. Beide Fälle sind also Extrembeispiele und nicht
typisch für ihre jeweilige Generation.
Und warum sollen
Kinderlose (egal ob Frauen oder Männer!) nicht ihre Mutter pflegen, sondern nur Mütter?
Warum keine Väter? Späte
Mädchen hießen in der Literatur jene Frauen, die diesem
traditionellen Bild entsprachen. Mit dem Aufkommen des
Single-Begriffs wandelte sich das Stereotyp der kinderlosen
Frau. Der Roman
Spinsters von Pagan KENNEDY bringt diese Veränderungen
auf den Punkt.
GARSOFFKY & SEMBACH sind jedoch nicht interessiert
an einer Debatte, sondern sie wollen eine ganz bestimmte Sicht
auf die Zukunft vermitteln, die durch und durch pessimistisch
ist. Alle Einwände werden weggewischt. Das Jahr 2050 und 2060
ist nicht ferne Zukunft, sondern todsichere Realität, wie uns
die Autorinnen versichern:
Der tiefe
Riss
"Müssen wir uns nicht
langsam einmal fragen, wie unsere Gesellschaft aussieht, in der
Kinderlachen und jugendliche Aufbruchstimmung so rar geworden
sind wie handgeschriebene Briefe in der Post? Das ist kein
düsteres Schreckensszenario, sondern einfache Mathematik: Im
Jahr 2060 wird nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes
etwa jede dritte Person in Deutschland 65 Jahre oder älter sein,
und es werden fast doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder
geboren werden. (...). Natürlich sind die meisten der Älteren
(...) stark selbstzentriert. Vor allem wenn sie keine Kinder
haben.
Von den Hochbetagten (80 Jahre und älter) wollen wir nicht
einmal sprechen: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 2013
mit 4,4 Millionen noch rund fünf Prozent. Ihre Zahl wird mit 10
Millionen Menschen im Jahr 2050 den bis dahin höchsten Wert
erreichen. Und auch wenn die Zahl der Hochbetagten zwischen 2050
und 2060 auf rund 9 Millionen sinken wird, so ist damit zu
rechnen, dass in 50 Jahren etwa 13 Prozent der Bevölkerung, das
ist etwa jeder Achte, 80 Jahre und älter sein wird. Das ist
ungeheurer viel."
(S.157f.)
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Der Statistiker Gerd
BOSBACH spricht von Kaffeesatzleserei und auch das Statistische
Bundesamt weist inzwischen ausdrücklich darauf hin, dass
Treffsicherheit kein Kriterium von
Bevölkerungsvorausberechnungen ist. Die Autorinnen dagegen
wollen uns weismachen, dass es hier lediglich um "einfache
Mathematik" ginge. Tatsächlich geht es nicht um
"Pessimisten" oder "Optimisten", sondern um "Dramatisierung" und
"Entdramatisierung" sowie um Kritik.
Exkurs: Wie man Dramatisierer und
Entdramatisierer erkennen kann
"Im Jahr 2060
(...)(werden) nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes
(...) fast doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder
geboren werden",
erklären uns GARSOFFKY & SEMBACH.
Es lässt sich für einen Kenner der Materie leicht erkennen, dass
diese Aussage nicht willkürlich herausgegriffen ist, sondern in
dramatisierender Absicht. Bevölkerungsvorausberechnungen sind
nichts als die lineare Fortschreibung der Vergangenheit in die
Zukunft. Geht man also 70 Jahre zurück, dann ist man im Jahr
1990. Das war der Höhepunkt und zugleich einer der
Wendepunkte in der Geburtenentwicklung Deutschlands. Damals
wurden 905.675 Kinder geboren. Will man statt Dramatisieren das
Gegenteil erreichen, nämlich entdramatisieren, dann sucht man
nach Tiefpunkten. Einer war z.B. im Jahr 1995 als
aufgrund des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft in
Deutschland nur noch 765.221 Kinder geboren wurden. Diese sind
im Jahr 2060 dann nicht 70, sondern 65 Jahre alt. Alternativ ist
auch das Jahr 1985 gut geeignet. Damals wurden 813.803 Kinder
geboren. Das war kaum mehr als im Jahr 1984 dem eigentlichen
Wendepunkt. Aber Zahlen, die hinten eine Null oder Fünf
aufweisen erscheinen so als ob sie nicht gezielt herausgegriffen
wurden, sondern sich einfach so ergeben haben. Die 1985
Geborenen sind im Jahr 2060 dann 75 Jahre alt. Aus der
nachfolgenden Übersicht ist ersichtlich welche Auswirkungen die
Betrachtung eines einzigen Jahrgangs haben kann.
