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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Görlitz im demografischen Wandel

 
       
   

Einmal Pensionopolis, immer Pensionopolis? Wie sich eine strukturschwache Stadt gegen das Schrumpfungsideal der Nuller Jahre wehrte und auf die Altenwanderung setzt (Teil 1)

 
       
     
   
     
 

Einführung

Die Stadt Görlitz im heutigen Landkreis Görlitz war bis 2008 eine kreisfreie Stadt. Seit 1998 bildet Görlitz zusammen mit Zgorzelic eine deutsch-polnische Europastadt. Im Zeichen der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme in den Nuller Jahren wurde Görlitz zur ewig schrumpfenden Stadt erklärt. Neoliberale Organisationen vom Berlin-Institut bis zur Bertelsmann-Stiftung verpassten ihr ein Negativimage. Bei der Bundestagswahl 2017 gewann die AfD den Wahlkreis 157 Görlitz. Der damalige sächsische Generalsekretär der CDU Michael KRETSCHMER, der nach der Wahl sächsischer Ministerpräsident wurde, unterlag in diesem Wahlkreis dem bis dahin unbekannten AfD-Kandidaten.

Diese Bibliografie soll die Entwicklung der Stadt anhand der öffentlichen Debatte und anhand statistischer Daten nachvollziehbar machen. Kann sich die Stadt, die gerne als Pensionopolis bezeichnet wird, dem Negativtrend von Image und demografischer Prognosen dauerhaft entziehen, ist eine der Fragen, der nachgegangen werden soll.

Übersicht: Einwohnerwachstum durch Eingemeindungen 1990 - 2000

Tabelle: Eingemeindungen in Görlitz 1990 - 2000
Zeitpunkt Eingemeindete Gemeinde
1994 Deutsch Ossig, Hagenwerder/Tauchritz, Schlauroth
1999 Gebietsteile der Gemeinde Schöpstal, Kunnerwitz/Klein Neundorf,
Ludwigsdorf/Ober-Neundorf
Quelle: Statistisches Jahrbuch Görlitz 2015, S.12

Übersicht: Die Bevölkerungsentwicklung der Stadt Görlitz und im Landkreis Görlitz 1990 - 2018

Tabelle: Die Bevölkerungsentwicklung in der Stadt Görlitz und im Landkreis Görlitz
Jahr Görlitz (Stadt) Görlitz (Landkreis)*
Bevölkerungs-
stand
(31.12.)
Bevölkerungs-
entwicklung
zum Vorjahr
(in Prozent)
Anzahl
Lebend-
geborene

Bevölkerungs-
stand
(31.12.)

1990 72.237   795 367.115
1991 70.488 1.749 (- 2,5 %) 542  
1992 68.851 1.637 (- 2,3 %) 391  
1993 67.647 - 1.204 (- 1,7 %) 375 347.707
1994 67.755 + 108 (+ 0,2 %) 348  
1995 66.118 - 1.637 (- 2,4 %) 369 343.077
1996 64.518 - 1.600 (- 2,4 %) 450  
1997 63.301 - 1.217 (- 1,9 %) 419 337.576
1998 62.076 - 1.225 (- 1,9 %) 465  
1999 62.871 + 795 (+ 1,3 %) 404 328.438
2000 61.599 - 1.272 (- 2,0 %) 457 323.025
2001 60.264 - 1.335 (- 2,2 %) 400 316.037
2002 59.284 - 980 (- 1,6 %) 424 310.927
2003 58.518 - 766 (- 1,3 %) 448 306.408
2004 58.154 - 364 (- 0,6 %) 441 302.540
2005 57.629 - 525 (- 0,9 %) 461 297.785
2006 57.111 - 518 (- 0,9 %) 434 292.843
2007 56.724 - 387 (- 0,7 %) 470 288.735
2008 56.461 - 263 (- 0,5 %) 437 284.790
2009 55.957 - 504 (- 0,9 %) 522 281.076
2010 55.596 - 361 (- 0,6 %) 501 276.924
2011 55.350
54.283**
- 246 489 273.511
267.815**
2012 55.170
54.114**
-180 486 270.307
264.673**
2013 54.042 - 72 (- 0,3 %) 421 262.168
2014 54.193 + 151 (- 0,1 %) 475 260.188
2015 55.255 + 1.062 (+ 2,0 %) 491 260.000
2016 55.904 + 649 (+ 1,2 %) 515 258.337
2017 56.391 + 487 (+ 0,9 %)   256.587
2018 56.324 - 67   254.894
Quelle: Statistische Berichte des Statistischen Landesamts Sachsen; Sozialstrukturatlas
Landkreis Görlitz; Statistische Jahrbücher Görlitz;
Anmerkungen: * Der Landkreis Görlitz setzte sich von 1994 bis 2007 aus den Landkreisen
Löbau-Zittau und dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis sowie der kreisfreien Stadt
Görlitz zusammen; ** zensuskorrigierte Zahlen

Übersicht: Die Bevölkerungsentwicklung 2001 bis 2007 in den ehemaligen Kreisgebieten

Tabelle: Die Bevölkerungsentwicklung 2001 - 2007 in den ehemaligen Kreisgebieten
Jahr Görlitz (Stadt) Löbau-Zittau
(Landkreis)
Niederschlesischer
Oberlausitzkreis
(Landkreis)
Görlitz
(Landkreis)
Bevölkerungsstand (31.12.)
2001 60.264 152.304 103.469 316.037
2002 59.284 150.031 101.612 310.927
2003 58.518 147.847 100.043 306.408
2004 58.154 145.995 98.391 302.540
2005 57.629 143.383 96.773 297.785
2006 57.111 140.982 94.750 292.843
2007 56.724 138.772 93,238 288.735
Quelle: Statistische Berichte des Statistischen Landesamts Sachsen; Statistische Jahrbücher Görlitz;
Anmerkungen: * Der Landkreis Görlitz setzte sich von 1994 bis 2007 aus den Landkreisen
Löbau-Zittau und dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis sowie der kreisfreien Stadt
Görlitz zusammen

Kommentierte Bibliografie (2001 - 2018)

2001

KIL, Wolfgang (2001): Das große Plattensterben.
Montag reist der Kanzler wieder in den Osten – in teils entvölkerte Städte. Die ehemalige Industrieregion ist ökonomisch und städtebaulich auf dem Weg ins 18. Jahrhundert,
in: TAZ
v. 10.08.

"Alarmierende Zahlen in aller Munde: Eine Million leere Wohnungen in Ostdeutschland, Tendenz unaufhaltsam steigend; Spitzenreiter sind Leipzig (35 Prozent Leerstand), Görlitz (48 Prozent der Altstadt), Stendal (42 Prozent im Neubau) und Halle-Altstadt (28 Prozent). Eine Regierungskommission hat die Daten als sozialpolitische Zeitbombe an die Öffentlichkeit gebracht und schlägt vor, bis zu 400.000 Wohnungen »vom Markt zu nehmen«. Seitdem gehören Vokabeln wie »Rückbau«, »Abriss«, »Plattensterben« zum alltäglichen Sprachgebrauch",

schreibt Wolfgang KIL über die Debatte um den Stadtumbau Ost.

RICHTER, Peter (2001): Region erahnter Kindheitsmuster.
Schwermut Ost: Die schrumpfenden, abrißbedrohten - und die malerischen Städte,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.09.