Übersicht: Entdramatisierende und dramatisierende
Darstellungsweisen mittels Bevölkerungs-
vorausberechnungen |
Anzahl der
Lebendgeborenen
im Jahr ... |
Darstellungs-
absicht |
Auswirkung im
Jahr 2060 |
Anzahl der
Lebend-
geborenen
im Jahr 2060
(1,4 Kinder) |
Aussage |
Anzahl der
Lebend-
geborenen
im Jahr 2060
(1,5 Kinder) |
1985 |
813.803 |
Entdramatisierung |
909.000
75-Jährige |
553.000 |
"knapp ein
Drittel
mehr" |
616.200 |
1990 |
905.675 |
Dramatisierung |
1.049.000
70-Jährige |
553.000 |
"fast doppelt
so viele" |
616.200 |
1995 |
765.221 |
Entdramatisierung |
936.000
65-Jährige |
553.000 |
"knapp ein
Drittel
mehr" |
616.200 |
|
Quelle:
13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamtes; Varianten 2 und 2a |
Auf der Grundlage einer
einzigen Variante einer Bevölkerungsvorausberechnung können also
ganz unterschiedliche, aber gleichsam "richtige" Aussagen
gemacht werden, in Abhängigkeit davon welchen Altersjahrgang man
sich herausgreift. Ob es fast doppelt so viele Alte wie
Neugeborene gibt oder nur knapp ein Drittel mehr, das macht
einen Unterschied. Kritiker wie Gerd BOSBACH ("Die
Zahlentrickser") weisen deshalb darauf hin, dass die Nennung
von Extremwerten unseriös ist, sondern man sollte gleich große
Altersgruppen miteinander vergleichen oder Durchschnittswerte
bilden.
Die Autoren hätten aber
auch die aktualisierte Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamtes verwenden können, die statt der 1,4
Kinder pro Frau eine minimal erhöhte Geburtenrate von 1,5 Kinder
pro Frau annimmt. Schließlich hätten sie diese kennen können,
denn sie kennen ja auch die Broschüre
Jedes Alter zählt, die sie noch am 22. März 2017
abgerufen haben.
Gerade einmal 5 Tage später wurde die Variante 2a publiziert.
An der Drucklegung kann es nicht gelegen haben, denn die
Autorinnen zitieren sogar einige Dokumente, die erst im
Juni/Juli 2017 erschienen sind. Dann wäre sogar die Aussage
"nicht einmal ein Drittel" möglich gewesen. Bei einem weiteren
minimalen Anstieg auf 1,7 Kinder pro Frau, der in einem sehr
langen Zeitraum von über 40 Jahren genauso realistisch wäre,
würde sich die Kluft sogar weiter reduzieren.
Zusammenfassend lässt sich
also sagen: Mathematik ist nur
das Handwerkszeug, während es auf die Annahmen ankommt. Diese
bestimmen das Ergebnis. Das aber leugnen GARSOFFKY & SEMBACH
und tun so, als ob sie uns die alternativlose Zukunft aufzeigen. So schreiben sie z.B.:
Der tiefe
Riss
"Es hat keinen Sinn
mehr, diese Tatsache jahrein, jahraus lauthals zu beklagen. Wir
haben zu wenige Kinder. Punkt. Daran ändern auch im
Nachkommabereich steigende Geburtenzahlen nichts. Wir müssen
anfangen, dem Rechnung zu tragen "
(S.15f.)
|
Natürlich meinten die
Autoren "im Nachkommabereich steigende Geburtenraten". Dies aber
ist purer Unsinn. Ein Anstieg der Kohortenfertilität auf
1,6 Kinder pro Frau bis zum Frauenjahrgang 1985, der nicht
unrealistisch ist, würde Deutschland im Bereich der
Kinderbetreuung und der Grundschule vor eine gewaltige Aufgabe
stellen, wenn Bildung nicht nur rhetorisch gefordert, sondern
ernst gemeint wäre. Der Anstieg würde den
Rückgang der potentiellen Mütter bis 2025 mehr als
ausgleichen und sollte sich der Anstieg darüber hinaus auf 1,7
Kinder pro Frau fortsetzen, dann würde die angeblich
alternativlose Schrumpfung der Bevölkerung auch darüber hinaus
ausbleiben (mehr auch
hier).
Wir haben auch deswegen zu
wenige Kinder, weil die Fixierung auf Schrumpfung und Alterung
die Chancen unserer Gegenwart aus den Augen verlieren lässt. Das
Buch der Autorinnen ist deshalb kontraproduktiv, weil es die
falschen Akzente setzt.
Kinderlosigkeit als Normalität?
Kinderlosigkeit sei in
unserer Gesellschaft normal, erklären uns die Autorinnen mit
Hinweis auf die Broschüre Kinderlose Frauen und Männer von
Carsten WIPPERMANN.:
Der tiefe
Riss
"»Kinderlosigkeit
ist in allen Altersgruppen, Lebensphasen und Milieus eine
weitverbreitete Normalität - allerdings in unterschiedlichem
Grade: In der Mitte der Gesellschaft, aber mehr noch in den
gehobenen Milieus mit Leitbildfunktion sowie in den
soziokulturell dynamischen und stark wachsenden Milieus ist
Kinderlosigkeit überdurchschnittlich häufig die
Lebenswirklichkeit, teilweise auch das Lebenskonzept.« Dies ist
einer der zentralen Befunde der umfassenden Studie des
Bundesfamilienministeriums zu kinderlosen Frauen und Männern.
Das bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger als: Ein Leben
ohne Kinder ist normal geworden in Deutschland. Es ist eine
weitverbreitete und längst allgemeine akzeptierte
gesellschaftliche Realität.
(S.47)
|
Was hierbei jedoch
weggelassen wird: "Das gilt sowohl für jene, die ihren
Kinderwunsch biografisch nach hinten verschieben (mit dem
Risiko, dass sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllt), als auch für
jene, die sich bewusst für ein Leben ohne Kinder entschieden
haben (bei einigen kehrt sich diese vormals feste Haltung in
späteren Jahren um in den Wunsch nach einem Kind)." Die
Massenumfrage fand im März bis Juli 2013 statt. Das ist nicht
unerheblich, denn Umfragen werden durch das jeweilige Meinungsklima
stark geprägt.
Damals
war die ungewollte Kinderlosigkeit und nicht die gewollte
Kinderlosigkeit das Thema. Der Aufschub mag akzeptiert sein,
aber nicht die lebenslange Kinderlosigkeit. Und auch diese
Akzeptanz hält sich in engen Grenzen. Das ist das Ergebnis einer
neueren Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.
Sabine DIABATÉ & Kerstin RUCKDESCHEL schreiben dazu in ihrem
Artikel
Gegen
den Mainstream in der Zeitschrift für
Familienforschung::
Gegen den
Mainstream
"Entgegen der Annahme der
sich ausbreitenden »Kultur der Kinderlosigkeit« zeigen die
Daten, dass Kinderlosigkeit nicht ganz so oft als
gesellschaftlich »normal« bewertet wird. Die Trennlinie verläuft
offenbar direkt unter der Zweikindnorm. Die Abweichung nach
unten, sei es durch Kinderlosigkeit oder durch die
Einkindfamilie charakterisiert, werden auch von der
Gesellschaft, so wird es individuell wahrgenommen, als
Normabweichung sanktioniert" (2016, S.47)
|
Die Kinderwunschforschung
steht zudem unter großem Rechtfertigungsdruck, weil deren
Ergebnisse sich in den letzten Jahren mehr und mehr als
fragwürdig erwiesen haben. Dies gilt insbesondere für den
Kinderwunsch der Kinderlosen. In kurzer Zeit mussten jahrzehntelang
verteidigte Glaubenssätze revidiert werden. Die
Kultur der
Kinderlosigkeit, die GARSOFFKY & SEMBACH zwar nicht nennen,
aber doch in ihrem Buch beschreiben, ist weitgehend ein
Forschungsartefakt. Es hat seinen
wahren Kern darin, dass in den "gehobenen Milieus mit
Leitbildfunktion" Kinderlosigkeit wesentlich weiter verbreitet
ist als in der Gesamtbevölkerung. Insbesondere in der
Medienbranche, zu der die Autorinnen gehören, ist
Kinderlosigkeit zur Lebenswirklichkeit geworden. Inwiefern sich
dies ändert, darüber können nur die Mikrozensuserhebungen
Auskunft geben. Erst 2020 werden wir mehr darüber erfahren. In
der Zwischenzeit müssen wir uns mit Magerkost begnügen, denn die
Amtsstatistiker haben es mit tiefergehenden Analysen und
Auswertungen des Mikrozensus 2016 nicht besonders eilig. Das Buch von GARSOFFKY & SEMBACH
krankt daran, dass es die Belange einer gehobenen Mittelschicht
vertritt, während die Interessen der Normalos außen vor bleiben.
Dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist, das wird im Buch
ausgeblendet bzw. durch den angeblichen Konflikt zwischen Eltern
und Kinderlosen verschleiert.
Sind wir
auf dem Weg in die Single-Gesellschaft bzw. die
Einkind-Gesellschaft?
Die "vollmobile
Single-Gesellschaft", die Ulrich BECK Anfang der 1990er Jahre
Deutschland für die nahe Zukunft prophezeite, war eine krasse
Fehleinschätzung. Auch die Mitte der 1990er Jahre
veröffentlichte Auftragsstudie von Stefan HRADIL (Die
"Single-Gesellschaft") für die damalige Regierung erwies sich in ihren
Prognosen weitgehend
als Fehleinschätzung. Nun wollen uns GARSOFFKY & SEMBACH
einreden, dass wir nun doch noch auf dem Weg in die
Single-Gesellschaft seien:
Der tiefe
Riss
"Wir
wagen hier nach all unseren Recherchen die These: An den
Familiengrößen weltweit kann man das am besten ablesen. Lebt der
Mensch in der Agrargesellschaft meist in Großfamilienverbänden,
entwickelt sich die Familiengröße in der Industriegesellschaft
mit der Trennung zwischen Lebens- und Arbeitsraum zur
Kleinfamilie mit einer überschaubaren Kinderzahl von eins bis
fünf. Die Anforderungen der Dienstleistungsgesellschaft an jeden
Einzelnen und jede Einzelne bereiten den Boden für eine
kinderarme Gesellschaft. Was wird uns im Übergang zur digitalen
Gesellschaft erwarten? Wenn wir uns die Auswirkungen anschauen,
die es jetzt schon (...) gibt, prognostizieren wir die
Single-Gesellschaft, in der Bindungen zu anderen Menschen häufig
eher locker, distanziert und jederzeit kündbar gestaltet werden.