"»Sagen wir lieber Stadtumbau«, sagt Oswald Müller. Denn von Abriß soll keine Rede sein. Und als Amtsleiter der Bauverwaltung von Görlitz ist der Parteilose sehr gespannt, was aus dem gleichnamigen Programm werden wird, das im nächsten Jahr anlaufen soll (...).
Der gebräuchlichste Euphemismus lautet gegenwärtig »vom Markt zu nehmen«. (...). Im Fernsehen gibt es hin und wieder Plattenbauten zu sehen, denen schweres Gerät zu Leibe rückt. Darunter stehen dann aber Namen solcher ehemaliger DDR-Industriezentren wie Schwedt. Görlitz hingegen gehörte unter die Rubrik schöne alte Städte. (...). Das meiste ist mit einer handwerklichen Qualität renoviert worden, die man in Berlin ebenfalls nicht mehr findet. Eine ganze Menge steht aber auch leer, verfällt, »gehört vom Markt genommen«. (...). Altbauten, in denen Abertausende Urbaniten, die sich im Westen auf den Füßen stehen, jede Menge Dielen abschleifen und hinterm Haus sogar den eigenen Rucola anbauen könnten.
Doch Görlitz ist keine »Boomtown«, hat in den letzten zehn Jahren siebzehn Prozent seiner Einwohner verloren und ist überaltert. Die Jüngeren und die Zuzügler haben in der Altstadt viel Platz, viele Ältere finden es in ihren kleinen Plattenbauwohnungen am Stadtrand weiterhin bequemer, und für das eher traditionelle Familienleben der mittleren Jahrgänge sind noch weiter draußen die üblichen Eigenheime entstanden.
Alles dazwischen könnte eigentlich wegfallen und einem Todesstreifen zwischen den Lebenskulturen Platz machen, wie ihn Fachleute für die meisten ostdeutschen Städte vorhersagen",

berichtet Peter RICHTER über die demografisch gerechtfertigte Sicht zur Stadtentwicklung in Ostdeutschland, wobei Görlitz von RICHTER als Ausnahme betrachtet wird. RICHTER ist der Meinung, dass oftmals einfach die falschen Gebäude abgerissen werden:

"Oft sind es (...) genau jene Häuser, die bereits die DDR sprengen wollte - und der Protest gegen diese Pläne war elementarer Bestandteil der Bürgerrechtsbewegung -, von Greifswald (...) bis nach Görlitz, wo die Bürger eine Hauszeile mit ihren Leibern schützten, als die Sprengladungen schon gelegt waren."

Neben Görlitz kommt RICHTER auch auf Halle und Leipzig zu sprechen. RICHTER befürchtet eine Zersiedelung ("Sprawl") in ostdeutschen Städten:

"In die Innenstädte wird sich wohl ein amerikanischer »Sprawl« hineinfressen - schon weil sich jedes innerstädtische Bauen von Wohneigentum zu den ästhetischen Standards der Speckgürtel hinabbemühen müßte, um im Preis konkurrenzfähig zu sein.
Hierauf attraktive und stadtverträgliche Antworten zu finden könnte die spannendste und auch schwierigste architektonische Aufgabe der nächsten Jahre sein. Denn wenn man aus den wirtschaftlichen und demographischen Tendenzen und Prognosen Schlüsse für die zukünftige Gestalt dieses Landstrichs zieht, wird alles wehmütig und schmeckt nach Abschied."

Schrumpfende Städte - und dagegen gibt es keinerlei Mittel - heißt für RICHTER auf vielerlei weise Abschied zu nehmen:

"Zunächst mal Abschied von der Jugend. Wenn die den Lockungen des wirtschaftlich starken Südwestens folgt, dann werden die Städte, bevölkert von denen, die auf DDR-Rentenniveau leben müssen, alt und arm sein. Zwischen den Altbauten wird das Leben nicht pulsieren, sondern schleichen. Erst recht kein Grund zu bleiben oder gar hinzuziehen.
Abschied nehmen heißt es auch von der Vorstellung, daß Häuser Werte darstellen. (...). Verabschieden muß sich endlich die Baubranche (...) von der Eigenheimzulage und vom unsinnigen Weiterbauen am Wohnungsüberhang. Und aufgeben muß man wohl auch den (...) Glauben, daß Städte prinzipielle wachsen. Sie werden aber schrumpfen."

RICHTER erzählt uns noch einmal die Geschichte von den versprochenen blühenden Landschaften und deren Folgen als sei ausblieben. Und am Ende folgt dem Abriss der Plattenbausiedlungen der Abriss der Altstädte:

"Den industriellen Glücksversprechen, die die DDR auf den östlichen Äckern zusammengeschraubt hatte, ist nur bereits passiert, was jetzt den idyllischen Altstädten noch droht. Denn (...)(längst) fordern Wirtschaftsliberale ein Ende der flächendeckenden Subventionen. Wenn es gut läuft, wie in Jena oder Dresden, dann läuft es eben, und wenn nicht, dann nicht. Schluß, aus, Schrumpfen. Und am Ende paßt womöglich Magdeburg, so wie nach der Völkerwanderung der Rest der Stadt Arles in ihr Amphitheater paßte - dann paßt vielleicht ganz Magdeburg in sein Fußballstadion, wo es 1974 den Europapokal gewonnen hat."

RICHTER vergleicht brandenburgische Städte sogar mit Geisterstädten.   

2002

KIL, Wolfgang (2002): Görlitz.
Die Stadt, ihre Schönheit und der "Umbau Ost",
in: Deutsches Architektenblatt
, Heft 4

2003

BECKER, Franziska (2003): Ortsbezug und Abwanderung. Kulturanthropologische Skizzen zum Transformationsprozess in einer Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. In: Kristina Bauer-Volke & Ina Dietzsch (Hrsg.): Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im Wandel, Projekt der Kulturstiftung des Bundes, Berlin, S.256-267

2004

RICHTER, Peter (2004): Frohen Osten!
Entvölkerte Städte, einstürzende Platten und Brücken, über die niemand geht: Die ehemalige DDR als ästhetische und künstlerische Herausforderung,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 11.04.

Peter RICHTER erklärt uns, dass das "Kunstprojekt zur Erforschung urbanen Lebens in schrumpfenden Städten" ein Mittel zum Besseren ist, denn Hoyerswerda soll nicht überall sein:

"Wie man ausgedünnte Stadtlandschaften wieder attraktiv machen könnte nach all den Jahren des alteuropäischen Verdichtungsparadigmas im Städtebau. Was für Konsequenzen die Dominanz der Rentner in den Städten haben wird, wenn die Jüngeren weiterhin abwandern. Oder wie die allgegenwärtigen Tankstellen als soziale Knotenpunkte ernst nehmen und ausbauen könnte. (...). Es geht längst nicht mehr nur um DDR-Platten, die einem egal sein können, wenn man tief im Westen wohnt, sondern um den gesamtdeutschen Traditionsbestand aus den Jahrhunderten vorher: In Altenburg in Thüringen sind schon Häuser aus der Renaissance und dem Barock abgerissen worden, und wenn Görlitz auf der Kippe steht, dann trifft es ein östliches Heidelberg, mit Westgeld saniert, wunderschön, gähnend leer.
So etwas darf den Westdeutschen, die das bezahlt haben, nicht länger egal sein."

GEO -Extrabeilage: Kreise und Städte im Test. Der demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen

Im Ranking des Berlin-Instituts kommt die Stadt Görlitz in Sachsen auf den vorletzten Platz. Den letzten Platz belegt der Landkreis Löbau-Zittau, der ab 2008 zum Landkreis Görlitz gehört.

Tabelle: Görlitz im Urteil des Berlin-Instituts anhand 22 Indikatoren
Indikatoren-
bereich
Indikator Note Merkmal (Zielmarke) Stadt/Landkreis
mit Bestnote
(Beispiel)
Demographie Kinderzahl 6 TFR unter 1,3
(2 und mehr)
keine(r); Cloppenburg
erreicht  2
Unter 20-Jährige 5 18 - 20,99 %
(29 und mehr)
keine(r);
Alb-Donaukreis erreicht 2
Frauenanteil 4 88 - 91,99
(100 und mehr)
Baden-Baden
Wanderung 6 weniger als - 9
(5 und mehr pro 1000 Einwohner)
Baden-Baden
natürliche Saldorate 2000-2020
(jährliche Differenz aus Geburtenzahlen und Sterbefällen je 1000 Einwohner
5 - 6 bis -4,1
(2 und mehr pro 1000 Einwohner
Freising
Bevölkerungsprognose 2020 6 Bevölkerungsverlust bis 2020 über 15 Prozent
(10 und mehr Prozent)
Bodenseekreis
Wirtschaft Kaufkraft (Nettoeinkünfte) 6 Weniger als 13.000 Euro pro Kopf im Jahr 2003
(19.000 und mehr)
Baden-Baden
Bruttoinlandsprodukt (BIP in Euro je Erwerbstätigen; Mittelwert 1999-2001 5 14.000 - 15.999
(40.000 und mehr)
Heilbronn
Gestaltungsquote (Verhältnis von Verschuldung der Kommune zu Einnahmen) 3 0,6 - 0,79
(weniger als 0,4)
Biberach
Erwerbstätigkeit (Prozentanteil sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter am Wohnort 2001) 6 weniger als 30,5 %
(36,5 % und mehr)
Böblingen
Arbeitslose & Sozialhilfeempfänger
(Summe je 1000 Einwohner 2001)
5 56 - 69,9
(weniger als 16)
Enzkreis
Hochbetagte (Prozentanteil der über 75-Jährigen) 6 9 und mehr
(weniger als 5)
Freising
Wohnungsbau (neu fertiggestellte Wohnungen je Bestandswohnungen; Mittelwert 1997-2001) 5 5 bis 8,4
(19 und mehr)
Erding
Ausländer-
integration
Bildungschancen (Bevölkerungsanteil der 10-18-jährigen Ausländer in Relation zu ausländischen Gymnasiasten 2001) 1 0,8 und mehr Amberg-Sulzbach
Arbeitslosigkeit (Verhältnis der Arbeitslosigkeit bei Ausländern und Deutschen 2001) 3 1,40 bis 1,79
(weniger als 1)
Sömmerda
Bildung Schulabgänger (Prozentanteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss unter allen Schulabgängern 2001 5 12,5 - 14,9
(weniger als 5)
Bonn
Berufsausbildung (Gesamtangebot an Ausbildungsplätzen je 100 Ausbildungsplatzsuchenden 2001 6 weniger als 90
(100 und mehr)
Baden-Baden
Hochqualifizierte (Prozentanteil an allen Sozialversicherungspflichtigen mit Hochschul-, Fachhochschul- oder höherer Fachschule am Wohnort 2001 2 10 - 11,99
(12 und mehr)
Böblingen
Familien-freundlichkeit Single-Haushalte (Prozentanteil der Single-Haushalte an allen Haushalten im Jahr 2000 5 40 - 44,9
(weniger als 25)
Landkreis Heilbronn
Kindergärten (Krippen- und Kindergartenplätze 2002 je 100 Kinder unter 6 Jahren 3 70 - 79,9
(90 und mehr)
Böblingen
Flächennutzung Freifläche (Wald, Gewässer, Naturschutzgebiete in qm pro Einwohner im Jahr 2000 4 500 - 799
(1600 und mehr)
Baden-Baden
Fremdenverkehr (Übernachtungszahlen im Fremdenverkehr je Einwohner; Mittelwert 1997-2001) 5 1 bis 3,99
(20 und mehr)
Berchtesgadener Land
Quelle: Geo-Beilage Heft 5, 2004, S.19-21, 29