Ein Blick ins Silicon Valley genügt, um diese Prognose nicht
völlig absurd zu finden. Sie wird noch untermauert von neuerer
Forschung, die festgestellt hat, dass Einzelkinder eher
kinderlos bleiben als Menschen aus größeren Familien. Je mehr
der Trend zur Einkindfamilie sich also manifestiert, mit allen
damit einhergehenden sozialen Isolationsphänomenen, desto
wahrscheinlicher wird auch der Anteil Kinderloser steigen. Und
diese wiederum bleiben zu einem großen Teil alleinstehend."
(S.99)
|
Der Autor dieses Beitrags
hat die Individualisierungsdebatte von ihren Anfängen in den
1980er Jahren bis heute verfolgt und Ende der 1990er Jahre eine
Magisterarbeit über das Single-Dasein geschrieben. Das Thema
waren
Leistungen und Grenzen von Begriffstraditionen und Typologien.
Es handelt sich dabei um eine für damalige Verhältnisse
fundamentale Kritik an der Single-Debatte.
Inzwischen sind genau 20 Jahre vergangen und die
gesellschaftlichen Entwicklungen und die empirischen
Forschungsergebnisse in dieser Zeit zeigen, dass diese
Fundamentalkritik berechtigt gewesen ist. Im Gegensatz zu den
stromlinienförmigen Wissenschaftsbeiträgen bekommen solche
Beiträge keinen Beifall in der Öffentlichkeit, sondern entwickeln ihre
Sprengkraft erst im Laufe der Zeit, wenn sich die
Fehleinschätzungen gehäuft haben und zum Umdenken zwingen.
Dieser Prozess dauert immer noch an, aber es zeigen sich
Neueinschätzungen
Als Stefan HRADIL gegen Mitte der Nuller Jahre seine
Einschätzung zu den Singles revidierte, was auf dieser Website
mit
Guten Morgen Herr Soziologe, auch schon aufgewacht!
quittiert wurde, war der Weg frei für eine gesellschaftliche Neubewertung. 2010
veröffentlichte Sonja DEML ihre Doktorarbeit, die unter dem
Titel
Singles: Einsame Herzen oder egoistische Hedonisten eine
kritische und empirische Analyse, so der Untertitel, versprach
und auch lieferte. Es war eine erste ernsthafte
Auseinandersetzung mit der Debatte um die Single-Gesellschaft
und mit den Mythen über das Single-Dasein.
Das Buch
Wiederkehr der Konformität von Cornelia KOPPETSCH aus
dem Jahr 2013 befasst sich mit den Auswirkungen der neuen
Klassengesellschaft auf jene, die den
Verheißungen
der Individualisierung allzu naiv aufgesessen sind. Singles
haben unter den neuen Verhältnissen -
vor allem bei fehlenden Ressourcen - ein höheres
Armutsrisiko. Die
unterschiedlichen Dimensionen des echten Single-Daseins
(Alleinwirtschaften, Alleinwohnen, Partnerlosigkeit,
Kinderlosigkeit - im Unterschied zum falsch zugeschriebenen
Single-Status ) führen dabei in vielfältiger Weise zu
Stigmatisierungen, Selbststilisierungen oder gar
Selbsttäuschungen.
Der Autor dieses Beitrags
kann sich auch als Pionier der Fernbeziehung bezeichnen und zwar
aus eigener jahrzehntelanger Erfahrung. Was damals die Ausnahme
war, das ist heutzutage im Akademikermilieu zur fast normalen
Lebensphase geworden. Die Konsequenzen dieser modernen
Partnerschaftsform sind jedoch noch immer nicht ganz begriffen
worden und im Buch der alternden Babyboomerinnen kommt sie erst
gar nicht vor. Ein fataler Mangel wie weiter unten noch
dargelegt wird.
Ob die Nerd-Kultur des
Silicon-Valley das Modell der Zukunft sein wird, das bleibt
abzuwarten. Bislang wird eher das
urbane Gegenstück der
Global-City mit den Family-Gentrifiers als idealtypischen
Bewohnern präferiert. Wie schon gegen Ulrich BECK einzuwenden
ist: Statt der vollmobilen-Single-Gesellschaft ist die
multilokale Partnerschaft bzw. Familie entstanden. Diese mag
kinderärmer sein, aber die Bestandserhaltungszahl von 2,1 Kinder
pro Frau hat in modernen, offenen Gesellschaften nicht die
gleiche
Bedeutung wie in früheren Gesellschaften. Abschottungstendenzen wie sie Nationalkonservative
von BIRG bis AfD bevorzugen, könnten die Lage jedoch ändern. Aber
solche Aspekte kommen bei den Autorinnen nicht vor, die eher den
Nationalkonservativen in die Hände spielen.
Vor Jahren wurde
befürchtet, dass die Single-Haushalte der Älteren rapide steigen
würden. Das Gegenteil ist jedoch inzwischen der Fall:
Immer mehr
ältere Menschen leben mit einem Partner zusammen
"Der
Anteil älterer Menschen, die mit ihrem Partner einen gemeinsamen
Haushalt bewohnen, ist zuletzt stark angestiegen. Während 1996
nur etwas mehr als die Hälfte der 70- bis 79-Jährigen in einer
Partnerschaft lebte, so sind es gegenwärtig bereits zwei
Drittel. Ein ähnlicher Trend zeigt sich bei Menschen im Alter
von 80 und mehr Jahren: Hier wuchs der Anteil von 26% auf
nunmehr 41%. Dies hat das Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung (BiB) auf Basis des Mikrozensus berechnet,
bei dem Partnerschaften in einem gemeinsamen Haushalt erfasst
werden. Die wichtigste Ursache für den Anstieg liegt in der
Verschiebung der Geschlechterproportion. So gab es noch vor zwei
Jahrzehnten bei älteren Menschen einen starken Frauenüberschuss,
da Männer in dieser Altersgruppe durch den Zweiten Weltkrieg
dezimiert waren. Mittlerweile ist die Altersstruktur bei älteren
Männern und Frauen wieder etwas ausgeglichener. Hinzu kommt,
dass heute Partnerschaften ohne Trauschein weitgehend akzeptiert
sind, weshalb auch ältere Menschen häufiger zusammenleben, ohne
verheiratet zu sein."
(Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Pressemeldung v.
21.12.2016)
|
Im Kapitel Niedrige
Geburtenraten akzeptieren wird die Einkindfamilie, ein
Schreckgespenst, das bereits die Debatten über den
Geburtenrückgang zwischen den beiden Weltkriegen beherrscht hat, als
unser Schicksal beschrieben:
Der tiefe
Riss
"Wir
haben den Zeitpunkt für eine Ankurbelung der Geburtenrate (...)
längst verpasst. Und da wir seit gut 40 Jahren eine Geburtenrate
auf sehr niedrigem Niveau haben, würde das auch gar nichts mehr
nützen. Denn die Frauen, die wieder Kinder Haben müssten, sind
nie geboren worden. Deutschland hat zudem kaum Großfamilien, im
Gegenteil: Die Einkindfamilie ist mit 53 Prozent das am
häufigsten gelebte Modell. Auch das ist ein Grund für unser
Demografieproblem. Wenn Frauen immer später nur ein Kind
bekommen, führt das nicht zu einem nachhaltigen
Bevölkerungswachstum."
(S.199)
|
Dass die Einkindfamilie
das weit verbreiteste Modell in Deutschland ist, ist eine
Fehlinterpretation der Daten durch die Autorinnen. Im
Datenreport 2016, den sie in der Fußnote zitieren, steht lediglich, dass im Jahr 2014 in 53
Prozent der Familienhaushalte ein lediges Kind lebte (S.52). Das
kann vieles heißen, z.B. dass das zweite Kind noch nicht geboren
wurde, im Haushalt des anderen Elternteils lebt oder schon den
Familienhaushalt wegen Gründung eines eigenen Haushalts
verlassen hat. Für die Bevölkerungsentwicklung ist dagegen die
Paritätsverteilung entscheidend, d.h. wie viele gebärfähige
Frauen es mit welcher Kinderzahl gibt. Die aktuellen Daten
finden sich zu den Lebendgeborenen nach der Geburtenfolge im
Statistischen Jahrbuch 2017 (S.36) Diese Daten stehen erst
seit dem Jahr 2009 zur Verfügung, weshalb ein Vergleich mit
früheren Generationen nicht möglich ist. Das führte - wie
bereits weiter oben erwähnt - zu krassen Fehleinschätzungen
hinsichtlich der Kinderlosigkeit in Deutschland. Lediglich ein
Vergleich mit früheren Paritätsverteilungen ergibt Aufschluss
über Trends zu Ein-, Zwei- oder Mehrkindfamilien. Wie sich diese
Paritätsverteilung langfristig entwickelt, darüber lässt sich
nur spekulieren. Deshalb könnte man genauso gut Szenarien
entwerfen, in denen die Drei-Kind-Familie zum neuen Modell
würde. Anhand der folgenden Tabelle ist die Entwicklung für
Deutschland in den Jahren 2009-2015 ersichtlich:
Tabelle: Die
Entwicklung der Geburten nach der Geburtenfolge in
Deutschland
2009 - 2015 |
Jahr |
2009 |
2010 |
2011 |
2012 |
2013 |
2014 |
2015 |
Gesamtzahl |
665.126 |
677.947 |
662.685 |
673.544 |
682.069 |
714.927 |
737.575 |
1. Kinder |
331.467
(49,8 %) |
335.862
(49,5 %) |
329.952
(49,8 %) |
332.847
(49,9 %) |
337.175
(49,4 %) |
353.910
(49,5 %) |
361.154
(49,0 %) |
2. Kinder |
224.270
(33,7 %) |
229.931
(33,9 %) |
225.398
(34,0 %) |
231.743
(34,4 %) |
234.929
(34,4 %) |
244.538
(34,2 %) |
254.001
(34,4 %) |
3. Kinder |
74.849
(11,3 %) |
77.129
(11,4 %) |
74.005
(11,2 %) |
75.072
(11,1 %) |
76.109
(11,2 %) |
80.327
(11,2 %) |
84.036
(11,4 %) |
4. u.w.Kinder. |
34.540
(5,2 %) |
35.025
(5,2 %) |
33.330
(5,0 %) |
33.882
(5,0 %) |
33.856
(5,0 %) |
36.152
(5,1 %) |
24.952
(3,4 %) |
5. u.w. Kinder |
|
|
|
|
|
|
13.432
(1,8 %) |
|
Quelle:
Statistisches
Bundesamt, Fachserien Natürliche Bevölkerungsbewegung
2009-2014;
2015 DESTATIS-Website Lebendgeborene nach Geburtenfolge
(Abruf: 02.01.2017) |
Die Tabelle bietet
lediglich erste Anhaltspunkte, denn unveränderte Verteilungen
auf dieser Ebene können durchaus durch verschiedene
Entwicklungen z.B. im Ost-West-Vergleich bzw. bei den
unterschiedlichen Frauenjahrgängen ergeben. Das würde aber
diesen Beitrag sprengen und unterbleibt deshalb an dieser
Stelle.