An der Tatsache, dass NUR bei zwei Indikatoren aus dem Bereich Demografie kein einziges Gebiet die Bestnote erreichen konnte, lässt sich die Schieflage des Rankings erkennen. Ganz bewusst wurde bei der Kinderzahl und dem Anteil der unter 20-Jährigen unerreichbare Zielmarken gesetzt. Eine Kinderzahl von 2,1 gilt Nationalkonservativen als Ideal, obwohl dieses Ideal einer geschlossenen Gesellschaft entspricht und nicht dem Ideal einer offenen und mobilen Gesellschaft.

Im Ranking, das zwei Jahre später durchgeführt wurde, wird dann auf die Verwendung unrealistischer Zielmarken verwendet. Dort hießt es nun:

"Bei gleichbleibender Lebenserwartung bleibt eine Gesellschaft stabil, wenn jede Frau im Mittel 2,1 Kinder bekommt. Unterhalb dieses Wertes würde eine Bevölkerung schrumpfen, es sei denn die Lebenserwartung steigt oder Menschen aus dem Ausland wandern zu" (2006, S.182)

Die Abkehr vom nationalkonservativen Ideal drückt sich dementsprechend dadurch aus, dass die Note 1 bereits ab 1,91 vergeben wird. Diese hätte Cloppenburg in diesem Ranking erreicht. Im Ranking des Jahres 2006 verfehlt jedoch Cloppenburg dieses Ziel. Statistiker wie Eckart BOMSDORF sind im Gegensatz zum Berlin-Institut davon ausgegangen, dass eine Geburtenrate von 1,7 ausreichend ist, um eine stabile Bevölkerungsentwicklung zu gewährleisten.

Auch der Indikator der unter-20-Jährigen wurde im Jahr 2006 durch den Indikator der unter 35-Jährigen ersetzt. Die Bestnote 43,01 und mehr Prozent wurde von Cloppenburg mit 47,12 Prozent erreicht, aber auch eine Stadt wie Jena konnte nun hier punkten. Begründet wird das Maß damit, dass dadurch auf längere Sicht ausreichend Erwerbsfähige und potenzielle Familiengründer vorhanden wären.

Am Beispiel des Indikators Single-Haushalt lässt sich die Problematik solcher Rankings besonders deutlich aufzeigen. Die Güte eines Indikators kann daran gemessen werden, ob er überhaupt das misst, was er messen soll. Im Ranking soll anhand der Anzahl der Einpersonenhaushalte ("Single-Haushalte") die Familienfreundlichkeit eines Kreises bzw. einer kreisfreien Stadt bewertet werden. Zuerst stellt sich hier die Frage, ob der Indikator nicht eher zum Bereich Demographie gehört, weil er z.B. eher etwas mit der Altersstruktur einer Gesellschaft einer Gesellschaft zu tun hat, denn Single-Haushalte sind vor allem während der Ausbildung und beim Berufseinstieg sowie bei älteren Menschen verbreitet. Der Indikator steht jedoch auch für ein ganz bestimmtes Verständnis von Familie, nämlich die Haushaltsfamilie, die in modernen Gesellschaften hauptsächlich zwischen Familiengründung und Auszug der Kinder aus dem Elternhaus verbreitet ist. Familienfreundlichkeit wird also auf eine ganz spezielle Familienphase reduziert, statt die ganze Bandbreite des Familienzusammenhangs zu betrachten. Dazu wäre z.B. das Konzept der multilokalen Mehrgenerationen-Familie angemessener gewesen. Dies aber führt gleichzeitig zu einem Grundprinzip der Konstruktion solcher Rankings: Sie bedürfen der breiten Verfügbarkeit von Daten zu einem Indikator. Innovative Konzepte sind deshalb eine Fehlanzeige. Stattdessen wird die Zukunftsfähigkeit von Regionen mittels möglichst traditioneller Konzepte gemessen. Eigentlich ein Widerspruch an sich. Dementsprechend sind Rankings sehr selten innovativ, sondern ihr zweites Prinzip heißt Anschlussfähigkeit an öffentliche Debatten. Die Verwendung des Begriffs "Single-Haushalt" verweist auf eine Debatte, die im Jahr 2004 ihren Zenit bereits überschritten hat, nämlich die Frage, ob wir auf dem Weg in die Single-Gesellschaft sind. Diese Frage wurde in den 1980er Jahren populär und in den 1990er Jahren sogar dominant, während sie in den Nuller Jahren mehr und mehr aus dem Fokus des Interesses rückte. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Indikator bereits im Ranking des Jahres 2006 wieder entsorgt wurde.

"Eine hohe Rate an Single-Haushalten (...) geht häufig mit einer niedrigen Geburtenrate und später Familiengründung einher" (S.21),

hieß es 2004 als Begründung für die Verwendung des Indikators. Warum wurde also die Maßzahl Einpersonenhaushalt nicht auf die Bevölkerung im gebärfähigen Alter beschränkt, sondern ein Bezug zur Gesamtzahl hergestellt? Ein Indikator, der den Prozentanteil der Einpersonenhaushalte an der Altersklasse der 15 - 45-Jährigen, so jedenfalls die damalige Definition der Gebärfähigkeit durch das Statistische Bundesamt, wäre also angemessener gewesen. Wollte man die frühe Mutterschaft propagieren, dann wäre auch eine Eingrenzung auf die Altersklassen der 15 - 25-Jährigen oder 20- bis 30-Jährigen denkbar gewesen. Im Jahr 2006 wird statt der Einpersonenhaushalte die Zahl der "Personen je Wohnung" verwendet. Die Begründung lautet nun:

"Eine geringe Anzahl an Personen je Wohnung ist ein Hinweis auf viele alleinstehende ältere und/oder jüngere Menschen, die ohne Kinder oder Partner leben. Umgekehrt ist eine hohe Zahl von Personen je Haushalt ein Zeichen für viele Familien und andere Lebensgemeinschaften." (2006, S.187)

Die Stadt Görlitz wird mit 1,83 Personen je Wohnung zum bundesdeutschen Schlusslicht erklärt, während Cloppenburg mit 3,15 Personen je Wohnung zum Mustergebiet erklärt wird. Wie dieser Indikator jedoch genau berechnet wurde, das bleibt im Dunkeln. Der Indikator "Personen je Wohnung" ist nicht identisch mit einem Indikator "Personen je Haushalt".

Dass ein enger Zusammenhang zwischen Geburtenrate und der Entwicklung der Einpersonenhaushalten bzw. Haushaltsgröße nicht besteht, zeigt sich daran, dass die Geburtenrate in Deutschland steigt, obwohl die Haushaltsgröße weiter schrumpft. So meldete das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung für das Jahr 2016: Gegenwärtig teilen sich in Deutschland 2,01 Menschen einen gemeinsamen Haushalt. Im Jahr 1991 lag der Wert noch bei durchschnittlich 2,27. Die Geburtenrate liegt dagegen mit 1,59 im Jahr 2016 weit über jener des Jahres 1991: 1,33.    

Auch in anderen Bereichen zeigt das Ranking Schieflagen, weil es ein bestimmtes Ideal von einer erfolgreichen Stadt bzw. Landkreis transportiert. Die Indikatoren sind nicht geeignet um die vielfältigen Wege zum Erfolg abzubilden. Warum z.B. nur ein ganz bestimmtes Maß an Hochqualifizierten für Erfolg bürgen soll, bleibt ein Geheimnis. Nicht jede Stadt muss ein High-Tech- bzw. Wissenschaftsstandort werden. Statt auf Vielfalt setzt das Ranking auf eine Stadthierarchie, mit der eine ganz bestimmte Vorstellung von Standortwettbewerb verbunden sind. Vom Ideal abweichende Entwicklungspfade werden abgestraft.

Eine Kritik des Stadtforschers Steffen MARETZKE an Rankings und der Auswahl von Indikatoren, die auch beim Berlin-Institut beliebt sind, findet sich hier.

SMOLTCZYK, Alexander (2004): Die fremden Schwestern.
Das deutsche Görlitz bekam Millionen für den Neustart nach dem Sozialismus, das polnische Zgorzelec fast nichts. Nun sollen die beiden Städte links und rechts der Neiße zu einer zusammenwachsen - dabei trennen sie Welten. Die eine hat, was der anderen fehlt,
in: Spiegel Nr. 44  v. 25.10.

Der Artikel von Alexander SMOLTCZYK weist bereits jene Konfliktlinien zwischen den urbanen Kosmopoliten und den Kommunitaristen bzw. Konservativen auf, die den AfD-Erfolg 15 Jahre später begründen werden. Das polnische Zgorzelec wird uns als das bessere Görlitz geschildert, amerikanischer eben, oder im neoliberalen Slang: mehr Eigenverantwortung und Selbstunternehmertum statt Vollkaskomentalität:

"Zgorzelec. Das ist die ehemalige Görlitzer Kasernenvorstadt am anderen Ufer der Neiße. Nur ein paar Schritte über die Stadtbrücke entfernt. Manchmal ist das so weit wie zu den Antipoden.
Grenzstädte sind anders. Am einen Ufer liegt, was zu träge ist, um weiter mitgerissen zu werden. Am anderen Ufer fängt sich, was nicht mehr weiterdarf. Das macht die Doppelstädte im Osten so verschieden. Frankfurt und Slubice, Guben und Gubin, Görlitz und Zgorzelec. Es sind ungleiche Schwestern. Die eine hat, was der anderen fehlt. Nirgendwo ist das deutlicher zu spüren als in Görlitz-Zgorzelec.
Wer sich Görlitz über die A4 von Westen her nähert, durchquert zur Einstimmung einen 85 Millionen Euro teuren Tunnel ohne Berg, der gebaut wurde, um schützenswerte Hügelchen zu schonen, passiert wenig später einen in sich ruhenden, subventionierten Windmühlenpark und ist dann bereit für Görlitz.
Die Stadt steht da wie ein großes Missverständnis. Wie ein versprengtes Stück Kultur, wie ein aus der Zeit gefallener Rest Old Europe, mit Barockportalen im Dutzend, gotischen Fenstern, einer Jugendstilpassage, Stadtvillen aus der Gründerzeit, vergoldeten Flachreliefs, Säulchen, Zierleisten. Selbst
»Karstadt« sitzt in Jugendstil, dem letzten erhaltenen Kaufhaus seiner Art in Deutschland.
Eine halbe Milliarde Euro ist über die Altstadt von Görlitz niedergegangen. Die Stadt hat das Herz hochbesteuerter Zahnärzte gerührt. Fördermittel, Stiftungsgelder, Investitionszulagen, Eigenkapitalien strömten an die Neiße, jede Ecke wurde mit philatelistischer Sorgfalt restauriert, Regenrinnen aus Kupfer verlegt, Innenanstrich nach Quark-Kalk-Rezeptur aus dem Mittelalter angerührt. Nirgendwo sonst zeigte sich der Aufbau Ost sorgfältiger und liebevoller als in Görlitz.
Jetzt ist die Kulisse fertig, und es gibt nur noch ein Problem: die Menschen. Es ist keiner mehr da zum Bespielen. Die Fenster bleiben abends dunkel. Die Stadt ist leer. Görlitz hatte zu DDR-Zeiten 80.000 Einwohner. Ein Viertel der Bevölkerung ist fortgezogen, vor allem die Jüngeren. Jetzt leben hier noch 60.000 Menschen, und sie sind nicht jung. 45 Jahre alt ist der Görlitzer im Schnitt, zehn Jahre älter als der Zgorzelecer, nur eine Flussbreite entfernt. (...).
Zgorzelec ist das Gegenteil von Görlitz. Eine gewucherte Behelfsstadt, zwangsbesiedelt mit Fremden, denen die Angst vor Vertreibung in den Knochen steckt. Die Welt am anderen Ufer ist rauer. Es riecht nach Braunkohle wie früher überall. Die Kerle sind kurz geschoren, die Blicke hungriger. Die Schritte der Frauen sind schneller, die Gesichter geschminkter, die Hosen um jene Nummer zu eng, die über Reiz oder Bequemlichkeit entscheidet. Zgorzelec ist arm, und Armut ist direkt und laut.
Die Wohnungen sind eng, rationiert und schäbig. Die Straßen belebt, der Verkehr dröhnend, auf dem Markt drängeln sich die Leute, und die Arbeitslosenquote liegt bei 11 Prozent. Halb so hoch wie auf der anderen Seite. (...).
In den letzten Jahren sind Tausende aus dem Umland nach Zgorzelec gezogen. Sie eröffnen in irgendeinem Souterrain eine Frisierstube, oder sie klappen einen Campingtisch an der Warszawaska-Straße auf wie Sylwia, Maigorzata und Anna, packen ihn voll mit schwedischen Duftwässerchen, zahlen zwei Zloty am Tag oder auch nicht - und kommen über die Runden.
Inzwischen ist die Kriminalität an der Neiße nicht wesentlich höher als anderswo. (...). Nur der raue Wind ist geblieben. Zgorzelec ist amerikanischer, auf kuriose Art westlicher als Görlitz.
Rolf Karbaum war in der DDR Professor für Schwachstromtechnik, bevor er Oberbürgermeister von Görlitz wurde. (...). Die großen Investoren sind weggeblieben - mit Ausnahme eines Callcenters, das sich im alten Postamt angesiedelt hat, weil Görlitz eine schlesische Stadt ist und die Menschen hier nicht sächseln.
Doch Karbaum ist risikofreudiger, als manchen Alteingesessenen recht ist. Am liebsten würde er alle Grenzen abschaffen, den Arbeitsmarkt öffnen, den Wohnungsmarkt, das Melderecht. Warum sollen Polen nicht in leere Görlitzer Wohnungen ziehen? Warum soll eine Druckerei keinen Polen einstellen dürfen, auch wenn die Arbeitslosenquote in Görlitz bei 23 Prozent klebt? "Unsere einzige Chance ist der Osten", sagt er. (...).
Karbaum fürchtet, dass nach dem Wegfall der Grenze die Entwicklung über die beiden Städte hinwegspringen könnte. Dass Görlitz vor allem hübsches Hinweisschild an der Autobahn bliebe, auf dem Weg zwischen Dresden und Breslau. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.
Am Morgen hat die Deutsche Bahn bekannt gegeben, die letzten beiden direkten Zugverbindungen von Dresden über Görlitz nach Polen würden gekappt. (...).
Die Görlitzer sind stolz auf ihre Altstadt. Die Zgorzelecer auf ihre Tankstellen.
In Polen ist das Ende des Sozialismus als Crashkurs absolviert worden, ohne sozialstaatliche Abfederung, ohne Transfers aus einer besseren Welt. Das hat die Menschen jenseits der Neiße arm gemacht und illusionslos. Wer sich nicht selbst hilft, der kann auf Hilfe lange warten. (...).
Inzwischen leben viele Geschäfte der Görlitzer Innenstadt von den Zgorzelecern, die in ständigem Strom mit ihren Einkaufstüten über die Stadtbrücke kommen, um Kosmetika oder Markenartikel zu kaufen. Früher waren nur die Warnschilder gegen Ladendiebstahl auch in Polnisch. Inzwischen steht in den Kaufhäusern "Serdecznie witamy! - Herzlich willkommen!" Ein Drittel seines Umsatzes macht der Einzelhandel mit Kunden von drüben. Doch manchem fällt es schwer, frohgestimmt über die Neiße zu schauen. (...).