Das Buch
Zukunft der Familie, herausgegeben von Günter BURKART,
diskutierte 2009 unter dem Eindruck der bevorstehenden
Schrumpfung mögliche Szenarien des Wandels der Familie. Diese
Szenarien und Prognosen mögen zwar ebenfalls "pessimistisch"
sein, aber sie diskutieren wenigstens die ganze mögliche
Spannbreite.
In dem Buch spielen
deshalb auch Fortschritte der Reproduktionsmedizin und
Regenbogenfamilien eine Rolle. Themen also, die die alternden
Babyboomerinnen erst gar nicht behandeln. Sie bleiben
stattdessen altmodischen Vorstellungen verhaftet, weshalb sie
eine mögliche "Single-Gesellschaft" auch nur als Niedergang der
Familie zeichnen können. Als Beispiel aus dem Buch dient
nachfolgend das
Szenario von Maja S. MAIER:
Gleichgeschlechtliche Partnerschaft und Elternschaft
"Da
Kinderwunsch und Familiengründung nicht länger ausschließlich
biographische Projekte von Heterosexuellen sind, werden sich in
diesem Bereich die Grenzziehungen zwischen heterosexuell und
homosexuell verwischen (...). Denkbar ist es dann, dass die
Differenzierung zwischen Homosexualität und Heterosexualität in
ihrer bekannten Form verschwindet und
neue Grenzlinien zwischen Homosexuellen, die in familiär
und/oder partnerschaftlichen Lebensformen leben und Individuen,
die sich solchen Lebensentwürfen entziehen, entstehen.
(...). Was bis ins 20. Jahrhundert allein den Frauen vorbehalten
war, der direkte Übergang vom Bildungssystem in die Familie,
könnte (...) zukünftig für beide Geschlechter - unabhängig von
ihrer sexuellen Orientierung - zu einer Option werden. (...).
Dies
hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zum einen die Folge, dass die
technologischen Verfahren, die eine vom Geschlecht und von
Heterosexualität unabhängige Fortpflanzung ermöglichen,
weiterentwickelt und etabliert werden. Hierzu bekannt
gewordene Beispiele sind der »schwangere Mann« oder die im Zuge
der Stammzellenforschung entwickelte Möglichkeit einer
spermienlosen Befruchtung. Zum anderen wäre auch zu erwarten,
dass (erwerbsbezogene) Lebensentwürfe, in denen nicht nur
Sexualität, sondern auch die Beziehungsgestaltung von der
biologischen Reproduktion abgekoppelt ist, weniger
problematisiert und mehr mit Blick auf ihre eigenständige
Qualität entwickelt werden."
(2009, S.207)
|
Noch aktueller ist der
Kinderwunsch von partnerlosen Singles. Im Buch
Mutter
Spender Kind von Anya STEINER heißt es:
Mutter
Spender Kind
"Unerfüllter
Kinderwunsch ist ein aktuelles Thema, das mehr Menschen in
Deutschland betrifft, als allgemein angenommen wird. In vielen
Fällen ist der fehlende Partner der Grund dafür. Bei einer Allensbach-Umfrage von 2011 gaben 40 Prozent der
Kinderlosen an, (noch) nicht den richtigen Partner für die
Umsetzung ihres Kinderwunsches gefunden zu haben. Die in
diesem Buch porträtierten Frauen entschieden sich dafür, ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, allein aktiv zu werden und
ohne Partner eine Familie zu gründen. Auch wenn diese Frauen und
ihre Kinder in der öffentlichen Wahrnehmung bisher
unterrepräsentiert sind, leben sie inmitten unserer modernen
Gesellschaft und tragen zur Vielfalt von Lebensentwürfen und
Familienmodellen bei. Die meisten dieser Frauen sind keine
»Single
mothers by choice«, dieser Terminus hat sich in den USA dafür
eingebürgt (etwa: freiwillige Singlemütter), sondern »Single
mothers by default« (etwa: Singlemütter, weil es keine andere
Möglichkeit gab)."