Die urbanen Kosmopoliten wohnen in der schmucken Altstadt, während die "Konservativen" am Rande in der Plattenbausiedlung wohnen:

Es ist, als ob ein weiterer Riss durch Görlitz ginge, quer zur Neiße. Eine Kluft zwischen denen, die neugierig auf das andere Ufer sind, und den anderen. Die alten Görlitzer haben sich nicht in die renovierte Innenstadt locken lassen.
Sie wohnen draußen, in der Plattensiedlung Königshufen. Hier kennt man sich, es gibt Parkplätze, Straßenbahn und einen
»täglich billig!«-Supermarkt in der Mitte. Königshufen ist Sozialismus plus Biotonne. Außerdem hat man einen schönen Blick auf die Altstadt.
Da unten, in den Gründerzeitvillen, haben sich Neubürger angesiedelt. (...). Bei der Stadtratswahl im Juni haben diese
»Bürger für Görlitz« die meisten Stimmen bekommen.
Vielleicht ist es falsch, auf die großen Investoren zu warten. Vor gut hundert Jahren war Görlitz schon einmal eine
»Pensionopolis« für preußische Rittmeister a. D. Es gibt Leute, die darüber nachdenken, Görlitz in eine Art deutsches Palm Springs zu verwandeln, eine Kultur- und Klinikstadt für Ruheständler. Ihnen macht die Randlage nichts aus, und sie könnten sich von Pflegern aus Zgorzelec betreuen lassen.
Vielleicht muss man ganz anders denken. Es sind nicht die großen Institutionen, die eine Entwicklung bestimmen, sondern die kleinen Bemühungen."

Was hier noch als Mentalitätsunterschied daher kommt, wird sich zur neuen politischen Konfliktlinie entwickeln. Ausgang offen!

KOCH, Hannes (2004): Rückkehr nach Pensionopolis.
Görlitz im Osten schrumpft. Gerade diese neue Übersichtlichkeit soll die Stadt attraktiv für Ruheständler machen. Der Plan scheint zu funktionieren,
in: TAZ v. 26.10.

"Die 60.000-Einwohner-Stadt zeichnet sich aus durch wunderbare Wohnquartiere. Intakte Straßenzüge aus der Gründerzeit wechseln mit großzügigen Alleen des Jugendstils und mit noblen Stadtvillen - erste Adresse für Filmproduktionen, die das Berlin oder Paris der 1920er-Jahre suchen. Andererseits: Görlitz schrumpft rapide. Zu wenige Jobs, die Jungen ziehen weg. Die Stadt ist heute nach Baden-Baden eine der ältesten Deutschlands - nicht historisch, sondern am Alter ihrer Bevölkerung gemessen. Knapp 22 Prozent der Einwohner sind jenseits der 65. Hier kann man schon heute studieren, wie die deutsche Gesellschaft in 30 Jahren aussehen wird. Wohin entwickelt sich die Stadt Görlitz? Schon vor 100 Jahren trug die Stadt den Beinamen »Pensionopolis«. Ausgediente Offiziere und Beamte ließen sich hier nieder, viel Bildungsbürgertum. Die Bürgermeister konnten ihre reiche Klientel mit Steuervorteilen locken, man investierte in Kultur, Bibliotheken, Parks. Lässt sich daran für die Zukunft anknüpfen? Ein paar Leute immerhin gibt es, die ökonomische Funken aus der Überalterung zu schlagen versuchen",

berichtet Hannes KOCH über die Vergangenheit und Gegenwart von Görlitz. Die Stadtplaner wollen eine perforierte Stadt verhindern und stattdessen die Innenstadt fördern:

"»Die Stadt soll sich zusammenziehen«, sagt er. Keine Tentakeln ausbilden, keine Supermärkte auf der grünen Wiese, lieber Geschäfte in der Innenstadt. Denn das sei gut für die alten Leute, die brauchen dann nicht so weit zu fahren: eine funktionierende Stadt, fußgängerfreundlich und mit kurzen Wegen als Standortvorteil. Weil Görlitz mit seinen Jugendstiljuwelen locken kann, scheint das auch einigermaßen zu funktionieren. Über seine Statistiken gebeugt, macht Penske ein fröhliches Gesicht. Erstmals seit langem habe in jüngster Zeit die Bevölkerung in manchen Innenstadtquartieren nicht mehr ab-, sondern zugenommen. Ruheständler aus Hamburg und Frankfurt seien zugezogen, aber auch junge Familien, die sich ein Haus mit Garten zehn Minuten vom Marktplatz leisten könnten."

Der Professor für Sozialwesen Joachim SCHULZE sieht im Alter einen Wirtschaftsfaktor für die Stadt.

HAMANN, Götz (2004): Wie schrumpft man eine Stadt?
Wir werden weniger (3):
Sachsen erlebt, was westliche Bundesländer noch vor sich haben: Verlassene Wohnungen und verfallende Viertel in fast jeder Kommune. Stadtplaner, Politiker und Bürger lernen allmählich, mit der neuen Leere umzugehen,
in: Die ZEIT Nr.45 v. 28.10.

"Es war eine Fahrt im September. Eine Fahrt (...) bis nach Görlitz, tiefer geht es nicht in den sächsischen Osten. (...).
Statt fünf Millionen Menschen wie zu Wendezeiten leben heute noch 4,3 Millionen in Sachsen, was bitter ist, der Region aber auch den Ruf eingetragen hat, dort ließe sich ein Blick in die gesamtdeutsche Zukunft werfen (...).
Sachsen (ist) dem Westen um mehrere Jahre voraus. Denn in all den Irrtümern, Rückschlägen und Erfolgen stecken Erfahrungen, die der Westen noch machen muss",

erklärt uns Götz HAMANN. Die Geschichte "Sachsen ist überall" ist eine Variation der "Hoyerswerda ist überall"-Geschichte, in der der demografische Niedergang zum Leitbild erhoben wird. Görlitz ist für HAMANN ein Sinnbild für fehlenden Mut, dem Untergang ins Gesicht zu sehen:

"Görlitz. Das Licht härtet an diesem Morgen auch die erdigsten Farben. Das Gelb und das Braun und die Sandtöne des Görlitzer Untermarktes erkalten mit jeder Minute mehr, was die Fassaden aus Barock und Renaissance noch stärker hervortreten lässt und die Häuser binnen Minuten in ein historisches Bühnenbild verwandelt. Wer im Vergleich dazu Fotos aus dem Jahr 1989 betrachtet, ahnt, warum es Lokalpolitikern und Stadtplanern bis heute misslingt, sich dem Schrumpfen zu widmen.
Zu Wendezeiten trug die Innenstadt Züge einer Ruine, die Baupolizei hatte viele Gebäude gesperrt, und nicht viel wäre vom Stadtkern geblieben, hätte er weiter vor sich hin rotten müssen. Seither wurden Laubengänge, Kaufmannshäuser, Speicher und Wohnstraßen, zusammen fast 4000 Baudenkmäler, saniert und mit immensen Zuschüssen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in ihren Urzustand versetzt. Gegen so viel Verfall anzugehen kostet Kraft. (...).
Von den 72000 Menschen, die im Jahr 1990 in der Stadt lebten, zogen Tausende auf der Suche nach Arbeit gen Westen. Geblieben sind 58000, was logischerweise dazu führt, dass der Leerstand am Stadtrand wie im Zentrum gestiegen ist. Und er dürfte weiter steigen, weil die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2020 auf 46000 gesunken sein wird – so das Statistische Landesamt. Derzeit bleibt nahe des Untermarkts abends jede dritte Wohnung dunkel, und wo die Dunkelheit einmal nistet, breitet sie sich aus, weil Leerstand neuen Leerstand anzieht. Wer wohnt schon gern in halb verlassenen Straßen? Einem derartigen Schrumpfen der Bevölkerung allein mit einer Sanierungsstrategie zu begegnen, weil man auf künftiges Wachstum hofft, muss scheitern – und hat Folgen wie in Görlitz.
Längst ist der Immobilienmarkt in der Region aus dem Gleichgewicht geraten."

Sachsens Regierung will das Land schrumpfen, aber die Menschen zeigen sich widerspenstig:

"Die Görlitzer Stadtpolitik hat einen Trend verschärft, der weite Teile des Landes erfasst hat: Ministerpräsident Georg Milbradt rechnete auf einer Tagung vor, dass die Differenz zwischen denen, die sterben, und denen, die geboren werden, seit 1990 etwa 370000 Bürger betrage. Da in derselben Zeit viele Gemeinden rund um Dresden und Leipzig sogar noch gewachsen sind, weil sich überall im Land, aber vor allem dort, mehr als 90000 Sachsen ihren Traum vom Eigenheim erfüllten, selbst wenn es ein Musterhaustraum war, schrumpfte die Bevölkerung in mittelgroßen Städten und den Randlagen noch schneller."

Zwickau gilt dagegen als mustergültige Baupolitik per Abrissbirne:

"Zwickau. Eigentlich hilft nur der große Abriss. Auf einem Hügel nordöstlich des Stadtkerns von Zwickau wächst zwischen der Carl-Gördeler-Straße und der Moltkestraße ziemlich gewöhnliches Gras. (...) Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit. »Da standen überall Sechsgeschosser.« Pflug hat nach der Wende das Bauamt geleitet und wechselte dann zur Zwickauer Wohnungsbaugenossenschaft, deren Vorstandsvorsitzender er heute ist. Er ist einer, an den Staatssekretär Buttolo denkt, wenn er sagt: »Fahren Sie nach Zwickau. Sehen Sie sich das an! So viel kann man in fünf Jahren erreichen.« Auf dem Hügel im Stadtteil Eckersbach hat Pflug gemeinsam mit Jutta Giebner, der Chefin der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, mehr als 3000 Wohnungen aus den eigenen Beständen abgerissen. Die Lasten haben die beiden geteilt, wozu die Stadt beitrug, indem sie die ersten Gespräche organisierte und den Rückbau gemeinsam mit den Wohnungsgesellschaften plante.
In Zwickau-Eckersbach gelang es auf diese Weise, ein Dilemma der Wohnungswirtschaft zu überwinden."

"Abrissblockade" nennt HAMANN es, wenn sich jemand dieser Schrumpfungseuphorie widersetzt. Um diese Abrissblockade aufzulösen setzt Sachsen auf die Subventionierung des Abrisses:

"Staatssekretär Albrecht Buttolo versucht gerade, ein Modellprojekt in der Stadt Wurzen zu starten. Dort will er die Anwohner dazu bewegen, Teile eines Gründerzeitviertels zu räumen, in dem viel leer steht. Das Angebot lautet: Wer abreißt, bekommt einen Zuschuss und verzichtet dafür auf sein Wohneigentum in diesem Viertel. Oder die Besitzer tauschen ihre leer stehenden Häuser gegen eine Wohnung der lokalen Wohnungsgesellschaft in einem Viertel, das stehen bleiben soll. Es ist immerhin ein Versuch."

Die Stadtentwicklung in Görlitz wird dagegen als Negativbeispiel vorgeführt:

"Lutz Penske ist von solchen Ideen weit entfernt. Der Leiter der Stadtplanung fährt in seinem Büro, das in einer alten Kaserne liegt, ruhig und präzise mit seinem Finger über einen Stadtplan. Er fährt um die rot gefärbte Innenstadt und die orangefarbenen Einkaufsstraßen aus der Gründerzeit, und dann zeigt er auf die äußerste Linie, die einen weiten Bogen bis hinter die Bahnlinie macht, im Süden an die Neiße stößt und dann zur Altstadt zurückführt. In diesem Gebiet will Penske alle Häuser erhalten, obwohl etwa die obere Hälfte der alten Prachtstraße hinauf zum Bahnhof völlig verwaist ist. Dort, wo bis zum Zweiten Weltkrieg die teuersten Geschäfte lagen, kleben heute ein paar letzte Nachrichten aus den neunziger Jahren in den Schaufenstern. Die guten handeln vom Umziehen, die anderen vom Aufgeben."

Die Idee, dass Görlitz für ältere Menschen so attraktiv werden könnte, dass dies die Erhaltung der Innenstadt rechtfertigt, hält HAMANN für verfehlt:

"Keine der vagen Ideen, die in der Stadt kursieren und die sich darum drehen, wie Görlitz wieder wachsen könnte, werden die Unterlassungen in Sachen Abriss auf absehbare Zeit kompensieren. Es sind einfach keine tausend neuen Arbeitsplätze in Sicht, kein Zuwandererstrom aus dem polnischen Zgorzelec absehbar, das auf der anderen Seite der Neiße liegt. Aber zumindest eine Perspektive gibt es, die das Schrumpfen mildern könnte: Stadtplaner Penske hofft, dass Görlitz für ältere Menschen aus den Ballungsräumen des Westens ein begehrter Altersruhesitz wird, wie die Bretagne und die Toskana. Görlitz, das "Pensionopolis"? (...).
(E)ine Tradition vom Ende des 19. Jahrhunderts aufleben (lassen), als deutsche Rentner schon einmal erkannt hatten, wie gut es sich an der Neiße leben lässt. Ein Teil der Gründerzeitviertel mit ihren Villen und mehrstöckigen Stadthäusern ist just in dieser Zeit entstanden, weil ehemalige Offiziere des Kaiserreichs, pensionierte Beamte aus Berlin sowie Unternehmer und Ärzte aus Schlesien beschlossen, ihr Vermögen an der Neiße zu investieren. Die Eichhorns sind zwei, zwei von ein paar hundert Rentnern. Nur – was sind sie gegen die vielen tausend, die gehen?"

2005

BECKER, Franziska (2005): Ortsidentitäten im "Europa der Regionen". Das Beispiel einer schrumpfenden Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. In: Beate Binder, Silke Göttsch, Wolfgang Kaschuba, Konrad Vanja (Hrsg.) Ort. Arbeit. Körper. Ethnografie Europäischer Modernen. 34. Kongress der Deutschen Volkskunde, Berlin 2003, Waxmann

BERG, Stefan u.a.(2005): Permanente Revolution.
Spiegel-Serie Wege aus der Krise: Die Parteien drücken sich im Wahlkampf um das Thema Aufbau Ost - aus gutem Grund: Viele Programme sind gescheitert, die Milliarden fließen weiter, aber die Menschen wandern ab. Experten fordern, ganze Landstriche aufzugeben, um wenigstens zukunftsträchtige Zentren noch mehr zu fördern,
in: Spiegel Nr.36  v. 05.09.

Für den Spiegel zeigt uns Görlitz die Zukunft des Ostens:

"Die Zukunft ist in Städten wie Görlitz schon heute zu sehen. Die Renaissance- Stadt an der Neiße ist mit Millionen Städtebau-Fördermitteln zu einem architektonischen Kleinod aufgehübscht worden. Das bewohnen nun auch Rentner aus dem Westen, die sich mitten in der City prächtige Altbauwohnungen zu kleinen Mieten leisten können. Für die Jungen, sofern sie nicht bei Pflegediensten arbeiten, bietet die Stadt hingegen kaum eine Perspektive. Sie ziehen weg, wie vielerorts im Osten, oder pendeln – teils mehrere hundert Kilometer – zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen."

2006

BÖLSCHE, Jochen (2006): Polinnen als letzte Hoffnung.
Verlassenes Land, verlorenes Land: Auf der Suche nach einem guten Job oder einer guten Partie fliehen junge Frauen massenhaft vom Land in die Städte. Zurück bleiben Männer, die sich in Fernsehsucht, Suff und Fremdenhass flüchten. Politiker erwägen bereits, Ausländerinnen für die Frustrierten anzuwerben - ein fragwürdiges Konzept,
in: Spiegel online  v. 16.03.

KRÖHNERT, Steffen/MEDICUS, Franziska/KLINGHOLZ, Reiner (2006): Die demographische Zukunft der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München: Dtv, April

"Für die 15 kreisfreien Städte, die seit 1995 die größten Bevölkerungsverluste vermelden, werden bis 2020 weitere prognostiziert. Wer so viel verloren hat, wird weiter verlieren" (S.42),

erklären KRÖHNERT/MEDICUSKLINGHOLZ. Zu diesen Städten gehört auch Görlitz. Das große Schrumpfen (Cornelia TUTT) scheint unabwendbar. Die Abwärtsspirale als Erklärungsmuster hat Hochkonjunktur.

Görlitz wird als bundesweites Schlusslicht beim Familienfreundlichkeits-Indikator "Personen je Wohnung" geführt. Eine Kritik des Familienfreundlichkeitsindikators und ein Vergleich mit dem Ranking 2004 findet sich hier.