(2015, S.10f.)
|
Das mag für viele
politisch unerwünscht sein, doch auch diese Konflikte werden die
zukünftige Debatte prägen, auch wenn GARSOFFKY & SEMBACH das
ignorieren und lieber die Kinderlosigkeit statt politisch
unerwünschte Kinderwünsche thematisieren.
Dass dieses Thema
ausgeblendet wird, liegt offensichtlich daran, dass GARSOFFKY & SEMBACH
den gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck auf gewollt
kinderlose Akademikerinnen nicht erhöhen wollen. Sie zitieren
z.B. Sarah DIEHL ("Die
Uhr, die nicht tickt"). Die Rente nach Kinderzahl, die sie
propagieren wird jedoch den Rechtfertigungsdruck nicht
verringern, sondern die Polarisierung zwischen kinderlosen
Nicht-AkademikerInnen und AkademikerInnen verstärken. Das
Elterngeld, das auch explizit mit der Begründung eingeführt
wurde, dass in Deutschland die Falschen die Kinder bekommen, hat
nämlich nicht zu einem Rückgang der Kinderlosigkeit in allen
Schichten, sondern nur im Akademikermilieu, geführt. Die Zeche
der elitenfeministischen Lösung, die GARSOFFKY & SEMBACH
bevorzugen, zahlen die geringverdienenden Kinderlosen. Die
Hürden der Paarbildung als Voraussetzung der Familiengründung,
sind nämlich ein Problem, das die Autorinnen schlichtweg
leugnen.
Mutlosigkeit und Ängstlichkeit sind das gravierende Problem des
Buchs
Die Autorinnen sorgen sich
um die Zukunft ihrer Kinder? Dann wundert es, dass die
Babyboomerinnen das Problem vom Ende her denken, statt vom
Anfang. Sie haben eher die eigene Alterssicherung im Blick als
die gewandelten Bedingungen der Familiengründung. Statt sich den
Problemen der multilokalen Partnerschaft zu widmen und die
Vereinbarkeit von Beruf und Partnerschaft zu thematisieren,
jammern sie im Chor der Mainstreamstimmen über die Bindungs- und
Beziehungslosigkeit ("Generation Beziehungslos").
Wer jenseits
der Metropolen mit 500.000 und mehr Einwohnern, die direkt mit
ICEs verbunden sind, eine
Fernbeziehung leben muss, weil sich -
trotz angeblichem Fachkräftemangel - keine angemessene
Arbeitsstelle für beide am gleichen Ort findet, der wird kaum an
eine Familiengründung denken. Das hat inzwischen selbst Norbert
F. SCHNEIDER vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
festgestellt. Und auch wer eine Familie
gegründet hat, der steht bei einem Arbeitsplatzverlust oftmals
vor der Tatsache, dass die Fernbeziehung die einzige Option ist,
um einen Absturz zu verhindern.
In der Hartz-Gesellschaft ist
das nicht mehr nur ein Problem des wohl situierten
Akademikermilieus, das karrieregeil nur den Aufstieg im Sinn
hat. In der Abstiegsgesellschaft, um einen Modebegriff zu
verwenden, der es eigentlich nicht trifft, ist die Fernbeziehung
zur Notwendigkeit im Kampf um den Abstieg geworden. Der Übergang
zum Paar ist damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem
geworden. Das Phänomen wird bislang jedoch nur selten
thematisiert. In dem Beitrag
"Hartz" oder Herz von DIENER & FELDHAUS aus dem Jahr
2011 heißt es z.B.:
"Hartz" oder
Herz?
"Gerade in einer Phase
der Partnerschaft, die heutzutage als Findungs- und
Probierphase gilt und die eben noch nicht eingegangen wird
unter der Prämisse einer breit angelegten, wechselseitigen
Versorgungsgemeinschaft, können (...) die Kosten dieser
Entscheidung zum Zusammenziehen in die Höhe getrieben
werden. In einem größeren, gesellschaftlichen und
sozialstaatlichen Kontext gestellt, ergibt sich aus den
vorliegenden Ergebnissen, dass die intendierten Änderungen
der Arbeitsmarktreform in Deutschland mit vermutlich nicht
intendierten Folgen im Hinblick auf den
partnerschaftlichen Institutionalisierungsprozess
einhergehen. Mit der Einführung es ALG II und der damit
auftretenden Verschärfung der Anrechnung von
Partnereinkommen wurden rechtlich Anreize wie auch
Restriktionen geschaffen, die auf den privaten,
paarinternen Entscheidungsprozess einwirken. Gerade für
Paarbildungsprozesse können hiermit hohe Hindernisse
verbunden sein (...). Diese Beeinträchtigung erreicht
ihren Höhepunkt, wenn bereits zusammenlebende Paare aus
ökonomischen Gründen, die mit dem eingeschränktem
ALG-II-Bezug verbunden sind, wieder auseinanderziehen."
(2011, S.216) |
Fernbeziehungen sind zu einer
Option geworden, um Hartz IV zu vermeiden, denn Abstieg beginnt nicht
erst als Hartz IV-Empfänger, sondern viel früher. Die Debatte um
egoistische oder karrieregeile Kinderlose blendet die hohen
Kosten einer solchen Partnerschaft aus. Wenn
Partnerschaft weiter als Vorbedingung einer Familie
angesehen wird - und das ist in den meisten Fällen immer noch
so, dann ist keineswegs die Familiengründung das Hauptproblem,
sondern bereits die Paarbildung. Das hat in vielen Fällen nichts
mit überhöhten Ansprüchen zu tun, sondern schlichtweg mit den
Bedingungen der flexiblen Gesellschaft und dem modernen
Arbeitsmarkt.
Der Wunsch der
Akademikerinnen auf Augenhöhe zu heiraten, hat zur Polarisierung
der Gesellschaft ebenfalls beigetragen. Sozialer Aufstieg durch
Heirat ist in Zeiten der Doppel-Karriere-Paare und der
Herrschaft der neuen Mittelschicht kein anerkannter Weg mehr.
Die Konsequenz ist, dass gering verdienende Singlemänner zum
Problemfall werden. Die
Gelegenheitsstrukturen auf den Heirats- und Partnermärkten
ist mittlerweile zum eigenständigen Forschungsfeld aufgestiegen
und eine zeitlang waren im öffentlichen Diskurs auch
Menschen ohne Beziehungserfahrung ein Thema. In den
elitenfeministisch dominierten Debatten der letzten Jahre sind
diese Probleme jedoch wieder verdrängt worden. Bindungsangst und
Beziehungsunfähigkeit sind allemal öffentlichkeitswirksamere
Themen als ein unverstellter Blick auf die neue
Klassengesellschaft und deren Konsequenzen für die Paarbildung
und Familiengründung. Es könnte sich jedoch rächen, wenn der
linksliberale Mainstream diese Themen den rechten Populisten
überlässt.
Fazit: Die alternden Babyboomerinnen verschenken
ein wichtiges Thema, weil sie nicht radikal genug denken und
sich einer Versachlichung der Debatte verweigern
Das Buch von GARSOFFKY & SEMBACH
bleibt allzu sehr dem feuilletonistischen Zeitgeist verhaftet
als dass es jene Probleme aufgreifen könnte, die wirklichen
Sprengstoff für die zukünftige Gesellschaftsentwicklung in sich
haben. Statt die Problematik der Familiengründung umfassend zu
erörtern, und dies hieße neben der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie auch die Vereinbarkeit von Beruf und Partnerschaft sowie
die Hürden des Paarbildungsprozesses zu thematisieren, rücken
sie lediglich die Befindlichkeiten des Akademikermilieus in den
Mittelpunkt. Aus diesem Grunde wird der Rückgang der Geburten
der Kinderlosigkeit zugeschrieben, was nicht mehr auf der Höhe
der Zeit ist, denn problematischer ist der Rückgang der
kinderreichen Familien. Das Elterngeld hat die Probleme nicht
entschärft, sondern die Polarisierung verstärkt. GARSOFFKY & SEMBACH
wollen den großen Wurf (Rente nach Kinderzahl, Grundeinkommen)
und hadern deshalb mit den scheinbar geringen Auswirkungen der
politischen Maßnahmen. Die Fixierung auf Schrumpfung und
Alterung verhindert den Blick auf die tatsächliche
Herausforderung der nächsten Jahre: die Bewältigung des
Geburtenanstiegs in Deutschland, der von den Autorinnen klein
geredet werden muss. Mit einseitig "pessimistischen" Szenarien
versuchen sie die Politisierung im Namen ihrer Kinder. Die
drohenden Probleme bei der Kinderbetreuung und in den
Grundschulen, die jetzt erst in Umrissen erkennbar werden (siehe
Sachsen), bleiben im Buch außen vor. Dies gilt ebenfalls für
moderne Paar- und Familienformen. Teilweise verhindert die
unsachliche Sprache und die Anlehnung an die unselige
nationalkonservative Bildsprache, dass eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema verspielt wird. Wer
bei diesem heiklen Thema Kinderlose ins Boot holen will, der
sollte deren Probleme ernst nehmen und nicht nur den eigenen
Standpunkt gelten lassen wollen. Schon die Einleitung dürfte
viele Kinderlose vom Lesen des Buchs derart abschrecken, dass
sie zu den sachlicheren Teilen erst gar nicht mehr vordringen.
Diese Rezension beschränkt sich deshalb darauf, die
Ausblendungen und Beschränkungen aufzuzeigen sowie die Sicht auf
den Geburtenrückgang mit abweichenden Entwicklungsmöglichkeiten
zu konfrontieren.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
Die Rede von der "Single-Gesellschaft"
rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die
zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich
schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die
zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden,
entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige
Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch
leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen
Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen
Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen
Modernisierungsverlierer." |
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