2007

STEINERT, Erika & Norbert ZILLICH (2007)(Hrsg.): Perspektive Pensionopolis! Anfragen an eine alternde Gesellschaft am Beispiel der Europastadt Görlitz/Zgorzelec in der Euroregion Neiße, Frankfurt am Main: Lang

"Vergleichende Analysen zur demografischen Alterung und Situation alter Menschen, innovative Praxisprojekte zur Versorgung älterer Bürgerinnen und Bürger sowie politische Artikulationen aus polnischer, tschechischer und deutscher Sicht zusammenzuführen, war Anliegen einer Fachtagung, durchgeführt vom Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Zittau/Görlitz, dem Hochschul-Institut für Transformation, Wohnen und soziale Raumordnung (TRAWOS) sowie dem Verein für grenzüberschreitende soziale Arbeit (GÜSA e.V.). Die Tagungsbeiträge sind überwiegend in diesem Band zusammengestellt. Gemeinsam ist ihnen eine ressourcenorientierte Sicht auf ältere Menschen. Deutlich wird dabei, dass der demografische Wandel eine produktive Kraft für Innovationen, ein Motor regionalwirtschaftlicher Entwicklung – »Pensionopolis« eine Chance für die Entwicklung der Europastadt Görlitz/Zgorzelec sein kann", heißt es im Klappentext.
 

WELT-Serie: Besser Altern (Teil 6)

HOLLSTEIN, Miriam (2007): Ostdeutschland wird zum Rentnerparadies.
WELT-Serie Besser altern: Der Osten entwickelt sich zu einem Ruhesitz für Westdeutsche. Während die einen sich über den Zuwachs freuen, fürchten die anderen, dass Städte wie Görlitz und Weimar in Zukunft ausschließlich als Altersresidenz angesehen werden könnten,
in: Welt v. 09.08.

STEINERT, Erika & Norbert ZILLICH (2007): Perspektive Pensionopolis! Anfragen an eine alternde Gesellschaft am Beispiel der Europastadt Görlitz/Zgorzelec in der Euroregion Neiße, Görlitzer Beiträge zu regionalen Transformationsprozessen, Band 1

2008

RHEINISCHER MERKUR-Spezial: "Die neue Angst - Arm im Alter.
Gerät unser Rentensystem in die Krise oder sind kritische Prognosen nur Panikmache? Walter Riester verteidigt die private Vorsorge.

CHEMNITZ, Peter (2008): Der Osten lockt.
Wohnen I: Wie Görlitz und andere Kommunen um Senioren aus den alten Bundesländern werben. Die Lebenshaltungskosten sind dort günstiger, der Freizeitwert stimmt auch,
in: Rheinischer Merkur Nr.5 v. 31.01.

BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Regionalreport Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.  Differenzierung des »Wegweisers Demographischer Wandel« für drei ostdeutsche Bundesländer, August

2010

SCHLÄCHTER, Luise (2010): Ruhestand im Niemandsland.
Sanierte Altbauten, niedrige Preise und viel Kultur: Westdeutsche Rentner zieht es nach Görlitz,
In: Welt v. 02.11.

Louise SCHLÄCHTER berichtet über die gescheiterte Bewerbung von Görlitz für die Kulturhauptstadt 2010. Dennoch will die Stadt davon profitieren:

"Mit dem Slogan »From the middle of nowhere to the Heart of Europe« gingen Görlitz und die polnische Nachbarstadt Zgorzelec ins Rennen um den Titel »Kulturhauptstadt 2010«. Sie scheiterten knapp - Essen gewann. Der Wahlspruch macht trotzdem deutlich: Görlitz, die Stadt am östlichsten Zipfel Deutschlands, will heraus aus dem Niemandsland der Grenzregion und europäischer Mittelpunkt für interkulturelle Begegnung werden."

Die Wiedervereinigung wird als Wende für Görlitz, das "Tal der Ahnungslosen", beschrieben, Die  Innenstadt war verödet

»Vor der Wende war Görlitz das Tal der Ahnungslosen. Hier war das Ende der Versorgung«, sagt Oberbürgermeister Joachim Paulick. »Wir waren abgeschnitten von der Außenwelt, Westfernsehen war selbst bei günstigen Wetterlagen nicht zu empfangen.« Als dunkle, verfallene Stadt beschreibt er das damalige Görlitz, das vor der Wende 75 000 Einwohner hatte. »Die Altstadt und Innenstadt waren die unbeliebtesten Gebiete, weil sie nicht mehr bewohnbar waren.« Stattdessen zog jeder, der Geld hatte, in die neuen Plattenbausiedlungen Weinhübel, Rauschwald und Königshufen am Rande der Stadt."

Joachim PAULICK, Oberbürgermeister von 2005 bis 2012, wird als Gegner der Marke "Pensionopolis" beschrieben:

"Eine gezielte Werbekampagne von Senioren existiere nicht, auch wenn es Vorschläge gegeben habe, Görlitz in ein deutsches »Sun City«, eine Rentnerstadt, zu verwandeln und mit der Marke »Pensionopolis« auf den Markt zu gehen. »Aber dagegen habe ich mich vehement gewehrt«, sagt Oberbürgermeister Paulick. »Das impliziert, dass nur noch Alte und Gebrechliche hier rumlaufen und die Parkplätze alle doppelt so groß sind - aber die Stadt hat doch viel mehr Potenzial.«"

Als Pluspunkt werden die niedrigen Lebenshaltungskosten geschildert, aber der Handel in der Innenstadt liegt danieder und die Arbeitslosenquote ist hoch ("18,9 Prozent"). Die jungen Menschen ziehen zum Studieren und zum Arbeiten weg. 

2014

BEUTLER, Sebastian & Sebastian KOSITZ (2014): Wo sind die jungen Frauen hin?
Im Landkreis Görlitz gibt es einen Männerüberschuss. Europaweit ist das einmalig. Von Sebastian Beutler und Sebastian Kositz,
In: Sächsische Zeitung Online v. 22.01.

"Im Schnitt kommen im Kreis Görlitz in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen auf 100 Männer nur 86 Frauen. Das ist zwar besser als im Landkreis Bautzen, der mit nur 80 Frauen auf 100 Männer europaweit ein einmaliges Phänomen aufweist, aber Dresden ist mit 94 Frauen auf 100 Männer doch noch deutlich ausgeglichener besetzt als der Kreis Görlitz. Hier sind es vor allem die Extreme, die auffallen. So kommen in Mücka nur 52 junge Frauen auf 100 junge Männer, auch im benachbarten Kreba-Neudorf und in Beiersdorf im Süden des Kreises liegt die Quote unter 60 Prozent. Dagegen haben Görlitz und Berthelsdorf einen Frauenüberschuss. Und Jonsdorf ist die Gemeinde im Landkreis, wo junge Frauen und Männer den Forschern zufolge exakt im Verhältnis eins zu eins leben",

berichten BEUTLER & KOSITZ. Sieben Jahre nach der Studie Not am Mann soll sich das Phänomen des Frauenmangels bzw. Männerüberschusses im Kreis Görlitz noch verschlimmert haben. Dazu werden namentlich ungenannte Statistiker des Statistischen Landesamts in Kamenz und Wissenschaftler vom Leipziger Leibnitz-Institut zitiert.

2016

FRANKFURTER RUNDSCHAU-Serie: Wie wollen wir wohnen?

HONNIGFORT, Bernhard (2016): Geh doch einfach rüber.
Görlitz zieht westdeutsche Rentner an,
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.05.

Görlitz statt Mallorca oder Teneriffa preist uns Bernhard HONNIGFORT als Rentnerparadies an.

"Immer mehr Rentner ziehen in Deutschland um, hat das Statistische Bundesamt herausgefunden. 2013 waren es 260.000, 50.000 mehr als 1995",

behauptet HONNIGFORT anhand von Zahlen, die das gar nicht belegen können, denn dazu wären Prozentzahlen notwendig und keine absoluten Zahlen. Es könnten genauso gut weniger Rentner geworden sein, die noch umziehen, weil die Anzahl an Rentnern von 1995 bis 2013 um mehr als 50.000 gestiegen ist. Es ist schlechter Journalismus, wenn wir mit Zahlen abgespeist werden, die nicht das nachvollziehen lassen, was uns der Journalist mit Worten erzählt. Als Leser hat man dann nur die Wahl das zu glauben oder zeitaufwändig selber zu recherchieren. Und dann soll man für einen solch schlampig recherchierten Text auch noch bezahlen?

Am Beispiel eines 73-jährigen Kölner wird die Attraktivität der Stadt Görlitz im Sinne eines Stadtmarketings angepriesen: Die Kaufkraft sei vergleichsweise hoch. Gegenüber Chemnitz, das den städtischen Altenrekord in ganz Europa hält (wann diese Erhebung stattgefunden hat, wird jedoch verschwiegen!), wird die Schönheit der Stadt hervorgehoben. Der Einzelfall des 73-jährigen Kölner wird dann zum Trend stilisiert, wenn HONNIGFORT schreibt:

"1200 gut betuchte West-Rentner sind in den vergangen Jahren in die ostsächsische Stadt an der Neiße gezogen, eine Menge, denn Görlitz hat insgesamt nur 56 211 Einwohner."

Was heißt vergangene Jahren? 5 Jahre oder seit 1991? Und wie viele sind weggezogen? Ein Vergleich mit Chemnitz wäre aussagekräftiger, denn dann könnte sich der Leser selber ein Bild davon machen.

Zuletzt wird die positive Bevölkerungsentwicklung in Görlitz hervorgehoben:

"Görlitz wachse wieder, erzählt Eva Wittig, die Sprecherin der Stadt. Seit 2014 gehe es wieder bergauf, nachdem jahrzehntelang die Zahlen in den Keller gingen, weil junge Familien wegzogen, nach Westen, der Arbeit hinterher. Nun geht es andersherum – und nicht nur die gut gelaunten Westrentner kommen. Es kommen Junge, um zu studieren, es kommen Polen aus der Nachbarstadt Zgorzelec, die einmal eins war mit Görlitz und nur durch den Grenzfluss Neiße getrennt ist. In Polen ist bezahlbarer Wohnraum knapp, in Görlitz kein Problem."

EMPIRICA (2016): Schwarmverhalten in Sachsen. Eine Untersuchung zu Umfang, Ursache, Nachhaltigkeit und Folgen der neuen Wanderungsmuster im Auftrag der Sächsischen Aufbaubank, des Verbands der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Sachsen, und des Verbands sächsischer Wohnungsgenossenschaften. Endbericht

Empirica sieht in der Altenwanderung (60 - 74 Jahre) eine Chance für folgende Städte:

Tabelle: Die 20 größten Gewinner der Altenwanderung 2009 - 2014
Rang (KWR) Stadt bzw. Gemeinde Einwohner
(Ende 2014)
1 Rathmannsdorf 977
2 Oybin (Landkreis Görlitz) 1.457
3 Meißen 27.273
Oderwitz 5.257
5 Weißkeißel 1.266
6 Görlitz 54.193
Niederdorf 1.192
Niederwürschnitz 2.667
Weinböhla 10.165
10 Bad Muskau 3.661
Pirna 37.768
12 Bernstadt a. d. Eigen 3.469
Freital 39.547
Groß Düben 1.086
Hartmannsdorf bei Kirchberg 1.372
Otterwisch 1.403
Tharandt 5.346
18 Bad Elster 3.616
Großröhrsdorf 6.619
Crinitzberg 2.015
Quelle: Empirica 2016, S.34

SCHÖNBACH, Miriam (2016): Sieben Jahre Görlitz-Experiment.
Mit kostenlosem Probewohnen sollten Neubürger gewonnen werden - der Erfolg ist mäßig,
in:
Neues Deutschland v. 27.07.

Miriam SCHÖNBACH schildert uns Görlitz als sterbende Stadt:

"Ein knappes Viertel der etwa 4000 Baudenkmäler aus Romantik, Barock, Renaissance und Gründerzeit ist unbewohnt. In den vergangenen 25 Jahren sank die Bevölkerungszahl der Stadt von 72.000 auf 54.000 Einwohner. In ihrer Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten 81.000 Menschen in der »Perle der Oberlausitz«".

In Westzeitungen wird uns dagegen Görlitz als Rentnerparadies verkauft, die Westdeutsche besonders anzieht, so z.B. HONNIGFORT in der FR. Dass dies verzweifelten Werbemaßnahmen entsprungen ist, das wurde uns Westlern dagegen verschwiegen:

"Görlitzer Probewohnen (...). Zwei Drittel der Bewerber waren zwischen 60 und 69 Jahre oder älter. Auch bei den vorherigen Aktionen fühlten sich besonders Senioren angesprochen. Die meisten Bewerber kamen aus Nordrhein-Westfalen, Berlin, Sachsen und Baden-Württemberg.
Wissenschaftliche begleitet wird das Projekt durch das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden",

klärt uns SCHÖNBACH über das Probewohnen-Projekt der Kommwohnen Service GmbH auf, das 2009 gestartet wurde und bislang mit drei Aufrufen (zuletzt im Juli 2015) ein "Zeichen gegen den Leerstand in ihrer Stadt" zu setzen versuchte. Das Ergebnis:

"Acht Haushalte konnten mit dem Probewohnen bislang gewonnen werden (...). Dazu sind am 1. Juli zwei weitere Einwohner gekommen."

KUNTZ, Michael (2016): Umzug ins Ungewisse.
Manche Senioren suchen im Ruhestand ihr Glück in der Ferne. Sie gehen ins Ausland oder in Gegenden, wo schon viele Gleichaltrige leben. Die mobilen Alten - ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 25.08.

Michael KUNTZ nimmt - wie schon Catrin KAHLWEIT - eine Pressemeldung der Deutschen Rentenversicherung Bund zu den Auslandsrenten im Jahr 2015 zum Anlass, um diese seltene Spezies (ca. 1 Prozent der Rentner) als Rahmen für jene Rentner zu nehmen, die im Alter noch umziehen, wobei KUNTZ sich zum einen auf die Luxusvariante (Tegernsee, Baden-Baden) und zum anderen auf die Billigvariante (Wilhelmshaven, Nordhessen) konzentriert, während ihm der Normalo zu uninteressant ist. Schon Gerhard MATZIG hat Benachteiligten das Wohnen in attraktiven Städten abgesprochen. Bei KUNTZ wird dieses Prinzip auf die Rentner angewandt:

"Auch wenn das oft anders gesehen wird, aber ein Anspruch darauf, dort im Alter wohnen zu bleiben, wo man gearbeitet hat und sich nun den Ruhestand nicht mehr leisten kann - einen solchen Anspruch mag es politisch geben, rechtlich gibt es ihn jedenfalls nicht. Also wird mancher Umzug schlicht uns spaßfrei der Senkung der Kosten für die Lebenshaltung dienen."

Das Stadtmarketing von Görlitz hat auch in KUNTZ einen Fan, wobei die Verzweifelung deutlich wird, wenn familienlosen Singles die östliche Grenzstadt folgendermaßen schmackhaft gemacht werden soll:

"Da immer mehr Singles alt werden, spielt es bei der Ortswahl auch keine so große Rolle mehr wie früher, ob die Familie in der Nähe wohnt. Wo Angehörige sich nicht besuchen, ist letztlich egal."

SCHULZ, Matthias (2016): Alles umsonst.
Denkmalschutz: Die Sanierung von Görlitz kostete Abermillionen. Doch viele der historischen Prachtbauten stehen leer. Mit ungewöhnlichen Mitteln lockt die Stadt jetzt Neubürger an,
in: Spiegel
Nr.48 v. 26.11.

"Eigentlich könnte also alles gut sein, zumal sich nach der Wende ein Füllhorn an Steuergeldern und Bausubventionen über die marode Kommune ergoss. Sie gilt heute als »größtes zusammenhängendes nationales Flächendenkmal«.
Doch leider hat Görlitz noch einen weiteren Rekord zu vermelden. Der Ort ist auch der leerstehendste. Es fehlt an Menschen.
Zwar gelang es, mit den Fördergeldern und Spenden bislang 75 Prozent der Innenstadt zu sanieren. Im Umkehrschluss bedeutet das aber: Jedes vierte Haus gammelt noch immer vor sich hin",

berichtet Matthias SCHULZ, der Görlitz als schrumpfende Stadt beschreibt:

"Nach der Wiedervereinigung folgte der industrielle Kahlschlag. Von den verbliebenen 77.000 Einwohnern zogen 17.000 weg. (...). Und die »Perle der Oberlausitz« schrumpfte weiter. Vor zwei Jahren lebten noch 54.000 Menschen dort. Für 2020 hat das Statistische Landesamt einen weiteren dramatischen Rückgang prognostiziert."

RITZER, Uwe (2016): Reicher Süden, armer Osten.
Eine Kaufkraft-Studie zeigt, dass ein Starnberger im Schnitt fast doppelt so viel Geld zur Verfügung hat wie ein Görlitzer,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 07.12.

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 03. April 2017
Update: 18. Februar 2020